Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes im Orient (3, Orientalische Periode / 1926)

Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne 
in einen persönlichen Konflikt verwickelt war. Sie heißen bei ihm 
„Heuchler“, „verblendete Leiter“, „Narren und Blinde“, „Schlangen 
und Otterngezüchte“ (Kap. 2 3); er wirft den Pharisäern vor, daß 
sie „das Himmelreich vor den Menschen zuschließen“, daß sie nur 
um die rituelle, nicht aber um die innere, seelische Reinheit besorgt 
seien. Seine Strafreden beginnt er jedesmal mit dem Ausruf: „Wehe 
euch, Schriftgelehrte und Pharisäer!“ Durch den Mund Jesu spricht 
der Verfasser das Urteil über „Jerusalem, das seine Propheten tötet,“ 
aus und verkündet (post factum) die Zerstörung des Tempels (28, 
37—88; 24, i5f.; die letzte Stelle ist eine buchstäbliche Wieder 
holung der Sätze aus dem Evangelium des Markus, i3, 14 f*)* In 
der Erzählung von dem Gericht über Jesus, die im wesentlichen den 
Bericht des Markus wiederholt, wird nur die Schuld der Jerusalemer 
Bevölkerung schärfer betont: Pilatus wäscht seine Hände und be 
teuert seine „Unschuld an dem Blute dieses Gerechten“, während 
die Juden einhellig rufen: „Sein Blut komme über uns und über 
unsere Kinder“ (27, 2 4—2 5), mit diesen Worten gleichsam einen 
ewigen Fluch auf sich und auf ihre Nachkommenschaft ladend. Dies 
war die Art, in der in der Atmosphäre der heftigen religiösen Strei 
tigkeiten zwischen Juden und Sektierern Geschichte geschrieben 
wurde 1 ). 
Das inhaltsreichste und literarisch am besten durchgearbeitete 
dritte Evangelium, das des Lukas, wurde zu Beginn des II. Jahr 
hunderts für die griechisch-römische Welt, namentlich aber für die 
christliche Kolonie Roms verfaßt. Lukas, ein Jünger des Apostels 
Paulus (oder vielleicht ein anderer Autor, der die Aufzeichnungen des 
Lukas einer Redaktion unterzog), spricht gleich zu Beginn des Bu- 
!) Der Verfasser des Matthäusevangeliums war selbstredend nicht der Apostel 
Matthäus, jener galiläische Steuereinnehmer, der sich Jesus angeschlossen hatte 
(Matth. 9, 9; 10, 3), sondern ein Schriftsteller aus späterer Zeit, der den Namen 
des Apostels wahrscheinlich aus dem Grunde auf das Titelblatt seines Buches ge 
setzt hat, weil er die Aufzeichnungen der Sprüche oder Logoi Christi, die im Volke 
als von Matthäus stammend bekannt waren, für sein Werk benutzte. Das Buch 
dürfte in Syrien oder Palästina in griechischer Sprache abgefaßt worden sein, je 
doch unter vielfacher Benutzung hebräischer Redewendungen. So wird z. B. der 
Aufschrei Jesu in seiner Todesstunde von dem Verfasser in der Umgangssprache 
des damaligen Judäa, d. i. in der aramäischen, wiedergegeben: „Eli, Eli, lama 
schebakthani“ (27, 46)* Die Entstehungszeit des Matthäusevangeliums wird von der 
Mehrzahl der Forscher in das Ende des ersten Jahrhunderts verlegt, doch erblicken 
manche (Pfleiderer u. a.) in ihm Züge, die erst für die christliche Lebensführung 
des II. Jahrhunderts charakteristisch sind. 
78
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.