Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 32. Allgemeine Übersicht 
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Während im frühen Mittelalter die Zentren der Judenheit in West- 
europa zur Blüte gelangten, sollten sie im späteren Mittelalter der Zer 
störung anheimfallen. Der geschichtliche Weg des jüdischen Volkes 
ist in dieser Zeitspanne durch zwei Zerstörungswerke begrenzt: durch 
die zeitweilige Vertreibung aus Frankreich (i3o6) und die dauernde 
Verbannung aus Spanien (1492). In dem achtzigjährigen Zeitraum 
zwischen der Rückkehr der Verbannten und der erneuten Ausweisung 
ihrer Nachkommen (i3i5—i3g4) fristet das französische Zentrum 
ein trauriges Scheindasein. Das spanische Zentrum gelangt hingegen 
gerade im XIV. Jahrhundert zu voller Entfaltung, um indessen schon 
im folgenden Jahrhundert in denselben Abgrund zu stürzen. In der glei 
chen Zeit stöhnt die Judenheit Deutschlands unter ihrem Märtyrer 
schicksal und der Rechtlosigkeit, bietet aber allen Stürmen trotzig 
die Stirn und weiß sich auch unter dem schwersten Drucke aufrecht 
zu erhalten. Sie übernimmt die nationale Hegemonie des französi 
schen Zentrums, um diese mit der spanischen Judenheit zu teilen. 
Aber auch für die deutschen Gemeinden bringt das verhängnisvolle 
XV. Jahrhundert teilweise Zerstörung mit sich: Verfolgungen sowie 
Ausweisungen aus verschiedenen Städten drücken die jüdische Be 
völkerung Deutschlands auf ein Minimum herab. 
Neben den beiden Jahrhunderten gemeinsamen Zügen weist jedes 
von ihnen auch ein besonderes Gepräge auf. Für die zwei Zentren 
Mitteleuropas, das französische und deutsche, ist das XIV. Jahrhun 
dert das Jahrhundert des Martyriums. Die wilden Zuckungen der von 
religiösem Irrwahn besessenen christlichen Massen: die „Hirtenzüge“, 
die durch den „Schwarzen Tod“ hervor gerufenen Ausschreitungen, 
die von Judenhetzen begleiteten Ritualmordprozesse — all dies zieht 
für die jüdischen Gemeinden Verderben und Ruin nach sich. Der 
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