SIMON DUBNOW
Weltgeschichte
des jüdischen Volkes
Von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart
In zehn Bänden
ORIENTALISCHE PERIODE
Band III:
Vom Untergange Judäas bis zum Verfall der
autonomen Zentren im Morgenlande
SIMON DUBNOW
Die Geschichte
des jüdischen Volkes
im Orient
vom Untergange Judäas bis zum Verfall der
autonomen Zentren im Morgenlande
Autorisierte Übersetzung aus dem russischen Manuskript
von
Arw/
Dr. A. Steinberg
JÜDISCHER VERLAG /BERLIN
47493 .
k»: U^fO
Gedruckt bei Mänicke & Jahn A.-G., Rudolstadt
Copyright 1926 by Jüdischer Verlag / Berlin
Inhaltsverzeichnis
ERSTES BUCH: DIE PALÄSTINENSISCHE HEGEMONIE UNTER
DER HERRSCHAFT DES HEIDNISCHEN ROM
(73—3i5 der christlichen Ära)
Seite
§ 1. Allgemeine Übersicht.......................... 11
Erstes Kapitel. Die Restauration der Selbstverwaltung und das Syn-
hedrion zu Jahne (73—115)
§ 2. Die politische Lage unter der Dynastie der Flavier . . 18
§ 3. Rabbi Jochanan ben Sakkai und das Zentrum in Jabne 2 5
§ 4. Der Synhedrionvorsteher Gamaliel II...................3o
§ 5. Gamaliel als Reformator des Gottesdienstes und als Re-
präsentant des Volkes.......................................... 36
§ 6. Rabbi Akiba und seine Mitstreiter........................4i
Zweites Kapitel. Die Aufstände unter Trajan und Hadrian (115—138)
§ 7. Die Kriegszüge des Trajan und die Erhebung der
Diaspora............................................. 47
§ 8. Kaiser Hadrian und die Erhebung des Bar Kochba . . 53
§ 9. Jahre der Verfolgungen und des Märtyrertums (i35
, bis i38).............................................. 62
Drittes Kapitel Das geistige Leben zur Zeit des Synhedrion von
Jabne (73-135)
§10. Der alte und der neue Glaube.............................68
§ 11. Das antijudaistische Element im Neuen Testamente . . 74
§12. Die letzten jüdischen Apokalypsen und die ersten An-
fänge der Haggada ..............................................88
§ i3. Der biblische Kanon und die „draußen befindlichen“
Bücher (Apokryphen und Pseudepigraphen) ... 98
§ i4. Die Historiographie des Josephus Flavius................io5
§ i5. Der Judenhaß in der römischen Literatur...................m
Viertes Kapitel. Das Patriarchat in Galiläa und der Abschluß der
Mischna (138—210)
§16. Die politische Lage unter den Antoninen...................115
§17. Das Synhedrion und der Patriarch Simon....................119
5
Inhaltsverzeichnis
§ 18. Rabbi Meir und das Gelehrtenkollegium in Uscha . . . 124
§19. Der Patriarch Jehuda ha’Nassi und der Abschluß der
Mischna.......................................... . i33
Fünftes Kapitel. Palästina im letzten Jahrhundert des heidnischen
Rom (210-315)
§ 20. Die politische Lage...................................i43
§21. Die Patriarchen in Tiberias............................i47
§ 22. Die Epigonen der Mischna und die Amoräer . . . . i53
§23. Die Haggadisten und ihre Polemik gegen die Christen 162
§24. Die Apologeten des Christentums und des Judentums . 168
Sechstes Kapitel. Die Diaspora und das autonome Zentrum in
Babylonien
§2 5. Die Veränderungen in der orientalisch-römischen Dia-
spora ............................................. ... 177
§26. Das parthische und neupersische Babylonien . . . . 182
§27. Die Exilarchen und die Autonomie der Gemeinden . . 187
§28. Rab und Samuel. Die akademische Organisation . . . 191
§29. Die zweite Generation der babylonischen Amoräer (260
bis 3oo).........................................200
ZWEITES BUCH: DIE PALÄSTINENSISCH - BABYLONISCHE
HEGEMONIE UNTER DER HERRSCHAFT DES CHRISTLICHEN
ROM, BYZANZ’ UND PERSIENS (315-638)
§ 3o. Allgemeine Übersicht.................................207
Erstes Kapitel. Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
(315-429)
§ 3i. Konstantin der Große und die Anfänge des christlichen
Staates ...............................................211
§ 32. Der Aufstand in Galiläa. Der Patriarch Hillel II. . . . 216
§33. Julian Apostata.......................................222
§34. Theodosius I. und die Kirchenväter....................227
§ 35. Die Zeit Theodosius II..............................2 34
§36. Die letzten Patriarchen in Palästina.................2 44
§37. Die Diaspora im christlichen Morgenlande.............2 5i
Zweites Kapitel. Palästina und die Diaspora in den letzten Jahr-
hunderten der byzantinischen Herrschaft (429—638)
§38. Die Zusammenstöße zwischen Christen und Juden und
die Gesetze des Justinian........................257
§39. Die Perser in Palästina und der Aufstand unter Heraklius 267
§ 4o. Das geistige Leben und der Abschluß des palästinensi-
schen Talmud.........................................272
Inhaltsverzeichnis
§ 4i. Die „Midraschirn-Literatur und die Werke der Kirchen-
väter .................................................280
Drittes Kapitel. Das autonome Zentrum in Babylonien bis zum Ende
der persischen Herrschaft
§ 42. Die politische Lage unter den Sassaniden...............289
§ 43. Die Wirksamkeit der babylonischen Akademien im IV.
J ahrhunder t.........................................296
§ 44- Die Sammlung und der Abschluß des Talmud (V.—VI.
Jahrhundert)..........................................3oo
§ 45. Die geschichtliche Bedeutung des Talmud................3o6
Viertes Kapitel. Lebensführung und Sitten in der Periode der palä-
stinensisch-babylonischen Hegemonie nach talmudischen Quellen
§ 46. Wirtschaftliche Verhältnisse...........................3i4
§ 47- Das Familienleben......................................326
§ 48. Schule, Gelehrsamkeit, Schrifttum......................335
§ 49- Die Gemeindeverfassung.................................347
§ 5o. Die religiöse Lebensführung und der Volksglaube . . . 356
DRITTES BUCH: DIE BABYLONISCHE HEGEMONIE ZUR ZEIT
DES ARABISCHEN KALIFATS BIS ZUM NIEDERGANG DER
MORGENLÄNDISCHEN ZENTREN (638-1099)
§ 5i. Allgemeine Übersicht...............................377
Erstes Kapitel. Die Entstehung des Islam und das Kalifat der
Omajaden (622—750)
§ 52. Die Juden in Arabien bis zum Hervortreten Mohammeds 382
§ 53. Mohammed und seine Versuche, die Juden zu gewinnen 390
§ 54. Die Kriege Mohammeds gegen die Juden (624—628) . 398
§ 55. Palästina und Babylonien unter den ersten Kalifen (638
bis 660)............................................4o5
8 56. Palästina und Babylonien im Kalifat der Omaiaden (660
bis 7Öo)............................................4i5
Zweites Kapitel. Die autonome Judenheit Babyloniens im Kalifate
der Abbassiden (750—10U0)
§ 57. Die sozialen Verhältnisse in der Blütezeit des Kalifats
von Bagdad (VIII.—IX. Jahrhundert)..................427
§ 58. Die Zeit der Auflösung des Kalifats von Bagdad (X.—XI.
Jahrhundert) .................................. . 437
8 5o. Die Beteiligung der Juden an dem internationalen Handel
des Kalifats........................................442
7
Inhaltsverzeichnis
§ 60. Die Selbstverwaltung: Die Exilarchen und Gaonen in
Babylonien........................................
§ 61. Der Antitalmudismus und die Sekte der Ananiten . .
§62. Die Entwicklung des Karäertums und der religiöse Zwie-
spalt ......................................................
§ 63. Der Widerstreit zwischen Exilarchen und Gaonen. Der
Gaon Saadia ......................................
§ 64- Das letzte Jahrhundert der babylonischen Hegemonie
Drittes Kapitel. Die autonomen Zentren in Palästina und Ägypten
bis zu den Kreuzzügen (X.—XI. Jahrhundert)
§ 65. Palästina vor der Zeit des Fatimidenkalifats . . . . 486
§ 66. Das Jahrhundert der Fatimiden in Ägypten und Palä-
stina (969—1070) ......................493
§ 67. Die ersten Nagidim in Ägypten und die letzten Gaonen
in Palästina.....................................5oo
§ 68. Das provisorische Zentrum in Maghreb (Kairuwan) . . 5o6
Viertes Kapitel. Das geistige Leben im Zeitalter der arabisch-jüdi-
schen Renaissance
§ 69. Das talmudische Schrifttum der Gaonen....................5n
§ 70. Die Polemik der Rabbaniten und Karäer...................5i8
§ 71. Die Religionsphilosophie Saadias; Rationalisten und
Mystiker........................................... 525
§ 72. Das jüdisch-arabische Schrifttum: exakte Wissenschaf-
ten, Geographie, Chronographie................................537
§ 73. Massora, Nikkud, Grammatik, Midrasch und Piut . . 543
Anhang: Ergänzungen und Exkurse
Note 1: Zur Quellenkunde und Methodologie.....................555
Note 2: Zur Epigraphik....................................... 562
Note 3: Der Prozeß der Verwandlung der „mündlichen Lehre“
in eine schriftliche................................565
Note 4: Die das Patriarchat betreffenden Dekrete aus den Jah-
ren 4i5 und 429...............................................569
BIBLIOGRAPHIE. Quellen- und Literaturnachweise . . . 574
NAMEN- UND SACHREGISTER.......................................587
Erstes Buch
Die palästinensische Hegemonie
unter der Herrschaft des
heidnischen Rom
(73—3 1 5 der christlichen Ära)
§ 1. Allgemeine Übersicht
Der national-politische Kampf war mit dem Untergang Jerusa-
lems zu Ende, der national-geistige entbrannte jedoch von neuem. Die
Eiferer der politischen Freiheit, die für ihr Vaterland zu sterben ver-
standen hatten, waren niedergerungen; an ihre Stelle traten jetzt
Eiferer der geistigen Freiheit, die für ihre Nation leben und sie neu
beleben wollten, die die nationale Eigenart an die veränderten äußeren
Verhältnisse anzupassen suchten.
Wie grauenvoll diese Verhältnisse auch sein mochten, so ließen sie
dennoch Raum für eine teilweise Restauration. Das tragische ge-
schichtliche Fatum vollführte sein Werk gleichsam in Etappen, in-
dem es dem jüdischen Volke nur nach und nach das nahm, was
sonst einer Nation Rückhalt gewährt. Das Schicksal beraubte die Ju-
den ihres Staates, ließ ihnen aber ihre Heimat, ein allerdings ge-
schmälertes und als Domäne der römischen Kaiser geltendes Land-
gebiet. Das jüdische Volk war jetzt in seinem palästinensischen Kern
staatenlos, nicht aber landlos geworden: die Heimatlosigkeit sollte
erst später kommen. Das Volk büßte Jerusalem ein, schuf sich aber
statt dessen ein kleineres geistiges Zentrum auf heimatlichem Roden,
in Jabne; es ging des Tempels verlustig, ersetzte ihn aber durch
Stätten der Andacht und durch die Akademie; es mußte auf das
Synhedrion als eine staatliche Institution verzichten, stellte es aber
als ein Organ der inneren Selbstverwaltung und Gesetzgebung wieder
her.
Dieses Wiederherstellungswerk vollbrachte der in dem verwüste-
ten Judäa zurückgebliebene geringe Rruchteil des Volkes, und zwar
eine kleine Schar von geistigen Führern, von Gesetzeslehrern aus
seiner Mitte. Dabei blieben jedoch die Rlicke der gesamten Nation
auf Palästina gerichtet, denn die Hegemonie des palästinensischen Ju-
dentums war in der Diaspora nach wie vor allgemein anerkannt. Der
Pilgerzug aus aller Herren Länder nach Jerusalem, wo an der Ruinen-
ii
Die palästinensische Hegemonie
Stätte des Tempels sich nunmehr ein Standlager römischer Soldaten
befand, war allerdings versiegt; vielmehr schlug der Wanderstrom
jetzt die entgegengesetzte Richtung ein: große Auswanderermassen
zogen aus dem verödeten Judäa in die in der ganzen Welt ver-
streuten Gemeinden der Stammesgenossen, nach Syrien, Kleinasien,
Mesopotamien, Ägypten, Griechenland, Italien und noch weiter nach
dem Westen hin. Allein auch diese erzwungene Übersiedlung wirkte
als ein mächtiges Werkzeug der nationalen Vereinigung. Die Flücht-
linge aus Judäa, die Helden oder Augenzeugen der eben zum Ab-
schluß gelangten, verzweifelten Kämpfe in der Heimat trugen nicht
wenig dazu bei, den nationalen Geist unter ihren Brüdern in der
Fremde zu heben und zu stärken, während die in Judäa zurückge-
bliebenen geistigen Führer die innere Ordnung im Lande und die
Verbindung zwischen den zerstreuten Volksteilen aufrechterhielten.
Diesen Führern stand dabei ein längst bereitgehaltenes Werkzeug zu
Gebote: die Macht des Gesetzes, die Nomokratie.
Von nun an wird die Nomokratie zum entscheidenden Einigungs-
prinzip des jüdischen Volkslebens. Der viele Jahrhunderte hindurch
herrschende Dualismus im geistlichen Stande, der einerseits aus der
hierarchisch gegliederten Tempelpriesterschaft (Kohanim), anderer-
seits aus den Gesetzeslehrern (Soferim) bestand, nimmt jetzt ein Ende,
da mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels die Tempelpriester-
schaft als ein festgefügtes Ganzes verschwand. Jetzt blieb von der
geistlichen Schicht nur noch eine Gruppe übrig: die Gesetzeslehrer,
die nunmehr auch die einzigen Gesetzgeber sind. An die Stelle der
Hierokratie, die sich seit der Zeit der persischen Herrschaft von
Rechts wegen eingebürgert hatte (Band I, § 8x), tritt endgültig die
Nomokratie, die allerdings schon damals, noch unter Esra, mit der
Priestervorherrschaft zu wetteifern begonnen hatte.
Für die des Staates beraubte Nation hat die Herrschaft oder die
Zucht der autonomen Gesetzgebung dieselbe Bedeutung wie die Waf-
fenrüstung und die militärische Zucht für den Staat, nämlich die
einer Schutzwehr für ihre Unversehrtheit und die Unverletzlichkeit
ihres geistigen Besitzstandes. Schon längst arbeitete man unermüdlich
an der Bereitstellung dieser geistigen Waffen in Form von unzähligen
„Umzäunungen4‘ und „mündlichen Gesetzen“; nun werden sie aber
mit verzehnfachtem Eifer geschmiedet, um als ein unerschöpflicher
Vorrat in jenem riesigen Zeughause aufgestapelt zu werden, das
12
§ i. Allgemeine Übersicht
mündliche Lehre (Thora sche’baal pe) heißt. Durch tausenderlei Fä-
den wird die mündliche Lehre, ungezwungen oder gekünstelt, auf lo-
gischem oder kasuistischem Wege, mit der „schriftlichen Lehre“ oder
der Thoraverfassung verknüpft, in ihr verankert, von ihr so die of-
fizielle Weihe herleitend. Der Stoff für den Kodex der Mischna} d. i.
die „Deuterothora“, häuft sich immer mehr. In Schule und Gesetz-
gebung findet die von Hillel inaugurierte Auslegungsmethode, der-
zufolge offensichtliche Ergänzungen der Thoravorschriften den Schein
formgerechter Schlußfolgerungen aus diesen gewinnen sollten (Band
II, § 60), immer weitergehende Anwendung. Auf dieser Grundlage wir-
ken neue Volksführer aus der Mitte der Schüler oder Nachkommen
des Hillel: Jochanan ben Sakkai, Gamaliel II., Rabbi Akiba und viele
andere. In Jabne, dem neuen Mittelpunkte der jüdischen Selbstver-
waltung, schreitet die Arbeit des Gesetzeslehrerkollegiums und des
Synhedrion rastlos fort, darauf abzielend, die wehrlose Nation, dieses
„Lamm unter den siebzig Wölfen“, nach dem angeblichen Worte
eines dieser „Wölfe“, des Kaisers Hadrian, mit dem ehernen Panzer
des Gesetzes aufs kräftigste zu schützen.
Diese stille, nach innen gekehrte Arbeit wurde jedoch von einer
neuen politischen Bewegung jäh unterbrochen. Für einen Augenblick
lebte der politische Zelotismus wieder auf, um sich neben den gei-
stigen in Reih und Glied zu stellen. Funken des großen, unter Ves-
pasian und Titus erstickten revolutionären Brandes glommen noch
immer unter der Asche fort und loderten unter den Kaisern Trajan
und Hadrian in hellen Flammen wieder auf. Eine leise Hoffnung auf
die Wiederherstellung des zerstörten Jerusalem und des Tempels war
noch in den Herzen der vom Schicksalsschlag Getroffenen verborgen,
die voll Kummer um die heiligen Trümmer trauerten. Das grausame
Regime des Kaisers Domitian und der Kriegszug Trajans durch Asien
ließen die Trauer zum Zorn anschwellen und verwandelten die mes-
sianische Hoffnung in eine brennende Sehnsucht. Als im Jahre ii5
die Feldzüge Trajans das schlummernde Morgenland aus seinem
Schlafe rüttelten, erhob sich gegen Rom auch die von Empörung er-
griffene Diaspora. Zwei Jahre später (117), als bereits Hadrian Tra-
jan auf den Thron gefolgt war, fand diese Erhebung auch in dem
zu Boden geschlagenen Judäa ihren Widerhall. Der alte, tief im In-
nern gehegte Traum blühte von neuem auf. Es erklang das geflü-
gelte Wort: „Bald soll der Tempel wieder erstehen!“ Dumpfe Ge-
i3
Die palästinensische Hegemonie
rüchte von der Absicht des neuen Kaisers, Jerusalem wieder aufzu-
richten, verbreiteten sich, doch gar bald kam die traurige Wahrheit
zum Vorschein. Der Sinn Hadrians war auf eine Restauration ganz
anderer Art gerichtet: er plante nämlich die Errichtung eines Tem-
pels zu Ehren des Jupiter Gapitolinus an der Stätte des alten Jahve-
tempels und die Verwandlung Jerusalems in eine heidnische Kolonie,
wobei die heilige Stadt auch auf den neuen Namen Aelia Capitolina
getauft werden sollte. Jetzt kam es zur Explosion. Die große Erhe-
bung Judäas zur Zeit Hadrians und der Befreiungskrieg des Bar
Kochba (i32—i35) brachten den Römern wieder einmal die helden-
mütigen Zeloten und die Nation der Unversöhnlichen in Erinnerung.
In der Person des Bar Kochba erstand der politische Zelot Bar Gi-
ora zu neuem Leben, in Rabbi Akiba verschmilzt der politische Ze-
lotismus mit dem geistigen zu einer Einheit. Doch wird die Rebellion
bald in Strömen von Blut erstickt. Auf die Unterdrückung dieser Er-
hebung, der letzten in der Reihe der Befreiungsversuche Judäas,
lassen die Römer ein furchtbares Strafgericht folgen; Repressalien,
wie sie nur die Zeit eines Antiochus Epiphanes kannte, sind wieder
an der Tagesordnung. Der Krieg gilt der Nomokratie, diesem letzten
Rückhalt der Nation. Von neuem ersteht das religiöse Märtyrertum,
das erst mit dem Tode des Hadrian (i38) ein Ende nimmt. Der letzte
hell auf leuchtende Funke politischer Hoffnung erlischt, und durch
die eingetretene Dämmerung schimmert nur noch der messianische
Traum. Die zum Stillstand gekommene Arbeit an dem inneren Wieder-
aufbau, an der geistigen Selbstwehr, wird wieder aufgenommen. Die-
ses Werk eben soll in der kommenden geschichtlichen Epoche die ge-
samte Energie der Volksführer restlos absorbieren.
Zwei Jahrhunderte eines verhältnismäßig ruhigen Daseins geben
der blutenden Nation die Möglichkeit, sich von neuem aufzurichten.
In diesen zwei Jahrhunderten, den letzten des heidnischen Rom (bis
zum Jahre 3i5), geht es im jüdischen Palästina ohne Konflikte ab.
Mittlerweile hat sich das Zentrum der jüdischen Selbstverwaltung aus
dem verheerten Judäa, wo Jerusalem als ein heidnisches Aelia Capi-
tolina fortleben mußte, nach Galiläa verschoben. Der Patriarch wird
zu einem aktiven Vermittler zwischen der römischen Gewalt und dem
Verbände der autonomen jüdischen Gemeinden. Die Kompetenzsphäre
des Patriarchen wird von dem Gesetzeslehrerkollegium oder der Aka-
demie überwacht, in der er nur als der erste unter Gleichen fungiert
§ 1. Allgemeine Übersicht
In der Person des Jehuda ha’Nassi verbindet sich die Autorität des
Patriarchen mit der des Hauptes der Akademie, was eine Fixierung
der „mündlichen Lehre“ in einem schriftlichen Denkmal, der Mischna
oder der „zweiten Thora“, zur Folge hat. Später gehen die Wege der
weltlichen und der geistigen Macht, des Patriarchats und des akade-
mischen Kollegiums, nicht selten auseinander; doch lassen sich beide
den Schutz der nationalen Autonomie gleichermaßen angelegen sein.
Tiberias, das nunmehr an Stelle Jabnes getreten ist, wird zum Schau-
platz der Wirksamkeit sowohl der Patriarchen als auch der Gesetzes-
lehrer. Den „Tannaiten“, den Schöpfern der Mischna, folgen die
„Amoräer“, die Interpreten dieser zweiten Thora. Ihre Wirksamkeit
mag der oberflächlichen Betrachtung als allzu akademisch erscheinen,
doch war sie in Wirklichkeit durch jene Anforderungen bestimmt,
die aus der exzeptionellen Lage des Volkes unmittelbar folgten.
Als man nach dem Aufstande des Bar Kochba endgültig auf den
zwecklosen aktiven Widerstand der römischen Gewaltherrschaft ge-
genüber verzichten mußte, griffen die Volksführer erneut zu jener
Taktik der passiven Resistenz, die noch von den Pharisäern und dann
von den Mitgliedern des Synhedrion zu Jabne in Anwendung gebracht
worden war. Das System der Nomokratie gelangt nunmehr zu sei-
nem vollen Triumph. Die weitestgehende innere Autonomie, soweit
diese bei der politischen Abhängigkeit überhaupt erreichbar ist, soll
das Ziel all deines Strebens sein! — dies war das erste Gebot, das
diesem System zugrunde lag. Das zweite Gebot war aber: Wider-
strebe allem, was zur Verschmelzung mit den umgebenden Völkern
oder zur Assimilation führt! Das Prinzip der Selbstabsperrung kommt
immer mehr zur Geltung. Besonders galt es dabei, sich gegen die
christliche Sekte, dieses jüdisch-hellenistische Gemisch, abzuschließen,
das seinem ganzen Wesen nach dem nationalen Prinzip feindlich ge-
genüberstand. So wird der Zaun des Gesetzes, der Israel von den
Völkern trennt, immer höher und höher getürmt. Von ihrem Geiste
nach fremden oder gar feindseligen Elementen ganz umringt, ver-
wandelt sich die Nation in eine geistige Armee, der die Zucht und das
Reglement über alles geht. Die Formen dieser Reglementierung wer-
den in der immer mehr anschwellenden Gesetzgebung der Mischna
und des Talmud aufs minutiöseste ausgearbeitet. Wo aber das Prin-
zip der militärischen Zucht gilt, da ist es unstatthaft zu fragen, wozu
das eine oder das andere nötig oder warum es verbindlich ist. Es ist
i5
Die palästinensische Hegemonie
nötig, weil es in Zucht hält. Alle diese unzähligen religiös-rituellen
Vorschriften, diese ganze reichlich verzweigte Reglementierung der
Lebensweise, die jeden Schritt auf dem Lebenspfade des Juden im
voraus bestimmt, — sie sind einzig und allein darauf abgestellt,
dem ganzen Leben der zerstreuten Nation strenge Uniformität zu ver-
leihen, damit ein Jude seinen Stammesbruder an der ihm eigenen
Lebensführung stets und überall zu erkennen vermöge. Es ist dies
gleichsam die Uniform, an der die Soldaten einer in einem weit aus-
gedehnten Gelände verteilten Armee einander auf den ersten Blick er-
kennen, Im gesamten Gebiete Palästinas und der Diaspora, mitten un-
ter allen Rassen und Stämmen, bilden die Juden eine einheitlich orga-
nisierte geistige Heeresmacht, die den Artikeln ihres Militärreglements
strengstens Folge leistet. Sie ist auf Abwehr, nicht aber auf Angriff
bedacht; sie bewahrt ihr inneres Leben vor dem Eindringen fremd-
artiger Elemente; sie kämpft um ihre Individualität, um ihr Recht auf
freie, eigengesetzliche Entwicklung.
Indessen verlangte dieses System der Nomokratie von dem Ein-
zelnen die allergrößten Opfer. Die individuelle Freiheit des Menschen
mußte auf Schritt und Tritt der individuellen Freiheit der Nation zum
Opfer gebracht werden. Die Einengung der Persönlichkeit macht sich
nicht nur im praktischen Leben, sondern auch auf dem Felde des gei-
stigen Schaffens überaus fühlbar. Alles, was über die Schranken des
religiös-nationalen Wissens hinausging und an freie philosophische
Forschung grenzte, wurde als „griechische Weisheit“ (Chachmath
jawanith) verpönt. Wie viele tragische Konflikte mußte infolgedessen
dieses strenge Regime zeitigen! Bis zu uns ist aus dieser Zeit nur ein
einziger dumpf verhallender Protest gedrungen, der des Freidenkers
Elischa-Acher, der wegen seiner Vorliebe für die griechische Weisheit
von der Synagoge in Acht und Bann getan wurde. Doch wer will
sagen, wie viele solcher Ketzer es sonst noch gegeben haben mochte?
Wie oft mochte wohl der Ruf des freien Gedankens von dem Verrat
witternden Geschrei übertönt worden sein! In diesem Konflikt der
persönlichen Freiheit mit der Freiheit, d. i. mit der Eigenart der
Nation liegt die tiefe Tragik vieler Jahrhunderte jüdischer Geschichte
beschlossen. Die Angehörigen einer Nation, die sich fortwährend im
Zustande der Notwehr befindet, müssen alle lästigen Beschränkungen
der Kriegszeit über sich ergehen lassen. Mochten auch die geistigen
Diktatoren der Nation zuweilen die Grenzen der unumgänglichen
16
§ 1. Allgemeine Übersicht
Reglementierung überschritten und das „Joch des Gesetzes“ allzu
drückend gemacht haben, so war doch das Hauptziel ihres Strebens
stets durch die unabweisbaren Forderungen des Lebens, durch den
Trieb zur nationalen Selbsterhaltung gebieterisch bestimmt.
Das enthauptete, Jerusalems beraubte Palästina vermochte dennoch
als Zentrum der Nomokratie und als Stammsitz der Patriarchen und
der gesetzgebenden Akademien während dieser ganzen Periode seine
nationale Hegemonie zu bewahren. Auf die aus Jabne und Tiberias
herübertönenden Stimmen horcht die gesamte Diaspora. Erst gegen
Ende dieser Periode tritt der künftige Rivale Palästinas auf dem
Gebiete der nationalen Hegemonie auf den Plan: aus dem ge-
schichtlichen Dunkel tritt nämlich im III. Jahrhundert die Ju-
denheit Babyloniens hervor, das damals einen Restandteil des neu-
persischen Sassanidenreiches bildete. Gleich den palästinensischen Ge-
meinden vereinigen sich jetzt auch die jüdischen Gemeinden in Ba-
bylonien zu einem lebenskräftigen autonomen Verband, an dessen
Spitze der Patriarch der Diaspora, Rosch-Gola oder Exilarch, steht.
Bedeutende wissenschaftliche Kräfte (Rab, Samuel u. a.) ziehen aus
den Akademien Galiläas hierher, um die selbständigen talmudischen
Schulen Babyloniens zu gründen. So bildet sich ein großes nationales
Reservezentrum. Später, da das christliche Rom noch rücksichtsloser
als das heidnische die palästinensischen Juden bedrückt und sogar
ihre autonome Organisation zerstört, macht denn auch das freie
Judentum Babyloniens seine Ansprüche auf die nationale Hegemonie
mit vollem Nachdruck geltend.
2 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd.III
*7
Erstes Kapitel
Die Restauration der Selbstverwaltung
und das Synhedrion zu Jabne
(73—115)
§ 2. Die politische Lage unter der Dynastie der Flavier
In dem seiner Hauptstadt beraubten und verheerten Judäa wurde
eine militärische Verwaltungsordnung eingeführt. Die im Lande zu-
rückgelassene römische Besatzung setzte sich aus einer vollzähligen
Legion und außerdem aus Hilfstruppen zusammen. Der Oberbefehls-
haber der Truppen war zugleich der Statthalter Judäas. Die unter-
worfene Provinz wurde nun nicht mehr von einem zivilen Pro-
curator, sondern von einem Heeresobersten aus der Mitte der Prä-
torianer verwaltet Dem Eroberer von Masada, Silva (Band II, § 9°),
folgte in den nächsten vierzig Jahren eine Reihe von Statthaltern,
deren Namen mit keinerlei bemerkenswerten Ereignissen der jüdi-
schen Geschichte verbunden sind. Als Residenz diente den Statt-
haltern nach wie vor Caesarea am Meere, das von Vespasian in
eine kaiserlich-römische Kolonie verwandelt worden war. Jerusa-
lem war dermaßen verheert, daß, wie der Augenzeuge der Zerstö-
rung, Josephus Flavius, berichtet, „man kaum zu glauben vermochte,
diese Stätte wäre jemals bewohnt gewesen“. Desungeachtet schien es
der römischen Regierung geboten, in der zerstörten Stadt einen star-
ken militärischen Wachtposten zu hinterlassen. Befürchtete sie viel-
leicht, daß die geheiligten Ruinen, daß dieses Grabmal des alten
Ruhmes, an das sich die vom Schicksalsschlage getroffene Nation
noch mit ganzem Herzen klammerte, zu einer jüdischen Wallfahrts-
stätte werden könnte? Oder schien es ihr gar, daß der Geist Bar
Gioras und der heldenmütigen Zeloten aus diesen Trümmern, von
denen sogar die Steine so* beredt zum Herzen des Volkes sprachen,
18
§ 2. Die politische Lage unter den Flaviern
wieder zu neuem Leben erstehen könnte? Die Ereignisse, die sich ein
halbes Jahrhundert später abspielten, bewiesen zur Genüge, daß diese
Befürchtungen nicht grundlos waren. Doch in der ersten Zeit nach
dem Zusammenbruch lag den Juden der Gedanke an einen Aufstand
noch durchaus fern. Mußten sie doch ihre ganze Energie zur Wie-
derherstellung ihrer während des Krieges völlig erschütterten, wirt-
schaftlichen und sozialen Lage anspannen.
Mil Ausnahme von Jerusalem und Caesarea, wo kein einziger Jude
mehr übriggeblieben war, haben sich in allen übrigen, vom Kriegs-
gewitter verschonten Städten jüdische Gemeinden auch weiterhin er-
halten. Den Mittelpunkt dieser Gruppe judäischer Städte bildeten
Jamnia (Jabne) und Lydda im Bezirke von Jaffa. Viele von den
ehemaligen Stadtbewohnern ließen sich jetzt in Dörfern nieder und
bebauten das Land, das nunmehr als Eigentum des römischen kai-
serlichen Hauses galt und den Landbewohnern in Pacht gegeben
wurde. Neben den jüdischen Siedlungen entstanden Niederlassungen,
in denen ausschließlich Römer oder Griechen lebten. So war die
Stadt Emmaus in der Nähe von Jerusalem ausschließlich von römi-
schen Veteranen bewohnt. In nächster Nachbarschaft der am Fuße
des Berges Gerisim gelegenen heiligen Stadt der Samaritaner, Sichern,
entstand die griechisch-römische Kolonie Flavia-Neapolis („die neue
Stadt der Flavier“), die später mit Sichern gänzlich verschmolz und
der alten Stadt auch ihren neuen Namen gab (das heutige Nablus).
Hier stand ein Tempel zu Ehren des Zeus, und an diesem Orte
pflegte man olympische Spiele zu veranstalten, wie denn überhaupt
das schon früher stark hellenisierte Gebiet von Samaria sich immer
mehr von dem nationalen Kern Judäas loslöste. Dagegen vermochten
sich in den bei der Verheerung Judäas unversehrt gebliebenen Städten
Galiläas, die zu den Besitzungen Agrippas II. zählten (Zippora, Ti-
berias u. a.), Mittelpunkte des jüdischen Lebens auch jetzt noch zu
halten.
Unter den römischen Kaisern aus dem Hause der Flavier blieb
Judäa in der Lage einer unterworfenen Provinz („Judaea devicta“ auf
den Münzen dieser Kaiser), auf die die römische Regierung ein be-
sonders scharfes Auge hatte. Dies bedeutete aber keineswegs, daß die
römische Gewalt die Juden nicht mehr als eine Nation gelten lassen
wollte und sie im rechtlichen Sinne nur als einen Haufen von an
ihrem Glauben festhaltenden „Unterworfenen4 4 (deditices) betrach-
*9
2*
Das Synhedrion zu Jabne
tete1). Wie eng auch für die Römer die Begriffe „Nation“ und
„Staat“ miteinander verbunden sein mochten, so konnten sie dennoch
ein Volk, das in der gesamten antiken Welt den ausgeprägtesten
Typus einer besonderen Nationalität verkörperte, des Ehrentitels einer
Nation nicht berauben. So wurde es möglich, die Selbstverwaltung
der Gemeinden in den verschont gebliebenen Bezirken Judäas und
Galiäas nach und nach wieder aufzubauen, und schon zehn Jahre
nach der Zerstörung Jerusalems sehen wir an der Spitze dieses Ver-
bandes autonomer Gemeinden einen jüdischen Patriarchen, der von
der römischen Gewalt zunächst de facto und dann auch de jure an-
erkannt wird. Die Begründer der Flavierdynastie, Vespasian (69—79)
und Titus (79—81), ließen die loyalen Juden unbehelligt. Das rö-
mische Joch machte sich nur in der besonders für das nationale
Empfinden der bodenständigen Bevölkerung verletzenden Art der Be-
steuerung fühlbar. Außer den üblichen Kopf- und Vermögenssteuern
wurde nämlich bei allen im römischen Reiche lebenden Juden all-
jährlich eine besondere „jüdische Steuer“ (fiscus judaicus) in der
Höhe von zwei Drachmen (didrachmon) erhoben. Diese Steuer wurde
ihrer Vorgeschichte und ihrer symbolischen Bedeutung wegen als be-
sonders drückend empfunden. Sie trat bekanntlich an Stelle jener
nationalen Abgabe, die ehedem in der Höhe eines halben Sekels von
den Juden aller Länder zugunsten des Jerusalemer Tempels entrichtet
wurde und nun dem Tempel des Jupiter Capitolinus in Rom zugute
kommen sollte. Die ehemalige Tempelsteuer, die von überallher nach
Jerusalem zugunsten der Wohnstätte Jahves strömenden „heiligen
Gelder“, verwandelten sich somit in einen Tribut, der dem heidni-
schen Gotte Jupiter-Zeus gezollt werden mußte. Was früher das Band
versinnbildlichte, das die Nation mit ihrem geistigen Mittelpunkt in
1) Heute kann die Unrichtigkeit der Theorie Mommsens und seiner Schule,
der römischen Patrioten in der Geschichtswissenschaft, die diese falsche Ansicht
vertraten, als durchaus erwiesen gelten. In einer ganzen Reihe offizieller Urkunden
werden die Juden auch nach dem Falle Jerusalems als „Nation“ oder „Volk“ (na-
tio, populus, gens, ethnos) bezeichnet; unter Domitian und Hadrian ist ihre Re-
ligion gerade als eine nationale Religion mit politischer Färbung Verfolgungen
ausgesetzt. Und als im III. Jahrhundert, dem Gesetze des Garacalla zufolge, das
Bürgerrecht der gesamten Bevölkerung des römischen Reiches mit Ausnahme der
„unterworfenen“ Stämme verliehen wurde, wurde es auch den Juden nicht vorent-
halten, was der Theorie Mommsens direkt ins Gesicht schlägt. Dies wies Juster in
seinem Werke „Les juifs dans l’empire romain“, II, 19—23 (Paris 1914) in über-
zeugendster Weise nach.
20
§ 2. Die politische Lage unter den Flaviern
Jerusalem verknüpfte, wurde nunmehr zum Sinnbild der Gewaltherr-
schaft Roms. Diese bösartige Parodie verletzte die Juden aufs tiefste.
Die alljährlich wiederkehrende Eintreibung des „jüdischen Fiskus“
rief ihnen immer wieder ihre nationale Erniedrigung ins Gedächtnis
und riß die alte Wunde von neuem auf. — Überdies zogen die Römer
in Judäa gar oft den Landbesitz derjenigen Juden ein, die sie im
Verdachte der Teilnahme an dem vor kurzem unterdrückten Auf-
stande hatten. Das jüdische Gesetz untersagte zunächst den Juden den
Ankauf solcher konfiszierter Ländereien als eines den Volksgenossen
geraubten Gutes; später aber wurde der Ankauf freigegeben, damit
jüdischer Landbesitz nicht in römischen Händen verbleibe (Din sika-
rikon).
Wenn sich die Lage in Judäa unter Vespasian und Titus nicht
noch unerträglicher gestaltete, so erklärte sich dies vielleicht durch
den Einfluß, den die letzten Vertreter der herodianischen Dynastie,
Agrippa 11. und seine Schwester Berenike, auszuüben vermochten. Ein
treuer Vasall und Verbündeter Roms, behielt Agrippa auch nach der
Zerstörung Jerusalems seinen „königlichen“ Titel und seine Resitzun-
gen im nördlichen Teile Palästinas, die auch einige von Juden be-
wohnte Landschaften Galiläas mitumfaßten. Doch kümmerte sich
Agrippa nur wenig um die Verwaltung seines Resitzes. Meist weilte
er mitsamt seiner Schwester Rerenike in Rom, am Hofe des Vespasian
und Titus. Ob Agrippa wohl seine Reziehungen zum Hofe dazu be-
nutzte, um die Lage seiner Rrüder in Judäa nach der Niederwerfung
des Aufstandes zu erleichtern? Es mag sein, daß die Vertreter der
jüdischen Gemeinden in kritischen Augenblicken die Fürsprache Agrip-
pas in Rom anriefen und daß er sich dabei auch hilfsbereit zeigte.
Doch war sein Einfluß bei Hofe nur von kurzer Dauer. Seine Rolle
scheint zugleich mit der seiner Schwester ausgespielt gewesen zu sein.
Zunächst fand nämlich das in Judäa zwischen der schönen judäischen
Prinzessin und Titus angeknüpfte zarte Verhältnis in Rom seine Fort-
setzung (Rand II, § 84). Die als ßraut des Titus geltende Rerenike
nahm in seinem Palaste auf dem Palatin Wohnung und man war all-
gemein der Meinung, daß bald eine offizielle Ehe folgen würde. Der
Kaiser Vespasian und die römische Aristokratie widersetzten sich je-
doch der Verbindung des Thronfolgers mit einer Jüdin, und so sah
sich denn Titus genötigt, seine Geliebte zu verstoßen. Als Vespasian
tot war, kehrte Rerenike nach Rom zurück, in der Hoffnung, daß
21
Das Synhedrion zu Jahne
nun der Kaiser Titus sie mit offenen Armen empfangen werde; ihre
Erwartung schlug jedoch fehl: Titus hegte nicht mehr die früheren
Gefühle für sie und hielt es auch nicht für angezeigt, der römischen
gesellschaftlichen Meinung zu trotzen. Die enttäuschte Berenike ver-
ließ Rom und kehrte nach Palästina auf die Besitzungen ihres Bru-
ders zurück. Ihr Ende ist wie das des Agrippa in Dunkel gehüllt. Ihre
Namen haben sich nur auf einigen syro-palästinensischen Münzen1)
erhalten. Agrippa II. lebte ungefähr bis zum Ende der Regierung
des Domitian; nach seinem Tode wurde sein Besitzanteil in Palästina
zu der römischen Provinz Syrien geschlagen. So verschwanden die
letzten Vertreter der herodianischen Dynastie fast unbemerkt vom
Schauplatz der Geschichte, den nationalen Interessen des Judentums
entfremdet und aus dem Andenken des Volkes beinahe gänzlich ver-
wischt Nur die zeitgenössischen römischen Schriftsteller, die nament-
lich der Person der „Königin Berenike“ (Berenice regina), an die
sich allerhand Klatschgeschichten knüpften, regstes Interesse ent-
gegenbrachten, kommen häufig auf das Geschwisterpaar zurück.
Was Titus selbst betrifft, so haben sich über ihn in der Geschichte
zwei weit auseinandergehende Urteile erhalten: das siegreiche Volk
nannte ihn „Labsal des Menschengeschlechts“ (deliciae generis hu-
mani), während er in der Erinnerung der Besiegten als „Titus der
Frevler“ (Titus ha’rascha) fortlebte. Zu Ehren des Zerstörers Jeru-
salems errichteten die Römer Denkmäler: so wurde noch zu Lebzeiten
des Titus in Rom ein Triumphbogen errichtet, der jedoch im Mittel-
alter der Zerstörung anheimfiel, so daß sich nur eine Abschrift der
darauf angebrachten ruhmredigen Inschrift erhalten hat: „Der Senat
und das römische Volk — dem Imperator Titus, dem Caesar, dem
Sohne des göttlichen Vespasian, dem Augustus, dem Oberpriester . . .
!) Auf den mit griechischen Inschriften versehenen Münzen ist der Name
Agrippas II. gewöhnlich von dem Titel „Des Königs, des Freundes des Caesar
und des Freundes der Römer' begleitet, manchmal unter Hinzufügung des rö-
mischen dynastischen Namens „Julius“ („Marcus Julius Agrippa") und unter Er-
wähnung des Namens des römischen Kaisers („Autokrator Titos Kaisar Sebastos“). —
In Athen, wo Berenike sich auf dem Wege von Palästina nach Rom häufig aufzu-
halten pflegte, hat sich eine vom Stadtrat und der Bevölkerung („boule kai de-
mos“) zu ihren Ehren gestiftete Inschrift erhalten, in der sie in folgender Weise
tituliert wird: „Berenike, die große Königin, die Tochter des Königs Julius Agrip-
pa (I.) und der Sproß großer Könige, der Wohltäter der Stadt“ (d. i. Herodes I.
und seiner Nachfolger).
22
§ 2. Die politische Lage unter den Flaviern
zum Danke dafür, daß er, den Befehlen und den Ratschlägen seines
Vaters gemäß und unter dessen Anleitung, das judäische Volk unter-
warf und die Stadt Jerusalem, die alle Feldherren, Könige und Völ-
ker früherer Zeiten vergeblich angegriffen hatten, zerstört hat“. Ein
anderer Triumphbogen wurde erst nach dem Tode des Titus von des-
sen Bruder Domitian erbaut und mit folgender kürzerer Inschrift ver-
sehen: „Der Senat und das römische Volk — dem göttlichen Titus,
dem Sohne des göttlichen Vespasian, dem Vespasian Augustus“. Auf
diesem Triumphbogen, der noch heute in Rom zu sehen ist, haben
sich Reliefdarstellungen des feierlichen Zuges der Sieger sowie der
Siegestrophäen: des siebenarmigen Leuchters, des goldenen Schaubrot-
tisches und der Posaunen, die im Jerusalemer Tempel erbeutet wor-
den waren, erhalten. Dies war die Art, in der die Römer die Helden-
taten des Zerstörers der heiligen Stadt verherrlichten. Das jüdische
Volk verewigte jedoch den Namen des Titus auf seine eigene Weise.
Die talmudische Legende berichtet, daß nach der Tempelzerstörung
eine Mücke dem Titus in die Nase geflogen sei und jahrelang an sei-
nem Gehirn gebohrt habe, bis ihn der Tod von seinen fürchterlichen
Qualen erlöste. Mit dieser einfältigen Fabel trösteten sich die zu Boden
gedrückten Volksmassen als mit dem Beweis dafür, daß Gott die ent-
setzliche geschichtliche Freveltat nicht ohne gebührende Vergeltung
gelassen habe.
Der Bruder und Nachfolger des Titus, der despotische Domitian
(81—96), stand den Juden mit äußerster Feindseligkeit gegenüber.
Unter ihm wurde der demütigende „jüdische Fiskus“ bei allen im
römischen Reiche verstreuten Juden mit besonderer Strenge einge-
trieben. Die römischen Beamten sorgten dafür, daß sich niemand
durch Verleugnung seiner Zugehörigkeit zum Judentum von dieser
Steuer frei machen könnte. Der römische Geschichtsschreiber jener
Zeit, Suetonius, berichtet in seiner Biographie des Domitian: „Mit
der größten Rücksichtslosigkeit wurde der jüdische Fiskus ein-
getrieben. Man pflegte ihm (Domitian) über diejenigen Bericht zu
erstatten, die nach jüdischer Art lebten (judaicam viverent vitam) und
dies zu verheimlichen suchten, oder ihre Abstammung verleugneten,
um die ihrem Volke auf erlegten Abgaben zu hinterziehen. Ich ent-
sinne mich, in meiner frühen Jugend gesehen zu haben, wie man im
Beisein eines Procurators und eines vielgliedrigen Rates einen neun-
23
Das Synhedrion zu Jabne
zig jährigen Greis einer Untersuchung unterzog, um sich davon zu
überzeugen, ob er nicht beschnitten sei“. Dabei wurden nicht selten
auch die Christen ganz wie die Juden behandelt, da sie von Amts
wegen als jüdische Sekte galten. Die Regierung verfolgte unnach-
sichtlich sowohl die Römer, die eine Hinneigung zum Judentum oder
zum Christentum bekundeten, als auch deren „Verführer“. Die zum
Judentum neigenden Römer wurden der „Gottlosigkeit“, d. i. der
Abtrünnigkeit den römischen Göttern gegenüber, beschuldigt und auf
Grund eines allgemein gegen die Gottlosen, von der Staatsreligion Ab-
gefallenen gerichteten Gesetzes mit Verbannung oder mit dem Tode
bestraft. So verurteilte Domitian wegen der in Sympathien für den
jüdischen Glauben zutage getretenen „Gottlosigkeit“ seinen Ver-
wandten, den Konsul Flavius Clemens, zum Tode und dessen Gattin
Domicilla zur Verbannung (95—96). — Wir haben Grund anzu-
nehmen, daß die Juden während der Regierung Domitians im rö-
mischen Reiche in großer Gefahr schwebten. Einer christlichen Über-
lieferung zufolge stellte nämlich die römische Regierung Nachfor-
schungen darüber an, ob unter den Juden nicht vielleicht Abkömm-
linge des königlichen Davidsgeschlechtes noch am Leben wären,
die als Kronprätendenten das Volk zu einem Aufstand auf wie-
geln könnten1). Auch eine talmudische Sage weiß zu berichten,
daß der Kaiser die „Ausrottung aller Juden“ im römischen Reiche
befohlen habe, worauf sich aus Jabne vier Gesetzeslehrer nach Rom
begaben, denen es mit dem Beistände irgendeines Würdenträgers
(vielleicht des erwähnten Flavius Clemens?) gelang, den verhängnis-
vollen Befehl rückgängig zu machen. Diese dunklen Überlieferungen
stimmen somit mit dem Zeugnis des römischen Geschichtsschreibers
überein, demzufolge die Juden unter Domitian überaus gefahrvolle
Zeiten zu überstehen hatten.
Erst nach dem gewaltsamen Tode des Tyrannen kamen die Juden
wieder zur Ruhe. Die zweijährige Regierung seines Nachfolgers Nerva
(96—98) brachte für sie mancherlei Erleichterungen mit sich. Die
Verfolgungen auf Grund von Denunziationen über die Bekehrung von
Heiden zum jüdischen Glauben und über die Hinterziehung des „jü-
!) Diese vom Kirchengeschichtsschreiber Eusebius im Namen des römisch-christ-
lichen Verfassers Hegesippus übermittelte Überlieferung bezieht sich zugleich auch
auf die Regierungen des Vespasian und Trajan.
24
§ 3. Rabbi Jochanan ben Sakkai
dischen Fiskus“ nahmen jetzt ein Ende1). Die Ruhepause hielt auch
unter dem Kaiser Trajan (98—117) an, und erst gegen Ende seiner
Regierung brach unter den Juden der Diaspora eine Empörung gegen
Rom aus, die auch zu einer Volksbewegung in Judäa das Zeichen gab
t (unten, § 7).
§ 3. Rabbi Jochanan ben Sakkai und das Zentrum in Jabne
Schon in den ersten Jahren nach dem Falle Jerusalems, in diesen
Jahren der tiefsten nationalen Trauer, setzte in einer stillen Ecke
Judäas der Prozeß des nationalen Wiederaufbaus ein. Zum Mittel-
punkt der wiederhergestellten inneren Autonomie wurde das von den
Juden Jabne und von den Griechen Jamnia genannte, in der Küsten-
gegend bei Jaffa gelegene Städtchen. Hier hatte sich kurz vor dem
Falle Jerusalems eine winzige Kolonie von „Friedfertigen“ gesammelt,
an deren Spitze das Synhedrionmitglied Rabbi Jochanan ben
Sakkai stand (Band II, § 91). Dies war der Ort, wo der greise Ge-
setzeslehrer zusammen mit seinen treuen Schülern das Ende des
großen Krieges gegen die Römer abwartete. Von dem unheilvollen
Ausgang des Krieges überzeugt, verfolgten sie in den Tagen der Be-
lagerung Jerusalems von ihrer Zufluchtsstätte aus voll Kummer den
qualvollen Todeskampf ihrer Heimat. Als die Nachricht von der Zer-
störung der Hauptstadt und von der Einäscherung des Tempels Jabne
erreichte, zerrissen, wie die Sage berichtet, Jochanan und seine Schü-
ler ihre Kleider und brachen in lautes Wehklagen aus; so wird der
teure Heimgegangene auch von jenen beweint, denen sein Ende un-
abwendbar schien. Manche von den Jüngern ließen ihren Mut sinken;
es dünkte sie, als seien mit der Zerstörung des Tempels und der Ein-
stellung des Opferdienstes die Grundlagen der jüdischen Religion
selbst für immer erschüttert. Doch der Meister sprach ihnen Trost
zu und suchte sie zu überzeugen, daß der Judaismus auch unab-
hängig von dem nicht mehr bestehenden Tempelkult aufrechterhal-
1) Darüber liegt uns ein Zeugnis des Geschichtsschreibers Dio Cassius vor
(LXVIII, 1). Damit in Zusammenhang steht anscheinend auch die Inschrift auf den
Münzen des Nerva: Fisci judaici calumnia sublata. Treffend bemerkt dazu einer
der neuesten Forscher (Juster, Les Juifs etc. II, 2 58), daß diese Inschrift wohl
den Verzicht auf Verfolgungen auf Grund falscher Anschuldigungen (calumnia)
bedeutete, nicht aber den auf die den „Fiskus“ und den Abfall von der Staats-
religion betreffenden gesetzlichen Bestimmungen selbst.
25
Das Synhedrion zu Jahne
ten werden könne. Er rief ihnen die Worte der biblischen Propheten
ins Gedächtnis, die immer wieder darauf hingewiesen hatten, daß die
wahre Gottesverehrung nicht in Opferdarbringungen, sondern in
Frömmigkeit und guten Taten bestehe.
In diesem Augenblick der schwersten Krise durfte man den Kopf
nicht hängen lassen. Der nationale Organismus war von einem harten
Schlage getroffen, und nun hieß es dafür sorgen, daß dieser
Schlag nicht tödlich werde. Man stand jetzt vor der Aufgabe,
das Volk den veränderten politischen Verhältnissen gemäß zu reorgani-
sieren. Es galt, unverzüglich an die Wiederherstellung der Ordnung
in den Gemeinden, an die Wiedererrichtung einer wenn auch ge-
schmälerten Autonomie zu gehen. Das Volk bedurfte dringend eines
Zentralorgans der Selbstverwaltung, das das frühere Jerusalemer Syn-
hedrion oder das neben ihm bestehende gesetzgebende Gelehrtenkol-
legium ersetzen konnte. Jochanan ben Sakkai, der das einzige noch
am Leben gebliebene Mitglied des letzten Jerusalemer Kollegiums war
und die Traditionen Hilleis treu bewahrte (die talmudische Überliefe-
rung nennt ihn den „jüngsten der Schüler Hillels“), war gleichsam
von der Vorsehung selbst dazu ausersehen, diese Tat der gesellschaft-
lichen Restauration zu vollbringen. Unter seiner Leitung bildete die
in Jabne zusammengetretene Gruppe von Gelehrten oder sonst in der
Öffentlichkeit bekannten Persönlichkeiten ein „Beth-din“ oder Tri-
bunal, das faktisch die Funktionen des Synhedrion, d. i. des höchsten
Organs der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung,
in sich vereinigte. Im Vertrauen auf die „Friedfertigkeit“ Jochanans
legte die römische Regierung seinen Bemühungen um die Wiederher-
stellung des Synhedrion, als eines jeglicher politischen Färbung ent-
behrenden Organs der Gemeindeautonomie, keine Hindernisse in den
Weg.
In den von religiös-akademischem Geiste getragenen talmudischen
Überlieferungen haben sich mehr Nachrichten über religiöse als über
gesellschaftliche Reformen des Synhedrion von Jabne erhalten. So
heben diese Überlieferungen namentlich die Neuregelung des festtäg-
lichen Gottesdienstes, der nunmehr auf den Opferkult verzichten mußte,
hervor; wir erfahren, daß genaue Vorschriften über die Feststellung
des Neumondes ausgearbeitet wurden, zwecks Fixierung der Termine
für die in den einen oder den anderen Monat fallenden Feiertage.
Außerdem ließ man viele Bräuche des Tempelkultes zum Andenken
26
§ 3. Rabbi Jochanan ben Sakkai
an die Vergangenheit auch jetzt in Kraft, so die feierliche Zeremonie
der Volkssegnung durch die Nachkommen der Priester, die Kohanim.
Auch die biblischen Gesetze über die Weihgaben zugunsten der Ko-
hanim und Leviten blieben in Geltung, gleichsam als ein Symbol da-
für, daß diese Priester eines Tages nach dem Wiederaufbau Jerusa-
lems und des Tempels von neuem ihres Amtes walten würden.
Neben dem Pietätsgefühl und der Hoffnung auf die Zukunft wirkte
dabei wohl auch eine praktische Notwendigkeit mit: die zahlreichen
Priester waren nach der Zerstörung des Tempels jeglichen Einkom-
mens beraubt, und das Volk konnte unmöglich denen, die noch vor
kurzem die offizielle Geistlichkeit repräsentiert hatten, seine Fürsorge
entziehen.
Eine besonders wichtige nationale Bedeutung hatte die den Kalen-
der betreffende Kompetenz des Synhedrion. Da nämlich die Juden
die Zeit überall in Mondmonate einteilten, so war die Feststellung des
Neumondes für den Beginn des Monats maßgebend und demnach
auch für die Fixierung der entsprechenden Feiertagstermina Anderer-
seits mußte die verschiedene Zahl der Tage im Mond- und im Son-
nenjahre (354 und 365) durch die in gewissen Zeitabständen er-
folgende Einschaltung eines dreizehnten Mondmonats ausgeglichen
werden: sonst hätten die Fristen der mit dem Sonnenkreislauf zu-
sammenhängenden Jahresfeste, wie Passah, Schebuoth und Sukkoth,
nicht eingehalten werden können und das Frühlingsfest (Passah) wäre
beispielsweise in die Sommer- oder gar in die Herbstzeit gefallen.
Diese beiden Funktionen, nämlich die der Beobachtung der Mond-
phasen und die der Bestimmung der Schaltjahre im Zusammenhang
mit der Festsetzung der Feiertage, bildeten ehemals ein „Priesterge-
heimnis4ein ausschließliches Vorrecht der Tempelpriesterschaft, und
oblagen später dem Jerusalemer Synhedrion. Noch kurz vor der Zer-
störung des Tempels wurden sie vom Haupte des Synhedrion, von
Gamaliel dem Alten (Band II, § 91), versehen. Jetzt, nach dem Falle
Jerusalems, gewann diese Kompetenz, die nunmehr dem Synhedrion
von Jabne zugefallen war, eine besonders hervorragende Bedeutung
dadurch, daß sie der Erhaltung der Autorität des Synhedrion und der
Hegemonie des palästinischen Judentums überhaupt zugute kam. Aller-
orten, nicht nur in Palästina, sondern auch in der fernen Diaspora,
wurden die Feste an jenen Tagen gefeiert, über deren Festsetzung
die jüdischen Gemeinden vom Synhedrion durch besondere Boten be-
27
Das Synhedrion zu Jahne
nachrichtigt zu werden pflegten. Somit ging nun von Jabne die Re-
gelung eines der wichtigsten Elemente des Volkslebens aus; dadurch,
daß sich dort jetzt das leitende Organ des inneren Volkslebens befand,
wurde die Diaspora nach der Zerstörung des nationalen Zentrums in
Jerusalem mit dem Heimatlande durch neue Bande verknüpft.
Ein anderes hervorragendes Werk des Jochanan ben Sakkai war
die Gründung eines akademischen Zentrums in Jabne. Das Lehrhaus,
„Beth-ha’midrasch“, stand in engstem organischem Zusammenhang
mit dem „Beth-din“ oder Synhedrion, da die theoretische Ausarbei-
tung der Grundsätze der religiösen Lebensführung und der Normen
des Zivilrechts auch deren praktische Handhabung bestimmte. Das-
selbe Gelehrtenkollegium war in eifrigster Weise in beiden Institu-
tionen tätig, die im Grunde genommen nur zwei verschiedene Ab-
teilungen ein und derselben Institution bildeten. Seit der Reformie-
rung der „mündlichen Lehre“ in den Zeiten des Hillel und Schammai
wurde der Einfluß der Schule auf die Gesetzgebung, der Einfluß der
„Legisten“ auf die Selbstverwaltung immer ausschlaggebender. Die
Methode der Gesetzesinterpretation, derzufolge die neuen Gesetz-
gebungsnormen auf logischem oder kasuistischem Wege aus dem
Thoratext („midrasch ha’thora“) gefolgert wurden, eröffnete den
Rechtsgelehrten ein weites Betätigungsfeld und veranlaßte die Heraus-
bildung verschiedener Richtungen unter ihnen. Der alte Streit
zwischen den Schulen des Hillel und des Schammai (Beth Hillel und
Beth Schammai) dauerte fort. Die Hilleliten strebten danach, die
„Umzäunung der Thora“ ohne übertriebene Reglementierung des all-
täglichen Lebens durchzuführen, während die rigoristisch eingestell-
ten Schammaiten vor keinen Auswüchsen in dieser Hinsicht zurück-
schreckten, indem sie namentlich die die Juden von den umgebenden
Völkern absondernden Gesetze zu verschärfen trachteten. Was nun
Jochanan ben Sakkai betrifft, so war er ein Anhänger der gemäßigten
Schule des Hillel, in deren Geiste er auch die Arbeit des Gelehrten-
kollegiums in Jabne zu beeinflussen suchte. Seiner Autorität war es
zu verdanken, daß viele umstrittene Fragen der Gesetzeskunde in
Übereinstimmung mit den Lehren der Hilleliten entschieden werden
konnten.
In den akademischen Kreisen von Jabne ging man auch zuerst
daran, den auf gehäuften Stoff der „mündlichen Thora“, der später
in den Bestand der Mischna aufgenommen wurde, zu sichten und
28
§ 3. Rabbi Jochanan ben Sakkai
systematisch zu durchforschen. Dieser Stoff setzte sich aus zwei ver-
schiedenen Bestandteilen zusammen: der Halacha und der Hag gada
(Agada). Als „Halacha“ bezeichnete man jede auf formgerechter Ausle-
gung des Thoratextes beruhende, irgendeine Rechtsmaterie betreffende
Meinungsäußerung der Gelehrten, die entweder Rechtskraft erlangt
hatte oder wenigstens den Anspruch darauf erhob. Die „Haggada“ be-
stand hingegen aus moralischen, theologischen und ähnlichen Beleh-
rungen, die sich gewöhnlich ebenfalls auf der Thorainterpretation
gründeten und die Form von an biblische Textstellen anknüpfenden
Predigten * hatten (der größte Teil der haggadischen Bruchstücke
scheint in der Tat synagogalen Predigten entlehnt zu sein).
Auch auf dem Gebiete der Haggada folgte Jochanan ben Sakkai
den edlen und menschenfreundlichen Prinzipien der Weltanschauung
Hilleis. Die im Talmud erhaltengebliebenen Sentenzen des Jochanan
zeugen von seiner hohen sittlichen Gesinnung. „Saget — so fragte er
einst seine Schüler — welcher Weg der beste ist, an den sich der
Mensch zu halten habe?“ Der eine antwortete: „Ein gutes Auge“
(ein freundlicher Blick); der andere sagte: „Ein treuer Freund“; der
dritte meinte: „Ein guter Nachbar“; der vierte versetzte: „Das Ver-
mögen, das Kommende vorauszusehen“ (der Weitblick); der fünfte
aber rief: „Ein gutes Herz!“ Diese letzte, von Eleasar ben Arach er-
teilte Antwort fand denn auch die volle Zustimmung des Meisters:
„In dieser Antwort — sprach Jochanan zu seinen Jüngern — sind
alle eure Antworten enthalten und mitinbegriffen“. Mit Nachdruck
warnte Jochanan vor der den Gelehrten nicht selten eigenen Selbst-
überhebung: „Hast du viel Thora gelernt — so pflegte er zu sagen —
so tue dir selber nicht zu viel darauf zugute, denn dazu bist du ja
geschaffen!“ Die Unterjochung des jüdischen Volkes aufs tiefste
beklagend, erblickte Jochanan darin eine Folge nicht nur äuße-
rer, sondern auch innerer Ursachen: „Ihr habt eurem Gotte den Ge-
horsam verweigert, nun müßt ihr Fremden, Anbetern falscher Götter
gehorchen; ihr verweigertet dem Tempel einen halben Sekel, nun
müßt ihr fünfzehn Sekel (verschiedener Abgaben) zugunsten des
Reiches eurer Feinde entrichten“. — Vor seinem Tode segnete er seine
Jünger mit den Worten: „Möge die Gottesfurcht eure Taten nicht
minder bestimmen denn die Furcht vor Menschen!“ In diesen Worten
lag, abgesehen von ihrem religiösen Gehalte, gleichsam auch ein neues
nationales Programm beschlossen: ein der staatlichen Zucht entbeh-
29
Das Synhedrion zu Jahne
rendes Volk solle sich unter die sich selbst auferlegte geistige Zucht
geradeso beugen, als stünde die Staatsgewalt mit ihrem ganzen
Zwangsapparat dahinter.
Jochanan ben Sakkai erreichte ein sehr hohes Alter und starb von
seinen Jüngern umgeben. Den Sturz des jüdischen Staates scheint er
nur um eine verhältnismäßig kurze Zeit überlebt zu haben (er starb
ungefähr zwischen den Jahren 80 und 85), doch in dieser kurz be-
messenen Zeitspanne gelang es ihm, den unverrückbaren Grundstein
für den Aufbau der inneren Autonomie des Judentums zu legen.
§ 4. Der Synhedrionvorsteher Gamaliel II.
Die auf die Befestigung der inneren Autonomie und der geistigen
Einheit der Nation gerichteten Bestrebungen der Yolksführer hätten
zu keinem bleibenden Ergebnis geführt, wenn der kurzen Tätigkeit
des Jochanan ben Sakkai nicht die viel länger dauernde und tatkräf-
tigere Verwaltung seines Nachfolgers, Rabbi Gamaliels II. aus Jahne
(Gamaliel de’Jabne), gefolgt wäre. Gamaliel entstammte dem Hillel-
geschlechte, dessen Vertreter drei Generationen hindurch an der Spitze
des Gesetzeslehrerkollegiums am Jerusalemer Synhedrion standen. Ein
Enkel Gamaliels I. und ein Sohn des Patrioten Simon, des Mitglieds
der letzten revolutionären Regierung (Band II, § 91), wurde Ga-
maliel II. noch in seiner frühen Jugend von Jochanan ben Sakkai
auf Grund einer besonderen Genehmigung des Jerusalem belagernden
Titus von dort nach Jabne gebracht. Während einer Reihe von Jahren
stand er unter der Vormundschaft des Jochanan und gehörte zu des-
sen eifrigsten Jüngern. Nach dem Tode seines Vormundes nahm Ga-
maliel, der bereits ein reifes Alter erreicht hatte, den ihm auch von
Rechts wegen gebührenden Platz an der Spitze des Synhedrion zu
Jabne ein. Die Öffentlichkeit scheint die Vorrangstellung eines Man-
nes, der seiner Abstammung nach ein gutes Recht darauf besaß, gern
anerkannt zu haben, und auch die römische Regierung erteilte der
Volkswahl ihre Sanktion. Die Überlieferung will wissen, daß Gamaliel
von den römischen Behörden amtlich als Oberhaupt der jüdischen
Gemeinden (Nassi) oder Patriarch bestätigt worden sei. Gar oft trat
Gamaliel in der Tat vor der römischen Regierung als Repräsentant
und Sachwalter des jüdischen Gemeinwesens auf, und auch in den An-
gelegenheiten der inneren Selbstverwaltung wurde von ihm die einem
Führer und Oberhaupt zustehende Macht zu voller Geltung gebracht.
3o
§ 4. Der Synhedrionvorsteher Gamaliel II.
Für sein hohes Verwaltungsamt eignete sich Gamaliel viel eher als
sein gelehrter Vorgänger Jochanan. Er zeichnete sich durch zähe Wil-
lenskraft und durch herrisches Wesen aus; außer der Kenntnis der
jüdischen Gesetze und der religiösen Überlieferungen verfügte er noch
über eine für die damaligen Verhältnisse nicht unbedeutende weltliche
Bildung: er beherrschte die griechische und lateinische Sprache und
war überdies in der Astronomie bewandert. Der Tradition zufolge,
nahmen sich die Familienangehörigen des Gamaliel die Freiheit, sich
mit der „griechischen Weisheit“ zu befassen, was ihnen aus dem
Grunde nachgesehen wurde, weil sie „dem Throne nahestanden“,
d. i. mit Hof Würdenträgern verkehrten. Diese Vereinigung geistiger
Würde mit weltmännischer Gewandtheit war für einen Repräsentan-
ten der jüdischen Selbstverwaltung in jenen schwierigen Zeiten durch-
aus unumgänglich. Gamaliel trat nämlich in der Öffentlichkeit noch
unter Domitian hervor, als die Juden im römischen Reiche Verfol-
gungen ausgesetzt waren. Nicht gering war die Gefahr, die neben
den Juden auch dem Judaismus drohte, dessen Widersacher nicht
nur unter den Heiden, sondern auch unter den Anhängern des Chri-
stentums anzutreffen waren. Diesen war die Zerstörung Jerusalems
ein Beweis dafür, daß der altüberkommenen jüdischen Lebensord-
nung ein Ende gesetzt sei, und daß nur der neue Glaube über jene
Mittel und Wege zur Erlösung von der Sünde verfüge, die ehedem
der Opferdienst im Tempel zu bieten vermochte. In manchen Volks-
schichten war denn auch die Neigung zum Christentum unverkennbar,
und so vermochte die Sekte der Judenchristen, die sich von der Ge-
folgschaft des Apostels Paulus wegen deren abweisenden Verhaltens
den jüdischen Grundgesetzen gegenüber abgesplittert hatte, mit Leich-
tigkeit unter den einfältigen jüdischen Volksmassen, denen diese Sekte
ihrer Herkunft und ihrer ganzen Lebensführung nach überaus nahe-
stand, für ihre Lehren zu werben.
Unter diesen Umständen mußten dem Synhedrion außerordentliche
Machtbefugnisse zu Gebote stehen, damit es den durch äußeren Druck
wie durch innere Zersplitterung heraufbeschworenen Gefahren begeg-
nen konnte. Überdies galt es, diese Machtbefugnisse soweit wie mög-
lich in den Händen des Patriarchen als des Vorstehers des Synhedrion
zu vereinigen. Auf eine solche Machtkonzentration um der Hebung der
nationalen Zucht willen ging denn auch Gamaliel II. aus, doch ge-
lang es ihm nur mit Mühe, sein Ziel zu erreichen. Aus der Schule
3i
Das Synhedrion zu Jabne
des Jochanan ben Sakkai gingen nämlich noch andere maßgebende l
Gesetzeslehrer hervor, die an verschiedenen Orten ihre eigenen, außer- (
halb der Kontrolle des Synhedrion von Jabne stehenden Schulen ge- J
gründet hatten. Der Lieblingsschüler des Jochanan, Eleasar ben r
Arach, zog sich ganz ins Privatleben zurück und siedelte nach Em- t
maus über, während die hervorragenden Gelehrten Elieser ben Hyr- f
kan und Josua ben Chananja besondere Schulen gründeten, der eine
in der Stadt Lydda, der andere in dem zwischen Lydda und Jabne I
gelegenen Pekiin. Im Zusammenhang mit diesem Zerfall der Gelehr- I
tenkörperschaft stand auch die Verschärfung der alten Streitigkeiten t
zwischen den Schammaiten und den Hilleliten. Viele wichtige Fragen t
des Zivilrechts und der rituellen Lebensführung wurden von den Ver- c
tretern der beiden miteinander wetteifernden Parteien in verschie- I
dener Weise entschieden: was von dem einen maßgebenden Lehrer t
untersagt wurde, wurde von dem anderen gestattet, und auch umge- a
kehrt. „Die eine Thora — berichtet die Überlieferung — lief Gefahr, t
sich in zwei verschiedene Thoras zu spalten“. Dieser Zwist in der (
Mitte der Gesetzeslehrer veranlaßte nun den Patriarchen Gamaliel, 1
strenge und energische Maßnahmen zu ergreifen, um die Allein- r
herrschaft des Synhedrion auf eine feste Grundlage zu stellen. I
In seinem Bestreben, einer endgültigen Spaltung vorzubeugen, trat a
Gamaliel vor allem an eine Überprüfung der wichtigsten Gesetzesbe- I
Stimmungen heran, die zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den
Hilleliten und Schammaiten Anlaß gaben. Er legte die Streitfragen ^
dem Synhedrion, an dem sich Vertreter der beiden Parteien beteilig- ^
ten, zur Beratung vor und bestand darauf, daß die von der Mehr-
heit gutgeheißene Ansicht endgültige Gesetzeskraft erlange. Jeder von ^
der Minderheit ausgehende Versuch, sich einem von der Mehrheit 8
gefaßten Beschluß zu widersetzen, wurde seitdem als Gehorsamsver- £
Weigerung geahndet, wobei sich Gamaliel nicht scheute, auch über
hervorragende Gelehrte strenge Strafen zu verhängen. Diese harten *
Maßnahmen zogen ihm die erbitterte Gegnerschaft gar vieler zu, doch ^
ließ er sich auf seinem Wege zum ersehnten Ziele, der unerschütter- £
liehen Einheit der Gesetzgebung, durch nichts irremachen. Um die ^
gesetzgebende Körperschaft von unzuverlässigen Elementen zu säu- ^
bern, gab er Befehl, alle nicht genügend vorgebildeten oder nicht c
durch und durch aufrichtigen Männer, „deren Inneres nicht wie ihr c
Äußeres ist“, von den Sitzungen des Synhedrion fernzuhalten. Zur ^
32
§ 4. Der Synhedrionvorsteher Gamaliel II.
Unterwerfung seiner Widersacher, die sich der parlamentarischen
Ordnung nicht fügen wollten, stand Gamaliel ein überaus wirksames
Mittel zu Gebote: der Bannfluch („Niddui“), der auf dem aus der Ge-
meinschaft exkommunizierten Frevler so lange lastete, bis dieser Reue
bekundete. Sogar einigen hervorragenden Gesetzeslehrern sollte diese
harte Strafe des Ostrakismus nicht erspart bleiben.
So wurde der Bannfluch über einen der Oppositionsführer, das
Haupt der Schule zu Lydda, Elieser ben Hyrkan, verhängt. In den
Fragen der Gesetzesauslegung gehörte Elieser der konservativen Rich-
tung an. Ein Parteigänger der Schammaiten, hing er an allen alten
Überlieferungen und wies jede Abweichung davon entschieden ab,
ohne sich an die Beschlüsse des Synhedrion zu kehren. Einst, als
Elieser, auf seiner Meinung beharrend, sich weigerte, einen eine ri-
tuelle Frage betreffenden Mehrheitsbeschluß anzuerkennen, wurde er
auf das Drängen des Gamaliel hin in Acht getan. In diesem Falle un-
terdrückte der Patriarch sogar seine verwandtschaftlichen Gefühle
(Elieser hatte nämlich eine Schwester Gamaliels zur Frau), und als
ihm von mancher Seite seine übermäßige Strenge zum Vorwurf ge-
macht wurde, rief er: „Du, mein Gott, weißt es, daß ich nicht meiner
Ehre oder der meiner Vorfahren zuliebe so gehandelt habe, sondern
allein um deiner Herrlichkeit willen, damit Zwist und Spaltung in
Israel nicht überhand nehmen!“ Die Folge dieser Maßregelung des
Rabbi Elieser war sein endgültiges Ausscheiden aus dem Gelehrten-
kollegium in Jabne, so daß er dem Einigungswerke Gamaliels nicht
länger im Wege stehen konnte.
Repressivmaßregeln trafen auch noch einen anderen Gelehrten:
Rabbi Josua ben Ghananja. Ein tiefschürfender Rechtsgelehrter, der
auch den grundlegenden religionsphilosophischen Problemen ein re-
ges Interesse entgegenbrachte, machte Josua nie aus seiner wahren
Meinung ein Hehl und vertrat sie voll Eifer in den Sitzungen des Ge-
lehrtenkollegiums; dabei zeichnete er sich jedoch durch außerordent-
liche Friedensliebe aus und suchte, bei aller Treue seiner Überzeu-
gung gegenüber, jeden Zwiespalt in der Gemeinschaft zu verhüten.
Die Gefahr einer solchen Spaltung drohte unmittelbar im Zusammen-
hang mit einer der wichtigsten, zu der Kompetenzsphäre des Synhe-
drion und des Patriarchen gehörenden Fragen: mit der des Kalender-
dienstes (oben, § 3). Der Patriarch hielt nämlich die Festsetzung der
Kalenderfristen und der Festtage für seine Prärogative und konnte
3 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd, III
33
Das Synhedrion zu Jahne
in diesem Punkte keinen Widerspruch dulden, da dieser die Einheit-
lichkeit der religiösen Lebensführung zerschlagen hätte. Eines Tages
setzte nun Gamaliel den Neumondstag des Monats Tischri auf Grund
der Aussagen zweier nicht ganz zuverlässiger Beobachter fest. Da
jedoch in den Monat Tischri die wichtigsten Herbstfeiertage fallen:
der Neujahrstag, der Tag der Versöhnung und das Laubhüttenfest,
so beanstandete ein Teil der Gesetzeslehrer die Feststellungen des
Patriarchen und drang auf eine neue Ansetzung der Festtage auf
Grund von anderen, ihrer Meinung nach mehr zuverlässigen Beobach-
tungen der Mondphasen. An der Spitze dieser Opposition stand
Josua ben Ghananja. Dieser Widerstreit hätte dazu führen kön-
nen, daß ein und derselbe Festtag in verschiedenen Teilen des jüdi-
schen Gemeinwesens an verschiedenen Tagen begangen worden wäre.
Da erteilte Gamaliel, der die Autorität der Patriarchenwürde nicht
zu Schaden kommen lassen wollte, Josua den Befehl, gerade an dem
Tage, auf welchen, dessen Kalenderberechnungen zufolge, der Jom-
kippur-Fasttag (Versöhnungstag, der io. Tischri) fiel, mit Wander-
stab und Reisesack vor ihm zu erscheinen, damit er so die Falschheit
seiner Ansicht vor aller Welt kundtue. Den demutvollen Josua berührte
es schmerzlich, daß er die Heiligkeit des erhabenen Fasttages entwei-
hen müsse, doch hielt er es für geboten, dem Befehl des Synhedrion-
hauptes Folge zu leisten, um eine Spaltung im Volke zu verhüten, und
begab sich in der Tat an dem festgesetzten Tage mit Stab und Tasche
zu Gamaliel. Dieser war, wie die Sage berichtet, von der Demut Jo-
suas so sehr gerührt, daß er ihm entgegenkam und ihn mit folgen-
den Worten begrüßte: „Friede sei mit dir, mein Meister und mein
Jünger! Du bist mein Meister, denn du übertriffst mich an Wissen,
zugleich aber mein Jünger, denn so sehr hast du dich mir gegenüber
gehorsam gezeigt!“
Die von Gamaliel bei der Bekämpfung der akademischen Zwistig-
keiten angewandten diktatorischen Maßnahmen steigerten jedoch nach
und nach den Unwillen des Synhedrion und führten schließlich zu
einer zeitweiligen Absetzung des Patriarchen. Es geschah dies unter
folgenden Umständen. Gamaliel veranlaßte das Synhedrion unter an-
derem zur Annahme einer Reihe von Gesetzen, die die vorgeschriebe-
nen alltäglichen Andachten auf bestimmte Stunden festsetzten. Hin-
sichtlich der Verbindlichkeit des Abendgebetes waren indessen nicht
alle Gelehrten mit dem Patriarchen einig; zu den Widersprechenden
§ 4. Der Synhedrionvorsteher Gamaliel 11.
gehörte auch Josua ben Ghananja, der in einem bestimmten Einzel-
fall die Abendandacht denn auch als unverbindlich erklärte. Als Ga-
maliel dies erfahren hatte, legte er die Frage erneut dem Synhedrion
zur Beschlußfassung vor; hier blieb jedoch die Ansicht des Patriar-
chen unwidersprochen. Auch der an der Sitzung teilnehmende Josua
hielt mit seiner Meinung zurück. Darauf warf Gamaliel seinem Geg-
ner öffentlich Mangel an Aufrichtigkeit vor. Lange stand Josua wie
ein Angeklagter vor ihm und ließ die schroffe Zurechtweisung schwei-
gend über sich ergehen. Da brach aber ob dieser Demütigung des
hochangesehenen Gesetzeslehrers im Synhedrion plötzlich ein Sturm
der Entrüstung hervor. Es ertönten laute Protestrufe. Man rief Ga-
maliel zu: „Wer bliebe von deinem Grimme noch verschont?“ In die
Sitzung drang darauf eine Schar von Gelehrten ein, die bis dahin auf
Grund einer Verfügung des Vorstehers von ihr ferngehalten worden
waren. Es vollzog sich eine akademische Umwälzung. Gamaliel wurde
«der Gehorsam verweigert und man ging unverzüglich an die Wahl
eines neuen Synhedrionvorstehers.
Die Wahl fiel auf den jugendlichen Eleasar ben Asarja, einen
wohlhabenden Gesetzeslehrer von vornehmer Herkunft, der auf seine
Abstammung vom großen Esra stolz war. Die Beschränkungen, die
Gamaliel in bezug auf die Zulassung zum Synhedrion eingeführt
hatte, wurden nunmehr außer Kraft gesetzt; bei der Beratung über
rechtliche und religiöse Fragen gewann jetzt oft die Meinung der
Widersacher des abgesetzten Vorstehers die Oberhand. Viele Streit-
fragen wurden im Geiste der Schammaiten entschieden; andere fan-
den ihre Lösung auf dem Wege eines Ausgleichs zwischen den Leh-
ren der Schammaiten und denen der Hilleliten. Unter anderem standen
die Fragen über die Heiligsprechung jener zwei biblischen Bücher,
die aus späterer Zeit stammten („Hohelied“ und „Kohelet“), zur Ver-
handlung, sowie über die Aufnahme der Neubekehrten aus der Mitte
der Abkömmlinge der Ammoniter und Moabiter in die jüdischen Ge-
meinden. Die im Synhedrion in den auf die Umwälzung folgenden
Tagen geführten Verhandlungen wurden protokolliert und haben sich
in dem kleinen Mischnatraktat „Edujoth“ erhalten.
In der neuen Lage eines abgesetzten Volksoberhauptes verstand
es Gamaliel, seinen Edelmut voll zur Geltung zu bringen: er fuhr
fort, sich an den Arbeiten des Synhedrion als einfaches Mitglied zu
beteiligen, und, obwohl für seine Überzeugungen stets mit Entschie-
3*
35
Das Synhedrion zu Jabrte
denheit eintretend, fügte er sich dennoch ohne Murren den Mehr-
heitsbeschlüssen. Jetzt begriff er wohl, daß er in seinem Streben,
die Gesetzgebung auf eine einheitliche Basis zu stellen, zu weit ge-
gangen war. Auch mit dem von ihm beleidigten Josua suchte er
sich auszusöhnen. Die Sage berichtet, daß der auf großem Fuße
lebende Gamaliel, als er Josua aufsuchte, höchst verwundert war,
diesen in armseligen Verhältnissen bei der Ausübung eines Hand-
werks, der Anfertigung von Nadeln, anzutreffen. „Ist denn die§ die
Weise, in der du dein Brot verdienst?“ — fragte er voll Teilnahme
seinen gelehrten Genossen. Josua erwiderte aber mit bitterem Vor-
wurf: „Wehe dem Geschlechte, das dich zu seinem Vertreter hatl
Blieb es dir denn bis jetzt verborgen, wie sich die Gelehrten plagen
müssen?“ Dennoch verzieh er Gamaliel seine frühere Schroffheit und
söhnte sich völlig mit ihm aus. Bald versöhnten sich auch die übri-
gen Gelehrten mit dem früheren Patriarchen. Sie konnten sich jetzt
überzeugen, daß Gamaliel sich bei seinen harten Maßnahmen nicht*
von Ehrgeiz, sondern einzig und allein von der Sorge um die gei-
stige Einheit des Volkes hatte leiten lassen. So wurde er denn er-
neut in Amt und Würde eingesetzt, wenn auch nicht in vollem Um-
fange, denn er mußte sich jetzt in seine Befugnisse als Vorsteher
des Synhedrion mit dem jüngst gewählten Eleasar ben Asarja teilen.
Die Wirksamkeit des Gamaliel verlief nunmehr ohne größere
Konflikte mit seinen gelehrten Mitarbeitern, doch war dieser Friede,
wie es scheint, um den Preis mancher Konzessionen erkauft. Die
Bemühungen des Gamaliel, die einander widersprechenden Schluß-
folgerungen der Schulkasuistik der Kontrolle der gesetzgebenden Ver-
sammlung zu unterstellen, waren nur zum Teil von Erfolg gekrönt.
Die auf Vereinheitlichung und Befestigung der nationalen Autonomie
ausgehenden Bestrebungen des tatkräftigen Praktikers vermochten
eben nur mit Mühe, den durch den Widerstreit der Theorien her-
vorgerufenen Separatismus der Schulen im Zaume zu halten.
§ 5. Gamaliel als Reformator des Gottesdienstes und als Repräsen-
tant des Volkes
Von den vielen unter Gamaliel II. vom Synhedrion in Jabne
durchgeführten Reformen war die wichtigste die des Gottesdienstes.
Solange der Jerusalemer Tempel nebst dem Opferkult noch bestan-
§ 5. Gamaliel als Repräsentant des Volkes
den hatte, spielte die Andacht (Tefila) im Gottesdienst nur eine ne-
bensächliche Rolle. Im Jerusalemer Tempel bildete das Gebet gleich-
sam eine Zugabe zu dem offiziellen Opferdienst, und die Andachts-
stimmung kam ausschließlich in den von den Levitenchören vorge-
tragenen Psalmen zum Ausdruck. Auch in den „Synagogen“ war die
Andacht nichts als eine Ergänzung zur Vorlesung von Abschnitten
aus der Thora. Jetzt aber, nach dem Wegfall des Opferdienstes,
mußte die Andacht unausbleiblich, gleichsam als eine „Opfergabe des
Herzens“, in den Mittelpunkt des öffentlichen Gottesdienstes treten.
In,gleichem Maße dazu berufen, sowohl reinreligiöse als auch na-
tionale Bedürfnisse zu befriedigen, mußte das Gebet ganz von Ele-
menten gesättigt sein, die das Andenken an die verlorene Freiheit,
an Jerusalem und seinen Tempel, deren Wiederherstellung den sehn-
lichsten Wunsch des Volkes bildete, festzuhalten vermochten. Dar-
auf eben war die Reform Gamaliels auch in der Tat gerichtet. Un-
ter Mitwirkung seiner Fachgenossen arbeitete er den vollständigen
Text der alltäglichen Gebete aus. Er vervollständigte den Inhalt des
Hauptgebetes, der „achtzehn Lobpreisungen“ (Schmona-essre), des-
sen Anfänge, der Tradition zufolge, bis in die Epoche der Gro-
ßen Synagoge zurückreichten (Band I, § 81). Jetzt setzte sich die-
ses Gebet, seiner Bezeichnung entsprechend, tatsächlich aus achtzehn
Lobpreisungen zusammen, in die, neben den Bitten um persönliches
Wohlergehen, das heiße Flehen um die politische Wiedergeburt, um
die Wiederherstellung Jerusalems und um „das Sammeln der Zer-
streuten“ miteingeschlossen wurde. Neben dem uralten Gebete „Schma“
(„Höre, Israel! Gott, unser Herr, ist ein einziger Gott!“), diesem
Losungsworte des Monotheismus, bildete von nun ab das „Schmona-
essre“ den Höhepunkt der Liturgie. Das Sprechen dieser Gebete
wurde sowohl für den Einzelnen als auch bei der Ausübung des öf-
fentlichen Gottesdienstes zur alltäglichen Pflicht gemacht. Die „acht-
zehn Lobpreisungen“ sollten nämlich dreimal täglich in denselben
Stunden, in denen ehemals der Gottesdienst im Tempel stattfand,
gesprochen werden: morgens (Schacharith), mittags (Mincha) und
abends (Arbith).
Wie oben bereits erwähnt, gelang es Gamaliel nicht ohne Kampf,
diese Reform durchzusetzen; die einen Gesetzeslehrer waren gegen
die Verbindlichkeit des vorgeschriebenen Textes, die anderen wider-
setzten sich der Fixierung der Andachtsstunden. Der zur Opposition
37
Das Synhedrion zu Jahne
gehörende Elieser ben Hyrkan meinte sogar, daß das Gebet, als eine
Äußerung des Gefühls und der Stimmung, überhaupt keine Regle-
mentierung dulde. Gamaliel war sich jedoch dessen bewußt, welche
ungeheure Bedeutung für die Volkseinheit der einheitlichen Rege-
lung der Fristen und Formen der gemeinsamen Andacht zukomme,
und so setzte er mit der ihm eigenen Tatkraft die später zum Eck-
stein der synagogalen Verfassung gewordene Reform durch.
Ein anderer Einigungsfaktor des jüdischen Lebens waren die na-
tionalen Jahresfeier tage. Hierbei führte Gamaliel nur das bereits von
seinem Großvater und von Jochanan ben Sakkai begonnene Werk
weiter fort (§ 3). Dem Synhedrion von Jabne lag es bekanntlich
ob, die Mondphasen zu beobachten; von dem Sichtbarwerden des Neu-
mondes wurden die palästinensischen Gemeinden durch besondere
Signale benachrichtigt, nämlich durch Wachtfeuer auf den Berg-
gipfeln. während die entfernteren Gemeinden durch Boten davon
Mitteilung erhielten. Da jedoch diese die Kalenderfristen betreffen-
den Mitteilungen die fern abliegenden Gemeinden nicht immer un-
entstellt und rechtzeitig erreichen konnten, so wurde bestimmt, daß
die jüdischen Gemeinden außerhalb Palästinas die Jahresfeste: Pas-
sah, Schebuoth, Sukkoth, Rosch-ha’schana, um je einen Tag ver-
längern sollten. So bürgerten sich die sogenannten „zweiten Festtage
der Diaspora“ (Jom-tob scheni schel golioth) ein, die allenthalben
mit Ausnahme von Palästina noch heute gefeiert werden1).
Um die Befestigung der inneren Verfassung der Gemeinden be-
sorgt, oblag Gamaliel zugleich eifrig seinen Pflichten als offizieller
Repräsentant des jüdischen Volkes nach außen, für dessen Interessen
er bei der römischen Regierung einzutreten hatte. So reiste Gamaliel
während der Regierung des Domitian, als Unterdrückungsmaßnah-
men gegen die Juden an der Tagesordnung waren, mehrmals nach
Rom, um die Außerkraftsetzung der Repressalien zu erwirken. Über
eine dieser Reisen wird von der Sage in poetischer Form folgendes
berichtet: der Kaiser soll einen Senatserlaß des Inhalts bestätigt ha-
ben, daß nach Ablauf von dreißig Tagen das römische Reich von
Juden endgültig gesäubert sein müsse. Davon in Kenntnis gesetzt,
Die talmudischen Quellen enthalten keinen genaueren Hinweis darauf, wann
die Gepflogenheit der „zweiten Tage“ eingeführt worden ist (vgl. Rosch-ha’schana,
21 u. sonst). Gewöhnlich wird aber diese Reform in die Zeit des Synhedrion von
Jabne verlegt, als die Regelung des Kalenderwesens besondere Bedeutung erlangte.
38
§ 5. Gamaliel als Repräsentant des Volkes
begab sich der Patriarch Gamaliel in Begleitung dreier seiner
Freunde: Eleasar ben Asarja, Josua ben Chananja und Akiba, schleu-
nigst nach Rom. Als die jüdischen Gesandten sich der Stadt ge-
nähert hatten und das vom Kapitol zu ihnen dringende Brausen ver-
nahmen, kam ihnen unwillkürlich der Unterschied zwischen der
lärmerfüllten, frohlockenden Hauptstadt des Feindes und dem in
Trümmern liegenden, menschenleeren Jerusalem zum Bewußtsein. Ga-
maliel, Eleasar und Josua brachen in Weinen aus; nur Akiba, der
zukünftige Führer der Nation, blieb seiner Herr und sprach zu sei-
nen Freunden: „Wozu die Tränen? Wenn Gott ein widerspenstiges
Volk mit soviel Wohltaten überhäuft, wie groß muß dann der Lohn
sein, mit dem er in Zukunft seine Getreuen bedenken wird!“ In
Rom angelangt, baten die Gesandten ein zur jüdischen Religion nei-
gendes Mitglied des römischen Senats um Beistand; die Gattin des
Senators, die gleichfalls eine Verehrerin des Judaismus war, drang
ihrerseits in ihren Mann, daß er sich den Bittstellern in jeder Weise
behilflich zeige. Auf die Errettung der Juden bedacht und keinen
anderen Ausweg sehend, faßte der Senator den Entschluß, sich selbst
zum Opfer zu bringen. In Rom soll nämlich eine alte Sitte be-
standen haben, derzufolge die Ausführung eines Senatserlasses sus-
pendiert zu werden pflegte, wenn noch vor dessen Verlautbarung
irgendein Senatsmitglied vom Tode ereilt wurde. Um nun die Auf-
schiebung zu veranlassen, machte der den Juden gewogene Würden-
träger, der auch ohnedies wegen seines Abfalls von der Staatsreligion
in Gefahr schwebte, seinem Leben durch Vergiftung ein Ende, nach-
dem er vor seinem Tode formell zum Judentum übergetreten war.
(Nach einer anderen Version ließ der Kaiser den Senator gerade we-
gen seines den Juden geleisteten Beistandes hinrichten.) Dies führte
nun dazu, daß die Ausführung des verhängnisvollen Erlasses tat-
sächlich suspendiert und dann auch ganz rückgängig gemacht wurde.
— Diese phantastische talmudische Legende hatte anscheinend ihre
sachliche Grundlage in den Verfolgungen der Juden unter Domitian
und in dem traurigen Ende des „judaisierten“ Würdenträgers Fla-
vius Clemens und seiner Gattin, die im letzten Regierungsjahre dieses
Kaisers seinem Grimme zum Opfer fielen (oben, § 2). In Wirk-
lichkeit wird wohl die Suspendierung der in Aussicht genommenen
neuen Unterdrückungsmaßnahmen auf den Tod des Domitian und
39
Das Synhedrion zu Jabne
auf die Thronbesteigung des Kaisers Nerva zurückzuführen sein, der
ein Gegner der Judenverfolgungen war.
An den Aufenthalt der jüdischen Volksältesten in Rom knüpft
sich in der talmudischen Haggada noch eine ganze Reihe anderer
Legenden, die über Disputationen der jüdischen Weisen mit römi-
schen Philosophen zu berichten wissen. Unter anderem sollen die Rö-
mer den Weisen die folgende Frage vorgelegt haben: „Ist dem jü-
dischen Gotte der Götzendienst so zuwider, warum vernichtet er denn
nicht alle Götzenbilder?“— Die Weisen gaben zur Antwort: „Wenn
Gott auf diese Weise die Verirrungen der Menschen dartun wollte,
so müßte er nicht nur die unnützen Götzen, sondern auch die Sonne,
den Mond und die Sterne, die von den Heiden angebetet werden, der
Vernichtung preisgeben, — soll er also um der Toren willen die ganze
Welt zugrunde richten?“ Als die römischen Sophisten dem entgegen-
hielten, Gott könnte ja das Unnütze verderben, das Nützliche aber
bestehen lassen, erwiderten ihnen die Weisen: „Wollte Gott so seine
Macht bekunden, so würde er dadurch nur diejenigen in ihrem Irr-
glauben bestärken, die vor der Sonne und den Gestirnen niederknien,
denn jetzt würden sie erst recht sagen können: Nun hat er die Götzen
vernichtet, die Gestirne aber nicht angetastet“.
Einer von den „Minäern“ (Judenchristen), die die Sabbatvor-
schriften der Juden verspotteten, soll Gamaliel und seine Begleiter
in Rom gefragt haben: „Ihr lehret, Gott gäbe den Menschen Ge-
setze und befolge sie auch selbst; warum befolgt er denn nicht die
Sabbatvorschriften?“ — „Was hätte er denn zu befolgen? — antwor-
teten scherzend die Weisen — das Gesetz, das da verbietet, einen Ge-
genstand von Ort zu Ort zu tragen? Die ganze Welt ist ja nur das
Haus Gottes, im eigenen Hause darf aber jeder auch am Sabbat tage
die Gegenstände von ihrem Platze rücken“. — Ein anderer Ketzer
sprach zu Gamaliel: „Euer Gott ist ein Dieb, denn er hat dem schla-
fenden Adam eine Rippe entwendet!“ Da mischte sich die Tochter
des Gamaliel in die Unterredung: „Gott tat jenem, Diebe gleich, der
in ein Haus eindrang, um eine silberne Schale zu nehmen und statt
ihrer eine goldene zu hinterlassen; er nahm dem Adam eine Rippe
und gab ihm eine schöne Gattin und Lebensgefährtin“. Auch über
die geistreichen Disputationen des Josua ben Chananja, eines der
nach Rom gereisten „vier Weisen“, mit dem Kaiser Hadrian und den
römischen Sophisten haben sich manche Erzählungen erhalten. Aus
4o
§ 6. Rabbi Akiba und seine Mitstreiter
allen diesen Sagen dringt ein Widerhall jener religionsphilosophischen
Gespräche zu uns, die um jene Zeit nicht selten zwischen jüdischen
Denkern und den gebildeten Vertretern der griechisch-römischen Welt
oder christlichen Sektierern stattgefunden haben mochten!).
Der Patriarch Gamaliel II. lebte und wirkte auch noch unter
Trajan, scheint aber die Aufstände in der Diaspora, die in das Ende
der Regierungszeit dieses Kaisers fallen, nicht mehr erlebt zu haben.
Auf seinem Sterbebette sprach Gamaliel den Wunsch aus, man möge
ihn ohne jeden Prunk, in allereinfachstem Leichengewande zu Grabe
tragen. Seine letztwillige Verfügung wurde beispielgebend. Ehedem
war es üblich, die Verstorbenen durch prunkvolle Leichenbegängnisse
zu ehren. Dieser Brauch hatte sich so sehr im Volke eingebürgert,
daß Unbemittelte wegen der mit der Leichenbestattung verbundenen
Kosten ihre Heimgegangenen manchmal unbestattet ließen, die Sorge
um deren Begräbnis der Gemeinde überlassend. Nachdem jedoch der
Patriarch mit dem Beispiel vorangegangen war, wurde es Brauch, die
Leichenfeier in schlichter Weise zu begehen und die Toten in wei-
ßem Leichentuch und ohne Sarg in der Erde zu bestatten.
§ 6. Rabbi Akiba und seine Mitstreiter
Unter den für die Sache der nationalen Restauration wirkenden
Mitgliedern des Synhedrion zu Jabne gewann zu Beginn des II. Jahr-
hunderts Rabbi Akiba, der, wie erwähnt, bereits an der nach Rom
geschickten Gesandtschaft teilgenommen hatte, ausschlaggebenden
Einfluß. Die außerordentliche Volkstümlichkeit, die sich dieser na-
tionale Führer allmählich erworben hatte, machte ihn schließlich
zum Helden der Volkslegende. Die Überlieferung berichtet, daß Akiba
ben Joseph in seiner Jugend sehr arm war und als Hirte auf den
Gütern jenes reichen Jerusalemer Bürgers Kalba-Sabua lebte, der am
Vorabend der Belagerung Jerusalems Lebensmittelvorräte zur Versor-
gung der Stadtbevölkerung angehäuft hatte (Band II, § 86, Anm.).
Dessen Tochter Rahel gewann den armen Hirten lieb und war unter
der Bedingung, daß er sich der Wissenschaft widme, bereit, seine
Gattin zu werden. Doch der Vater Rahels, dem diese Ehe gegen sei-
!) Eine der Antworten, die Gamaliel einem Heiden gab, ist besonders treffend:
„Du siehst deinen Gott, doch wirst du von ihm nicht gesehen; ich aber sehe mei-
nen Gott nicht, doch sieht er mich. Dein Gott ist dein eigenes Werk, ich aber bin
das Werk meines Gottes“ (Jalkut Tehillim, 857).
4i
Das Synhedrion zu Jahne
nen Willen ging, verstieß seine Tochter, so daß die jungen Eheleute
in äußerstem Elend ihr Leben fristen mußten. Die Not stieg so weit,
daß sich Rahel eines Tages gezwungen sah, ihr herrliches Haar ab-
zuschneiden und zu verkaufen, um sich und den Kindern Brot zu
verschaffen. Akiba trennte sich aber bald von seinem geliebten Weibe,
um zu den „Stätten der Gelehrsamkeit“ zu wandern und die Schu-
len der berühmten Gesetzeslehrer Elieser ben Hyrkan in Lydda und
Josua ben Chananja zu besuchen, bis er schließlich selbst zu einem
Manne von hervorragender Gelehrsamkeit wurde. Von dem Nimbus
des genialen Gesetzeslehrers umstrahlt, kehrte dann Akiba nach vie-
len Jahren, in Begleitung seiner zahlreichen Jünger, zu seiner Gattin
zurück. Er wurde nun zu einem der tatkräftigsten Mitglieder des
Synhedrion von Jabne und einer der nächsten Mitarbeiter des Pa-
triarchen Gamaliel II. Seine eigene Schule, zu der die Wissensdursti-
gen in Scharen herbeiströmten, befand sich in der Nähe von Jabne,
in dem Städtchen Bne-Barak.
In der Geschichte der Entwicklung der mündlichen Lehre steht
der Name Rabbi Akibas in einer Reihe mit dem Hillels. Die von Hillel
in die Wege geleitete Methode der Thorainterpretation wurde von
Akiba bis zu ihren äußersten Konsequenzen weitergeführt. In dem
Bestreben, das schriftliche und mündliche Gesetz zu einem unzer-
trennlichen Ganzen zu verbinden, begnügte sich Akiba bei seinen
Schlußfolgerungen aus den Thoravorschriften nicht allein mit der
logischen Ausdeutung des Sinnes der Thora, sondern interpretierte
oft zu diesem Zwecke auch ihren Buchstaben, ihre Ausdrucksform
und sogar die grammatischen Eigenheiten der biblischen Redeweise.
In den Fällen, wo der Bibeltext keine logische Unterlage für die
erforderliche Begründung einer Gesetzestradition oder einer gesetz-
geberischen Novelle gewährte, suchte Akiba wenigstens in den Rede-
wendungen oder gar in einzelnen Wörtern irgendeinen Stützpunkt
dafür zu finden. Der Talmud sagt von Akiba, daß er „an jedes
Häkchen der Schrift ganze Haufen von Halachoth hängte“. Es ge-
lang ihm, die nachbiblische „mündliche Lehre“ mit der Heiligen
Schrift so zu verknüpfen, daß es einerseits schien, als sei jeder Lehr-
satz der mündlichen Lehre in der göttlichen Offenbarung verankert,
während andererseits die mündlichen Gesetze durch den herges teilten
Zusammenhang mit den ihnen angeblich zugrunde liegenden biblischen
Geboten dem Gedächtnis eingeprägt bleiben mußten. Auf diese Weise
42
§ 6. Rabbi Akiba und seine Mitstreiter
wurde zwei verschiedenen Aufgaben gleichzeitig Genüge getan: die
Distanz zwischen der schriftlichen und der mündlichen Lehre, zwi-
schen Thora und Mischna, wurde aufgehoben und zugleich waren
die Gesetzesbestimmungen der letzteren vor der Vergessenheit ge-
sichert. „Ich werde es durchsetzen, daß die Worte der Lehrer in
alle Ewigkeit erhalten bleiben“ — pflegte Akiba zu sagen. Sein Zeit-
genosse Rabbi Tarphon soll einmal zu ihm gesagt haben: „Durch
deine Interpretationskunst machst du das wieder lebendig, was die
Tradition selbst vergessen hat (d. h. wofür sie keinen Grund mehr
nachzuweisen vermag) 1“ Auch Josua ben Ghananja hat in seiner Be-
wunderung für die Interpretationsmethoden des Akiba eines Tages
ausgerufen: „Oh, könnte nur jemand die Staubdecke von deinen
Augen heben, unser Meister Jochanan ben Sakkai! Du warst einst
unschlüssig über die Aufrechterhaltung einer Halacha, weil du in
der Heiligen Schrift keine Grundlage für sie fandest, nun kam Akiba
und die Grundlage steht fest!“ Es mag wohl sein, daß bei alledem
auch noch ein Nebenziel verfolgt wurde. Da nämlich die Propagan-
disten des Christentums der mündlichen Lehre jeden göttlichen Ur-
sprung absprachen, so suchten die Gesetzeskundigen zu beweisen,
daß alle Vorschriften dieser Lehre tatsächlich in der Bibel verwurzelt
oder in ihr wenigstens angedeutet seien.
Indessen hatte diese Methode der erweiternden Interpretation auch
mancherlei Nachteile zur Folge. So erzeugte sie eine Fülle gesetz-
geberischen Stoffes, dessen praktische Anwendung nicht in Betracht
kam, und der einzig und allein um der Theorie oder der Halacha
willen angehäuft wurde. Überdies trug diese Methode dazu bei, daß
in den Schulen eine übermäßige Vorliebe für die Kasuistik entstand.
Es tauchten nun Sophisten der Gesetzeskunde auf, die lebhaft an die
Sophisten der philosophischen Schulen Griechenlands erinnern. Ein
Gelehrter soll sich einst auf Grund der Beweisart „Kal we’chomar“
(Schluß a minori ad majus) vor Gamaliel zu folgender sophistischer
Beweisführung verstiegen haben: „Wenn es mir als dem gesetzlichen
Gatten meiner Frau untersagt ist, deren Tochter (aus anderer Ehe)
zur Frau zu nehmen, um wieviel weniger dürfte ich das Recht ha-
ben, die Tochter einer fremden verheirateten Frau zu ehelichen, mit
welch letzterer mir ja von Gesetzes wegen ein eheliches Zusammenleben
untersagt ist“. Wegen dieses gefährlichen Sophismus wurde über den
Gelehrten für eine Zeitlang die Bannstrafe verhängt. Und doch war
43
Das Synhedrion zu Jahne
es nicht leicht, den Hang zu scholastischen Verirrungen aus einem
Lehrbetrieb zu bannen, bei dem man sich ständig darin übte, für
die Begründung von allerhand Theorien, „Halachoth“, alle erdenk-
lichen Beweismittel ins Feld zu führen.
Ein großes Verdienst erwarb sich Akiba auch dadurch, daß er
als erster den Versuch machte, das ganze aufgespeicherte Material
der mündlichen Gesetze und „Halachoth“ in eine bestimmte Ordnung
zu bringen. Er gruppierte sie nämlich nach ihrem Inhalt (so z. B.
Familien- und Zivilrecht, Sabbat- und Feier tags Vorschriften) und
stellte für jede Gruppe bestimmte Zahlen auf, die alle durch das
betreffende Gesetz geregelten Hauptfälle umfaßten (z. B.: „Es gibt
vier Hauptarten von Beschädigungen von Personen oder Sachen“,
„Neununddreißig am Sabbat untersagte Hauptarten der Betätigung“,
„Auf sechsunddreißig Gesetzesübertretungen steht in der Thora die
Strafe der Ausrottung“ und dgl. mehr). Diese systematische Zusam-
menfassung der Gesetze, die in mündlicher oder schriftlicher Form
vollbracht wurde, erhielt den Namen „Mischna des Rabbi Akiba“
und bildete späterhin die Grundlage für die endgültige Redaktion
der talmudischen Mischna1).
Den Leistungen des Akiba auf dem Gebiete der Halacha steht
das, was er auf dem Gebiete der „Haggada“ oder der moralisch-
philosophischen Belehrung leistete, bedeutend nach. Immerhin zeugen
die ihm in den Mund gelegten und erhaltengebliebenen ethischen
Sprüche (Mischnatraktat Aboth, Kap. III) von der großen Tiefe sei-
ner Weltanschauung: „Alles ist vorhergesehen, doch ist dem Men-
schen die freie Wahl gegeben“ — durch diesen lakonischen Aus-
spruch versuchte Akiba den ewigen Widerspruch zwischen Willens-
freiheit und Prädestination aufzuheben. „Die Güte regiert die Welt
und die Vergeltung richtet sich nach den Taten“; „Der Mensch ist
liebenswert, denn er ist nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen. Be-
sonders liebenswert sind die Kinder Israel, denn Gott nannte sie seine
Kinder und gab ihnen ein kostbares Kleinod — die Thora“.
Die Verherrlichung der Nation verleiht überhaupt der Weltan-
schauung Akibas ihren charakteristischen Zug. Von der absoluten Ge-
D In dem Werke des alten Kirchenschriftstellers Epiphanius „Über die Ketze-
reien“ (I, 2, 9) wird einer „Deuterosis, die den Namen Rabbi Akibas trägt“, Er-
wähnung getan, „Deuterosis“ aber ist eine buchstäbliche Übersetzung des Wortes
„Mischna“ oder „zweite Lehre“ ins Griechische. Auch im Talmud ist von der
„Mischna Rabbi Akibas“ verschiedentlich die Rede (s. Sanhedrin, 27 u. sonst).
§ 6. Rabbi Akiba und seine Mitstreiter
rechtigkeit der Vorsehung aufs tiefste überzeugt, schwankte er nie
in seinem Glauben an die politische Wiedergeburt des Judentums.
Dies kam schon in seinem bereits erwähnten Ausspruch zum Aus-
druck, den er Gamaliel und den anderen Genossen gegenüber tat, als
sie sich gemeinsam dem lärmerfüllten Rom näherten. Die Haggada
vermittelt uns auch noch eine andere Erzählung ähnlichen Inhalts.
Rabbi Akiba — so heißt es dort — wanderte eine£ Tages mit Ga-
maliel, Josua und Elieser im Weichbilde des zerstörten Jerusalem.
Als sie sich dem Tempelberge näherten, sahen sie aus den Ruinen des
ehemaligen Tempels einen Schakal herausspringen. Beim Anblick sol-
cher Verödung brachen die Gefährten Akibas in lautes Schluchzen
aus, er aber lächelte nur immerzu. „Warum lächelst du?“ — fragten
sie ihn. „Warum weint ihr?“ — gab er ihre Frage zurück. „Kann man
sich denn der Tränen erwehren, wenn man sieht, wie die heilige
Stätte, die niemand außer den Priestern zu betreten wagte, nun zur
Behausung der Steppentiere geworden ist?“ — „Darüber freue ich
mich ja gerade,“ entgegnete Akiba, „hat sich die Prophezeiung er-
füllt, daß Jerusalem sich in einen Trümmerhaufen verwandeln wird,
so muß auch jene andere Weissagung unserer Propheten in Erfül-
lung gehen: daß es von neuem auf gerichtet werden wird“. Aus diesen
Worten tönt uns jener unerschütterliche Glaube an die Befreiung
des Volkes entgegen, der Akiba bald auf den Weg des politischen
Kampfes führen und ihn zum geistigen Urheber des Aufstandes des
Bar Kochba machen sollte.
Um Rabbi Akiba, als den Mittelpunkt des Gelehrtenkreises oder
des sogenannten „Weinbergs zu Jabne“ (Kerem schebe’Jabne), sam-
melte sich eine ganze Schar erlesener Geister verschiedenen Ranges.
Der hervorragendste unter den Mitstreitern des Akiba war Rabbi
Ismael ben Elischa, der Sohn des ehemaligen Hohepriesters. Noch als
Kind wurde er nach der Zerstörung Jerusalems mit anderen Gefan-
genen nach Rom gebracht. Hier traf er zufällig mit Josua ben Cha-
nanja zusammen, der ihn loskaufte und nach Judäa zurückbrachte.
Der Jüngling gab sich nun eifrigst der Wissenschaft hin und betei-
ligte sich später an der Arbeit des Synhedrion. Ein Mann von kla-
rem Verstand, hatte indessen Ismael für die von Akiba eingeführte
künstliche Methode der Wortinterpretation nur wenig übrig und
warnte vor den Mißbräuchen, die diese Methode zeitigen könnte. Er
selbst zog es vor, nicht durch die Interpretation der äußeren Aus-
45
Das Synhedrion zu Jahne
drucksform der geschriebenen Gesetze, sondern durch die Ausdeu-
tung ihres Inhalts und des ihnen innewohnenden Sinnes die münd-
lichen Gesetze aus ihnen abzuleiten. Die von Hillel formulierten sie-
ben Arten der logischen Gesetzesinterpretation (Midoth) wurden von
Ismael auf dreizehn ergänzt. Er besaß auch seine eigene Schule und
viele „Halachoth“ im Talmud schreiben sich von dieser Schule her
(Tanna debe Rabbi Ismael).
Von den anderen Gesetzeslehrern dieser Generation nahm ferner
Rabbi Tarphon oder Trypho eine besonders^ einflußreiche Stellung
im Synhedrion ein. Der Sprößling einer Priesterfamilie, hatte er selbst
noch Gelegenheit, den Tempeldienst in Jerusalem zu versehen, und
wurde späterhin ein Schüler des Jochanan ben Sakkai, um dann an
die Spitze der Schulen von Jabne und Lydda zu treten. Er nahm ak-
tiven Anteil an jener akademischen Umwälzung, die die zeitweilige
Enthebung des Patriarchen Gamaliel vom Amte des Synhedrionvor-
stehers zur Folge hatte. In vielen Fragen der Gesetzeskunde war
Tarphon ein Gegner des Akiba und warf diesem vor, daß er zur Be-
gründung seiner Thesen nur „Worte (aus der Thora) aufeinander-
türme“. Tarphon war ein entschiedener Glaubenseiferer und trat den
zeitgenössischen jüdisch-christlichen Sektierern mit besonderer Schärfe
entgegen.
Unter den Zeitgenossen des Akiba taten sich ferner noch zwei an-
dere Gesetzeslehrer von eigenartiger Individualität hervor: Ben Asai
und Ben Soma, die sich, neben den Problemen der Halacha, sehr viel
mit theosophischen Spekulationen, mit der sogenannten „Geheim-
lehre“, abgaben. Die Anhänger der unter der bildlichen Bezeichnung
„Pardes“ (Garten) bekannten Lehre waren bestrebt, in die Geheim-
nisse des Weltalls einzudringen, indem sie sich in die Erforschung
des Urprinzips der Weltschöpfung und der himmlischen Hierarchie
(Maasse bereschith, Maasse merkaba) vertieften. Die meisten Gelehr-
ten vermieden es jedoch, sich auf dieses Gebiet des Unerforschlichen
hinauszuwagen, da sie alle derartigen Spekulationen nicht nur als
fruchtlos, sondern auch für den wahren Glauben, ja sogar für
den gesunden Menschenverstand als überaus gefährlich erachteten.
In der Tat soll sich Ben Soma der Überlieferung zufolge so sehr in
die Geheimlehre vertieft haben, daß er schließlich seinen Verstand
einbüßte, während Ben Asai an den Folgen seiner asketischen Le-
bensweise in jungen Jahren verstarb.
46
Zweites Kapitel
Die Aufstände unter Trajan und Hadrian
(i 15 — 138)
§ 7. Die Kriegszüge des Trajan und die Erhebung der Diaspora
In dem politisch entkräfteten Judäa nahm nunmehr das stille
Jabne die Stelle des ehemals wogenden Jerusalem ein. Das in den
eisernen Banden Roms schmachtende Land, dessen Hauptstadt der
Bevölkerung beraubt und zu einer Lagerstätte römischer Truppen
geworden war, bewahrte völliges Schweigen. Allein die vom schwer
getroffenen Zentrum abströmende politische Energie häufte sich nach
und nach an der Peripherie an. So ist denn seit dem Falle Jerusa-
lems die jüdische Diaspora auf Kosten der judäischen Metropole in
ständigem Aufschwung begriffen. Zehntausende von Flüchtlingen aus
Judäa, die den Schrecken des Krieges und der Sklaverei zu entgehen
suchten oder als Kriegsgefangene von dort fortgeführt worden wa-
ren, ließen sich in größeren oder kleineren Gruppen unter ihren
Volksgenossen in den römischen Provinzen: Syrien, Kleinasien, Ägyp-
ten, Nordafrika nieder, aber auch außerhalb des Kaiserreiches: in
Parthien, und zwar vornehmlich in Babylonien. Da nun aus dem
verheerten Lande gerade die Tatkräftigsten, die politisch Unversöhn-
lichsten oder die vom Kriege besonders Heimgesuchten fortzogen, so
mußten sie unausbleiblich das Leben in der Diaspora mit neuen na-
tionalen Willensimpulsen bereichern. Die brennende Empörung der
Flüchtlinge über den ungeheuerlichen Raubzug Roms, den dieses die
„Züchtigung Judäas“ nannte, griff so auch auf ihre Brüder über, die
sich schon früher von der Heimat losgerissen hatten und nun des
letzten Trostes beraubt waren — der alljährlichen Wallfahrt nach
der heiligen Stadt. Diese Aufwallung der Gemüter führte an einigen
Orten der Diaspora schon in den ersten Jahren nach dem Falle Je-
47
Die Aufstände unter Trajan und Hadrian
rusalems zu Volksunruhen: den aus Judäa geflüchteten Zeloten, den
Überresten des geschlagenen Heeres, gelang es, in Ägypten und Cy-
renaika eine revolutionäre Empörung gegen Rom hervorzurufen, die
indessen sehr bald, im Jahre 73, niedergeschlagen wurde (Band II,
§ 94). Aber auch nach dem mißlungenen Aufstand dauerte der Zu-
fluß der judäischen Auswanderer nach der Diaspora unaufhörlich
fort und führte dieser ständig neue Kräfte zu, die auch an der ent-
legensten Peripherie der jüdischen Welt die hohe Spannung der na-
tionalen Energie aufrechterhielten. Die Unterdrückungsmaßnahmen
gegen die Juden unter Domitian riefen von neuem eine Gärung her-
vor. Mehrere Jahrzehnte hindurch war so die Erregung gegen Rom
in der Diaspora in ständigem Wachsen begriffen, bis sie sich schließ-
lich in dem Augenblick, da der triumphierende Sieger auch die fer-
nen, bis dahin vom römischen Joche verschont gebliebenen Teile der
Diaspora unter seine Gewalt zwang, in blutigen Aufständen Luft
machte.
Es geschah dies in den letzten Regierungsjahren des Kaisers Tra-
jan. Nach der Unterwerfung der Dacier an der Donau (im heutigen
Rumänien) verlegte Trajan den Schwerpunkt seiner Kriegsunterneh-
mungen an die östlichen Grenzen des römischen Reiches. Das ferne
Asien, die unter der Gewalt der Parther stehenden Länder zwischen dem
Euphrat und Tigris und das ferne Indien, zogen ihn unwiderstehlich
an. Er träumte von den Lorbeeren Alexanders des Großen. Im Jahre
ii4 entbrannte von neuem der alte Streit Roms mit dem Parther-
reiche um das diesem benachbarte Armenien. Trajan begab sich selbst
an der Spitze seiner Legionen an den Euphrat, brachte Armenien
unter seine Gewalt und fiel in Mesopotamien ein. Im Jahre ii5 er-
oberte er das nördliche Mesopotamien, sodann das Reich Adiabene
(die Römer nannten dieses Landgebiet Assyrien) und wandte sich nun
gegen Süden, nach Babylonien, wo er die Hauptstadt Ktesiphon und
die Stadt Seleucia am Tigris besetzte. Die Invasion des westlichen Er-
oberers versetzte alle Völker Asiens in große Erregung, namentlich
aber die Juden, die Babylonien und die anderen parthischen Länder
in dichten Massen bevölkerten. Sie lebten bisher unter den Parthern
in Ruhe und völliger Freiheit und erfreuten sich der weitestgehenden
inneren Selbstverwaltung; nun waren sie von der Gefahr bedroht,
unter das schwere römische Joch zu geraten und Untertanen derje-
nigen zu werden, die Judäa zerstört, die heilige Stadt und den Tem-
48
§ 7. Die Kriegszüge des Trajan und die Erhebung der Diaspora
pel in Asche gelegt hatten und die auch weiterhin die unter ihrer Ge-
walt stehenden Juden in jeder Weise bedrückten. Die babylonischen
Juden griffen daher gleich den übrigen dort ansässigen Völkern zu
den Waffen, um für ihre Freiheit das Letzte einzusetzen. So sam-
melte sich denn im Rücken der in das Innere des Partherlandes ein-
gedrungenen römischen Armee eine große jüdische Wehrmacht. Den
Mittelpunkt des Aufstandes bildeten die von Juden dicht bevölkerten
Provinzen Nisibis und Nehardea; aber auch das Reich Adiabene, des-
sen Fürsten in dem vorhergegangenen Jahrhundert zur jüdischen Re-
ligion übergetreten waren (Band II, § 96), erhob sich gegen die Rö-
mer. Trajan sah sich gezwungen, die abgefallenen Städte von neuem
zu erobern, und so zog sich der parthische Feldzug bis zum Jahre
117 hin.
Inzwischen griffen die in der jüdischen Diaspora durch den Er-
oberungszug Trajans hervorgerufenen Unruhen immer weiter um sich.
Die romfeindliche Bewegung breitete sich aus Mesopotamien über die
asiatischen und sodann auch über die afrikanischen Provinzen des
römischen Reiches aus. Der ganze jüdische Orient hallte von dem
Kampfruf wider: Los von Rom! Die Wut der Aufständischen rich-
tete sich nicht nur gegen die Repräsentanten der römischen Gewalt,
sondern auch gegen die den Juden feindlich gesinnte heidnische Be-
völkerung: gegen die Griechen, Römer und hellenisierten Eingebore-
nen, bei denen die judenhetzerischen Tendenzen des vorhergegange-
nen Jahrhunderts noch nicht ganz geschwunden waren. In Ägypten
und Libyen (Cyrene) begannen die Juden, dem Berichte des Kirchen-
geschichtsschreibers Eusebius zufolge, „wie von einem wilden Geist
des Aufruhrs fortgerissen, sich gegen ihre hellenischen Mitbürger
zu erheben“. Der römische Statthalter in Ägypten, Rutilius Lupus,
vermochte der mächtig anschwellenden Bewegung keinen Einhalt zu
gebieten, da die Mehrzahl der römischen Truppen um jene Zeit nach
Mesopotamien beordert worden war. Schon bei dem ersten Zusam-
menstoß mit den Juden erlitten die von Lupus angeführten Griechen
und Römer eine Niederlage und mußten auf Alexandrien zurück-
gehen (116).
Hier wurde die friedliche jüdische Bevölkerung von ihnen über-
fallen und in fürchterlichster Weise mißhandelt. Dafür rächten sich
aber die Juden an ihren Feinden in anderen Orten. So vernichteten
die jüdischen Insurgenten in Cyrene und in dem ganzen Gebiet von
4 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
49
Die Aufstände unter Trajan und Hadrian
Cyrenaika unter der Anführung des tapferen Andreas (in einem
anderen Bericht wird er Lukuas genannt) große Scharen von
Heiden. Auf der Insel Cypern verheerten die von einem gewissen Ar-
temion geführten aufständischen Juden die Stadt Salamis. Der rö-
mische Geschichtsschreiber Dio Cassius behauptet, daß während die-
ser Aufstände in Gyrene 220000 und auf der Insel Cypern 240000
Menschen ums Leben gekommen seien und daß die jüdischen Sieger
in Cyrenaika an den Griechen und Römern furchtbare Grausamkeiten
verübt hätten: so sollen sie das Fleisch der Getöteten gegessen, sich
mit deren abgeschundener Haut bekleidet oder die Besiegten den wil-
den Tieren vorgeworfen und in Gladiatorenkämpfen dem Tode preis-
gegeben haben. Dieser Bericht über die jüdischen Greuel taten mutet
durchaus phantastisch an und entspricht ganz der von demselben Ge-
schichtsschreiber angegebenen, gleichfalls völlig unwahrscheinlichen
Zahl der umgekommenen Heiden; doch erscheint es vom geschichtli-
chen Standpunkte durchaus glaubwürdig, daß die durch die andauern-
den Verfolgungen in Wut versetzten Juden im Jahre 116 mit den
ihnen feindlichen Nachbarn nicht anders verfuhren, als jene ein hal-
bes Jahrhundert früher, im Jahre 66, gegenüber den Juden in Alex-
andrien und an anderen Orten der Diaspora gehandelt hatten (Band
II, § 82).
Der blutige Bürgerkrieg, in dem die ganze in der Diaspora allmäh-
lich angewachsene Empörung gegen das griechisch-römische Joch
zum Durchbruch gekommen war, bewog Trajan, energische Maßnah-
men zu ergreifen. Er beauftragte einen seiner Feldherren, den Martius
Turbo, mit der Züchtigung der Juden in Afrika, während die glei-
che Aufgabe in Asien seinem Unterführer in dem mesopotamischen
Feldzuge, Lucius Quietus, zufiel. Nach langwierigen Kämpfen gelang
es Martius Turbo, des Aufruhrs in Ägypten und Cyrene Herr zu wer-
den, wobei unzählige Juden ihren Widerstand mit dem Leben büß-
ten. Im Verlaufe dieses Krieges wurde, wie die Überlieferung berich-
tet, auch die altehrwürdige Synagoge von Alexandrien, die als ein
Meisterwerk der Baukunst galt, zerstört. Einem übertriebenen Be-
richte des zeitgenössischen griechischen Geschichtsschreibers (Appia-
nus) zufolge sollen die Juden unter Kaiser Trajan in Ägypten „gänz-
lich ausgerottet“ worden sein. In der Tat erlitt die ägyptische Dia-
spora um jene Zeit, in ihrem Hauptzentrum getroffen, eine äußerst
schwere Erschütterung. Für die zahlreiche jüdische Gemeinde Alexan-
§ 7. Die Kriegszüge des Trajan und die Erhebung der Diaspora
driens, die seit der Begründung der römischen Herrschaft nicht we-
nig Unheil hatte erdulden müssen, bedeutete diese letzte Prüfung
einen besonders harten Schlag1). Fortan ist sie in ständigem Nieder-
gange begriffen. Sie geht allmählich ihrer Bedeutung als kulturelles
Hauptzentrum der Diaspora verlustig, und in den folgenden Jahrhun-
derten verschiebt sich dieses Zentrum endgültig nach Babylonien.
Die Niederschlagung des Aufstandes auf der Insel Cypern hatte
die restlose Vernichtung ihrer jüdischen Bevölkerung zur Folge. Die
Inselbewohner verewigten ihren Judenhaß in einem speziellen Ge-
setze, wonach kein Jude in Cypern ans Land gehen durfte und so-
gar ein durch Schiffbruch dorthin verschlagener Jude der Todesstrafe
verfiel.
Während Turbo die Erhebung in Afrika und in Cypern unter-
drückte, führte Quietus einen Vernichtungskrieg gegen die Juden in
Mesopotamien, um so den römischen Legionen freien Durchzug zu
bahnen. Trajan belohnte die Kriegserfolge des Quietus dadurch, daß
er ihn zum Statthalter Palästinas ernannte, wo sich gleichfalls An-
zeichen einer revolutionären Gärung bemerkbar zu machen began-
nen. Doch war Trajan bald gezwungen, den Rückzug aus Parthien
anzutreten. Durch den Ausgang seines orientalischen Feldzugs ent-
täuscht, verfiel der Kaiser einem Siechtum, dem er noch unterwegs
erlag (117).
Ein Widerhall dieser blutigen Zeit tönt uns aus einer talmudischen
Legende entgegen, in der allerdings die Wahrheit hinter der Dich-
tung weit zurückbleibt. Die Gattin des Trajan soll nämlich in der
Nacht zum 9. Ab, als die fastenden Juden die Zerstörung Jerusalems
*) Es haben sich zwei Papyrusfragmente in griechischer Sprache erhalten (jetzt in
Paris und in London), in denen ein vor dem römischen Kaiser zwischen den Ver-
tretern der alexandrinischen Juden und Griechen geführter Streit wiedergegeben ist.
Aus dem schadhaft gewordenen Text geht hervor, daß der damalige Statthalter
Ägyptens den Befehl gegeben hatte, den „jüdischen König“ (den Führer des Auf-
standes) festzunehmen, worauf der alexandrinische Pöbel den Juden hart zusetzte;
dies scheint eben den Gegenstand der Klage der jüdischen Wortführer gebildet zu
haben, während die griechischen Gesandten ihre Volksgenossen damit zu recht-
fertigen suchten, daß das Gemetzel von dem römischen Statthalter genehmigt wor-
den sei. Der Kaiser ist in diesen Aufzeichnungen nicht mit seinem Namen genannt,
doch ist zu vermuten, daß als „Führer des Zuges gegen die Dacier“ kein anderer als
Trajan gemeint ist. Diese Papyri könnten die Nachrichten der alten Geschichts-
schreiber über den Aufstand in Ägypten in wesentlichen Stücken ergänzen, wenn
der Text nicht so schadhaft und so sehr umstritten wäre (vgl. Literatur zu diesem
Paragraphen).
4*
5!
Die Aufstände unter Trajan und Hadrian
beweinten, einem Kinde das Leben gegeben haben. Das Kind starb
jedoch schon am Chanukafest, an dem die Juden ihre Häuser zur
Erinnerung an den Hasmonäersieg festlich erleuchteten. Böswillige
Leute machten die Kaiserin darauf aufmerksam, indem sie sagten:
Bei deiner Entbindung trauerten die Juden, am Todestage deines Kin-
des aber veranstalten sie eine Festbeleuchtung. Darauf schrieb die
Kaiserin an ihren Gatten: „Ehe du an die Bezwingung der Barbaren
gehst, solltest du die aufrührerischen Judäer züchtigen“. Trajan
schiffte sich denn auch nach Palästina ein; er glaubte erst nach zehn
Tagen das judäische Land erreichen zu können, ein günstiger Wind
verkürzte jedoch seine Reise um fünf Tage. In Judäa angelangt, traf
er die jüdischen Gelehrten gerade beim Lesen des folgenden Bibel-
verses an: „Gott wird ein Volk aus der Ferne, vom Ende der Welt,
gegen dich erwecken, das auf Adlerschwingen herbeieilen wird“. Da
sagte der Kaiser zu ihnen: „Dieser Adler bin ich, denn ich gedachte
in zehn Tagen hier zu sein, kam aber schon nach fünf“. Darauf ließ
er die Juden durch seine Legionen umstellen und gab sie dem Tode
preis. Sodann sprach der Kaiser zu den jüdischen Frauen: „Nun-
mehr seid meinen Kriegern zu Willen, sonst trifft euch das gleiche
Los wie eure Männer!“ Die Frauen aber erwiderten entschlossen:
„Verfahre mit den Geringeren wie du mit den Höherstehenden ver-
fuhrst“. Da umzingelten sie die römischen Legionen und machten alle
nieder, und das Blut der Frauen vermischte sich mit dem Blute der
Männer, und der Blutstrom ergoß sich weit ins Meer, bis er die
Insel Cypern erreichte1).
Die Legende setzt also voraus, daß die Erhebung gegen Trajan,
auch auf Judäa übergegriffen hatte. Nicht ganz eindeutige Hinweise
auf diese Volkserhebung in Judäa finden sich auch noch in einigen
anderen talmudischen Stellen2), wo unter anderem ein „Krieg des
Quietus (Polemos schel Kitos)“ erwähnt wird. Es mag wohl sein, daß
das von dem neuen Günstling Trajans, dem Bezwinger Mesopotamiens,
in Palästina eingeführte Regime auch die Landesbewohner Judäas
mit Empörung erfüllte. Die talmudische Überlieferung nennt sogar
die Namen zweier Anführer der Erhebung, die Brüder Lulian (Ju-
lian) und Pappos, die bald in Laodicea, bald in Palästina auftauch-
52
!) Midrasch rabba: Echa, 48.
2) Bab. Talmud, Taanith, 18 u. sonst.
§ 8. Kaiser Hadrian und die Erhebung des Bar Kochba
ten; Trajan soll es gelungen sein, sie gefangen zu nehmen, wonach
er sie dem Henker übergeben wollte, was jedoch durch die Ermor-
dung des Kaisers selbst verhindert wurde. Diese unverhoffte Erlösung
soll nun die Juden veranlaßt haben, ihre nationalen Feiertage noch
um einen Tag, den „Trajanstag“ (12. Adar), zu vermehren. Dieser
dunklen Legende scheint wohl irgendein Ereignis aus der jüdischen
revolutionären Bewegung zugrunde zu liegen, das mit der Verwal-
tung des Quietus im letzten Regierungsjahre des Trajan in Zusam-
menhang stehen mag. Bei der Unterdrückung des Volksunwillens
schreckte Quietus nicht vor den grausamsten Maßnahmen zurück,
doch wurde er bald von dem neuen Kaiser Hadrian, der eine per-
sönliche Abneigung gegen ihn hatte, von seinem Posten abberufen.
§ 8. Kaiser Hadrian und die Erhebung des Bar Kochba
Gleich nach seinem Regierungsantritt sah sich der neue Kaiser
Aelius Hadrianus (117—188) vor die schwere Aufgabe gestellt, in
den durch die Wirren unter seinem Vorgänger aufgewühlten öst-
lichen Reichsprovinzen Ordnung zu schaffen. In einem für das rö-
mische Reich so gefahrvollen Augenblick sah Hadrian davon ab, die
Bevölkerung Judäas durch allzu harte Maßnahmen zu verstimmen,
um so mehr als sie an der eben unterdrückten revolutionären Bewe-
gung der Diaspora nur geringen Anteil genommen hatte. Dieses Be-
streben, in dem aufgewühlten Morgenlande, in dem sich gerade da-
mals der Kaiser auf hielt, Frieden zu stiften, mochte wohl einer der
Beweggründe für die Enthebung des grausamen Exekutors Quietus
von seinem Amte als Statthalter Palästinas gewesen sein. Doch ging
Hadrian in seiner Befriedungspolitik, wie es scheint, noch viel weiter.
Er (oder sein Statthalter) machten den Juden Hoffnung, daß gar
bald an den Wiederaufbau des zerstörten Jerusalem geschritten wer-
den sollte. In welcher Form man diesen Plan zu verwirklichen be-
absichtigte, hat sich allerdings erst später gezeigt. Der Kaiser, der
eine besondere Vorliebe für den Städtebau bekundete, trug sich näm-
lich mit dem Gedanken, die ehemalige Hauptstadt Judäas als rö-
mische, nicht aber als eine judäische Stadt Wiedererstehen zu lassen.
Die jüdischen Volksmassen jedoch, die sich leidenschaftlich an ihren
Traum von der Wiedererrichtung der heiligen Stadt klammerten,
waren eher für Gerüchte empfänglich, die ihren sehnlichsten Wün-
53
Die Aufstände unter Trajan und Hadrian
sehen entgegenkamen. Desto schwerer war die Enttäuschung, die den
Träumern beschieden war.
Der Volksüberlieferung zufolge1) soll Hadrian tatsächlich Gutes
in bezug auf Jerusalem und den Tempel im Sinne gehabt haben,
doch hätten die Erzfeinde der Juden, die Samaritaner, durch ihre
Denunziationen alles wieder verdorben. Sie sollen nämlich dem Kai-
ser vor Augen geführt haben, daß die Wiederherstellung der heiligen
Stadt und des jüdischen Tempels eine gefährliche Wiedererstarkung
des politischen Einflusses des Judentums zur Folge haben müßte.
So entschloß sich denn Hadrian, von seinem Versprechen oder Vor-
haben zurückzutreten, und machte den Juden den Vorschlag, den
Tempel an einem anderen Orte oder in einer anderen Form wieder
aufzubauen. Die Juden, die sich nun in ihren Hoffnungen getäuscht
sahen, waren von Empörung erfüllt. Der Aufruhr schien unvermeid-
lich. Da trat jedoch der weise und friedliebende Gesetzeslehrer Josua
ben Chananja auf den Plan, der seit dem Tode Gamaliels II. an der
Spitze des Synhedrion stand. Sobald er erfahren hatte, daß sich in Beth-
Rimmon in der Jesreelebene bewaffnete jüdische Scharen zu einem
Angriff gegen die Römer rüsteten, eilte Josua zu ihnen, um den Auf-
ständischen die ganze Aussichtslosigkeit ihres Beginnens vor Augen
zu führen. Um die Volksmassen umzustimmen, trug er die folgende
Parabel vor: Einem Löwen blieb einst beim Verzehren seiner Beute
ein Knochen im Halse stecken. Er rief nun alle Tiere zusammen und
versprach eine hohe Belohnung demjenigen unter ihnen, das ihm
den Knochen aus dem Halse herausziehen würde. Ein Kranich, der
auch herbeigeeilt kam, steckte seinen Schnabel in den Rachen des
Löwen und befreite ihn von seiner Drangsal. Als der Kranich dar-
auf den versprochenen Lohn verlangte, sprach der Löwe spöttisch:
„Gehe deines Weges und sei froh, daß du deinen Kopf unversehrt
aus dem Löwenrachen gezogen hast“. Ebenso, meinte Josua, sollten
wir froh sein, daß wir, in die Gewalt dieser Nation (der Römer)
geraten, wenigstens mit dem Leben davongekommen sind.
Der wirkliche Verlauf der Ereignisse wird indessen wohl der fol-
gende gewesen sein2). In den ersten Regierungsjahren Hadrians gin-
D Midrasch rabba: Bereschith, Kap. 64-
2) Zu der unten dargelegten Auffassung der wirklichen Folge der Ereignisse
gelangen wir auf Grund einer sorgfältigen Analyse der griechisch-römischen und
kirchengeschichtlichen Quellen und deren Konfrontierung mit den talmudischen
Überlieferungen. Heute wird wohl niemand mehr in Zweifel ziehen, daß die Ver-
54
§ 8. Kaiser Hadrian und die Erhebung des Bar Kochba
gen die Römer daran, Jerusalem, das nahezu ein halbes Jahrhundert
in Trümmern lag und als römisches Feldlager von dem übrigen Ju-
däa losgetrennt war, wieder aufzubauen. Unter den Juden kam nun
das besorgniserregende Gerücht in Umlauf, daß an der Stätte ihrer
heiligen Hauptstadt eine Stadt nach heidnischem Vorbild mit Götzen-
tempeln, Zirkussen und Theatern erstehen sollte, und daß die neue
Stadt mit römischen Veteranen besiedelt werden würde. Dies war
die ständige Veranlassung für den Ausbruch von Volkstumulten in
Judäa, die jedoch erst im fünfzehnten Regierungsjahre Hadrians zu
einer allgemeinen Volkserhebung anschwollen. Es geschah dies im
Jahre i3i, als der Kaiser sich auf einer Rundreise durch Syrien,
Palästina und Ägypten befand. An vielen Orten wurden dabei auf
seinen Befehl Prachtbauten und Denkmäler errichtet, Städte ausge-
baut, hadrianische Festspiele („Adrianeia“) aufgeführt. Überall wurde
er als ein „Wiederhersteller“ (restitutor) gepriesen. In Palästina
wurde Hadrian in dieser Weise namentlich in den hellenisierten
Städten Caesarea, Tiberias, Gaza gefeiert. Zum Andenken an den
kaiserlichen Aufenthalt in Judäa wurden Münzen mit der Aufschrift:
Adventui Augusti Judaeae („Zur Ankunft des Augustus in Judäa“)
geschlagen. Mit diesem Aufenthalt des Kaisers in Palästina hing nun
auch die Vollendung des schon längst in Angriff genommenen Neu-
aufbaus Jerusalems als eines Zentrums der römischen Kultur im
Morgenlande zusammen. Dieser Plan schien Hadrian besonders ver-
lockend zu sein: und in der Tat, welch eine glänzende Aufgabe, die
alte Hauptstadt Judäas, die „berühmteste Stadt des Morgenlandes“
Wandlung Jerusalems in Aelia Capitolina die Ursache, nicht aber die Wirkung des
Aufstandes des Bar Kochba gewesen ist. Unverrückbarer Ausgangspunkt bleibt die
Nachricht des alten Geschichtsschreibers Dio Gassius: „Als Hadrian zu Jerusalem
eine eigene Stadt an Stelle der zerstörten gründete, welche er Aelia Capitolina
nannte, und an der Stelle des Tempels ihres (der Juden) Gottes einen anderen
Tempel für Jupiter errichtete, da erhob sich ein großer und langwieriger Krieg“
(Röm. Gesch. LXIX, 12). In Abweichung von Schürer, Graetz und anderen Ge-
schichtsschreibern sind wir der Ansicht, daß diese von Hadrian in die Wege geleitete
Restaurierung Jerusalems sich nach und nach, von seinen ersten Regierungsjahren
an bis zum Ausbruch des Aufstandes, vollzogen hat: zunächst (in der Zeit des
Josua ben Chananja) legte sich die Volkserregung, um sich jedoch später, im Jahre
i3i—i32, als die Arbeiten ihrem Ende entgegengingen und ihr wirklicher Zweck
nicht mehr zweifelhaft sein konnte, in einem Aufstand Luft zu machen. Renan
(L’Eglise chretienne, 26 f.), der sich gleichfalls für einen frühen Beginn der Re-
staurierung ausspricht, unterläßt es jedoch, die sich daraus ergebenden Schluß-
folgerungen zu ziehen.
55
Die Aufstände unter Trajan und Hadrian
(nach dem Worte des Plinius), von dem Nimbus einer mysteriösen
Heiligkeit umgeben, eine Stadt, vor deren Mauern soviel römisches
Blut vergossen worden war, Wiedererstehen zu lassen, und zwar unter
einem neuen Namen, als eine römische Zwingburg und als den Mit-
telpunkt römischer Götterverehrung! Einen Tempel des Kapitolini-
schen Jupiter auf jenem Berge errichten, wo einst der Tempel des
„Gottes des Himmels“ sich erhoben hatte — hieße das nicht, einen
zweiten Sieg über die Judäer erringen, einen Sieg der römischen
Staatsreligion über die jüdische, der abendländischen Kultur über die
morgenländische? So war denn die Entscheidung gefallen, und man
begann nunmehr, sich eifrigst zu der Einweihung der neuen römi-
schen Stadt zu rüsten.
Wie mußte den Juden zumute gewesen sein, als sie von dem
kaiserlichen Entschlüsse Kunde erhielten! Für sie bedeutete dies einen
neuen Anschlag auf Jerusalem, neues nationales Unheil. Solange die
heilige Stadt in Trümmern lag, konnte in den Herzen die Hoffnung
auf ihre Wiedergeburt noch fortleben. Um diese Wiedergeburt fleh-
ten tagtäglich voll Inbrunst die Kinder der verwaisten Nation, ihr
Antlitz gegen die unvergeßliche Trümmerstätte wendend. Nun soll
auch diese letzte Hoffnung zunichte werden. Die Hauptstadt Judäas
soll sich in einen Stützpunkt der Feindesmacht verwandeln; dort, wo
der Opferaltar des unsichtbaren Gottes stand, wird sich der Altar
des Jupiter-Zeus erheben; die grauenvollen Zeiten des Antiochus
Epiphanes kehren noch einmal wieder. Muß eine solche Zeit nicht
auch den Geist der Hasmonäer zu neuem Leben erwecken? Wird
der heilige Zorn die Söhne der Zeloten nicht von neuem zum Kampfe
gegen das Weltungeheuer anspornen? Mehr als ein halbes Jahrhun-
dert war seit dem letzten Freiheitskriege verflossen, doch war das
Losungswort der Freiheit im Volke lebendig geblieben. Vespasian und
Titus gelang es, den großen Brand der Revolution zu löschen, seine
Funken glommen indessen unter der Asche fort und wurden nun von
Hadrian zu heller Flamme angefacht. Kaum war der Kaiser nach
Beendigung seiner Reise in Rom eingetroffen, als in Judäa das Ban-
ner des Aufstandes entrollt wurde (i32).
In ganz Judäa bildeten sich kleine bewaffnete Gruppen, um einen
Freischärlerkrieg gegen die Römer zu führen. In öden Gegenden,
in Höhlen und unterirdischen Gängen häufte man Waffenvorräte
an; hier hielten sich auch kleine Scharen von Aufständischen ver-
56
§ 8. Kaiser Hadrian und die Erhebung des Bar Kochba
borgen, die vorbeiziehenden kleineren römischen Heeresteilen auf-
lauerten und sie kurzerhand vernichteten. Der damalige Statthalter in
Judäa, Tine jus Rufus (in den jüdischen Quellen: Tyranos-Rufus),
suchte durch grausame Maßnahmen des Aufstandes Herr zu wer-
den; doch zeigten sich die Aufständischen, die in kleinen Haufen
kämpften und ihre Feinde in den schwer zugänglichen Bergschluch-
ten überfielen, den regulären Truppen weit überlegen. Es war dies
jene alterprobte Art der Kriegsführung, die schon die Chassidäer zu
Beginn des Hasmonäeraufstandes und dannn die unerschrockenen
Zeloten in den späteren Revolutionskriegen erfolgreich zur Anwen-
dung gebracht hatten.
Zu den geistigen Urhebern des Aufstandes gehörten auch einige
hervorragende Gesetzeslehrer aus der Schule von Jabne. So schloß
sich den Freiheitskämpfern der berühmte Rabbi Akiba an, der nach
dem Tode des Josua ben Chananja der geistige Führer des Volkes
wurde. Von dem zuversichtlichen Glauben an die politische Wieder-
geburt der jüdischen Nation aufs tiefste durchdrungen, erblickte
Akiba in der neuen Freiheitsbewegung das Vorzeichen einer großen
Umwälzung. Der Glaube setzte sich nun in Taten um, die Begeiste-
rung in Propaganda. Schon seit langer Zeit, seit dem Aufstande der
Diaspora unter Trajan, pflegte Akiba häufig Reisen durch Palästina,
Kleinasien und Babylonien zu unternehmen, die mit der in Judäa
selbst entfachten Agitation für die Vorbereitung einer Erhebung in
unmittelbarem Zusammenhänge standen. Das Verhalten Akibas wurde
indessen nicht von allen Gesetzeslehrern gebilligt. Es gab auch jetzt,
wie zur Zeit des Krieges gegen Vespasian und Titus, „Friedfertige“,
denen ein Aufstand eine Wahnsinnstat zu sein schien. So sagte Jo-
chanan ben Tarta zu Akiba, der von messianischer Schwärmerei er-
griffen war: „Eher wird Gras aus deinen Kinnladen, Akiba, wach-
sen, ehe der Sohn Davids (der Messias) erscheinen wird“. In der
Gewaltherrschaft Roms erblickten viele ein Verhängnis, das nur auf
übernatürlichem Wege, nicht aber durch eine politische Umwälzung
überwunden werden könnte. Allein das Volk folgte dem Rufe Akibas,
und bald trat neben diesen geistigen Führer — ihn sogar eine Zeit-
lang in den Schatten stellend — der militärische Führer der auf-
ständischen Nation, der durch seinen Löwenmut an den zelotischen
Helden Bar Giora erinnerte. Es war dies Bar Kochba.
Sein eigentlicher Zuname war Bar Kosiba, d. i. „Sohn des Ko-
57
Die Aufstände unter Trajan und Hadrian
siba“ oder „gebürtig aus (der Stadt) Kosiba“. Sein Name war, wie
man vermutet, Simon (wenn man annehmen will, daß das auf den
jüdischen Münzen jener Zeit eingeprägte Wort „Simon“ sich auf
Bar Kosiba bezieht). Das Volk änderte nun den Zunamen seines Hel-
den und nannte ihn Bar Kochba, d. i. „Sternensohn“. Die Überliefe-
rung schreibt diese Neubenennung Rabbi Akiba zu. Dieser war von
der heldenhaften Erscheinung des neuen Führers so begeistert, daß
er ihn „König Messias“ nannte und auf ihn die bekannte Prophe-
zeiung Bileams bezog: „Ein Stern (Kochab) wird aufgehen in Ja-
kob . . . Und Edom (Rom) wird sein Erbe werden“. In den christ-
lichen Urkunden wird der Führer des Aufstandes stets Bar Kochba
genannt; in der talmudischen Legende hat sich dagegen der ursprüng-
liche Name „Bar Kosiba“ erhalten, der späterhin, nach dem miß-
glückten Aufstand, auch im Sinne einer Mißbilligung gedeutet wurde:
„Sohn der Lüge“.
Die Persönlichkeit des Bar Kochba ist in den Nebel der Legende
gehüllt. In der Erinnerung des Volkes lebte er als ein sagenhafter
Recke fort. Es wird von ihm erzählt, er habe die Riesensteine, mit
denen die Römer aus ihren Wurfmaschinen schossen, mit dem Knie
zurückgeschleudert und so eine Unmenge von Feinden vernichtet. Um
die Tapferkeit seiner Krieger zu erproben, soll Bar Kochba verkündet
haben, er wolle nur diejenigen in sein Heer aufnehmen, die sich un-
erschrocken einen Finger abhauen lassen würden, und viele sollen sich
dieser Prüfung unterzogen haben. Die Gesetzeslehrer hätten jedoch diese
barbarische Art der Prüfung beanstandet und Bar Kochba eine an-
dere Art Probe vorgeschlagen: es sollten nur diejenigen in das Heer
auf genommen werden, die eine Libanonzeder mit der Wurzel aus der
Erde zu reißen vermochten. Aus solch kraftvollen Recken soll nun
Bar Kochba ein vierhunderttausend Mann starkes Heer gesammelt
haben. Beim Anblick dieser auserlesenen Helden rief der Anführer
des Aufstandes aus: „Herr, hilf nur unseren Feinden nicht: uns
brauchst du nicht zu helfen!“ Aus all diesen phantastischen Berich-
ten kann man nur den Schluß ziehen, daß Bar Kochba sich eher
durch Körperkraft und militärische Begabung als durch geistige Vor-
züge auszeichnete. Er war gleichsam der geschwungene Arm des Vol-
kes, dessen Haupt Rabbi Akiba war. Männer wie Akiba waren die
anfeuernden Urheber der Tat, während Bar Kochba mit seinen
58
§ 8. Kaiser Hadrian und die Erhebung des Bar Kochba
Recken die Vollstrecker waren und voll kühnen Mutes in den Kampf
zogen.
Die von Kampfeslust beseelten Scharen des Bar Kochba verstreu-
ten sich über das ganze Land. Von den Städten und Festungen fiel
eine nach der anderen in ihre Hände. Die römischen Besatzungen
wichen voll Grauen vor dem ungestümen Angriff zurück. Den auf-
ständischen Juden schlossen sich auch die aufrührerischen Elemente
der anderen Völkerschaften Palästinas und Syriens an. Binnen Jahres-
frist waren (nach dem Berichte des Dio Cassius) nicht weniger als
5o feste Plätze und 985 Städte und Ortschaften in Judäa, Galiläa
und Samaria in den Händen der Aufständischen. Es scheint nicht
ausgeschlossen, daß zu den von den Insurgenten besetzten Städten
auch Jerusalem gehörte. Dafür sprechen vor allem die erhaltengeblie^-
benen Bronze- und Kupfermünzen jener Zeit. Manche darunter tra-
gen auf der einen Seite die hebräische Aufschrift: „Simon“ und auf
der anderen: „Der Befreiung Jerusalems“ (le’Cheruth Jeruschalaim).
Diese Münzen ließ wohl Bar Kochba zum Andenken an die Befreiung
des Volkes nach dem Vorbild der Münzen Simons des Hasmonäers
schlagen1). Einige Münzen aus der gleichen Zeit sind mit der In-
schrift „Eleasar der Priester“ (Eleasar ha’kohen) versehen, doch
bleibt die Rolle, die dieser Priester in dem Aufstande spielte, in den
alten Quellen völlig ungeklärt.
Der Statthalter Palästinas, Rufus, sah sich außerstande, dem sieg-
reichen Zuge der Aufständischen Halt zu gebieten. Ihm zu Hilfe
eilte der Statthalter Syriens, Marcellus, mit seinen Legionen, ver-
mochte aber gleichfalls nichts auszurichten. Nun entschloß sich der
Kaiser Hadrian, seinen kühnsten Feldherrn, den durch seine Erfolge
im britannischen Kriege berühmt gewordenen Julius Severus, nach Ju-
däa zu entsenden. An ein entscheidendes Treffen mit den über das
ganze Land verstreuten jüdischen Haufen war nicht zu denken. Es
galt zunächst, die kleinen Aufrührerscharen in ihren zahlreichen Ver-
stecken, in den befestigten oder unzugänglichen Bergnestern, zu ver-
nichten, um erst hernach gegen das Gros der Aufständischen, falls
sie sich in irgendeiner Feste konzentrieren sollten, den entscheidenden
1) Bei aller Übereinstimmung der Aufschriften auf den Münzen Simons des
Hasmonäers (Band II, § 21) und Bar Kochbas weisen die letzteren Spuren römischer
Prägung auf. Der Talmud erwähnt „Münzen des Bar Kosiba“ (Tosephta, Maasser
scheni, I, 6; Baba kamma, 97 u. sonst).
59
Die Aufstände unter Trajan und Hadrian
Schlag zu führen. So zog sich der Krieg in die Länge. Nur mit gro-
ßer Mühe, unter schweren Opfern gelang es den Römern, die Juden
in ihren Yerschanzungen zu schlagen. Die Einzelheiten dieses Krieges
sind in Dunkel gehüllt. Eine verworrene Überlieferung hat sich nur
über die Bezwingung des befestigten Tur-Malka („Königsberg“)
durch die Römer erhalten, der von dem jüdischen Helden Bar Deroma
mit Todesverachtung verteidigt wurde. Zu einer wilden Schlacht
scheint es im Rimmontale gekommen zu sein, wo zuerst der Aufruf
zur Revolution erscholl; das Wasser des hier fließenden Kison rötete
sich von dem Blute der Freiheitskämpfer. So besetzten die Römer
Schritt für Schritt fast alle festen Plätze und vernichteten einen be-
deutenden Teil der jüdischen Freischärlerhaufen.
Bar Kochba sah sich genötigt, mit seiner Hauptmacht und einer
Menge von Flüchtlingen auf Jerusalem zurückzugehen, und beschloß
nun, sich in der nahegelegenen Bergfeste Beth-Ther oder Betar1)
zur Wehr zu setzen. Die Wahl scheint auf diesen Punkt aus dem
Grunde gefallen zu sein, weil das aller Befestigungen entblößte Je-
rusalem keine Kriegsbasis abzugeben vermochte. Die Römer belager-
ten nun Betar. Nachdem es ihnen gelungen war, die Insurgenten in
der Festung einzuschließen, zweifelten sie nicht mehr an ihrem Sieg,
denn die Stadt mußte früher oder später, wenn nicht dem Sturm-
angriff, so doch der Hungersnot zum Opfer fallen. Die Belagerung
zog sich in die Länge, da sich die Belagerten mit äußerster Hart-
näckigkeit verteidigten; es sind uns aber keinerlei geschichtliche Be-
richte über diesen letzten Kampf erhaltengeblieben. Die Legende er-
zählt nur von einem tragischen Konflikt, der sich um diese Zeit zwi-
schen Bar Kochba und dem Gesetzeslehrer Elieser aus Modin2) ab-
gespielt hat. Jener verteidigte die Stadt mit der Macht der Waffen,
während dieser durch sein inbrünstiges Beten den Mut der Krieger
aufrechterhielt. Eines Tages soll nun ein Samaritaner an den beten-
den Elieser herangetreten sein und ihm etwas zugeflüstert haben. Als
man darauf den Samaritaner als der Spionage verdächtig verhaftete
und ihn fragte, was er Elieser mitgeteilt hätte, ließ der Verhaftete
!) Vielleicht an der Stelle des heutigen, an der von Jerusalem nach Jaffa
führenden Eisenbahn gelegenen Bittir.
2) Es wird vermutet, daß dieser Elieser mit dem obenerwähnten „Priester
Eleasar“, dessen Name auf den Revolutionsmünzen eingeprägt ist, identisch sei,
doch ermangelt diese Hypothese zureichender Begründung.
6o
§ 8. Kaiser Hadrian und die Erhebung des Bar Kochba
in seiner Antwort durchblicken, es hätte sich um die Übergabe der
Stadt an die Römer gehandelt. Bei dem nun vorgenommenen Verhör
des Elieser antwortete dieser, er wäre so sehr in die Andacht vertieft
gewesen, daß er die Worte des Samaritaners nicht einmal gehört
hätte. Verrat witternd, versetzte der wutentbrannte Bar Kochba dem
schwachen Elieser einen so wuchtigen Schlag, daß dieser tot zu Bo-
den stürzte. Die jüdische Legende fügt hinzu, daß nach diesem Ver-
brechen Betar in die Hände der Römer gefallen sei. Wir haben Grund
anzunehmen, daß die Einnahme Betars in der Tat durch Spionage
der Samaritaner, die den Römern einen in die Stadt führenden un-
terirdischen Gang gewiesen haben mochten, beschleunigt worden ist.
Der Bezwingung Betars (i35) folgte ein fürchterliches Gemetzel.
Sowohl Bar Kochba wie seine gesamte Heeresmacht kamen um; alle
in der Festung schutzsuchenden friedlichen Einwohner wurden ge-
tötet oder zu Gefangenen gemacht. Einzelne jüdische Kriegerhau-
fen, die noch an einigen Orten standzuhalten versuchten, wurden von
Julius Severus nach und nach vernichtet.
Dreieinhalb Jahre dauerte der Krieg, und in dieser kurzen Zeit-
spanne sollen, der Überlieferung zufolge, ungefähr eine halbe Million
Juden ums Leben gekommen sein. Aber auch die Verluste der Römer
waren nicht gering. Dies ist aus der Tatsache zu schließen, daß der
Kaiser Hadrian, der sich eine Zeitlang auch persönlich an dem jüdi-
schen Kriege beteiligte, in seinem dem Senat zugegangenen Bericht
über den errungenen Sieg den üblichen einleitenden Satz: „Ich und
das Heer befinden uns wohl“, wegließ. Aus Anlaß des neuen Sieges
über die Juden wurde Hadrian vom römischen Senat zum zweiten
Male als „Imperator“ proklamiert, Julius Severus erhielt die „orna-
menta triumphalia“, viele Offiziere und Soldaten Belohnungen und
Auszeichnungen. Auch Inschriften auf römischen Denkmälern ver-
herrlichten die Erfolge des Feldzuges nach Judäa (expeditio judaica,
bellum judaicum) unter dem „göttlichen Hadrian“, sowie die Helden-
taten seiner Feldherren.
Der langwierige Krieg verwüstete Judäa und machte es völlig
menschenleer. Die vom Schwerte verschonten Gefangenen wurden
massenhaft in die Sklaverei verkauft. Man erzählt, daß auf dem Jahr-
märkte an der „Terebinthe Abrahams“ in Hebron soviel jüdische Ge-
fangene feilgeboten wurden, daß ein Sklave soviel wie ein Pferd
galt. Der noch unverkauft gebliebene Rest der Sklaven wurde nach
61
Die Aufstände unter Trajan und Hadrian
Gaza und auf die Märkte Ägyptens gebracht, wobei nicht wenige un- (
terwegs durch Hunger oder Schiffbruch ums Leben kamen. Von g
den freigebliebenen Juden hielten sich viele in den Höhlen Pa- (
lästinas verborgen, während sich ein Teil durch die Flucht nach (
Kleinasien, Babylonien oder Arabien rettete. ]
1
§ 9. Jahre der Verfolgungen und des Märtyrertums (135—138) ^
Nachdem Hadrian den Aufstand der Juden niedergeschlagen hatte, (
konnte er nun an die Ausführung seines längst gefaßten Planes ]
schreiten: an die Verwandlung Jerusalems in eine heidnische Stadt i
auf dem Wege der Kolonisierung. Die in Jerusalem längst in Am- <
griff genommenen Neubauten (die anscheinend während des Auf- i
Standes zu Schaden gekommen waren) wurden jetzt zu Ende geführt, ]
so daß die Stadt ein ganz verändertes Aussehen erhielt. Ihre Bevölke- 1
rung bestand aus ausgedienten Soldaten und freiwilligen Ansiedlern 1
— aus Römern, Griechen, Syrern, überhaupt aus Angehörigen der 1
verschiedensten Nationalitäten, unter denen allein die jüdische fehlte. t
Die neue Stadt erhielt den Namen Aelia Capitolina (Colonia Aelia
Capitolina) zu Ehren des Kaisers Aelius Hadrianus und des Kapi- i
tolinischen Jupiter. Der Tempelberg wurde von den ihn seit den 1
Zeiten des Titus bedeckenden Trümmerhaufen gesäubert und sein <
Boden auf Befehl des Statthalters umgepflügt, um jede Erinnerung 1
an das ehemalige Heiligtum Judäas zu tilgen. An der Stätte, wo 1
sich einst der Jerusalemer Tempel erhob, wurde nun ein Tempel zu 1
Ehren des Kapitolinischen Jupiter errichtet; daneben ragte eine Bild- <
säule des Hadrian. Jerusalem verwandelte sich in eine griechische £
Stadt mit Theater, Zirkus, Götzentempeln und Götterstatuen. Nach 1
der christlichen Überlieferung soll an der Stätte des Grabes Christi 1
ein Tempel der Venus errichtet worden sein. An dem südlichen Tore, {
auf dem Wege nach Bethlehem, prangte die Abbildung eines un- 1
reinen Tieres — des Schweines. Den Juden war es strengstens unter- £
sagt, sich innerhalb der Stadtgrenzen blicken zu lassen, auf den Ver- i
stoß gegen dieses Verbot stand die Todesstrafe. Das zweimal in blu-
tigem Kampfe unterlegene Volk durfte sich jetzt seiner ehemaligen t
Hauptstadt, um derentwillen es soviel Heldentaten vollbracht hatte,
nicht einmal nähern.
9
Doch begnügte sich Hadrian nicht mit der Demütigung der Ju- c
62
§ 9. Jahre der Verfolgungen und des Märtyrertums
den — er hatte es auf ihre gänzliche nationale Vernichtung abge-
sehen. Er wollte jenen Geist ausrotten, der die jüdische Nation von
der heidnischen Welt absonderte und den Juden die Kraft verlieh,;
der sie umgebenden Welt zu trotzen. Er begriff wohl, daß man dem
hartnäckigen Volke auf dem Wege der Bekämpfung der jüdischen
Nomokralie, der Macht des Gesetzes, am sichersten den Todesstoß
versetzen könne. Zu diesem Zwecke ließ er die Methoden des An-
tiochus Epiphanes zu neuem Leben erstehen, die auf die Vernichtung
des Judaismus als der Lebenskraft der jüdischen Nation hinzielten.
Das Verhalten des römischen Kaisers wich nur darin von dem des
Antiochus ab, daß er die Juden nicht unmittelbar zur Beteiligung an
dem heidnischen Kultus zwang, sondern sie lediglich an der Aus-
übung ihres jüdischen Kultes hinderte. Noch vor dem Aufstande
hatte Hadrian ein Gesetz aus der Zeit des Domitian in Kraft treten
lassen, welches ganz allgemein den Beschneidungsritus in den öst-
lichen römischen Provinzen als eine Abart der Kastration oder Lei-
besverstümmelung1) untersagte. Dieses Gesetz allgemeinen Charak-
ters erneuerte nun der Kaiser durch einen besonderen, speziell die
Juden betreffenden Erlaß, da er wohl wußte, daß dieser Brauch bei
ihnen als Symbol des Eintritts in den „Bund Abrahams“ galt. Die
Übertretung des Dekrets sollte mit dem Tode bestraft werden. Über-
dies wurde auch noch die Beobachtung der Sabbatruhe, sowie jede
Beschäftigung mit der jüdischen Gesetzeslehre strengstens untersagt.
Mit der Durchführung dieser Repressivmaßnahmen war der Statt-
halter Rufus beauftragt. Dieser Beamte, der während des Krieges dem
aufständischen Volke hilflos gegenübergestanden hatte, verstand es
sehr wohl, das nun besiegte Volk in unmenschlichster Weise zu züch-
tigen. Mit der jüdischen Lebensführung während seiner langen Amts-
tätigkeit in Palästina vertraut geworden, führte Rufus den ihm zuteil
gewordenen Auftrag mit raffinierter Grausamkeit aus. Er dehnte das
kaiserliche Dekret fast über den ganzen Bereich des jüdischen gei-
stigen Lebens aus. Auf seinen Befehl strichen die römischen Spitzel
überall herum, spürten denjenigen auf, die den jüdischen religiösen
1) Unter diesen Repressalien hatten um jene Zeit auch andere orientalische Völ-
ker, namentlich aber die ägyptischen Priester zu leiden, für die die Beschneidung
eine Voraussetzung für die Ordination bedeutete. Der alte Historiker des Hadriani-
schen Zeitalters, Spartian, gibt dieses Verbot in der folgenden Wendung wieder:
„Vetabantur mutilare genitalia“. Der jüdische Beschneidungsritus war wohl nicht
ohne Absicht unter den Begriff der Körperverletzung, der Kastration, subsumiert.
63
Die Aufstände unter Trajan und Hadrian
Bräuchen die Treue bewahrten oder insgeheim Schulen unterhielten,
und lieferten sie an die Behörden aus, worauf die Unglückseligen
dem Martertode preisgegeben wurden. Die Zahl der Spione und De-
nunzianten vermehrte sich zusehends, so daß niemand, namentlich
aber keiner von den im öffentlichen Leben Stehenden, vor der plötz-
lichen Festnahme sicher sein konnte.
Es brach eine grauenvolle Zeit an. Im Talmud heißt sie „Zeit
der Religionsnot“ (Schaath ha’schmad), „Stunde der Gefahr“. An-
gesichts der fürchterlichen Gefahr, in der der Judaismus schwebte,
fand in der Stadt Lydda eine geheime Zusammenkunft der Gesetzes-
lehrer statt, bei der die Frage zur Entscheidung stand, ob es einem
Juden, dem wegen seiner Treue seiner Religion gegenüber die Todes-
strafe drohte, gestattet sei, zur Erhaltung seines Lebens sich zum
Schein vom Judentum loszusagen. Die Ansichten gingen auseinander:
die einen bestanden darauf, daß jeder verpflichtet sei, der Religion
sein Leben zum Opfer zu bringen; die anderen waren hingegen der
Meinung, daß eine solche Tat im Grunde mit dem Selbstmord gleich-
bedeutend wäre und daß ein durch Gewalt erzwungener Abfall kei-
neswegs als Abtrünnigkeit gelten könne. Nach langen erregten De-
batten gewann eine vermittelnde Meinung die Oberhand, und die Ver-
sammlung faßte einen Beschluß, wonach ein Jude nur in den folgen-
den drei Fällen zur Preisgabe seines Lebens verpflichtet sei: wenn
er zum Götzendienst, zur Unkeuschheit oder zum Morde gezwungen
würde. Doch hing das Verhalten der meisten auch nach diesem Be-
schluß von dem Grade ihrer persönlichen Widerstandskraft ab: die
einen sagten sich in gefahrvollen Momenten von ihrer Religion zum
Scheine los, während die anderen offen oder geheim an allen jüdi-
schen Geboten und Bräuchen so lange unerschütterlich festhielten, bis
sie von den römischen Henkersknechten zu Tode gepeinigt wurden.
Großen Heldenmut legten die Gesetzeslehrer an den Tag, deren
Lebensweise von den römischen Behörden besonders scharf beobach-
tet wurde. Der sagenhafte Charakter der talmudischen Nachrichten
macht es unmöglich, mit Genauigkeit zu bestimmen, wer von den
geistigen Führern des Volkes schon während des Aufstandes des Bar
Kochba und wer erst nach der Unterdrückung des Aufstandes, in
den Jahren der Religionsnot, umkam. Nicht einmal in bezug auf Rabbi
Akiba, den geistigen Urheber des Aufstandes, ist dies mit Sicherheit
festzustellen. Die talmudische Sage verbindet allerdings den tragi-
64
■- • .
§ 9. Jahre der Verfolgungen und des Märtyrertums
sehen Ausgang seines Lebens mit der Zeit der religiösen Verfolgun-
gen. Obwohl er sich in seiner Hoffnung auf die baldige politische
Wiedergeburt seines Volkes getäuscht sah, setzte er seine geistige
Wirksamkeit auch weiterhin voll Eifer fort und unterwies seine Jün-
ger, ungeachtet aller Warnungen seiner Freunde, öffentlich im Ge-
setz. Als einer seiner Gesinnungsgenossen ihn fragte, ob er sich denn
vor den römischen Behörden gar nicht fürchte, erwiderte ihm Akiba
mit der folgenden trefflichen Parabel: Ein Fuchs stand einmal am
Ufer eines Flusses und sah, wie die Fischlein unruhig im Wasser
herumschwammen. „Vor wem flüchtet ihr?“ — fragte der Fuchs. „Wir
fliehen die Netze, mit denen die Menschen uns nachstellen“ — antwor-
teten die Fischlein. Da sprach der Fuchs zu ihnen: „So kommt doch
ans Land und wir wollen zusammen leben“. Die Fischlein erwider-
ten aber: „Wir werden uns wohl hüten, das zu tun; wenn wir in
dem Wasser, unserem Lebenselemente, in so großer Gefahr schwe-
ben, was müßten wir dann nicht alles auf dem Lande befürchten,
wo wir nicht einmal existieren können!“ „Ähnlich“, fuhr Akiba fort,
„ist auch unsere Lage. Wenn wir bei der Beschäftigung mit der
Thora, von der es heißt, daß sie ,unser Leben und die Dauer unserer
Tage ist, Gefahren ausgesetzt sind, was soll denn aus uns werden,
wenn wir diesen Rettungsanker aus der Hand lassen?“
Kurz darauf wurde Akiba festgenommen und in den Kerker ge-
worfen. Rufus nahm sich vor, den geistigen Führer der Juden, den
Anstifter des Aufstandes des Bar Kochba, exemplarisch zu bestrafen.
Nachdem Akiba lange Zeit im Kerker geschmachtet hatte, ließ
ihn der Römer zum Richtplatz schleifen und befahl, ihm das Fleisch
mit eisernen Striegeln vom Leibe zu reißen. Mit übermenschlicher
Geistesstärke erduldete Akiba die fürchterlichen Qualen und sprach
unter der Folter immer wieder die Worte des Gebetes: „Höre, Is-
rael, Gott unser Herr ist ein einziger Gott!“ Als er in diesem Augen-
blick in der Nähe seine Jünger erblickte, sprach Akiba zu ihnen:
„Mein Leben lang pflegte mich Trauer zu erfüllen, wenn ich bei
dem Thoragebot anlangte: ,Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, mit
deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit allem dei-
nem Vermögen4. Nun liebte ich Gott mit meinem ganzen Herzen und
opferte ihm mein ganzes Vermögen, doch war es mir bis jetzt nicht
beschieden, auch meine Seele für Gott zu lassen. Jetzt ist es mir ver-
5 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
65
Die Aufstände unter Trajan und Hadrian
gönnt, auch dies zu erfüllen“. So hauchte Akiba, inbrünstig betend,
mit dem Rufe: „Gott ist einzig!“ seine Seele aus.
Akiba war aber nur einer von jenen zehn Gesetzeslehrern, die fast
gleichzeitig wegen der Nichtachtung des den Judaismus bekämpfen-
den kaiserlichen Dekrets den Märtyrertod erlitten (Assara haruge
malchuth). Zu ihnen gehörte auch der Mitstreiter des Akiba, ein
Augenzeuge des Krieges gegen Vespasian, der greise Ismael ben Eli-
scha (§ 6). Glorreich war der Märtyrertod des Rabbi Chanina ben
Teradion. Gleich Akiba lehrte und predigte Chanina öffentlich mit
einer Thorarolle in der Hand. Einer seiner Freunde, Jose ben Kisma,
sprach einst zu ihm: „Willst du denn, mein Bruder, nicht einsehen,
daß der Himmel selbst das römische Reich begünstigt? Dieses Reich
zerstörte unseren Tempel, brachte unsere Gerechten um, metzelte un-
sere Besten nieder und steht dennoch unerschüttert da. Warum
handelst du denn dem Erlaß zuwider und unterweisest in der Thora?
Die römischen Schergen werden es ja nicht unterlassen, dich mitsamt
der Thorarolle zu verbrennen“. Doch vermochten die Warnungen des
vorsichtigen „Friedensfreundes“ auf Chanina keinen Eindruck zu ma-
chen und er setzte sein Werk so lange fort, bis auch er verhaftet
wurde. Chanina mußte einen martervollen Tod erleiden: man warf
ihn, in die bei ihm Vorgefundene Thorarolle gehüllt, auf einen Schei-
terhaufen von frischen Weiden und legte ihm einen feuchten
Schwamm auf die Brust, um seine Qualen zu verlängern. Seiner am
Scheiterhaufen schluchzenden Tochter sprach der Märtyrer mit fol-
genden Worten Trost zu: „Er, der für die Schmach der (mit mir
verbrennenden) heiligen Thora heimzahlen wird, wird auch meinet-
halben Vergeltung üben“.
Als letzter der „zehn Staatsopfer“ erlitt der greise Gesetzeslehrer
Juda ben Baba für seine Bemühungen um Erhaltung der Gelehrten-
körperschaft den Märtyrertod. Nachdem viele von den Mitstreitern
und Schülern des Akiba während des Aufstandes ums Leben gekom-
men oder den religiösen Verfolgungen zum Opfer gefallen waren1),
versammelte nämlich Juda den noch überlebenden Rest der Jünger
und zog sich mit ihnen in ein einsames galiläisches Tal in der Nähe
!) Die talmudische Sage berichtet in übertriebener Weise von zwölftausend
..Schülern des Rabbi Akiba“, die im Laufe eines einzigen Sommers umgekommen
sein sollen (Jebamoth, 62; Midrasch, Bereschith rabba, Kap. 61). Mit dieser Kata-
strophe hängt der spätere Brauch zusammen, in den sechs Wochen zwischen dem
Passah- und Schebuothfest die Halbtrauer zu beobachten.
66
§ 9. Jahre der Verfolgungen und des Märtyrertums
der Stadt Uscha zurück; dort ordinierte er durch die übliche Hand-
auflegung als der Älteste der am Leben gebliebenen Freunde des
Akiba sechs junge Gelehrte und weihte sie in die Gesetzeslehrerwürde
ein, indem er ihnen zugleich auf trug, an Stelle der hingerichterten
nationalen Führer die geistige Führung des Volkes in die Hand zu
nehmen. Schon war ihnen jedoch eine römische Truppe auf der
Spui*, bei deren Herannahen Juda noch Zeit hatte, seinen jungen
Freunden zuzurufen: „Rettet euch, Kinder!“, während er selbst nicht
vom Platze wich. Die römischen Soldaten machten ihn nieder, in-
dem sie ihn mit Lanzenstichen „wie ein Sieb“ durchlöcherten.
Damit erreichte die Volkserhebung unter Hadrian ihr tragisches
Ende. Der Feind, der die politische Macht des Judentums gebrochen
hatte, versuchte nunmehr auch seine geistige Macht, seine nationale
Eigenart niederzuwerfen. Indessen hatte dieser Anschlag nur eine
noch größere Anspannung der geistigen Lebensenergie des Volkes zur
Folge. Die unerhörte Standhaftigkeit der Juden zwang sogar ihren
Feinden Bewunderung ab. Diese ihnen unwillkürlich gezollte Ach-
tung kommt treffend in dem von der Sage vermittelten Ausspruch des
Hadrian zum Ausdruck, den er angeblich in einer Unterredung mit
Rabbi Josua ben Ghananja fallen ließ: „Wie ruhmreich ist das mit-
ten unter siebzig Wölfen ausharrende Lamm!“
5*
67
Drittes Kapitel
Das geistige Leben zur Zeit des
Synhedrion von Jabne
(73_t35)
§10. Der alte und der neue Glaube
Der die beiden politischen Katastrophen — den Fall Jerusalems
und den Fall Betars — trennende Zeitraum von 70 Jahren war eine
Epoche tiefer geistiger Gärung sowohl in Judäa als in der Diaspora.
Eine neue Macht stellte sich zwischen das Judentum und das Heiden-
tum — das Christentum, in dem die Juden ein maskiertes Heidentum,
die rechtgläubigen Heiden dagegen ein maskiertes Judentum erblick-
ten. Noch war diese neue Macht nicht bedeutend genug, noch machte
sie sich auf dem weiten Kampffeld der Kulte und Kulturen inner-
halb des römischen Reiches nur wenig bemerkbar, und doch spielte
sie schon jetzt die Rolle eines Gärstoffes, der im Stillen eine noch
nicht absehbare Umgestaltung der heidnischen Welt vorbereitete. Das
Christentum hatte zu jener Zeit die Schranken einer Sekte noch nicht
gesprengt, und nur ganz verschwommen traten die Grundzüge der
in Bildung begriffenen Kirche hervor. Vor den Augen der jüdischen
Diaspora erblühte allmählich jener Zweig des Christentums, den der
„Apostel der Heiden“, Paulus, von dem jüdischen Stamme losgerissen
hatte. In Syrien, Kleinasien, Griechenland und in Rom selbst wurden
die aus einem Gemisch von Griechen, Römern und assimilierten Ju-
den bestehenden Sektierergemeinden immer zahlreicher. Der neue
Glaube zog die Geister gerade durch das von ihm dargebotene Kom-
promiß zwischen Heidentum und Monotheismus an: durch die den
antiken Vorstellungen so nahekommende Idee des Gottmenschen einer-
seits und durch die Ablehnung der nationalen Zucht des Judaismus
andererseits. Jm II. Jahrhundert waren die Beziehungen der außer-
§ 10. Der alte und der neue Glaube
palästinensischen Abzweigung des Christentums zum Judentum be-
reits endgültig gelöst.
Zunächst vermochte die römische Regierung und Gesellschaf t Chri-
sten von Juden aus dem Grunde nur schwer zu unterscheiden, weil
diese wie jene sich formell zum Monotheismus bekannten und die römi-
sche Staatsreligion in jeder Weise ablehnten. Nach und nach begannen
aber die Behörden einen Unterschied zwischen Juden und Christen zu
machen, und zwar meist zum Nachteil der letzteren. Dies erklärt sich
daraus, daß der Judaismus, als eine in sich geschlossene nationale
Religion, unter den Heiden zwar Freunde aber kaum Anhänger be-
saß: die sogenannten „Judaisierenden“ und die „Verehrer des höch-
sten Gottes“, die teilweise das jüdische Gesetz anerkannten, standen
nur in losem Zusammenhang mit den jüdischen Gemeinden und Sy-
nagogen, ohne in ihnen als gleichberechtigte Mitglieder ganz aufzu-
gehen. Als ein viel ernsterer Rivale der römischen Staatsreligion
mußte hingegen das Christentum erscheinen, das durch die Lossagung
vom nationalen Judaismus und von der Zucht des Gesetzes den Neu-
bekehrten seine Tore weit öffnete. Überdies galt der Judaismus im
Kaiserreiche von jeher als eine „erlaubte Religion“ (religio licita),
d. h. als eine solche, die, soweit sie sich auf das sich zu ihr beken-
nende Volk beschränkte, geduldet wurde, während das dem engen
Rahmen einer Sekte noch nicht entwachsene Christentum nicht legal
war und zu den gefährlichen Geheimkulten gerechnet wurde. Gegen
die zum Christentum übergetretenen Heiden, die als von der römi-
schen Staatsreligion Abgefallene und schädliche Schismatiker galten,
wurde daher oft zu Repressivmaßnahmen gegriffen, besonders gegen
die, die ihre Mißachtung des Kultes der heidnischen Götter und der
Statuen der „göttlichen Caesaren“ öffentlich zur Schau trugen. Un-
ter dem Kaiser Trajan kam es so weit, daß die römischen Gerichte
alle der Zugehörigkeit zur christlichen Sekte Überführten ohne Aus-
nahme auf das härteste bestraften. Der liberale Schriftsteller und
Rechtsberater Plinius der Jüngere, der im Jahre 112 zum Statthalter
in Pontus (Kleinasien) ernannt wurde, verfolgte dort die Christen in
unnachsichtigster Weise auf Grund der gegen die „unerlaubten Re-
ligionen“ gerichteten römischen Gesetze. In einem Briefe an Trajan
macht er diesem Mitteilung über sein Verfahren in solchen Prozes-
sen: er verurteilte die unbeugsamen Sektierer zum Tode, während er
die „Bemitleidenswerten, die von demselben Wahn ergriffen sind“
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jab ne
und das Vorrecht eines römischen Bürgers genießen, zur Aburteilung
nach Rom schickte; freizusprechen pflegte er nur solche Angeklagte,
die ihre Reumütigkeit dadurch bezeugten, daß sie an Ort und Stelle
vor den Standbildern der Götter und der Caesaren niederknieten, Chri-
stus aber verfluchten. Auf die Frage des Plinius, ob er auch ferner-
hin in derselben Weise verfahren solle, ließ ihn Trajan wissen, daß
man nur überführte und verstockte Christen bestrafen solle, ohne sich
jedoch dabei an anonyme Denunziationen zu kehren. Hingegen stand
Kaiser Hadrian, der aus politischen Erwägungen nach dem Aufstande
des Bar Kochba die jüdische Religion aufs grausamste verfolgte, den
Christen, die dem Aufstande ganz fern blieben und die „Aufsässig-
keit“ der jüdischen Patrioten mißbilligten, durchaus wohlwollend
gegenüber.
Konnten die Führer des Judentums in ihrer nationalen Arbeit ihre
abtrünnig gewordenen, der Lehre des Apostels Paulus huldigenden
Volksgenossen gänzlich außer Acht lassen, so gab es hingegen eine an-
dere Gruppe, der sie die ernsteste Aufmerksamkeit zuwenden mußten.
Eine der Abzweigungen des neuen Glaubens hatte sich nämlich von
dem alten Stamme noch nicht ganz gelöst; die Anhänger dieser Rich-
tung lebten in Judäa nach wie vor mitten unter ihren Volksgenossen
als eine jüdische Sekte. Sie wahrten die Traditionen der ur chris fliehen
Gemeinde, die viele Dogmen und Gesetze des Judentums noch voll
anerkannte. Diese sogenannten „Judenchristen“ unterschieden sich von
den Christen paulinischer Observanz in den folgenden zwei Haupt-
punkten: erstens verehrten sie Christus nicht als Gottessohn sondern
lediglich als den Messias aus dem Hause Davids, der den Menschen
das Ideal des heiligen Lebenswandels vermittelte und den Weg zur
Erlösung von der Sünde wies; zweitens bekämpften sie nicht die
Herrschaft des Gesetzes in seinen Hauptformen und hielten an dem
Beschneidungsritus und an der Beobachtung des Sabbats und der
Feiertage unentwegt fest. Dies verband die Sektierer bis zu einem
gewissen Grade mit ihren rechtgläubigen Volksgenossen besonders
aus der Mitte des gemeinen Volkes, das sich nur wenig um die Fein-
heiten der Dogmatik und der Gesetzesauslegung kümmerte. Den Füh-
rern des Volkes konnte jedoch die tiefe Kluft, die die Auffassung
der Sektierer von den national-geistigen Aspirationen der Rechtgläubi-
gen tatsächlich trennte, nicht gleichgültig bleiben. Kam doch dieser
§ 10. Der alte und der neue Glaube
Unterschied der Auffassungen vor allem auf dem Gebiete der sozialen
Ideale zum Ausdruck.
Das große Unglück, das über das jüdische Volk nach der Zer-
störung von Jerusalem hereinbrach, war den Sektierern (die während
der Belagerung aus Jerusalem nach Pella, einer hellenisierten Stadt
im Herrschaftsbereich Agrippas II., geflüchtet waren) eine neue Be-
stätigung dafür, daß das Ideal eines nationalen Messias nunmehr vor
dem Ideal eines universalen „Heilands“ oder „Erlösers“ zurückzu-
treten habe. Etwas später brachte einer der Evangelisten diese Stim-
mung der Christen dadurch zum Ausdruck, daß er Christus die fol-
gende Weissagung in den Mund legte: „Jerusalem, Jerusalem, die
du tötest die Propheten (des neuen Glaubens) und steinigst, die zu
dir gesandt sindl . . . Siehe, euer Haus (Tempel) soll euch wüst
gelassen werden“ (Matth. 2 3, 37—38). In der Zerstörung der Haupt-
stadt und des Tempels erblickten die Judenchristen eine Strafe Gottes
für den von den Volksführern geleisteten Widerstand gegen die Aus-
breitung des neuen Glaubens. So trieben sie denn auch nach Be-
endigung des Krieges in diesem Sinne ihre Propaganda unter dem
gemeinen Volke in Galiläa, Trans Jordanien und Judäa. Manches in
der Lebensführung der Sektierer mußte auf den Mann aus dem Volke
anziehend wirken: er fand Gefallen an dem unter ihnen herrschen-
den Geist der Brüderlichkeit, an ihrer schlichten Lebensführung, an
ihrer Verachtung des Reichtums und ihrer Hochschätzung der Ar-
mut. (Eine Gruppe von Judenchristen war unter dem Namen Ebioni-
ten} d. h. Arme, Bettler, bekannt.) Auch hatten sich die Häupter der
Sekte bei den abergläubischen Massen den Ruhm von wundertätigen
Heilkünstlern erworben, die böse Krankheiten durch Beschwörung
und ähnliche geheimnisvolle Zauberkünste zu heilen wußten. Es kam
vor, daß auch Leute aus gebildeten Kreisen der Versuchung, sich
von solchen Heilkünstlern kurieren zu lassen, nicht zu widerstehen,
vermochten. So wollte ein Verwandter des Gesetzeslehrers Rabbi
Ismael, ein gewisser Ben Dima, der von einer Schlange gebissen wor-
den war, einen Wundertäter aus der Mitte der Judenchristen, Jakob
aus Kephar-Sakanja, der bei der Heilung von Krankheiten eine Be-
schwörung im Namen Jesu zu sprechen pflegte, um Hilfe angehen;
die Angehörigen des Kranken hielten ihn jedoch von diesem Vor-
haben zurück. Mit demselben Jakob, anscheinend einem der Häupter
7X
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jab ne
der Sekte, hatte auch Rabbi Elieser ben Hyrkan einst eine Unter-
redung über religiöse Fragen, wofür er als „der Ketzerei überführt“
(nitpas le’minuth) vor ein Gericht seiner Freunde, der Gesetzeslehrer,
gestellt wurde.
Das Synhedrion von Jabne war sich nämlich über die gefährlichen
Folgen völlig klar, die ein solcher Umgang der Rechtgläubigen mit
den Ketzern oder Mindern (Minim), wie man die Judenchristen
nannte, nach sich ziehen müsse. Die Gefahr lag nicht so sehr in den
dogmatischen Verirrungen, als vielmehr in der Unterwühlung jenes
nationalen Prinzips, das der Leitstern der gesamten Arbeit des Syn-
hedrion war. Das realistische Ideal des Messias als des Befreiers
konnte mit dem mystischen Ideal des Messias als des Erlösers nicht
in Einklang gebracht werden. Der Synhedrionvorsteher Gamaliel und
seine Freunde hatten in den alltäglichen Gottesdienst ein besonderes
Gebet für die Wiederherstellung des Staates und Jerusalems einge-
schaltet1), das indessen die Minäer entschieden ablehnten — ein Bei-
spiel, dem (wie aus dunklen Andeutungen des Talmud zu schließen
ist) auch manche Rechtgläubige, in deren Herzen das Ideal eines
politischen Messias bereits erloschen war, zu folgen geneigt waren.
Zur Beseitigung der drohenden Gefahr war es geboten, die Minäer
durch irgendeinen öffentlichen Akt aus dem Verband der Gemeinden
auszuschließen und ihnen den Zutritt zu den Synagogen zu verweh-
ren. Zu diesem Zwecke wurde denn auch unter dem Patriarchen Ga-
maliel II. eine besondere „Verwünschung der Minäer“ (Birchath
ha’minim) abgefaßt und in die sogenannten „achtzehn Lobpreisun-
gen“ in die Gruppe der Gebete für die Befreiung der jüdischen Na-
tion eingefügt. Da dieses Gebet in späterer Zeit nach dem Verschwin-
den der Minäersekte aufgehoben oder geändert wurde, ist sein
Text nicht genau bekannt. Wenn man annehmen will, daß es später-
hin die Form des noch heute üblichen Verwünschungsspruches gegen
die „Verleumder“ (Wela’malschinim) erhielt, so mag es wohl mit
den Worten begonnen haben: „Und den Mindern (oder Abtrünnigen)
1) Siehe oben, § 5. Im späteren, auch heute noch gebräuchlichen Texte der
„achtzehn Lobpreisungen“ (Schmona-essre) ist der Wortlaut dieses Gebetes der
folgende: „Und nach Jerusalem, deiner Stadt, kehre zurück in Erbarmen; und
wohne in ihrer Mitte, wie du gesagt hast; und baue sie bald in unseren Tagen zu
einem ewigen Bau; und den Thron Davids richte bald auf in ihrer Mitte“.
72
§ 10. Der alte und der neue Glaube
sei keine Hoffnung1)“. Aus diesem Anlaß ist den Juden von den al-
ten christlichen Schriftstellern zum Vorwurf gemacht worden, daß sie
in ihren alltäglichen Gebeten „die Christen verfluchten“, doch ist der
Vorwurf in dieser Form durchaus unbegründet: die Juden sagten sich
in einer besonderen Formel nur von denjenigen aus ihrer eigenen Mitte
los, die sich unter dem Scheine des Judaismus zu einer die natio-
nale Hoffnung des Judentums verleugnenden sektiererischen Lehre
bekannten.
Zur Zeit des Aufstandes unter Hadrian kam diese innere Ent-
fremdung der Judenchristen gegenüber allem, was dem Volke am
teuersten war, besonders kraß zum Vorschein. Die überwiegende
Mehrzahl des Volkes erblickte in dem Aufstande den letzten Versuch
einer Rettung der nationalen Unabhängigkeit und in Bar Kochba
den prädestinierten politischen Messias. Die judenchristliche Sekte
stand hingegen der Freiheitsbewegung völlig gleichgültig gegenüber
und vermochte den Führer des Aufstandes nicht als Messias anzu-
erkennen, da nach ihrer Überzeugung der Messias schon hundert
Jahre früher in der Person Christi erschienen war. Das gleichgültige,
ja manchmal sogar feindselige Verhalten der Sektierer der Volksbe-
wegung gegenüber rief unter den Freiheitsenthusiasten Empörung
hervor; an manchen Orten verdächtigte man die Sektierer sogar der
Spionage zugunsten der Römer, weshalb sie auch der Verfolgung
durch Bar Kochba und seine Mitstreiter ausgesetzt waren2). Die Ver-
folgten retteten sich durch Flucht in die hellenistischen Städte Trans^-
jordaniens, wohin einst bei der Belagerung Jerusalems auch die ersten
christlichen Sektierer geflüchtet waren. Der unglückliche Ausgang
des Aufstandes mußte den Christen eine moralische Genugtuung be-
deuten und das Dogma ihres mystischen Messianismus noch uner-
schütterlicher machen. Die dann erfolgten Unterdrückungsmaßnah-
men des Hadrian, deren Spitze gegen den nationalen Judaismus ge-
richtet war, legte der Sekte den Gedanken nahe, einen scharfen Tren-
!) Der heutige Text dieses Gebetes, der unter dem Drucke der mittelalterlichen
christlichen Zensur entstanden ist, hat folgenden Wortlaut: „Und den Verleumdern
sei keine Hoffnung; und alle Feinde deines Volkes mögen schnell zugrunde gehen
und sie alle baldigst ausgerottet werden; und lähme und zerschmettere und stürze
und beuge die Übermütigen bald in Eile in unseren Tagen. Gelobet seist du, Herr,
der du zerschmetterst Feinde und beugest Übermütige“.
2) Bezeugt von dem zeitgenössischen christlichen Apologeten Justin dem Mär-
tyrer in seinem Werke „Apologie“, I, 3i.
7s
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jabne
nungsstrich zwischen sich und den rechtgläubigen Juden zu ziehen,
um so, im Gegensatz zu den „Rebellen“, den römischen Behörden die
eigene Treue dem Caesar gegenüber vor Augen zu führen. Jene win-
zigen Bruchteile der judenchristlichen Sekte, die bislang eine Ver-
bindung mit der Synagoge noch aufrechterhalten hatten, lösten jetzt
diese Beziehungen in ostentativer Weise. Die heidenchristlichen Ge-
meinden aber unterbreiteten durch ihre Vertreter dem Kaiser eine
schriftliche Erklärung des Inhalts, daß sie mit den rebellischen Juden
nichts gemein hätten, was übrigens der Wirklichkeit auch vollauf
entsprach1). Von nun ab beginnen die Judenchristen nach und nach
in den heidenchristlichen Gemeinden völlig aufzugehen. Das Chri-
stentum verwandelt sich aus einer jüdischen Sekte in eine selbständige
religiöse Organisation, die sich immer weiter von ihrer Ursprungs-
quelle entfernt.
§ 11. Das antijudaistische Element im Neuen Testamente
Spuren des Widerstreites zwischen dem alten und dem neuen
Glauben haben sich sowohl in den Evangelien als auch in jenen Tei-
len des neutestamentlichen Schrifttums erhalten, die aus der hier
behandelten Epoche herrühren. Die wissenschaftliche Kritik hat be-
reits erhärtet, daß die drei synoptischen Evangelien (des Matthäus,
Markus und Lukas) sowie das Evangelium des Johannes an ver-
schiedenen Orten zwischen 75 und i3o zur Entstehung kamen; der-
selben Zeit entstammen auch einige der im Namen des Apostels Pau-
lus und anderer Apostel verfaßten Briefe (der Paulusbrief „An die
Hebräer“ u. a.) sowie die Offenbarung des Johannes. Die die Hel-
den der vorhergehenden Epoche, Christus und die ersten Apostel,
verherrlichende Legende weiterspinnend, wirkten die Verfasser der
evangelischen Bücher an der Schöpfung dieser Volkslegende selbst
mit und legten die Ereignisse der Vergangenheit im Geiste ihres eige-
nen Zeitalters, unter Einwirkung des von ihnen selbst unmittelbar
Erlebten, aus; unter der gleichen Einwirkung wurde die christliche
Lehre auch in den Hirtenbriefen bearbeitet, deren Abfassung um
der größeren Autorität willen den bereits verstorbenen Aposteln zuge-
schrieben wurde. Ebenso wie die alten biblischen Werke dieser Art
!) Diese christlichen Wortführer hießen Quadratus und Aristides (Eusebius,
Historia ecclesiae, IV, 3) und dürften aus der Mitte der Heiden oder der assimi-
lierten Diasporajuden stammen.
74 •
§ il. Das antijudaistische Element im Neuen Testamente
kennzeichnen auch die Bücher des „Neuen Testaments“ eher das
Zeitalter, in dem sie verfaßt sind, als dasjenige, das den Gegenstand
ihrer Darstellung bildet.
Den drei dem Inhalte nach verwandten synoptischen Evangelien
lag zweifellos eine gemeinsame Urquelle zugrunde in Form einer
Sammlung von Aussprüchen Christi und von Legenden aus seinem
Leben, die noch im Zeitalter der Apostel abgefaßt worden war und
uns nicht mehr erhaltengeblieben ist. Die Sammlung enthielt ver-
mutlich die auf gezeichneten „Logoi“ oder Sentenzen Jesu, die später-
hin den Evangelien Matthäus und Lukas als Vorlage dienten, ferner
eine volkstümliche Lebensbeschreibung Christi, die dann der Kern
des Markusevangeliums wurde, und schließlich jenes „Judenevan-
gelium“ in hebräischer oder aramäischer Sprache, das im II. Jahr-
hundert unter den Judenchristen Palästinas Verbreitung fand1). Die
auf Grund all dieser Quellen abgefaßten kanonischen Bücher des
Neuen Testaments, die uns in griechischer Sprache überliefert worden
sind, stellen bereits künstlich zusammengefügte Literaturerzeugnisse
dar, deren Schöpfer nicht nur zu erzählen, sondern auch zu bewei-
sen und ihre Überzeugungen und Glaubenssätze vor jeder Anzweif-
lung sicherzustellen suchen: es sind dies Werke der Apologetik. In-
dessen dürfen auch hierin die Gradunterschiede im Sinne einer grö-
ßeren oder geringeren Distanz von der Wirklichkeit und von der
ursprünglichen Volksauffassung nicht übersehen werden.
Den Urquellen am nächsten steht das „Markusevangelium“, aller
Wahrscheinlichkeit nach das älteste der erhaltengebliebenen evangeli-
schen Bücher, in dem der Lebenswandel Jesu mit einem geringeren
Phantasieaufwand und etwas weniger tendenziös dargestellt ist als
in den anderen Büchern. Johannes-Markus, ein geborener Palästinen-
ser, der den beiden angesehensten Aposteln, Petrus und Paulus, nahe-
stand, verfaßte sein Buch in griechischer Sprache, anscheinend für
die christliche Kolonie in Rom. Die Darstellung des Lebens Jesu
beginnt hier erst mit seiner Taufe im Jordan durch Johannes den
Täufer. Die übernatürliche Geburt Jesu, die als ein Wahrzeichen sei-
ner gottmenschlichen Natur später erfunden wurde, wird im Markus-
evangelium mit keinem Worte erwähnt. Für den Verfasser ist er
!) Dieses Evangelium kannten noch die Kirchenväter des IV. Jahrhunderts und
es wird namentlich von dem heiligen Hieronymus erwähnt.
75
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jabne
ein galiläischer „Zimmermann, der Sohn Marias und der Bruder des
Jakobus und Josef und Judas und Simon“ (6, 3), der allerdings
mit der Kraft, Wunder zu vollbringen, begnadet ist. So beginnt denn
auch Jesus seine Wirksamkeit als ein volkstümlicher wunderwirkender
Heilkünstler: er heilt Sieche, gibt den Blinden das Augenlicht wie-
der, treibt die „bösen Geister“ aus den Besessenen aus. Nachdem er
sich auf diese Weise das Vertrauen des gemeinen Volkes gesichert
hat, nimmt er den Kampf mit den hochmütigen Gelehrten, den
Pharisäern, auf und erweckt ihr Ärgernis durch die öffentliche Ver-
letzung der strengen Sabbatvorschriften, der Speisegesetze u. dgl.
Dieser Kampf verschärft sich besonders, als Jesus aus Galiäa nach
Jerusalem kommt (Kap. 10—12). Hier gerät er in Widerstreit auch
mit den Sadduzäern, „die da halten, es sei keine Auferstehung“, und
mit den Zeloten, denen gegenüber er die Meinung verficht, daß man
dem römischen Staat den Zins nicht vorenthalten dürfe und dem
Kaiser geben müsse, „was des Kaisers ist“1). Mitten unter diesen ein-
ander bekämpfenden Strömungen steht Jesus, von einem Häuflein
Jünger umgeben, ganz vereinsamt da und wird bald vor das Gericht
des Synhedrion und des Pilatus zitiert. Die antijüdische Tendenz des
Markusevangeliums kommt darin zum Ausdruck, daß es für die Hin-
richtung Jesu lediglich die Juden veranwörtlich macht, während
Pilatus als ein nur widerwillig nachgebender Vollstrecker ihrer
Forderung erscheint; es mag sein, daß der Verfasser in diesem letzten
Punkte auch der Zensur der römischen Behörden Rechnung trug und
namentlich die Gefühle der Heidenchristen Roms, für die sein Buch
bestimmt war, nicht verletzen wollte. Markus stand zweifellos unter
dem Einfluß der paulinischen Lehren und war bestrebt, dem Chri-
stentum den Weg aus den engen Grenzen Judäas zum weiten Schau-
platz des römischen Reiches zu bahnen. Sein Evangelium scheint er
bald nach dem Falle Jerusalems (um 75) abgefaßt zu haben, zu
einer Zeit, da das nationalpolitische Los des Judentums bereits als
besiegelt galt. Darum vermag er noch in aller Lebhaftigkeit die Stim-
mung jener fürchterlichen „Tage der Trübsale, wie sie nie gewesen
sind vom Anfang der Kreatur“, wiederzugeben, da die „Sonne ihren
Schein verlor und die Sterne vom Himmel gefallen sind und die
Kräfte der Himmel sich bewegten“; auf diesem Hintergründe sah er
1) Vgl. Band II, §$ 100—ioi, Kapitel „Entstehung des Christentums“.
76
§ il. Das antijudaistische Element im Neuen Testamente
den „Menschensohn1) in den Wolken mit großer Kraft und Herr-
lichkeit kommen“ (i3, 19-— 26).
Ein größerer Abstand trennt von all diesen Erlebnissen den Ver-
fasser jenes Evangeliums, dem im Kirchenkanon der erste Platz ein-
geräumt wurde, Matthäus. Er ist eher ein Gelehrter, eher ein Theo-
loge und Prediger als ein Biograph. Er konstruiert in künstlicher
Weise eine Genealogie, nach der Jesus mütterlicherseits als ein Nach-
komme des Königs David erscheint, was sein Recht auf den Titel
eines Messias oder Christus begründen soll, und bringt ihn zugleich
durch die übernatürliche Empfängnis vom Heiligen Geiste in ver-
wandtschaftliche Beziehungen zu Gott, um so das ihm beigelegte
Attribut des „Gottessohnes“ zu rechtfertigen. Die größte Beachtung
schenkt der Verfasser den alten Aufzeichnungen („Logoi“) entlehnten
Aussprüchen Jesu, doch kann er sich auch hierbei in der sogenannten
„Bergpredigt“ (Kap. 5—7) der theologischen Polemik nicht enthal-
ten, die ihn nicht selten in Widersprüche verwickelt. So stellt er
einerseits die Behauptung auf, daß Christus das Gesetz und die Pro-
pheten nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen gekommen sei, anderer-
seits bringt er jedoch die Lehren Jesu zu denen der Thora in Ge-
gensatz, deren Text er allerdings manchmal falsch zitiert oder aus-
legt. So zitiert er z. B. einmal (5, 43): „Ihr habt gehört, daß ge-
sagt ist: ,Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen ,
ich aber sage euch: liebet eure Feinde“, während in Wirklichkeit die
Worte: „und deinen Feind hassen“ sowohl im hebräischen Urtext
der Thora (Lev. 19, 18) als auch in deren griechischer Übersetzung
fehlen und somit nichts als eine tendenziöse Einschaltung des Ver-
fassers oder Redaktors in Zitatform darstellen. Bald heißt es in dem
Matthäusevangelium, Jesus und seine Jünger seien allein zur Erret-
tung der „verlorenen Schafe aus dem Hause Israels“ (10, 6; i5, 2 4)
gekommen, bald wird der Vorrang den Heiden eingeräumt, die des
„Himmelreiches“ statt seines ehemaligen Erben Israel teilhaftig wer-
den sollen (8, 11—12; 21, 43). Dies zeugt davon, daß der Verfasser
zwischen den Sekten der Judenchristen und der Heidtenchristen hin
und her schwankte. Mit äußerster Erbitterung wendet er sich gegen
die „Schriftgelehrten und Pharisäer“, mit denen er, wie es scheint,
!) Dies ist bei Markus die übliche Bezeichnung für Jesus; die Kennzeichnung
als „Gottessohn“ im Titelvers des Buches, die in vielen alten Abschriften fehlt,
stellt wohl eine spätere Interpolation dar.
TFt-
77
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
in einen persönlichen Konflikt verwickelt war. Sie heißen bei ihm
„Heuchler“, „verblendete Leiter“, „Narren und Blinde“, „Schlangen
und Otterngezüchte“ (Kap. 2 3); er wirft den Pharisäern vor, daß
sie „das Himmelreich vor den Menschen zuschließen“, daß sie nur
um die rituelle, nicht aber um die innere, seelische Reinheit besorgt
seien. Seine Strafreden beginnt er jedesmal mit dem Ausruf: „Wehe
euch, Schriftgelehrte und Pharisäer!“ Durch den Mund Jesu spricht
der Verfasser das Urteil über „Jerusalem, das seine Propheten tötet,“
aus und verkündet (post factum) die Zerstörung des Tempels (28,
37—88; 24, i5f.; die letzte Stelle ist eine buchstäbliche Wieder-
holung der Sätze aus dem Evangelium des Markus, i3, 14 f*)* In
der Erzählung von dem Gericht über Jesus, die im wesentlichen den
Bericht des Markus wiederholt, wird nur die Schuld der Jerusalemer
Bevölkerung schärfer betont: Pilatus wäscht seine Hände und be-
teuert seine „Unschuld an dem Blute dieses Gerechten“, während
die Juden einhellig rufen: „Sein Blut komme über uns und über
unsere Kinder“ (27, 2 4—2 5), mit diesen Worten gleichsam einen
ewigen Fluch auf sich und auf ihre Nachkommenschaft ladend. Dies
war die Art, in der in der Atmosphäre der heftigen religiösen Strei-
tigkeiten zwischen Juden und Sektierern Geschichte geschrieben
wurde1).
Das inhaltsreichste und literarisch am besten durchgearbeitete
dritte Evangelium, das des Lukas, wurde zu Beginn des II. Jahr-
hunderts für die griechisch-römische Welt, namentlich aber für die
christliche Kolonie Roms verfaßt. Lukas, ein Jünger des Apostels
Paulus (oder vielleicht ein anderer Autor, der die Aufzeichnungen des
Lukas einer Redaktion unterzog), spricht gleich zu Beginn des Bu-
!) Der Verfasser des Matthäusevangeliums war selbstredend nicht der Apostel
Matthäus, jener galiläische Steuereinnehmer, der sich Jesus angeschlossen hatte
(Matth. 9, 9; 10, 3), sondern ein Schriftsteller aus späterer Zeit, der den Namen
des Apostels wahrscheinlich aus dem Grunde auf das Titelblatt seines Buches ge-
setzt hat, weil er die Aufzeichnungen der Sprüche oder Logoi Christi, die im Volke
als von Matthäus stammend bekannt waren, für sein Werk benutzte. Das Buch
dürfte in Syrien oder Palästina in griechischer Sprache abgefaßt worden sein, je-
doch unter vielfacher Benutzung hebräischer Redewendungen. So wird z. B. der
Aufschrei Jesu in seiner Todesstunde von dem Verfasser in der Umgangssprache
des damaligen Judäa, d. i. in der aramäischen, wiedergegeben: „Eli, Eli, lama
schebakthani“ (27, 46)* Die Entstehungszeit des Matthäusevangeliums wird von der
Mehrzahl der Forscher in das Ende des ersten Jahrhunderts verlegt, doch erblicken
manche (Pfleiderer u. a.) in ihm Züge, die erst für die christliche Lebensführung
des II. Jahrhunderts charakteristisch sind.
78
§ 11. Das antijudaistische Element im Neuen Testamente
ches von vielen, die vor ihm über das Leben und die Werke Christi
geschrieben haben, und erklärt offen, er hätte sein Werk zu dem
Zwecke unternommen, um die neubekehrten Christen mit den Grund-
lagen der Lehre, in welcher sie unterrichtet wurden, vertrauter zu
machen. (Dies ist der Inhalt der Widmung an das Mitglied der Sekte
Theophilus.) Der Verfasser verfolgt somit didaktische Zwecke. So
erläutert er denn in aller Ausführlichkeit die Erzählung des Evan-
gelisten Markus und ergänzt sie auf Grund anderweitiger Quellen
und mündlicher Überlieferungen, ganz im Geiste der Heidenchristen
aus der paulinischen Schule. Die wunderbare Empfängnis Christi
durch den Heiligen Geist ist im Lukasevangelium in einer Form
dargelegt, die lebhaft an die griechisch-römischen Mythen von den
Geburten der Helden erinnert, die ein Zeus oder Apollo mit irdischen
Frauen zeugten: in dieser Form mußte die Idee des Gottessohnes
den neubekehrten Heiden eher einleuchten (i, 2 0—35). Die Genea-
logie Jesu steigt hier nicht nur bis zum König David und dem Erz-
vater Abraham, sondern unmittelbar bis zu Adam, „der Gottes war“
(3, 38), auf: damit wollte der Verfasser die paulinische Idee zum
Ausdruck bringen, wonach Christus ein „zweiter Adam“ sei, der von
dem Sündenfall des ersten nicht nur die Juden allein, sondern auch
das ganze Menschengeschlecht erlöste. Lukas kommt nicht mehr auf
die Worte Jesu zurück, nach denen er nur zu den „verlorenen Scha-
fen aus dem Hause Israel“ gesandt worden sei und wonach man die
Samaritaner und Heiden meiden solle (Matth, io, 5—6 und sonst),
sondern behauptet vielmehr oft das Gegenteil, daß nämlich Jesus
die Samaritaner und sogar die Heiden den Juden vorgezogen hätte
(vgl. die Erzählung von dem Samaritaner, der den Priester und den
Leviten an Herzensgüte übertraf, sowie die über Tyrus und Sidon:
Luk. 4, 26—27; IO> 14, 3o—37). Jesus erscheint hier als ein
entschiedener Feind jeder Geburts- und Geistesaristokratie und ist ein
Freund der Armen, Erniedrigten, der Zöllner und Sünder (6, 20 f.;
7, 36; i5, 1 f.; 18, 24 u. a.). Besonders kraß tritt sein Haß gegen
die Pharisäer hervor (11, 3g f.; 12, 1 u. a.). Jerusalem wird end-
gültig dem Untergange geweiht, wenn auch stellenweise in sehr rüh-
renden Wendungen (19, 4if.; 21, 20 f.). Es ist überaus bezeich-
nend, daß das Verhalten der römischen Behörden dem Stifter des
Christentums gegenüber hier beinahe freundschaftlich erscheint. So
erklärt Pilatus trotz des indirekten Eingeständnisses Jesu, er sei „der
79
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
Juden König“, daß er „keine Schuld an diesem Menschen finde“
und sucht sogar die Jerusalemer Priester von der Unschuld Jesu zu
überzeugen (28, 3—4, i3—16); auch der römische Genturio erkennt
die Frömmigkeit des sterbenden Jesu an (28, 47). In all diesen
Schilderungen bricht der Respekt eines echten Schülers des Paulus
vor der römischen Obrigkeit durch; hatte er doch seiner Gemeinde
nahegelegt, „der Obrigkeit untertan zu sein“.
Das Bestreben des Lukas geht überhaupt dahin, die Entstehungs-
geschichte des Christentums in den Rahmen der römischen Geschichte
einzufügen. Mehr als die anderen Evangelisten bringt er alle Ereig-
nisse mit der Epoche der römischen Herrschaft in Judäa in Zusam-
menhang: so verbindet er die Geburt Jesu mit dem römischen Gen-
sus (2, 1 f.), das Schicksal Jesu und Johannes des Täufers mit der
Politik des galiläischen Tetrarchen Herodes-Antipas (3, 1, 19; 9, 7;
i3, 3i; 2 3, 7 f.). Dies kommt besonders in dem zweiten Werke des
Lukas, in der „Apostelgeschichte“, zum Ausdruck, die eine unmittel-
bare Fortsetzung seines Evangeliums bildet und wie dieses dem Re-
präsentanten der heidenchristlichen Sekte, Theophilus, gewidmet ist.
Es spielen darin die judäischen Könige Agrippa I. und II. (dieser mit-
samt seiner Schwester Berenike) .eine Rolle sowie die römischen Pro-
curatoren Felix und Festus nebst verschiedenen anderen Vertretern
der römischen Regierung. Bezeichnend ist es, daß der national-jüdisch
gesinnte König Agrippa I. dem Verfasser durchaus unsympathisch
ist (Kap. 12), während der römische Schützling Agrippa II. samt
seiner Schwester Berenike, der Geliebten des Titus, ganz offenbar
seine Sympathie genießt (25—26). Im Mittelpunkt der „Apostelge-
schichte“ steht die hervorragende Gestalt des Apostels Paulus, den
Lukas auf allen seinen Missionsreisen begleitete (Brief an die Ko-
losser 4, i4; II. Brief an Timotheus 4, 10 u. sonst). Der Bericht
von der Wirksamkeit des Paulus in der „Apostelgeschichte“ ist mit
den eigenhändigen Briefen des Apostels völlig in Einklang gebracht
und wird, gleichsam als wäre er auf Grund von Reisenotizen zusam-
mengestellt, häufig im Namen des Verfassers in der ersten Person
wiedergegeben („Wir“, Apostelgesch. 16, 10). Das Schlußergebnis
ist nun dies, daß das „Evangelium“ Jesu von den Juden an die Heiden
übergehen müsse; der Jerusalemer hellenistische Prediger Stephanus
und der hellenisierte Tarser Paulus erscheinen dem Verfasser als die
vollendeten Typen christlicher Missionare. Lukas selbst war anschei-
80
§ 11. Das antijudaistische Element im Neuen Testamente
nend ein Heide oder ein zum Christentum übergetretener assimilier-
ter Diaspora jude, weshalb auch in seinem Verhalten zum Judentum
eine doppelte Feindseligkeit, die des Hellenisten und die des Christen,
zum Ausdruck kommt.
Gänzlich losgerissen von dem jüdischen geistigen Boden erscheint
die Gestalt Christi sowie seine Lehre im vierten Evangelium, das den
Namen des Johannes trägt. Die Kirchenüberlieferung nennt als dm
Verfasser des Buches den von Jesu am meisten geliebten Jünger, den
Apostel Johannes, während die wissenschaftliche Kritik es einem un-
bekannten Schriftsteller aus Kleinasien zuschreibt, der anscheinend
dem Apostel gleichen Namens nahestand und dessen mündliche Er-
zählungen oder Aufzeichnungen verwertete. Der Autor, der sein Werk
ungefähr um die Zeit des Aufstandes des Bar Kochba für Christen
aus hellenisierten Kreisen1) geschrieben hat, weicht von den gemein-
samen Traditionen der drei synoptischen Evangelisten entschieden ab,
um die Persönlichkeit Jesu ganz nach seiner eigenen Vorstellung um-
zugestalten. Bei Johannes erscheint Jesus als der „Sohn Gottes“ nicht
auf Grund der naiven Legende von der unbefleckten Empfängnis, die
er ganz unerwähnt läßt, sondern im Sinne des phiionischen „Logos“,
der „Vernunft“, des „Wortes“ — jener schöpferischen Potenz Gottes,
die sich vorübergehend in Menschengestalt verkörpert hat. Mit dieser
philosophisch-mystischen Idee beginnt denn auch das vierte Evan-
gelium: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott,
und das Wort war Gott“. Das ganze irdische Leben und die Wirk-
samkeit Jesu, wie der Verfasser sie darstellt, sollen nur zeigen, wie
sich Gott in Menschengestalt offenbart und den Menschen an Stelle
des Mosesgesetzes die Wahrheit oder das Mysterium der „Gnade“
kundgetan hat (i, 17—18). Die Geschichte ist hier gänzlich der Theo-
logie untergeordnet, die Tatsachen und Legenden sind nur zum
Zwecke der Beleuchtung einer bestimmten Idee aneinandergereiht. In
Abweichung von der alten Tradition macht der Verfasser Judäa und
Jerusalem, nicht aber Galiläa, zum hauptsächlichen Schauplatz der
Wirksamkeit Jesu. Die Erzählungen von den Wunderwerken sind hier
*) Seine Schriftsprache war die griechische und bei seinen Lesern setzte er
so wenig Verständnis der hebräischen Ausdrucksweise voraus, daß er das Wort
„Messias“ stets von der Erläuterung begleiten zu müssen glaubt: „Messias, welches
ist verdolmetscht :* der Gesalbte (Christus)“ 1, 4i; 4, 2 5; vgl. 20, 16: „Rabbuni,
d. h. Meister“).
6 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
8l
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
lediglich Ideenallegorien; die bilderreichen Gleichnisse Jesu ersetzt
der Autor durch abstrakte Betrachtungen über Geist und Fleisch,
über Licht und Finsternis, über die gegenseitigen Beziehungen von
Vater und Sohn. Aus einem naiven Prediger der persönlichen Tugend-
haftigkeit wird der Stifter des Christentums zu einem Philosophen,
der weise, feingeschliffene Aphorismen ausspricht (so 3, 8; 8, 12
bis zum Schluß; 10, if.; 12, 2 5, 44—5o) und sogar eine ganze
Theodicec aufbaut (Kap. 14—17). Seine martervolle Hinrichtung, die
Kreuzigung, erträgt Jesus voller Ruhe, und mit keinem Worte wird
hier seines menschlichen Todesschreies: „Mein Gott, warum hast du
mich verlassen?“ Erwähnung getan, da dieser sich wohl für einen
fleischgewordenen Gott in keiner Weise ziemen mochte. Auch die Ge-
schicke des jüdischen Volkes sind dem Autor des vierten Evangeliums
völlig gleichgültig: das Los des nach wie vor im Gesetze verharren-
den und die Lehre der „Wahrheit und der Gnade“ zurückweisenden
Volkes ist für ihn endgültig besiegelt. Jesus tritt bei ihm den Phari-
säern so entgegen, als wären sie ihm gänzlich fremd („Steht nicht
geschrieben in eurer Thora“, 10, 34), wobei er sie mit einem Sturz -
bacli glänzender Gleichnisse und Aphorismen überschüttet, die sie
indessen nicht einmal zu verstehen vermögen (2, 21; 8, 27 u. dgl.
m.); die Zweifelsüchtigen stellt er als „des Teufels“ bloß (8, 44).
Der unter hellenistischen Christen lebende Verfasser des vierten Evan-
geliums stand dem nationalen Drama Judäas zur Zeit des Titus so-
wohl räumlich als zeitlich fern; der Fall Jerusalems bedeutete ihm
den abschließenden Akt dieses Dramas, während dessen Nachspiel,
die in seine eigene Zeit fallenden Volkserhebungen unter Trajan und
Hadrian, ihn offenbar nichts mehr angingen. Die Entfremdung des
Christentums seinen geschichtlichen Wurzeln gegenüber kommt hier
bereits in vollem Maße zur Geltung.
Die antijudaistische Strömung im christlichen Schrifttum schwoll
so immer mehr an. Die im Geiste des Apostels Paulus zur Entfal-
tung gelangte Christologie trat nunmehr dem Judaismus mit derh
vollen Rüstzeug theologischer Beweisführung entgegen. Das ein-
drucksvollste polemische Dokument dieses Zeitalters war der „Brief
an die Hebräer“1), den man gewöhnlich dem Apostel Paulus als
!) Bemerkenswert ist der Titel: „Pros ebraious“ statt des gebräuchlichen
judaious, ein Hinweis darauf, daß der Brief auch an alle Juden der Diaspora und
nicht allein an die Einwohner Judäas gerichtet war.
82
§ il. Das antijudaistische Element im Neuen Testamente
Verfasser zuzuschreiben pflegte, wiewohl im Text selbst der Verfas-
sername fehlt. Es wird vermutet, daß er gegen Schluß des I. oder zu
Beginn des II. Jahrhunderts von einem der Schüler des Paulus ver-
faßt und aus Italien an eine judenchristliche Gemeinde in Palästina,
Syrien oder Ägypten geschickt worden ist. Die Botschaft sollte den
Wankelmütigen die Vorzüge des neuen Glaubens vor dem alten vor
Augen führen. Moses, so heißt es hier, war in dem Hause Gottes
nur ein Diener, während Christus ein ebenbürtiger Sohn des Haus-
herrn sei (3, 5, 6). Der alte Bund besaß ein irdisches Heiligtum (den
Jerusalemer Tempel), während der neue Bund einen himmlischen
Tempel, „nicht mit der Hand gemacht“, habe, dessen Hohepriester
Christus sei (9, 1-11). Im alten Tempel pflegte der Hohepriester
Böcke und Kälber für des Volkes Vergehen zu opfern, in der neuen
„Hütte“ dagegen sei Christus Hohepriester und Opfer zugleich: „Er
ist einmal in das Heilige eingegangen und hat eine ewige Erlösung
erfunden“, er „reinigte unser Gewissen von den toten Werken, zu
dienen dem lebendigen Gott“ (9, 12—-i 4). Denn der Glaube ist es
und nicht die Werke, die den Menschen erlösen, wiederholt immer
wieder der Verfasser die Grundidee des Paulus1), indem er sie, nicht
ohne Sophismen, durch zahlreiche Beispiele aus demselben „Alten
Testamente“ belegt, dem er selbst die direkt entgegengesetzte Idee
unterschiebt (Kap. 11). Dem irdischen Jerusalem setzt er die „Stadt
des lebendigen Gottes, das himmlische Jerusalem“, entgegen, dem
jüdischen Reiche ein unbewegliches, nicht von Menschenhand her-
rührendes Reich (12, 22, 28): „denn wir haben hier keine blei-
bende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ (i3, i4). Diese
ganze theologische Dialektik vermengt geflissentlich die Argumente
gegen den Tempelkultus mit Beweisgründen gegen den politischen
Messianismus der Juden und ihre auf die nationale Wiedergeburt
gerichteten Bestrebungen. Die Argumente der ersten Art waren in-
dessen überflüssig, da das Leben selbst den Tempelkultus bereits auf-
gehoben hatte; die „Werke“ aber, d. i. die Zucht des Gesetzes oder
die Nomokratie, konnten einem mystischen „Glauben“ nicht preisge-
geben werden, der neben Gott-Vater den Sohn, „welchen er gesetzt
!) Von den den echten Briefen des Paulus zugrunde liegenden Ideen war be-
reits oben, Band II, SS io3—io4> die Rede.
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
hat zum Erben über alles, durch welchen er auch die Welt
(,Aeonen‘) gemacht hat“ (i, 2—3), d. i. gleichsam einen zweiten
Gott, stellen zu können vermeinte. Was vollends die Predigt gegen
die herbeigesehnte nationale Wiedergeburt betrifft, so konnte diese
bei den breiten jüdischen Volksmassen aus dem Grunde keinen Erfolg
haben, weil diese durchaus nicht gewillt waren, um des Himmlischen
willen auf das Irdische und um des passiven mystischen Glaubens
willen auf die lebendige nationale Tat zu verzichten.
Die übrigen im Neuen Testament gesammelten „Briefe“, die Na-
men anderer Apostel (Johannes, Jakobus, Petrus) tragen, beleuch-
ten die gegenseitigen Beziehungen des neuen und des alten Glaubens
nur indirekt. „Der erste Brief des Petrus“ (oder genauer, eines der
Jünger des Petrus in Rom, das hier „Babylon“ genannt wird), ist
ganz im Stil der paulinischen Hirtenbotschaften gehalten. Der Ver-
fasser ermahnt einerseits zur Standhaftigkeit im Martyrium (was an
die Christenverfolgungen unter Domitian und Trajan erinnert), an-
dererseits zur sklavischen Gefügigkeit der Obrigkeit gegenüber:
„Seid untertan aller menschlichen Obrigkeit ... es sei dem Könige
als dem Obersten oder den Hauptleuten, als die von ihm gesandt
sind . . .“; „Ihr Knechte, seid untertan mit aller Furcht den Herren,
nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den harten“
{2, i3—14, 18). Diese Vereinigung von Märtyrertum und Unterwür-
figkeit den römischen Blutrichtern gegenüber war dem trotzigen Ju-
den, dem die christliche Tugend der seelischen Demut fehlte, durch-
aus fremd. Der „I. Brief des Johannes“ ist seinem Geiste nach mit
dem philosophischen vierten Evangelium, das den Namen des glei-
chen Verfassers trägt, wesensverwandt. Nur der „Jakobusbrief“ hebt
sich durch seine anti-paulinische Einstellung von den übrigen Briefen
ab. Der unbekannte Autor, der sich unter dem Pseudonym Jakobus
(der Bruder Jesu?) verbirgt, tritt dem Dogma von der „Rechtferti-
gung durch den Glauben“ entgegen und setzt sich für das Prinzip
ein, daß „der Glaube, wenn er nicht Werke hat, an ihm selber tot
sei“; gleichsam als Erwiderung auf den „Brief an die Hebräer“ führt
er dieselben biblischen Stellen zum Beweise dafür an, daß die Ge-
rechten der Vorzeit ihren Glauben in ihren Werken lebendig werden
ließen (Kap. 2). Der „Brief des Jakobus“ scheint den Kreisen der
Judenchristen oder gar der „Ebioniten“ zu entstammen (davon zeugt
84
§ li. Das antijudaistische Element im Neuen Testamente
namentlich die Predigt gegen die Reichen am Anfang des 5. Kap.)
und ist in erster Linie gegen die Heidenchristen gerichtet1).
Der evangelischen Demut am fernsten steht der geheimnisvolle
Verfasser der den Kanon des „Neuen Testaments“ abschließenden
„Johannesapokalypse“ oder der „Offenbarungen des Johannes“. Un-
bekannt bleibt es, wer jener Seher von der kleinasiatischen Insel Pat-
mos gewesen sein mag, in dessen Namen die „Offenbarung“ verkündet
wird, und umstritten bleibt auch die Frage über die Entstehungszeit
des Buches. Die neuere Kritik ist geneigt, darin ein Werk zu er-
blicken, das von zwei Verfassern zu verschiedenen Zeiten, in dem
Zeitraum zwischen dem jüdischen nationalen Kriege der Jahre 66
bis 70 und dem Aufstande des Bar Kochba, verfaßt worden ist; man-
che vermuten hierbei, daß der Grundtext des Buches von einem Ju-
den herrührt und später in christlichem Sinne interpoliert oder Wort-
veränderungen unterzogen worden ist (so tritt hier z. B. an Stelle
des Wortes „Messias“ zur Kennzeichnung Jesu der Ausdruck das
„geopferte Lamm“). In ihrer endgültigen Bearbeitung erscheint uns
jedoch die „Offenbarung“ als eine typisch jüdische Apokalypse, die
aber bereits auf den Boden christlicher Theologie verpflanzt ist. Den
Stil der Visionen Jeheskels und Daniels nachahmend, entwirft der
Verfasser in eschatologischer Form, als eine Vision „von dem Ende
der Zeiten“, ein Bild von den Geschehnissen seines eigenen Zeitalters.
Im Himmelszelt, mitten unter den den himmlischen Thron umge-
benden Tiergestalten, im Kreise der Engel und der Heiligen, steht
das „geopferte Lamm“ (Jesus). Er ist ausersehen, das himmlische
Buch mit den sieben Siegeln, in dem die Geschicke der Menschen
aufgezeichnet sind, zu eröffnen. Ein Siegel nach dem anderen wird
gelöst, und Schrecken und Unheil bricht herein: entfesselt sind
Schwert und Hunger, Seuchen und Erdbeben. Eine der Katastrophen
trifft Jerusalem und den Tempel (Kap. ix). Im Himmel selbst tobt
der Kampf zwischen den Engeln und „dem Drachen, der alten
Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas“; die Engel überwin-
den ihn durch des „Lammes Blut“, ein Sinnbild der Erlösung der
1) Dies steht in keinem Widerspruch zu der Tatsache, daß die in diesem
Briefe zutage tretenden Grundauffassungen schon viel früher, in der Zeit des un-
mittelbaren Widerstreites zwischen der Jerusalemer Christengemeinde und den An-
hängern des Apostels Paulus, auf gekommen waren. Ygl. Band II, § io4, am
Anfang.
85
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jabne
Welt durch Christus. In den letzten Kapiteln der Apokalypse wird
das Schicksal „Babylons“ entrollt, „der großen Hure, der Mutter der
Hurerei und aller Greuel auf Erden, trunken von dem Blut der Hei-
ligen und von dem Blut der Zeugen Jesu“. Gemeint ist Rom, die
große, über die irdischen Könige gebietende Stadt, die unter Nero,
Domitian und Trajan die Christen grausam verfolgte. Der Verfasser
spricht von Rom mit einem Zorn, wie er eines jüdischen Zeloten wür-
dig gewesen wäre. Doch weissagt er das Kommen eines Messias-
reiches, das da „aus dem Himmel als eine heilige Stadt, als ein neues
Jerusalem herabfahren wird, bereitet als eine geschmückte Braut
ihrem Mann“ — dem Lamm, Christus (21, 2, 9—10). Auf dem
Hintergründe des jüdischen Messianismus ist die Linienführung in
christlichem Stile unverkennbar. So erscheint denn die Apokalypse
des Johannes als eine christliche Umarbeitung wesensverwandter jü-
discher Geisteserzeugnisse.
Die ersten drei Kapitel der Apokalypse, die anscheinend von einem
anderen Verfasser herrühren, führen uns aus dem Bereiche christ-
licher Phantasien in die Wirklichkeit zurück. Sie enthalten sieben
Hirtenbriefe des Johannes, die an sieben judenchristliche Gemeinden
in Kleinasien gerichtet sind: an die von Ephesus, Smyrna, Pergamus,
Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodicea. Jede der Botschaften
wendet sich an den „Engel“ (Boten) der Gemeinde (to aggelo tes
ekklesias) der betreffenden Stadt, eine Bezeichnung, die an den Titel
des Vorbeters oder Kantors in den Synagogen (Schaliach zibbur) er-
innert. In den Sendschreiben werden in aller Schärfe die Irrlehren
der Nikolaiten (2, 6, i5), der halbheidnische Kultus der Prophetin
Isebel zu Thyatira (2, 18—24) sowie diejenigen verdammt, „die da
sagen, sie seien Juden und sind’s nicht, sondern sind des Satans Sy-
nagoge“ (2, 9). Ob unter den letzteren tatsächlich Juden, die gegen
die Sekte ankämpften, gemeint sind, oder aber Sektierer, die noch
an jüdischen Glaubensformen festhielten, ist schwer zu entscheiden.
Jedenfalls sind in den beiden Teilen der Apokalypse des Johannes
noch deutlich jene Fäden zu unterscheiden, die zunächst das Chri-
stentum mit dem Judentum verknüpften und später, als die Wege
der beiden Religionen immer weiter auseinandergingen, unnachsich-
tig zerrissen wurden.
Diese Verbindungsfäden restlos durchzuschneiden, war der neuen
Religion allerdings noch lange Zeit nicht möglich. War doch ihre
86
§44. Das antijudaistische Element im Neuen Testamente
Abhängigkeit von ihrem religiösen Mutterboden, namentlich auf dem
Gebiete des Kultes und des Gottesdienstes, viel zu groß. Das Chri-
stentum sah sich genötigt, dem Judentum sein ganzes praktisches
Rüstzeug zu entlehnen: Gebete, Feste, die Methoden der religiösen
Erziehung, die es freilich alle seinen eigenen Bedürfnissen anpaßte.
Man braucht nur den christlichen Katechismus aus dem II. Jahrhun-
dert, der unter dem Namen „Didache“ oder „Belehrung der zwölf
Apostel“ bekannt ist, zur Hand zu nehmen, um sich davon zu über-
zeugen, wie genau die Kirche die Synagogenbräuche nachahmte. Der
didaktische Teil dieses Katechismus wiederholt die moralischen Ge-
bote der Bibel und der Mischna (nach dem Traktat Aboth) in deren
eigenen Wendungen, indem er sie durch neutestamentliche Formeln
nur ergänzt1); und in dem sich auf den Kultus beziehenden Teile
finden sich gar Formeln von Tischbenediktionen (Berachoth), die,
wenn nicht der Name Jesu darin vorkäme, als rein jüdische angespro-
chen werden müßten2). Allem Anscheine nach waren diese Texte ur-
sprünglich bei den Judenchristen in Gebrauch, um sodann von der
Kirche übernommen zu werden. Doch obwohl sie den stofflichen Ge-
halt ihrer Religion den Juden entlehnten, beteuerten die Christen zu-
gleich, daß man mit den Juden nichts gemein haben dürfe. So le-
sen wir in dem apokryphischen, gleichfalls im II. Jahrhundert ver-
breiteten „Barnabasbrief“: „Wir sollen keinerlei Verkehr mit diesen
Leuten pflegen (worunter nicht nur die Juden, sondern auch die
Judenchristen gemeint sind), damit wir uns ihnen nicht angleichen.
Haltet euch fern von denen, die da behaupten, ihr Bund sei mit dem
unseren eines Wesens. Die Gesetzestafeln Moses' sind zerschlagen“.
Und doch haben die Lehrer der Kirche aus diesen „zerschlagenen“
Tafeln all ihre Weisheit geschöpft, und der unbekannte Verfasser,
der dem „Barnabasbrief“ als zweiten Teil die erwähnte „Didache“,
1) Bei manchen Sätzen ist die Übereinstimmung mit den talmudischen Sen-
tenzen geradezu augenfällig. So heißt es z. B. in der „Didache“, 3, i: „Mein
Kind, fliehe alles Böse und alles, was ihm gleichkommt“; derselbe Ausspruch
wird auch dem Tannaiten des II. Jahrhunderts R. Elieser zugeschrieben: „Fliehe
alles Schändliche und alles, was ihm gleichkommt“ (Tosephta Chullin, 2, 2 4;
Aboth de’R. Nathan, 2).
2) In den uralten kirchlichen „Unterweisungen“ („Didascalia“ oder „Aposto-
lische Satzungen“), die sich unmittelbar an die „Didache“ anschließen, finden
sich Gebete mit der Anredeform „An unsere Väter Abraham, Isaak und Jakob“,
welche ihrem Stile nach gleichsam einem jüdischen Gebetbuche entlehnt zu sein
scheinen.
87
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jabne
den durchweg jüdischen Quellen entlehnten Katechismus für Neu-
bekehrte, beifügte, hat dem Autor dieses „Briefes“ wider Willen
übel mitgespielt.
§ 12. Die letzten jüdischen Apokalypsen und die ersten Anfänge der
Haggada
Es ist eine weitverbreitete Meinung, daß in dem von uns behan-
delten Zeitalter das Christentum schaffensfroh neue Dogmen der Re-
ligion und der Moral ins Leben rief und die tiefgründigsten geistigen
Probleme behandelte, während das Judentum ganz in der dürren
Gesetzeskunde, in der Errichtung des „Zauns um die Thora“, auf-
ging. Diese Ansicht ist irrig. Die Schaffenskraft des jüdischen Gei-
stes wurde von der mit der Wiederherstellung der Selbstverwaltung
nach der nationalen Katastrophe zusammenhängenden Gesetzgebungs-
arbeit keineswegs ganz absorbiert. Neben den Männern der prakti-
schen Tat, die nach dem Zusammenbruch des Staates den Mut auf-
brachten, die Grundlagen für ein neues autonomes Leben zu schaf-
fen, erstanden Männer von kontemplativer Geistesverfassung, die von
all dem, was sie erlebt hatten, tief erschüttert, das Bedürfnis emp-
fanden, an die Grundprobleme des Lebens erneut heranzugehen.
Tief im Verborgenen, abseits von der großen Heerstraße der tat-
kräftigen Praktiker, rangen diese tieferschütterten Geister fieberhaft
um die Wahrheit; in dieser geheimnisvollen Tiefe entströmten der
Seele des kollektiven Hiob, des einst auserwählten und nunmehr er-
niedrigten und verworfenen Volkes, trauererfüllte Klagen; hier, in
diesen Tiefen, umnebelt von apokalyptischen Visionen, klammerten
sich die an ihrem Glauben irregewordenen Männer krampfhaft an
die Gespenster des „Endes der Zeiten“ und des „Jüngsten Ge-
richtes“, an Weissagungen von einem „neuen Himmel“ und einer
„neuen Erde“, von dem kommenden Reiche der Gerechten, von
dem messianischen Zeitalter. So vernehmen wir denn in einer
Reihe von dieser Zeitperiode entstammenden jüdischen Apoka-
lypsen die klagenden Töne einer Psalmendichtung, verknüpft
mit unheimlichen Visionen im Geiste des Buches Daniel. Die
großartigsten darunter, sowohl dem Inhalte als dem Stile nach,
sind „Das Vierte Buch Esra“ und „Die Apokalypse des Ba-
ruch“. Diese beiden Werke überragen bedeutend die neutestament-
liche „Offenbarung des Johannes“: in dieser wird dem religiösen
88
§12. Die letzten Apokalypsen und die Anfänge der Haggada
Problem eine einseitige sektiererische Lösung zuteil (die Erlösung
von der Sünde durch die Hinschlachtung des „Lammes“, Christi),
während in den jüdischen Apokalypsen sowohl das religiöse als auch
das nationale Problem auf eine so breite Basis gestellt werden, daß
eine einseitige Lösung nicht mehr möglich erscheint. Die Formu-
lierung der ewigen Fragen ist hierbei viel bedeutsamer als ihre Lö-
sung, die ja stets nur subjektiv und provisorisch auszufallen ver-
mag.
Das hervorragende apokryphische Buch, das unter dem Namen
„Das Vierte Buch Esra“1) bekannt ist, ist ganz von der trauervollen
Stimmung der Zeit des Falles von Jerusalem erfüllt. Der Verfasser
verbirgt sich unter dem Namen des alten Schriftgelehrten Esra,
der unmittelbar nach dem babylonischen Exil wirkte, und spricht
von Babylon statt von Rom sowie von der ersten Zerstörung Jeru-
salems statt von der zweiten, doch sind alle diese leicht zu durch-
schauenden Ersatznamen nur technische Notbehelfe der „Offenba-
rung“: der angebliche Träger des uralten Namens sieht das Kom-
mende auf einem geschichtlichen Hintergründe voraus, der mit der
Umwelt des tatsächlichen Verfassers identisch ist. Der eigentliche
Grund seiner Trauer ist bereits in der ersten Vision angezeigt: „Als
ich einmal auf meinem Bette lag, geriet ich in Bestürzung, und
meine Gedanken gingen mir zu Herzen, weil ich Zion verwüstet, Ba-
bylons Bewohner aber im Überfluß sah. Da ward mein Gemüt heftig
erregt, und in meiner Angst begann ich, zum Höchsten zu reden“
1) Das Buch scheint, nach manchen Andeutungen im Text (3, i und Kap. n
bis 12, in der Vision vom Adler-Rom), ungefähr dreißig Jahre nach dem Falle
von Jerusalem, d. i. zu Beginn der Regierungszeit des Trajan, verfaßt worden
zu sein, wie dies ganz besonders aus dem einleitenden Vers (3, i) zu ersehen
ist: „Im dreißigsten Jahre, nach dem Untergang der Stadt, verweilte ich in
Babylon“. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß dieses Datum nicht aus der Luft
gegriffen ist, sondern der Wirklichkeit tatsächlich entsprach, wie es auch nicht
ausgeschlossen erscheint, daß der jüdische Verfasser im neuen Babylon, in Rom,
wenigstens vorübergehend geweilt hat. Die Esra-Apokalypse hat sich in einem
lateinischen Texte erhalten, der in die lateinische Bibelübersetzung, die Vulgata,
mitäufgenommen wurde. Auch die Kirchenväter erwähnen seit dem II. Jahrhun-
dert ein Buch mit dem Titel die „Weissagungen Esras“. Der Urtext war grie-
chisch abgefaßt und ist später verschollen; es wird vermutet, daß diesem grie-
chischen Texte vielleicht eine hebräische oder aramäische Vorlage zugrunde ge-
legen hat. Überdies hat sich eine syrische, äthiopische, arabische und armenische
Übersetzung erhalten, was von einer weiten Verbreitung des Buches im Morgen-
lande zeugt.
89
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
(3, i—3). Der Verfasser erkennt wohl an, daß die begangene Sünde
gesühnt werden müsse, doch sind ja alle Kinder Adams mit Schuld
beladen, warum trifft denn nun das Unheil nur das jüdische Volk
allein? „Du (Gott) gabst deine Stadt deinen Feinden preis. Aber han-
deln etwa Babylons Bewohner besser? . . . Hat Babylon besser ge-
handelt als Zion? Hat dich ein anderes Volk erkannt außer Israel?“
(3, 27—32). Auf diese vorwurfsvolle Frage des Volkes erteilt der
Engel Uriel die gewöhnliche Antwort von der Unerforschlichkeit der
Wege Gottes und der Beschränktheit des menschlichen Verstandes:
„Du, ein sterblicher Mensch, der im vergänglichen Aeon (Weltzeit-
alter) lebt, wie kannst du das Ewige begreifen?“ (4, 11). Das Pro-
blem wird erst der künftige „Aeon“ zur Lösung bringen: das gegen-
wärtige Zeitalter nahe rasch seinem Ende, denn es vermag nicht die
Verheißungen zu erfüllen, die den Frommen für die Zukunft ge-
macht worden sind; dieses Zeitalter „ist voll von Trauer und Un-
gemach“ (4, 26—27). Das kommende Zeitalter werde anbrechen,
wenn die Zahl der Gerechten auf Erden voll sein werde (4, 35—36).
Das Ende der Zeiten komme herbei, die alte Welt werde unter furcht-
baren Katastrophen, die über Natur und Menschheit hereinbrechen,
in Trümmer gehen.
Dies war indessen für den kummererfüllten Visionär nur ein
schwacher Trost, und so legt er denn dem „Höchsten“ in seiner zwei-
ten Vision erneut die unabweisbare Frage vor: weshalb ist Israel
den Heiden zum Opfer gefallen? Und wieder ertönt die geheimnis-
volle Antwort: „Denn die Schöpfung wird schon alt und ist über
die Jugendkraft schon hinaus“ (5, 55); die „Scheidung der Zeiten“
ist nahe und dem ersten Weltzeitalter soll ein zweites folgen. In der
Schrift heißt es: „Die Hand Jakobs hält die Ferse Esaus“ (Gen. 2 5,
2 6); dies deutet nun der Seher in dem Sinne, daß das Ende des ge-
genwärtigen Aeons (des geschichtlichen Zeitalters) Esau, dem Stamm-
vater Edoms-Roms, zuteil geworden ist, während der Anfang des
kommenden Aeons Jakob zufällt (6, 8—10). Die Vorherrschaft Romä
in der Welt wird also durch das Reich Israel, die Vorherrschaft der
rohen Gewalt durch ein Reich des Rechts und der Gerechtigkeit ab-
gelöst werden. In der dritten Vision wird auseinandergesetzt, daß die
Welt ursprünglich von Gott um Israels willen erschaffen worden sei,
als aber der erste Mensch, Adam, gesündigt hatte, da „ward die
Schöpfung gerichtet“. „Die Wege in diesem Aeon sind schmal und
90
§ 12. Die letzten Apokalypsen und die Anfänge der Haggada
traurig und mühselig geworden, elend und schlimm, voll von Ge-
fahren und nahe an großen Nöten; die Wege des großen (künftigen)
Aeons aber sind breit und sicher und tragen die Früchte des Le-
bens“ (7, 10—13). Und doch flößt der Übergang von einem Welt-
zeitalter in das andere dem Seher Schrecken ein: es naht das Jüngste
Gericht, das Verderben der Sünder unter unsagbaren Qualen, und
nur wenige Gerechte, die nach dem Tode auferstehen werden, sol-
len errettet werden. In der Voraussicht dieser dem überwiegendsten
Teil der Menschheit beschiedenen Qualen entfährt dem Verfasser
der kummervolle Schmerzensschrei: „So traure der Menschen Ge-
schlecht . . . das Vieh aber und Wild soll frohlocken! . . . Ihnen er-
geht es ja viel besser als uns; denn sie haben kein Gericht zu erwarr-
ten, sie wissen nichts von einer Pein, noch von einer Seligkeit, die
ihnen nach dem Tode verheißen wäre. Wir aber, was nützt es uns,,
daß wir einst zur Seligkeit kommen können, aber (vorher) in Mar-
tern fallen? . . . Viel besser wäre es für uns, wenn wir nach dem
Tode nicht ins Gericht müßten“ (7, 65—69). Hierin kommt der
Umschwung in dem religiösen Bewußtsein der Persönlichkeit deut-
lich zum Ausdruck: früher sahen sich die Menschen genötigt, durch
das Dogma von der Vergeltung im Jenseits den Widerspruch zwi-
schen den sittlichen Geboten Gottes und der Unvollkommenheit der
sittlichen Weltordnung zu beheben; nunmehr beginnt dieser Trost
im Jenseits Schrecken einzujagen, denn das Dogma von dem Leben,
nach dem Tode hat durch die Vorstellungen von der Buße für die
Sünden in der Hölle, vom Jüngsten Gericht und von den mannig-
fachen Qualen, durch die jede Seele, auch die gerechte, zur Läute-
rung von der irdischen Sündhaftigkeit, von der „Erbsünde Adams“,
hindurchgehen muß, eine schwere Komplikation erfahren. Die christ-
liche Theologie, die diese düsteren Vorstellungen der jüdischen My-
stik entlehnt hat, tröstete ihre Anhänger mit dem Glauben an die
Erlösung von der Adamssünde durch den Tod Christi und behielt
das „Feuergehenna“ und die übrigen Qualen des Jenseits nur für
die Ungläubigen bei. Dagegen hielt die jüdische Mystik, die eine ge-
meinsame Erlösung des Menschengeschlechts nicht anerkannte, an der
Vorstellung von der persönlichen Erlösung fest, welche sich darum
in der Phantasie der Asketen in einen unendlichen jenseitigen Lei-
densweg verwandeln mußte. In diesen grausigen Angstvorstellungen
ging* das Dogma vom „messianischen Reiche“, das ehedem in den
9i
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
lichten Farben der Freiheit und des Glückes erstrahlte, spurlos ver-
loren. In den Visionen des Esra soll sich der Messias1) nur für vier-
hundert Jahre offenbaren, um dann zu sterben, worauf ihm die ganze
Menschheit im Tode folgen und die Welt sich bis zum Anbruch des
neuen Aeons „zum Schweigen der Urzeit“ wandeln soll (7, 28—3o).
Diese christlich angehauchte Auffassung legt Zeugnis davon ab, daß
auch in den Geistern der Rechtgläubigen um jene Zeit der indi-
vidualistisch gefärbte Begriff vom Messias mit dem Begriff eines
nationalen Messias rang. In diesem Hin- und Herschwanken zwischen
Judentum und Christentum bestand vielleicht die ganze seelische Tra-
gödie derjenigen, deren Stimmung sich in der Esra-Apokalypse wi-
derspiegelt.
Die letzten „Offenbarungen“ des Buches sind wieder von der
Trauer um Zion ganz durchdrungen. Zion wird in der Gestalt eineir
Frau versinnbildlicht, die ihren an seinem Hochzeitstage vom Tode
jäh ereilten Sohn bitterlich beweint (9, 26 f.). Das Los des trium-
phierenden Rom kommt in der Vision vom „Adler aus dem Meere“
zur Darstellung (Kap. 11 —12). Der Adler mit zwölf Flügeln und
drei Häuptern symbolisiert das raubgierige Rom mit seinen Herr-
schern, jenes „vierte Reich“, von dem noch der alte Seher Daniel
geweissagt hatte (Dan. 7, 7 f.). Doch wird der römische Adler von
dem jüdischen Löwen in der Gestalt des Messias niedergerungen, der
in der darauffolgenden Vision (Kap. i3) als der Sammler der zer-
streuten zehn Stämme Israels, als der Wiederhersteller Jerusalems
und des Gesetzes gekennzeichnet wird. Das Schlußkapitel des Buches
stellt eine Apotheose seines angeblichen Verfassers, Esras, als des
Sammlers der heiligen Schriften dar.
So schwankte das jüdische Denken in krampfhaften Zuckungen
zwischen den Problemen der Individualität und der Nation, des irdi-
schen Daseins und des Lebens im Jenseits, des mystischen Glaubens
und der Herrschaft des Gesetzes. Am qualvollsten spitzte sich in die-
ser Übergangsepoche die Antinomie zwischen der individualistisch-
christlichen und der national-jüdischen Weltanschauung zu. Diese
Widersprüche sind es, von denen die andere jener Zeit entstammende
Ü Die Ausdrucksweise „filius meus Messias“ und in einigen Textstellen so-
gar schlechtweg „Jesus“ ist zweifellos eine späterer Zeit entstammende christliche
Interpolation. ♦
02
§12. Die letzten Apokalypsen und die Anfänge der Haggada
Apokalypse erfüllt ist: die „Apokalypse des Baruch“1). Das Werk
ist mit der Esra-Apokalypse sowohl dem Inhalte als stellenweise auch
der Form nach nahe verwandt; beide Bücher scheinen um die gleiche
Zeit und unter der Einwirkung gleichartiger Erlebnisse verfaßt wor-
den zu sein. Der angebliche Baruch, der Jünger des Propheten Je-
remia, der zusammen mit diesem die ganze Trübsal der Einnahme
Jerusalems durch Babylonien ausgekostet hat, verkündet die bevor-
stehende zwiefache Zerstörung der Stadt (unter Nebukadrezzar und
unter Titus), die jedoch nach langjähriger Verödung von neuem, und
zwar für alle Ewigkeit, erstehen soll (Kap. 32). Der letzte Gebieter
des „vierten Weltreiches“ (Rom) wird für alle seine Missetaten von
dem Messias zum Tode verurteilt werden, worauf das jüdische Volk
in seinem angestammten Lande zur Ruhe kommen wird. Jedoch sol-
len dieser Glückseligkeit nur die das Gesetz beobachtenden Gerechten
teilhaftig werden, während dem Frevler alle Qualen und Drangsale
der „letzten Zeiten“ beschießen sind (Kap. 4i—52). Hierbei irrt der
Verfasser gleich „Esra“ vom nationalen Boden ab und gerät auf
den des Individualismus, indem er sich in die Mystik der Totenauf-
erstehung, des Jüngsten Gerichts u. dgl. verstrickt. Historischen
Boden betritt er erneut mit seiner Vision von der Wolke, aus der
wechselweise bald schwarze, bald helle Wasser auf die Erde herab-
strömen. Es soll dies in allegorischer Form verschiedene geschicht-
liche Zeitalter kennzeichnen: von Adam, Abraham und Moses bis
zu den Königen Hiskia, Manasse und Josia. Das letzte „helle Wasser“
in dieser Reihe bedeutet das Zeitalter des Messias, der die einen Völ-
ker dem Untergange weihen, die anderen hingegen bestehen lassen
und so den Frieden auf Erden stiften wird (Kap. 53—74). Die
1) Die „Baruch-Apokalypse“ hat sich in zwei Grundtexten: einem syrischen
(in der Handschrift der syrischen Bibel — „Peschito“) und einem griechischen
erhalten. Diese Texte weichen ihrem Inhalte nach so sehr voneinander ab, daß
sie als zwei verschiedene Bücher gelten können. Der syrische „Baruch“ ist zwei-
fellos ein jüdisches Werk und mochte ursprünglich hebräisch oder aramäisch
abgefaßt worden sein; dagegen ist der griechische „Baruch“, dessen Text erst
in jüngster Zeit aufgefunden wurde, der aber noch dem Kirchenschriftsteller
aus dem III. Jahrhundert, Origenes, bekannt gewesen war, den christlichen Apo-
kryphen verwandt. Für die jüdische Geschichte kommt daher nur die syrische
Baruch-Apokalypse in Betracht. Diese „Apokalypse des Baruch“ ist mit dem ge-
schichtlichen apokryphischen ,,Buch des Baruch“, das um dieselbe Zeit verfaßt
worden isi und in äthiopischer Sprache sich erhalten hat, nicht zu verwechseln.
Es enthält ein Bußgebet der Exulanten, mit der Zerstörung Jerusalems zusammen-
hängende Klage- und Trostpsalmen, sowie religiöse Unterweisungen.
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
„Baruch-Apokalypse“ ist an Widersprüchen viel reicher als „Esra“:
die um die jenseitige, überirdische Wahrheit Ringenden haben sich
unversehens ins Dickicht der Mystik verirrt. Diese Irrungen hinter-
ließen ihre Spuren sogar in den zeitgenössischen wie in den späteren
talmudischen Überlieferungen, namentlich in der Haggada, wo die
verschiedenen Momente der „kommenden Welt“ (Olam ha’ba): das
messianische Zeitalter (Jemoth ha’moschiach), die Auferstehung der
Toten (Techiath ha’metim) und der Tag des Gerichts (Jom ha’din)
sich zu einem unentwirrbaren Knäuel verflochten.
Die Verfasser der vermutlich aus der gleichen Epoche stammen-
den anderen Apokalypsen legen ihre „Offenbarungen“ noch viel älte-
ren Helden in den Mund, so dem Erzvater Abraham und dem „ersten
Menschen“ Adam1). Dem Inhalte nach sind sie im allgemeinen den
Büchern des „Esra“ und des „Baruch“ verwandt. Die „Abraham-
Apokalypse“ rückt mehr das nationale Moment der Eschatologie in
den Vordergrund, im „Leben Adams“ hingegen ist das individua-
listische oder universalistische Moment überwiegend.
Während man so in Judäa die Geheimnisse der kommenden Welt
in Apokalypsen zu enträtseln suchte, die man den alten Helden der
Bibel zuzuschreiben pflegte, war es in der Diaspora die jüdisch-
hellenistische Sibylle, die fortfuhr, von diesen Geheimnissen zu weis-
sagen (Band II, § 65). Die der behandelten Epoche angehörenden
zwei Sibyllinischen Bücher, das vierte und das fünfte, brachten in
griechischen Hexametern dieselben brennenden Fragen zum Ausdruck.
Der Verfasser der Vierten Sibylle stand anscheinend unter dem Ein-
druck zweier Katastrophen, der jüdischen und einer römischen: der
Zerstörung Jerusalems („Solyma“ — Vers ii5, 126) und des neun
Jahre später erfolgten Ausbruchs des Vesuvs (im Jahre 79), als die
Städte Herkulanum und Pompeji zugrunde gingen. In dieser über
Rom hereingebrochenen Katastrophe erblickt die weise Sibylle eine
Vergeltung für das Judäa zugefügte Leid (Vers i3o— 136):
Aber wenn aus der Erdspalte des italischen Landes
Das Feuerzeichen hervorblitzend zum weiten Himmel kommt,
Und viele Städte verbrennt und Männer vernichtet,
Und viele rußige Asche den großen Äther erfüllt,
!) Die „Abraham-Apokalypse“ hat sich nur in einer altslawischen Übersetzung,
„Das Leben Adams und Evas“ — in zwei verschiedenen Texten, einem lateinischen
und einem griechischen, erhalten.
94
§ 12. Die letzten Apokalypsen und die Anfänge der Haggada
Und Tropfen vom Himmel fallen, dem Mennig gleich —
Dann erkennt den Zorn des himmlischen Gottes,
Darum, daß sie den unschuldigen Stamm der Frommen verderben.
Das Orakel ermahnt die Menschen, das Schwert aus den Händen
zu legen, dem Gemetzel, dem Verbrechen und dem Wehklagen auf
Erden ein Ende zu machen. Wenn nicht, so soll die Welt in Asche
gelegt und darauf ein schreckliches göttliches Gericht über die auf-
erstandenen Menschen abgehalten werden (Vers 161 — 190).
In dem „fünften Sibyllinischen Buch“, das anscheinend in Ägyp-
ten entstand (die Sibylle nennt sich „die Schwester der Isis“, und
beginnt mit einer Prophezeiung über Ägypten, auf das sie wieder-
holt zurückkommt: Vers 52 f., 179L, 45g, 484), kommt vor al-
lem das politische Element zur Geltung. Der Verfasser ist von einem
ausgesprochenen Haß gegen Rom durchdrungen. Sein Orakel ver-
kündet allen heidnischen Ländern Unheil: Ägypten, Kleinasien, Hel-
las; doch besonders hart soll die Abrechnung mit Rom sein: der
„bösen Stadt“ gebühre eine Strafe für „das zweitmalige Niederwer-
fen des Gott bewahrenden Hauses (des Tempels)“ und für die dem
„unsterblichen Lande“ zugefügte Schmach (Vers 3g4f.)- In zärtlichen
Ausdrücken spricht der Verfasser der „schönen jüdischen Stadt“
Trost zu, indem er verkündet, daß „der unreine Fuß der Hellenen“
in dem Heiligen Lande „nicht mehr bacchisch rasen wird“ und daß
dessen leibliche Söhne mit Liedern in der heiligen Sprache und mit
Gott ehrenden Opfern in die Stadt einziehen werden. Alle Gerechten,
die Leiden erduldet haben, werden der Glückseligkeit teilhaftig wer-
den, „die Bösen aber, welche die frevelhafte Zunge gegen den Him-
mel richteten . . . werden sich verbergen, bis die Welt verwandelt
wird“. Mitten in der in einem „Regen brennenden Feuers“ untergehen-
den Welt wird die heilige Erde allein, als ein Eden für die Froim-
men, zu neuem Leben erblühen (Vers 260—285).
Das christliche Schrifttum versäumte nicht, sich die Sibyllinischen
Orakel zunutze zu machen. In die jüdisch-hellenistischen „Sibyllini-
schen Bücher“ (III, IV, V) wurden hier und da durch die vorsorg-
liche Hand eines Kirchenmissionars Anspielungen auf Christus ein-
gestreut, die freilich in den Zusammenhang schlecht hineinpassen.
Die christlichen Schriftsteller verfaßten aber auch eigene „Sibyl-
linische Bücher“, in denen sie ihren eschatologischen Gedankengän-
95
fäS»äri3fSttSa
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jabne
gen freien Lauf ließen; diese Bücher kommen indessen zum größ-
ten Teil erst für die nachfolgende Epoche in Betracht1).
Schält man aus allen jüdischen Apokalypsen dieser Zeit ihren
innersten Kern heraus, so erscheint er eines Wesens mit jenen theo-
logischen Lehren, die in Form von vereinzelten Aussprüchen in der
ältesten talmudischen Haggada überall verstreut sind. Die weisen
„Rabbi’s“, die Gesetzeslehrer, brachten in kurzgefaßten und klaren
Sentenzen und Gebetformeln vieles von dem zum Ausdruck, was von
den Mystikern und Sehern in der Verschleierung von „Offenbarun-
gen“ und Visionen geboten zu werden pflegte. Die Eigenart der Hag-
gada spiegelt sich in der moralisch, ja asketisch betonten Nuancie-
rung all ihrer Vorstellungen von der Vergeltung im Jenseits (Sechar
we’onesch), von der kommenden Welt, von der Totenauferstehung
u. dgl. m. wieder. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht der Ausspruch
eines der ältesten Gesetzeslehrer jener Zeit, des Akabia ben Maha-
lallel: „Betrachte die drei Dinge und du wirst nie in Sünde verfallen:
Bedenke, von wannen du gekommen bist, wohin du gehst und vor
wem du Rechenschaft zu geben haben wirst. Gekommen bist du von
einem widrigen Keime, du gehst dorthin, wo Staub ist und Moder,
Wurm und Motte, Rechenschaft wirst du aber zu geben haben vor
dem König der Könige, dem Heiligen, gelobt sei er!“2). Aber auch
hier verflochten sich die Vorstellungen von dem Leben im Jenseits,
von dem kommenden Gerichte mit denen vom messianischen Zeit-
alter, ihnen so eine mystische Färbung statt der politischen verlei-
hend. In der Zwischenzeit zwischen den nationalen Katastrophen im
Jahre 70 und i35 herrschte noch die politische Auffassung des Mes-
sianismus vor, aber auch schon um jene Zeit hält man die Mes-
sianologie und die Eschatologie, das irdische „messianische Zeitalter“
einerseits und das Himmelreich, die „kommende Welt“, anderer-
seits nicht mehr genau auseinander. Manche Gelehrte sahen sich ge-
1) Als solche gelten die Bücher VI—VIII, zum Teil auch die Bücher I—II
und XI—XIV. Einige darunter enthalten übrigens nur allgemeine politische Vor-
aussagen, die jedes religiösen Anstrichs ermangeln.
2) Aboth, III, 1. — In bestimmterer Form brachte denselben Gedanken, wenn
man der späteren Überlieferung Glauben schenken soll, der Mystiker Ben Asai
zum Ausdruck (Derech-erez, III): „Der Mensch kommt aus dem dunklen und un-
reinen Orte, dem Mutterleibe, er geht in die düstere Gruft als Fraß für das Ge-
würm, in das Feuergehenna zu Qual und Leid, um schließlich vor dem ge-
strengen Gericht des Weltschöpfers zu erscheinen/'
§ 12. Die letzten Apokalypsen und die Anfänge der Haggada
nötigt, auf den Unterschied dieser Begriffe hinzuweisen, ohne sie
jedoch mit Bestimmtheit definieren zu können1). Noch hatte sich
dogmatisch die Aufeinanderfolge der Momente der Totenauferste-
hung und des Erscheinens des Messias nicht geklärt; auch die Frage
nach der Dauer des messianischen Zeitalters war noch nicht ent-
schieden: die einen sprachen von einer vierzigjährigen, die anderen
hingegen von einer vierhundertjährigen2) Dauer, welch letztere Mei-
nung sich übrigens mit der erwähnten Weissagung des „Vierten
Esrabuches“ deckt (7, 28). Späterhin, nach dem mißglückten Auf-
stande des Bar Kochba, tauchten mystische Vorstellungen von den
„Leiden der Messiaszeit“ (Cheble moschiach) auf, ein Widerhall der
Apokalypsen und der Christologie, sowie von zwei aufeinanderfol-
genden Messiassen, dem leidenden (Ben Joseph) und dem triumphie-
renden (Ben David).
Im allgemeinen jedoch erweckten zu jener Zeit mystische Ideen,
insofern sie sich mit der Christologie und der damals auf kommen-
den christlichen „Gnosis“ berührten, in den Kreisen der nüchternen
Gesetzeslehrer nur Argwohn. Oben war bereits von jenen zwei Ge-
setzeslehrern, Ben Soma und Ben Asai, die Rede, die daran zugrunde
gingen, daß sie sich in die Geheimlehre vertieften (§ 6) oder, wie
die haggadische Ausdrucksweise lautet, „in den Pardes (den Garten
Eden, Paradies) eingingen“. Von dem großen Führer jener Zeit,
Rabbi Akiba, heißt es in derselben Legende (Chagiga, i4), daß er
gleichfalls den verlockenden Garten des Geheimwissens betreten habe,
doch „in Frieden hinausging“, d. i. sich in die Mystik oder Gnosis
nicht verstrickte. Erst nach der endgültigen politischen Niederlage
Judäas, nach der fehlgeschlagenen Erhebung des Bar Kochba, in
jener düsteren Zeit, die um die Mitte des II. Jahrhunderts ange-
brochen war, beginnt die talmudische Haggada sich viele Elemente
der älteren Apokalyptik anzueignen, um sie nach ihrer eigenen Art
zu verarbeiten. Die alte Apokalypse hat ihre Rolle ausgespielt, doch
werden ihre wichtigsten Probleme nach wie vor einer Bearbeitung
im Stile jener „Rabbi’s“ unterzogen, die gleichzeitig Schöpfer der
Halacha und der Haggada, der Gesetzgebung, der Theologie und der
Ethik waren und die alles dem einen Zwecke unterordneten: der Er-
!) Ygl. z. B. Mischna Berachoth, I, 5 (Talmud Berachoth, 12) u. sonst.
2) Sanhedrin, 99.
7 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
97
haltung der geistigen Nation nach dem politischen Zusammenbruch
und nach dem durch das Christentum heraufbeschworenen religiösen
Zwiespalt.
§ i3. Der biblische Kanon und die „draußen befindlichen“ Bücher
(Apokryphen und Pseudepigraphen)
Bei seinem Werke der Wiederherstellung des nationalen Lebens
nach dem politischen Zusammenbruch konnte das Synhedrion von
Jabne an dem üppig blühenden pseudobiblischen Schrifttum nicht
achtlos vorübergehen. Die mit den Namen der uralten Erzväter, Kö-
nige und Weisen geschmückten neuen Bücher hätten leicht bei den
Massen als heilige Schriften Eingang finden können. Der altehr-
würdige Kern der Bibel, deren jedes Wort als göttlich galt und als
solches in den Schulen der Gesetzeslehrer Gegenstand tiefsinnigster
Interpretation war, hätte vielleicht durch die Hinzufügung des weit
ausgedehnten späteren Schrifttums, in dem dazu noch manchmal syn-
kretistische, jüdisch-hellenistische oder jüdisch-christliche Ansichten
sich bemerkbar machten, seine Bedeutung unwiederbringlich einge-
büßt. Die Männer, die an der Errichtung des „Zauns um die Thora“
arbeiteten, sahen sich nunmehr vor die Aufgabe gestellt, das unver-
fälschte heilige Schrifttum ein für allemal vor dem Eindringen
fremdartiger, „draußen befindlicher“ Bücher, deren manche sich
einer besonderen Beliebtheit bei den Christen erfreuten, zu sichern.
Es galt, die Bibel sowohl gegen diese apokryphische Literatur als
auch gegen das sich weitverzweigende evangelische und „neutesta-
mentliche“ Schrifttum abzuschließen.
Die Aufgabe war schwierig und kompliziert. Seit der ersten Ka-
nonisierung der biblischen Bücher in der Zeit Esras galten nämlich
als maßgebend oder „heilig“ lediglich die Bücher der drei folgenden
Gruppen: des Pentateuch (Thora), der Geschichtsbücher: Josua, Rich-
ter und Könige („Erste Propheten“), und der prophetischen Bücher
(„Letzte Propheten“)1); dagegen war die Gruppe der religionsphilo-
sophischen und poetischen „Schriften“ (Ketubim), die die Psalmen,
Hiob, die Sprüche Salomos, das Hohelied, Kohelet und andere freie
!) Siehe Band I, § 84. Diese drei Gruppen zusammengenommen waren noch
im evangelischen Zeitalter unter dem Namen „Gesetz und Propheten“ (was dem
hebräischen „Thora u’nebiim“ entspricht) bekannt.
98
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jabne
§ i3. Der biblische Kanon und die Apokryphen
Schriften umfaßte, noch nicht abgeschlossen und in den Kanon noch
nicht aufgenommen. Nun erhoben aber viele der neuen Bücher, die
in den Zeiten der griechischen Herrschaft, des hasmonäischen König-
tums und der römischen Herrschaft im biblischen Stil abgefaßt wor-
den waren, den Anspruch, gerade in diese letzte Gruppe mitauf-
genommen zu werden. Darum galt es, die Gruppe der „Ketubim“
zum Abschluß zu bringen und den Kreis der letzten biblischen Bü-
cherreihe durch die Heiligsprechung nur derjenigen Werke zu voll-
enden, die besonders maßgebend und in religiöser Hinsicht durch-
aus unanstößig erschienen. Diese Sichtung der Schriften verursachte
im Synhedrion von Jabne große Streitigkeiten. Einige alte Bücher,
die in ihren Titelversen altehrwürdige Namen führten, jedoch von
allzu freiem, strenger Rechtgläubigkeit widersprechendem Geiste er-
füllt zu sein schienen, erregten nämlich starken Anstoß. Dazu ge-
hörten vor allem zwei Salomo zugeschriebene Bücher: der von philo-
sophischem Skeptizismus und den Prinzipien der epikureischen Moral
durchdrungene „Kohelet“ (Prediger), sowie das „Schir ha’schirim“
(Hohelied) wegen des ihm anhaftenden erotischen Charakters. Die
Frage der Aufnahme dieser Bücher zeitigte im Gelehrtenkollegium
heftige Debatten. Man wies darauf hin, daß man sich auch früher
schon mit dem Gedanken getragen habe, derartige Bücher „beiseite-
zuschaffen“ (li’gnos), d. h. sie aus dem Bestand des heiligen Schrift-
tums auszuschließen. Auch das prophetische Buch Jeheskels, dessen
erstes Kapitel die Vision der im Himmel thronenden Gottheit ent-
hält und dessen letzte Kapitel einen Plan des künftigen Tempels, der
von der durch die Thora vermittelten Tempelschilderung wesentlich
abweicht, entwerfen, galt seinerzeit als anstößig. Über all diese Strei-
tigkeiten, die mit den Fragen der rituellen Reinheit in Zusammen-
hang standen, haben sich in der Mischna indirekt Nachrichten er-
halten. Die Hilleliten sollen nämlich das Buch „Kohelet“ gleich den
anderen biblischen Büchern als heilig betrachtet haben, während die
Schammaiten seine Heiligkeit in Abrede stellten. Ein ähnlicher Streit
entbrannte zwischen den einzelnen Gelehrten auch hinsichtlich des
Hoheliedes. Die Streitfrage wurde nun im Sinne der Heiligsprechung
der beiden Bücher in jener berühmten gesetzgebenden Session ent-
schieden, die in Jabne nach der Enthebung Gamaliels II. vom Amte
des Synhedrionvorstehers stattgefunden hatte (§ 4). Aus diesem An-
laß soll R. Akiba sich geäußert haben, daß man wohl über „Kohelet“,
7*
99
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
nicht aber über das „Hohelied“ streiten könne: „Es gab — so sprach
er — in der ganzen Welt keinen zweiten so ruhmreichen Tag, wie
den, an dem das Buch ,Schir ha’schirim* entstanden ist; wenn alle
,Schriften* heilig sind, so ist dieses Buch das allerheiligste zu nen-
nen* *. Vermutlich war schon damals jene Auslegungsmethode in Ge-
brauch, die das „Hohelied“ als ein allegorisches Poem von der Liebe
der jüdischen Nation zu ihrem Gotte auffaßte und es so dem reli-
giösen Schrifttum geistesverwandt machte. Was aber das Buch „Ko-
helet“ betrifft, so wurde es aus dem Grunde sanktioniert, weil die
in ihm enthaltenen Irrlehren durch die das Schlußkapitel ausfüllen-
den Entgegnungen des Gottesfürchtigen entkräftet zu sein schienen1).
So gewann zu Beginn des II. Jahrhunderts der biblische Kanon,
wie wir ihn heute mit seinen vierundzwanzig Büchern kennen, seine
endgültige Form2). Dagegen blieb das sonstige Schrifttum der
„Epoche des zweiten Tempels** außerhalb der durch die Kanonisie-
rung ausgezeichneten Büchersammlung. Werke wie „Die Weisheit
Ben Siras“ oder das „Erste Makkabäerbuch“ blieben ihrem Range
nach außerkanonisch, nur weil sie aus ihrer späten Entstehungszeit
kein Hehl zu machen suchten. Doch nützten den in der hasmonäischen
Zeit und später entstandenen Büchern auch klangvolle Pseudonyme
in der Regel nichts: sie blieben trotzdem unter den „ausgeschlosse-
nen“ oder den „draußen befindlichen“ Büchern (Seforim genusim,
chizonim). Dieses Los traf die „Psalmen Salomos**, das „Henoch-
-*-) Vgl. Band II, § 16. — Der Talmud (Sabbat, 3o) hebt diesen Grund aus-
drücklich hervor: „Die Weisen wollten das Buch ,Kohelet‘ aus dem Grunde aus-
schließen, weil es von Widersprüchen strotzt; doch unterließen sie es, weil es
am Anfang und am Schluß Worte der Wahrheit spricht“, wobei zum Beweise
der Schlußvers des Buches angeführt wird: „Gott fürchte und seine Gebote halte,
denn das ist der ganze Mensch“ (der ganze Sinn des Menschendaseins).
2) Der alte Geschichtsschreiber Josephus Flavius (Gegen Apion I, 8) zählt
im ganzen zweiundzwanzig Bücher der Heiligen Schrift auf: 5 Bücher Moses’,
i3 geschichtliche und prophetische Bücher vom Tode Moses’ bis zum persischen
König Artaxerxes (die Zeit Esras und Nehemias) und 4 Bücher, die „Lobpreisun-
gen Gottes und Verhaltungsregeln für die Menschen“ enthalten. Es ist wahr-
scheinlich, daß bei dieser Berechnung gerade die zwei umstrittenen Bücher: das
„Hohelied“ und „Kohelet“, übergangen worden sind, deren Los in Jabne zu einer
Zeit entschieden wurde, als Josephus sich in Rom auf hielt, oder bald nach seinem
Tode, woraus sich die Differenz gegen die traditionsgemäße Zahl 2 4 ergab. Bei-
zeichnend ist die Äußerung des Josephus über die außerkanonischen Bücher:
„Auch von der Zeit des Artaxerxes ab bis zu unseren Tagen wurde alles (Geschicht-
liche) aufgezeichnet, doch stehen diese Bücher nicht in dem gleichen Rufe der
Glaubwürdigkeit“.
IOO
§ 13. Der biblische Kanon und die Apokryphen
buch“, „Baruch“, das „Vierte Esrabuch“ u. a. Die christliche Kirche
war gegenüber den aus dem hebräischen Kanon ausgeschlossenen
Schriften viel nachsichtiger. Viele von ihnen wurden in den Bestand
der griechischen Bibelübersetzung, der Septuaginta, aufgenommen,
die in den ersten Jahrhunderten des Christentums für die christlichen
Hellenen ebenso zur heiligen Schrift wurde, wie sie dies ehedem für
die hellenistischen Juden gewesen war (so die „Weisheit Ben Siras“,
die „Makkabäerbücher“, „Tobit“, „Judith“, „Susanna“); einige an-
dere Apokryphen wurden dann im IV. Jahrhundert in die lateinische
Bibel, die „Vulgata“ des Hieronymus, auf genommen. Doch blieben
viele Schriften dieser Art auch außerhalb der kirchlichen Kanons1).
Solche Bücher wurden nur von einzelnen Eiferern des Christentums
in Ehren gehalten, sei es, weil sie selbst an deren uralten Ursprung
glaubten oder aber andere daran glauben machen wollten. Dabei wur-
den manche Apokalypsen jüdischen Ursprungs von den christlichen
Kopisten einer Umarbeitung unterzogen: an den Stellen, wo von einem
politischen Messias die Rede war, schalteten sie Verkündigungen ein,
die sich auf Christus, den Gottessohn, bezogen.
Das gesamte apokryphische oder pseudobiblische Schrifttum kann
dem Entstehungsorte nach in zwei Gruppen eingeteilt werden: a) in
eine palästinensische, die zugleich der ursprünglichen Sprache nach
die hebräische oder aramäische ist; b) in die Diaspora- oder jüdisch-
hellenistische Gruppe mit ursprünglich griechischer Sprache. Nicht
immer ist es indessen möglich, die ursprüngliche Sprache des einen
oder des anderen Buches festzustellen, da infolge des Ausschlusses
der Apokryphen aus dem biblischen Kanon der hebräische Urtext
vieler Bücher verschollen ist, so daß sie sich nur in griechischer, la-
teinischer, syrischer oder äthiopischer Übersetzung erhalten haben;
dies erschwert zugleich auch die Bestimmung ihres Entstehungsortes,
insofern sich dieser nicht in dem Inhalte oder dem Geiste des Ble-
ches selbst dokumentiert. Auf Grund der Ergebnisse der neuesten
wissenschaftlichen Kritik läßt sich die gesamte apokryphische und
pseudepigraphische Literatur, die in den letzten zwei Jahrhunderten
1) Seit der Reformation gelten in Deutschland als „Apokryphen“ nur jene
Bücher, die, obwohl in den Kanon der katholischen Kirche aufgenommen, von
Luther in eine besondere Gruppe „nützlicher“ Werke zweiten Ranges aus geson-
dert worden sind. Im Gegensatz dazu werden alle sonstigen Werke der Bibel-
epigonen in der wissenschaftlichen Theologie „Pseudepigraphen“ genannt.
IOI
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
vor der christlichen Ära und in den zwei darauffolgenden Jahrhun-
derten entstanden ist, in folgender Weise klassifizieren:
Palästinensische Gruppe *)
Die Weisheit des Ben Sira (II, § 17)
Erstes Makkabäerbuch (II, § 37)
Die Bücher „Judith“ und „Tobit“ (II,
§ 37)
Psalmen Salomos (II, § 61)
Das „Henochbuch“ (II, $ 61)
Das Buch der Jubiläen (II, § 61)
Die Testamente der 12 Patriarchen (II,
s 93)
Die Himmelfahrt Moses’ (II, § 93)
Viertes Esrabuch (III, § 12)
„Baruch-Apokalypse“ (syrischer Text,
III, § 12)
Das Buch Baruch (ibid. Anm.)
Das Leben Adams und Evas (ibid.)
In Judäa stand das jüdisch-hellenistische Schrifttum, dessen Ge-
burtsstätte vor allem Alexandrien war, überhaupt in zweifelhaftem
Rufe. Sogar die hervorragendsten Schöpfungen dieser Literatur wie
die „Weisheit Salomos4das „Zweite Makkabäerbuch“ und der „Ari-
steasbrief“ vermochten sich in die nationale Literatur keinen Ein-
gang zu verschaffen. Dagegen genossen die Apokryphen palästinen-
sischen Ursprungs, die in hebräischer oder aramäischer Sprache ab-
gefaßt waren, zweifellos hohes Ansehen, namentlich die ältesten von
ihnen, die im nationalen Geiste gehalten waren, wie z. B. die im
Talmud vielfach benutzte „Weisheit Ben Siras“, das „Erste Makka-
bäerbuch“ oder die Bücher „Judith“ und „Tobit“. Zweifel erregten
nur die Apokalypsen, besonders nachdem manche mit christlichen
Interpolationen versehene Abschriften davon in Umlauf gekommen
waren (das „Henochbuch“, die „Patriarchentestamente“, das „Vierte
Esrabuch“). Über diese „abseitsstehenden“ Bücher, die gleichsam die
Grenze zwischen dem „Alten Testament“ und dem „Neuen Testament“
innehielten, verhängten die Eiferer der Orthodoxie eine strenge Zen-
sur. Niemand anderem als Rabbi Akiba selbst wird der Ausspruch zu-
I) Die eingeklammerten Zahlen weisen auf den entsprechenden Band und Para-
graphen dieser „Geschichte“ hin, in dem das betreffende apokryphische oder pseud-
epigraphische Buch behandelt wird. In beiden Gruppen bleiben unbedeutende
pseudobiblische Fragmente unerwähnt.
Jüdisch-hellenistische Gruppe 1)
Die Weisheit Salomos (II, § 65)
Zweites Makkabäerbuch (II, § 39)
Drittes Makkabäerbuch (II, S 39)
Zusätze zu „Daniel“ (II, $ 39)
Das Dritte Esrabuch (II, § 39)
Der Aristeasbrief (II, § 39)
Die Sibyllinischen Bücher (II, § 65 und
III, § 12)
Viertes Makkabäerbuch (II, § 65)
Die griechische „Baruch-Apokalypse“
(III, § 12 Anm.)
102
§ 13. Der biblische Kanon und die Apokryphen
geschrieben, demzufolge diejenigen, „die sich mit dem Lesen der
draußen befindlichen Bücher abgeben, des künftigen Lebens nicht
würdig seien“1). Indessen bezog sich dies zweifellos nur auf die
Gruppe jener Apokalypsen, die durch ihren mystischen Inhalt oder
stellenweise durch christologische Tendenzen hervorstachen. Solche
Schriften pflegte man den ketzerischen oder sektiererischen Büchern
(Sifre minim) gleichzustellen. Man verwechselte sie mit den Evange-
lien und den christlichen Apokalypsen (von der Art der „Johannes-
apokalypse“). Einige Gesetzeslehrer jener Zeit vertraten die Ansicht,
daß die „Gelionen und die Bücher der Minäer“ (die evangelischen
und die sektiererischen Schriften), sogar wenn in ihnen der Gottes-
name auf gezeichnet stehe, bei Feuersgefahr nicht errettet werden soll-
ten. Der geschworene Feind der Ketzer, R. Tarphon, fügte dem noch
hinzu, daß er selbst solche Minäerbücher den Flammen preisgegeben
hätte, da er sie für noch schädlicher als die Bücher der Heiden halte:
„Verleugnen doch die Heiden Gott, den sie nicht kennen, diese aber
(die Minäer) kennen Gott,verleugnen ihn aber“2). Diese Verwechs-
lung der apokryphischen Bücher jüdischen Ursprungs mit den
christlichen Schriften hat nicht wenig dazu beigetragen, daß der
größte Teil dieser jüdischen literarischen Schöpfungen, die eine Zwi-
schenstellung zwischen der Bibel und dem Talmud einnehmen, nach
und nach seiner nationalen Bedeutung verlustig ging und sich nur
dank der Fürsorge der christlichen Kirche erhalten konnte.
Das Bestreben der Gesetzeslehrer, das biblische Schrifttum vor
jeder fremdartigen Beimischung zu sichern, kam auch in ihrer Stel-
lungnahme zu der griechischen Bibelübersetzung, die der Diaspora den
Originaltext der Heiligen Schrift ersetzte, zum Ausdruck. Die alte
griechische Bibel, die Septuaginta, vermochte die palästinensischen
Kenner der hebräischen Urschrift nie voll zu befriedigen und er-
schien den Eiferern der Orthodoxie späterhin sogar als nicht unge-
fährlich. Seit der Entstehung des Christentums gelangte nämlich diese
Übersetzung bei den zu der neuen Religion übergetretenen Heiden,
denen das hebräische Original ja unzugänglich war, zu hohen Ehren.
Seitdem begannen in den Abschriften der Septuaginta sich vielfach
die Textänderungen und Einfügungen zu mehren, die darauf abziel-
1) Sanhedrin, 90 (in der Mischna). Erst ein Amoräer aus späterer Zeit,
R. Joseph, hegte Zweifel, ob auch die Lektüre des Ben Sira gestattet sei (ibid. 100).
2) Sabbat, 116. Vgl. Kohut, Aruch ha’schalem, s. v. Gelion.
io3
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
ten, gewisse biblische Textstellen jener spezifischen Interpretation
näherzubringen, die auf Grund der evangelischen Schriften von den
christlichen Kreisen in diese Stellen hineingedeutet zu werden pflegte.
Angesichts der großen Autorität, die die Septuaginta unter den Ju-
den der Diaspora genoß, konnten derartige Textänderungen leicht zu
einem Werkzeug christlicher Propaganda werden. Diese Gefahr konnte
den Führern des Judentums gewiß nicht entgehen und so trafen sie
denn Maßnahmen, die ihr Vorbeugen sollten. Um jene Zeit verkehrte
nun gerade im Kreise der Gesetzeslehrer von Jabne ein zum Juden-
tum übergetretener hochgebildeter Grieche namens Akylas (Aquila
proselytus, Onkelos ha’ger). Aus Pontus gebürtig und einer wohl-
habenden heidnischen Familie entstammend (die Sage will ihn sogar
zu einem Verwandten des Kaisers Hadrian machen), geriet Akylas zu-
nächst unter den Einfluß der christlichen Propaganda und wurde
ein Jünger des neuen Glaubens, doch tat er bald einen Schritt weiter
und trat zum Judentum über1). Nachdem er hierauf in freundschaft-
liche Beziehungen zu Gamaliel II., Akiba und den anderen Mitglie-
dern des Synhedrion zu Jabne getreten war, erwarb er sich große
Kenntnisse in der schriftlichen und mündlichen Lehre. Von den Ge-
setzeslehrern angespornt, unternahm Akylas nunmehr eine neue Über-
tragung der Bibel ins Griechische. Er übersetzte den hebräischen Ur-
text mit peinlicher Genauigkeit, jedes Wort der Schrift für unantast-
bar haltend; sogar unübersetzbare Hilfspartikeln gab er, nicht selten
zum Nachteil für seinen griechischen Stil, durch besondere Wörter
wieder2). Auf den Übersetzer mochte hierbei die Auslegungsmethode
des Akiba von Einfluß gewesen sein, der bei seinen halachischen
Schlußfolgerungen bekanntlich keine einzige Silbe des Bibeltextes un-
beachtet ließ. Von den jüdischen Größen lobend anerkannt, vermochte
!) Unwillkürlich drängt sich die Vermutung von der Identität dieses Helden
der talmudischen Sage mit dem in der „Apostelgeschichte“ (18, 2) erwähnten
Juden Aquila aus Pontus auf, der unter Kaiser Claudius aus Italien verbannt
wurde und in Korinth mit dem Apostel Paulus zusammentraf. Chronologisch steht
einer solchen Annahme nichts im Wege, nur müßte Akylas mit Gamaliel und
Akiba in Jabne erst in sehr vorgeschrittenem Alter in Verkehr getreten sein.
2) So übersetzte er z. B. den Vers: „Gott schuf Himmel und Erde“ (bara
eth ha’schamaim), ohne die Hilfspartikel „eth“ wegzulassen, was auf Griechisch
den Satz ergab: Syn ton ouranon . . . u. dgl. m. Dies fiel schon dem Übersetzer
der Bibel ins Lateinische, dem heiligen Hieronymus, der im IV. Jahrhundert
lebte, auf.
io4
§ i4. Die Historiographie des Josephus Flavius
die Übersetzung des Akylas die Septuaginta unter den Juden der Dia-
spora allmählich ganz zu verdrängen; doch wurden in den folgenden
Jahrhunderten die Abschriften dieser Übersetzung immer seltener, bis
sie schließlich ganz verscholl. Erhaltengeblieben sind nur winzige
Bruchstücke davon, die uns die Schriften der Kirchenväter bewahrt
haben. Der späteren aramäischen Übersetzung des Pentateuch wurde
anscheinend als Vorbild die griechische Übertragung des Akylas zu-
grunde gelegt, weshalb jene auch den Namen „Übersetzung des On-
kelos“ (Onkelos ist die aramäisierte Form des Namens Akylas) erhielt.
Das „Targum (Übersetzung) Onkelos“ erlangte bei den Juden große
Volkstümlichkeit und pflegte in den Synagogen parallel mit dem he-
bräischen Originaltext der Thora öffentlich vorgelesen zu werden.
Seit dem Aufkommen der Buchdruckerkunst wurde es Brauch, in
allen Thoraausgaben neben dem hebräischen Text auch diese Über-
setzung mit abzudrucken.
Im IL Jahrhundert wurde ein neuer Versuch unternommen, die
griechische Bibelübersetzung dem hebräischen Originaltext näherzu-
bringen. Ein gewisser Theodotion, ein Jude oder ein Judenchrist, ar-
beitete den griechischen Text der Septuaginta in der Weise um, daß
er ihn nach dem hebräischen Urtext verbesserte, wobei er viele schwer
zu übersetzende Wörter des Originals einfach unübersetzt beibehielt,
sie nur in griechischer Transkription wiedergebend. Indessen scheint
diese Übersetzung wenig Verbreitung gefunden zu haben, und auch
von ihr haben sich nur Bruchstücke erhalten.
§ lä. Die Historiographie des Josephus Flavius
In den Jahren, da die aus Jerusalem geflüchteten geistigen Füh-
rer des Volkes in Jabne an der Restauration des Judentums und an
der Sicherstellung seiner nationalen Zukunft nach der großen Kata-
strophe hingebungsvoll wirkten, lebte der ehemalige Befehlshaber Ga-
liläas, Joseph ben Mattathias, der selbst Augenzeuge der Katastrophe
gewesen war, ungestört in Rom, wo er unter dem Schutze derselben
Kaiser, die Judäa zerstört hatten, eine Geschichte des letzten jüdischen
Krieges schrieb und sich außerdem der Darstellung von Ereignissen
aus einer viel früheren Vergangenheit des jüdischen Volkes widmete.
Bekanntlich hatte er sich nach dem unglücklichen Ausgang des gali-
io5
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
läischen Krieges den Römern ergeben, worauf er auch seinem Namen
den Familiennamen des Vespasian, Flavius, beifügte.
Nach seinem kleinmütigen Verzicht auf die Verteidigung des Va-
terlandes1) blieb Josephus im Gefolge des Vespasian und Titus und
beobachtete aus dem römischen Lager den heldenmütigen Kampf der
Verteidiger Jerusalems. Es wäre falsch zu sagen, daß er nur als ein
gleichgültiger Zuschauer dem furchtbaren Drama beigewohnt habe:
nicht ohne tiefe Bewegung blickte er auf das verblutende Volk, auf
die zerstörte Hauptstadt, auf den in Flammen aufgehenden Tempel.
Doch gab er die Schuld an all diesem Unheil den mit Todesverach-
tung kämpfenden Zeloten, in denen er nach wie vor nicht Helden,
sondern nur „Räuber“ und das Vaterland zugrunde richtende wahn-
witzige Meuterer erblickte. Vom Standpunkte seines kühl abwägenden
Patriotismus schien es Josephus, daß das Volk nicht in solches Elend
gestürzt worden wäre, wenn es sich mit der römischen Herrschaft
abgefunden hätte. Er vermochte den inneren Drang der unterdrück-
ten Nation nicht zu begreifen, die sich gegen ihre Unterjocher um
der Freiheit und der Gerechtigkeit willen, sei es auch ohne Hoff-
nung auf Erfolg, erhoben hatte. Infolge seines politischen Opportunis-
mus nahm Josephus keinen Anstoß daran, nach Beendigung des Krie-
ges aus der zerstörten Heimat in die Hauptstadt der Sieger über-
zusiedeln und die Gunst der gekrönten Blutrichter für sich in An-
spruch zu nehmen. Während der gesamte Grundbesitz der Juden zu-
gunsten des kaiserlichen Schatzes eingezogen wurde, behielt Josephus
den seinen weiter: anstatt seines mit einer römischen Garnison be-
legten Grundstückes in der Nähe Jerusalems wurde ihm ein anderes
„in der Ebene“ zugeteilt. Späterhin schenkte ihm Vespasian auch
noch ein anderes Landgut in Judäa. Seinen gesamten Landbesitz
scheint der fern vom Vaterlande lebende Josephus in Pacht gegeben
zu haben. Zusammen mit dem Bezwinger Jerusalems, Titus, in Rom
angelangt, wurde Josephus vom Kaiser Vespasian in Gnaden auf-
genommen. Der Kaiser wies ihm als Wohnsitz sein eigenes Haus zu,
in dem er selbst vor seiner Thronbesteigung gewohnt hatte, verlieh
ihm die ungeschmälerten Rechte eines „römischen Bürgers“ und
setzte ihm ein jährliches Gehalt aus. Nach dem Tode Vespasians ge-
noß Josephus in gleicher Weise die Gunst seiner Nachfolger, des
!) S. Band II, § 83-84-
106
§ 1U. Die Historiographie des Josephus Flavius
Titus und sogar des grausamen Domitian. Er überlebte den letzteren
um einige Jahre und starb anscheinend zu Beginn des II. Jahr-
hunderts d. ehr. Ära, ungefähr dreißig Jahre nach dem Falle Je-
rusalems.
Im Laufe dieser dreißig Jahre oblag Josephus ganz literarischer
Tätigkeit. Mit einer hervorragenden Begabung für künstlerische Ge-
schichtsschreibung ausgestattet und die Methoden der griechischen
und römischen Historiographen beherrschend, trat er an die Darstel-
lung der jahrhundertealten Vergangenheit des jüdischen Volkes heran.
Er begann mit der ihm am nächsten liegenden Epoche der römischen
Herrschaft. Auf Grund seiner persönlichen Beobachtungen und No-
tizen sowie anderer Quellen schrieb er ein umfassendes Werk „Über
den jüdischen Krieg“ (Peri tou joudaikou polemou, De bello ju-
daico). Der Text wurde von dem Autor ursprünglich in seiner Mut-
tersprache, d. i. hebräisch oder aramäisch, abgefaßt (dieser ursprüng-
liche Text ging später verloren) und dann, da Josephus vornehmlich
nichtjüdische Leser gewinnen wollte, von ihm mit Hilfe griechischer
Mitarbeiter ins Griechische übersetzt (um 76—79)1). Vor der Ver-
öffentlichung seines Werkes legte es Josephus Vespasian, Titus,
Agrippa II. und anderen Teilnehmern des jüdischen Krieges vor, die
die Wahrheitstreue seiner Schilderung bestätigten. Das Werk ist in
sieben Bücher eingeteilt, in deren erstem die Hasmonäerepoche und
die Herodes’ I., im zweiten die römische Herrschaft bis zur Erhebung
der Juden unter Florus in Kürze behandelt sind, während in den
übrigen Büchern die Geschichte des siebenjährigen Unabhängigkeits-
kampfes Judäas in aller Ausführlichkeit dargestellt ist. Josephus
brachte trotz allem Vorgefallenen den Mut auf, im Vorwort zu sei-
nem Werke zu erklären, daß ihm vor allem an einer wahrheitsge-
treuen und unparteiischen Schilderung des Krieges gelegen sei, da-
mit die falschen Berichte jener heidnischen Schriftsteller ihre Wider-
legung fänden, die um des „Ruhmes der Römer willen die Helden-
taten der Juden in den Schatten stellen wollen“. Doch der römischen
Zensur eingedenk, beeilte er sich gleich darauf hinzuzufügen, daß
gerade bei voller Anerkennung der heroischen Taten der Verteidiger
1) S. Vorrede zum „Jüdischen Kriege“ sowie „Gegen Apion“ I, 9. Am
Schluß der „Jüdischen Altertümer“ (XX, 11) erzählt Josephus, er hätte die grie-
chische Sprache und ihre Grammatik eifrig studiert, doch hätten ihn seine „hei-
matlichen Angewohnheiten“ daran gehindert, fließend griechisch zu sprechen.
IO7
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jabne
Judäas der Ruhm des von den Römern errungenen Sieges erst in
seinem wahren Glanze hervortreten könne. Dieses doppelte Bestreben,
sowohl der nationalen Ehre der Juden als auch dem Selbstgefühl der
Römer Genüge zu tun, verleiht der ganzen Darstellung des Josephus
ihr eigenartiges Gepräge. Daraus erklärt sich auch der durch die
ganze Darstellung gehende innere Widerspruch: einerseits erblickt
der Verfasser in dem Freiheitskriege des Volkes als eines Ganzen das
Wahrzeichen eines erhabenen Heroismus, andererseits will er dem
Heldenmut gerade derjenigen keine Anerkennung zollen, die an der
Spitze des ringenden Volkes standen, jenen zelotischen Führern,
die er als „Wahnsinnige“ und „Räuber“ brandmarkt. Sieht man je-
doch von dieser offenbar tendenziösen Auslegung der Ereignisse sowie
von den der „Friedfertigkeit“ und „Milde“ der Bezwinger Judäas,
Vespasian und Titus, gespendeten Lobpreisungen ab, so ersteht ein
dermaßen lebensvolles Bild des jüdischen nationalen Krieges vor uns,
daß auch die kunstvollsten Schilderungen eines Freiheitskrieges ihm
wohl kaum an die Seite gestellt werden können. Die hervorragende
Darstellungskunst des Josephus macht ihn zu einem würdigen Nach-
folger der biblischen und apokryphischen Geschichtsschreiber; der
Unterschied besteht nur darin, daß bei den älteren Historikern sowohl
der Inhalt wie auch die Form ausgesprochen national sind, während
bei Josephus der Inhalt von romfreundlichen politischen Erwägungen
und die Form von der Darstellungsweise der griechischen Geschichts-
schreiber in hohem Maße beeinflußt ist.
Nach Beendigung seiner Geschichte des jüdischen Krieges unter-
nahm Josephus ein noch viel umfangreicheres Werk, eine Darlegung
der Geschichte des jüdischen Volkes von der Urzeit bis zum letzten
Kriege. Diese in griechischer Sprache in zwanzig Büchern abgefaßte
Geschichte wurde im dreizehnten Jahre der Regierung Domitians
(93—94) zu Ende geführt und erhielt den Titel: „Jüdische Alter-
tümer“ (Joudaike archaiologia, Antiquitates judaicae). Die ersten
zehn Bücher enthalten eine Nacherzählung der biblischen Geschichte
bis zum babylonischen Exil, die durch Einschaltung von Legenden,
von didaktischen Erläuterungen sowie von langen, nach dem Vor-
bild der rhetorischen Historiographie den Helden in den Mund ge-
legten Reden ergänzt ist. Bei der Abfassung der weiteren zehn Bü-
cher benutzte der Autor außer den letzten biblischen Chroniken und
108
§ 1U. Die Historiographie des Josephus Flavius
den Apokryphen auch noch viele andere, heute zum größten Teil ver-
schollene Werke jüdischer und griechischer Chronographen. Jene
Teile der „Altertümer“, in denen die Geschichte des jüdischen Vol-
kes von der Begründung der hasmonäischen Republik bis zum gro-
ßen jüdisch-römischen Kriege dargelegt wird, sind schon aus dem
Grunde von unschätzbarem Wert, weil ohne sie diese zweihundert-
jährige Periode (i4o v. d. ehr. Ära bis 66 d. ehr. Ära), über die
in der talmudischen Literatur nur verworrene Legenden zu finden
sind, für die Nachkommen in fast völliges Dunkel gehüllt geblieben
wäre. Es ist freilich zu bedauern, daß das Werk des Josephus die
einzige geschichtliche Quelle für die betreffende Periode darstellt,
so daß seine Berichte auf Grund anderer Quellen nicht nachgeprüft
werden können; doch wäre ohne dieses Werk, wie gesagt, eine der
bewegtesten Perioden der jüdischen Geschichte ebenso undurchsichtig
geblieben wie die Epochen der persischen und der griechischen Herr-
schaft.
Während Josephus an seinem großen historischen Werke arbeitete
und an heiklen Stellen vorsichtig zwischen römischem Staatspatrio-
tismus und jüdischem nationalen Gefühl lavierte, erschien ein Buch,
das alle Früchte seiner Bemühungen zu vernichten drohte. Justus
von Tiherias, ein gebildeter Jude, der sich an dem galiläischen Auf-
stand beteiligt hatte und späterhin von dem Besitzer der Stadt Ti-
berias, Agrippa II., begnadigt worden war, veröffentlichte nämlich
eines Tages seine Erinnerungen an den jüdischen Krieg. Josephus
wurde darin als der Hauptorganisator der revolutionären Verteidi-
gung des galiläischen Landes und als ein Feind der Römer hinge-
stellt. Diese Wiederauffrischung von Vergangenem versetzte Josephus
in große Verwirrung. Angesichts des grausamen Regimes des Do-
mitian, unter dem hervorragende Staatsmänner auf den leisesten
Verdacht oder eine falsche Denunziation hin kurzerhand hingerichtet
oder verbannt wurden, konnte der jüdische Historiograph infolge
dieser Enthüllungen des Justus das Allerschlimmste für sich erwar-
ten. Da trat er nun rasch entschlossen mit seiner „Lebensbeschrei-
bung“ (Josepou bios, Vita) auf den Plan, einem kurzgefaßten Werke,
in dem er nur sehr wenig von seinem privaten Leben erzählt, aber
aufs eingehendste über seine Beteiligung an den Vorbereitungen zur
Verteidigung Galiläas berichtet. Um sich vor den Römern reinzu-
waschen, behauptet der kleinmütige Historiker in diesem Buche, daß
109
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
er schon als Befehlshaber der galiläischen Yolkswehr in seinem In-
neren auf seiten der Römer gestanden habe, gegen die ihn nur die
Umstände zu kämpfen zwangen. Allein, sich in dieser Weise bei den
Römern einzuschmeicheln, hieß zugleich, sich zu einem Verräter am
eigenen Volke stempeln, und dies konnte Josephus gleichfalls nicht
Zusagen. So verwickelt er sich denn in Widersprüche und gibt eine
dunkle, verworrene Schilderung der Ereignisse, die den Autor in
einem äußerst ungünstigen Lichte erscheinen läßt.
Seine Schuld dem Judentum gegenüber beglich Josephus in einem
kurzen Werke, das unter dem Namen „Gegen Apion“ oder „Über
das hohe Alter des jüdischen Volkes“ (Peri archaiotetos joudaion,
Contra Apionem) zu uns gelangt ist. Es ist dies eine begeisterte Apo-
logie des Judaismus und der jüdischen Nation, die gegen die fal-
schen Anschuldigungen aller Judenhasser des Altertums gerichtet ist,
von dem ägyptischen Priester Manetho bis zum alexandrinischen
Hetzer Apion, der unter dem Kaiser Caligula der Ehre teilhaftig
wurde, den großen Philosophen Philo zu seinem Widersacher zu
haben (Band II, § 72). In diesem Werke bewies Josephus von neuem
seine große Anhänglichkeit an die religiös-sittlichen Ideale des Ju-
dentums, eine Anhänglichkeit, die durch seine Verehrung für die
wertvollsten Elemente der griechisch-römischen Kultur in keiner
Weise beeinträchtigt wurde. Obwohl ohne jeglichen kampfesfrohen
politischen Patriotismus, war Josephus immerhin von einem geisti-
gen Patriotismus sowie von der Überzeugung durchdrungen, daß die
jüdische Weltanschauung und Lebensführung hoch über der Welt-
anschauung und den Lebensgewohnheiten des aufgeklärten Heiden-
tums stehen. Viele der politischen und moralischen Fehler des Jo-
sephus müssen ihm um dieser heißen Liebe zum Judaismus willen
sowie darum vergeben werden, daß in seinen geschichtlichen Werken
solche Perioden unserer Vergangenheit festgehalten sind, die ohne
ihn unweigerlich der Vergessenheit preisgegeben wären. Die Vertre-
ter des nationalen Judentums haben Josephus viele Jahrhunderte hin-
durch in Acht und Bann getan; seine Bücher sind (abgesehen von
der jüdischen mittelalterlichen Umarbeitung seiner geschichtlichen
Bücher, die unter dem Namen „Josippon“ bekannt ist) nur dank der
Fürsorge der christlichen Schriftsteller in ihrem vollen Urtext erhal-
lengeblieben. In späterer Zeit fand jedoch das L^benswerk des Jo-
sephus auch bei den Vertretern des Judentums Anerkennung: sie er-
110
§ 15. Der Judenhaß in der römischen Literatur
kannten neben den Mängeln des Staatsmannes die großen Verdienste
des Historiographen an und brachten seinen Ruf im Pantheon der
jüdischen Literatur wieder zu Ehren.
§15. Der Judenhaß in der römischen Literatur
Bei seiner Verteidigung des Judaismus gegen den Alexandriner
Apion hatte Josephus Flavius zugleich auch jene judenfeindlichen
Schriftsteller im Auge, in deren unmittelbarer Nachbarschaft er in
Rom lebte. Dieser in der römischen Gesellschaft verbreitete Judenhaß,
in dem neben dem Haß oder der Verachtung dem jüdischen Volke
gegenüber auch noch die Furcht vor dem geistigen Einfluß des Ju-
daismus zutage trat, war es gerade, der Josephus dazu bewog, sein
polemisches Werk niederzuschreiben. Die feindseligen Gefühle, die
die römischen Schriftsteller der vorhergehenden Epoche von der Art
eines Horaz oder Seneca1) für die Juden gehegt hatten, verstärkten
sich noch erheblich nach dem großen jüdischen Kriege, der von den
römischen Siegern so schwere Opfer forderte.
„Es erregte den Zorn (der Römer), —sagt der berühmte römische
Geschichtsschreiber Tacitus, der Zeitgenosse des jüdischen Geschichts-
schreibers Josephus — daß die Judäer allein nicht zur Ruhe kom-
men wollten“ (augebat iras quod soli Judaei non cessissent). Dieser
patriotische Zorn scheint dem Tacitus jene haßerfüllten Zeilen dik-
tiert zu haben, die ein wahres Schandmal für seine großangelegte
„Geschichte“ sind. In dem ausführlichen Kapitel, das der römische
Geschichtsschreiber Judäa widmete (Histor. V, i—13), beschäftigt
er sich mehr mit der Charakterisierung des jüdischen Volkes und
seiner Religion als mit der Schilderung des jüdischen Krieges. In
dieser Charakteristik sind Wahrheit und Dichtung unentwirrbar mit-
einander verflochten. Nach Tacitus sollen die Juden von der Insel
Kreta gekommen sein und ihren Namen von dem Gebirge Ida auf
dieser Insel erhalten haben; ihre Vorfahren seien von dort nach
Libyen in jenen uralten Zeiten geflüchtet, als „Saturn von Jupiter
entthront wurde“. Der römische Schriftsteller kann sich offenbar
in den einander widersprechenden heidnischen Sagen von der Ab-
stammung des jüdischen Volkes von Äthiopiern, Assyrern, den ho-
i) S. Band II, s 95.
in
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
merischen „Solymern“ u. dgl. nicht zurechtfinden; er kennt die Fa-
seleien des ägyptischen Priesters Manetho über den Auszug eines
„Stammes von Aussätzigen“ aus Ägypten, eines Stammes, dem Moses
„neue, von den Sitten der übrigen Sterblichen abweichende (reli-
giöse) Bräuche beigebracht“ hätte; auch das Gerede der griechischen
Judenhasser der späteren Zeit bis zu Apion über das Tierbild (einen
Esel), das angeblich im jüdischen Tempel auf gestellt gewesen sei,
ließ er nicht unbeachtet. Und trotzalledem kann er nicht umhin, die
jüdische Religion folgendermaßen zu charakterisieren: „Die Judäer
stellen sich nur eine einzige Gottheit, und auch die nur im Geiste
vor (mente sola unumque numen intelligunt); sie erachten diejenigen
als gottlos, die aus vergänglichem Stoffe Gottesbilder in Menschen-
gestalt herzustellen pflegen. Für sie ist Gott das höchste, ewige, un-
nachahmliche und unvergängliche Wesen. Darum sind bei ihnen
Standbilder jeder Art in ihren Städten, geschweige denn in ihren
Tempeln, durchaus verpönt“. Was Tacitus besonders mit Entrüstung
erfüllt, ist die nationale Abgeschlossenheit der Juden: „Zueinander
haben sie festes Vertrauen und Mitgefühl, während sie allen übrigen
Menschen gegenüber nur Feindseligkeit und Haß empfinden; sie
pflegen mit diesen (den Fremden) weder in Tisch- noch in Bett-
gemeinschaft zu leben“. Er kann die Politik des Antiochus Epiphanes
nicht genug rühmen, der „den Judäern ihren Aberglauben zu nehmen
und ihnen griechische Sitten beizubringen bestrebt war, um das
schlechte Volk besser zu machen“. In dieser Würdigung des Ge-
schichtsschreibers mochte wohl der Kaiser Hadrian, ein zweiter
Antiochus, eine Aufmunterung zu seinen eigenen Gewalttaten erblickt
haben. Doch erlebte bekanntlich Tacitus die neue Erhebung des Bar
Kochba und die darauffolgenden Unterdrückungsmaßnahmen nicht
mehr. Ein Zeitgenosse des Domitian und Trajan, fand er zwar ge-
nügend scharfe Worte zur Brandmarkung des verabscheuungswür-
digen Regimes des Domitian in Rom selbst, hielt jedoch die Gewalt-
herrschaft in den eroberten Provinzen als der Gerechtigkeit durch-
aus entsprechend.
Die Angst vor den Rom überflutenden Fremden, vor den Grie-
chen, Juden und Ägyptern, veranlaßte auch einen anderen römischen
Schriftsteller, den Satiriker Juvenal, der ein Zeitgenosse des Trajan
und Hadrian war, zu nicht wenig mit Bitterkeit erfüllten Strophen.
In einer seiner Satiren (XIV, 96—106) gibt er seiner Besorgnis über
112
§ 15. Der Judenhaß in der römischen Literatur
den von vielen Römern bekundeten Hang zu jüdischen Bräuchen
Ausdruck:
Ist es den Kindern beschieden, einen Vater zu haben, der Sabbate feiert,
Werden sie nichts verehren denn Wolken und himmlische Gottheit,
Werden meiden des Schweines Genuß, weil auch der Vater es mied,
Als hieße es Menschenfleisch essen — werden bald auch beschneiden sich lassen.
Römische Gesetze gewöhnt zu verachten,
Lernen sie nun und halten und achten der Juden Gesetz,
Alles, was Moses hat einst überliefert in einem Buche, der Geheimnisse voll:
Nur dem Glaubensgenossen allein die richtigen Wege zu weisen,
Und zum labenden Quell nur Beschnittene hilfreich zu führen.
Das gleiche Motiv also wie bei Tacitus: die absonderlichen Glau-
bensformen und die unverständliche Strenge der jüdischen Sitten sind
besonders auffällig, und als Folge davon entsteht die Vorstellung von
der Abgeschlossenheit des Judentums gegen die ganze Welt und von
seiner Feindseligkeit ihr gegenüber. Juvenal galt sogar der ehemalige
judäische König Agrippa II., der sich stets vor den Römern verbeugte
und in den höchsten römischen Gesellschaftskreisen verkehrte, nur als
ein „Barbar“ (Sat VI, i56f.). Die Angst vor den sich verbreitenden,
die römische Staatsreligion unterwühlenden orientalischen Kulten
ließ auch die Gefährlichkeit des jüdischen Proselytismus offenbar
übertrieben groß erscheinen, wenn auch die aus der allgemeinen Vor-
ahnung, daß die Zersetzung des Heidentums nicht mehr aufzuhalten
sei, entspringende Besorgnis gewiß ihre guten Gründe hatte. Und
doch hätte eine größere Vertrautheit solcher Schriftsteller wie Ta-
citus und Juvenal mit der Geschichte des jüdischen Volkes, und sei
es auch nur auf Grund der Septuaginta oder der Werke des Josephus,
sie leicht vor den gröbsten ihrer Fehler sowie vor ihren unbegründe-
ten Befürchtungen bewahren können. Die römischen Welteroberer
verspürten indessen in ihrem politischen Hochgefühl keine Lust, die
Lebensweise der von ihnen unterjochten Völker kennenzulernen. Um
so vertrauter mit dem Leben der Juden war die griechische Gesell-
schaft, die in der weiten jüdisch-hellenischen Diaspora überall mit
ihnen in Berührung kam. So konnte der aus Griechenland gebürtige
Geschichtsschreiber Plutarch, ein Zeitgenosse des Tacitus, mit ziem-
licher Genauigkeit von den jüdischen herbstlichen Feiertagen be-
richten, und seine Vermutung, daß in den mit diesen Festen zusam-
menhängenden Bräuchen der Dionysos- oder Baochuskult zum Aus-
druck komme (so in den in die didaktischen Schriften des Geschichts-
8 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
113
Das geistige Leben unter dem Synhedrion von Jahne
Schreibers aufgenommenen „Problemen“),, ist nicht ohne weiteres von
der Hand zu weisen1). Auch mit den sonstigen Bräuchen zeigt er
sich mehr oder weniger vertraut.
Zwischen „Edom“ und Israel, zwischen Rom und dem Judentum,
klaffte ein Abgrund. Wohl vermochte im Altertum die Mischform
einer jüdisch-hellenistischen Kultur zur Wirklichkeit zu werden, doch
zu einem kulturellen Synkretismus jüdisch-römischer Prägung konnte
es niemals kommen.
i) S. Band I, S. 221.
n4
Viertes Kapitel
Das Patriarchat in Galiläa und der
Abschluss der Mischna
( I 38 — 2 t o)
§16. Die politische Lage unter den Antoninen
Die Erhebung des Bar Kochba, der langwierige Krieg und die
hadrianischen Unterdrückungsmaßnahmen, die darauf gefolgt wa-
ren, hatten auch jenen Teil Judäas völlig ruiniert, der nach der
Verheerung unter Vespasian und Titus noch unversehrt geblieben
war. Der noch am Leben gebliebene Rest der Bevölkerung geriet in
äußerste Not; viele retteten sich vor der Religionsnot durch Flucht
in andere Länder, vor allem nach Babylonien. Unter den Auswande-
rern waren auch Gesetzeslehrer, die dem Los des Rabbi Akiba und
der anderen Märtyrer entgehen wollten. Der Süden Palästinas, in
dem sich die Kriegsereignisse hauptsächlich abgespielt hatten, bot
das traurige Bild der Verödung1). Neben Jerusalem, das in die heid-
nische Stadt Aelia Capitolina verwandelt und den Juden unzugäng-
lich gemacht worden war, blieben dort nur noch halbzerstörte und
fast menschenleere Städte übrig; von diesem Los scheint auch Jabne,
das ehemalige Zentrum der jüdischen Selbstverwaltung, betroffen
worden zu sein. Von dieser Zeit an verschwindet in den römischen
amtlichen Urkunden sogar der bis dahin für den Süden Palästinas
gebräuchliche Name Judaea und wird durch die für die gesamte
Provinz geltende Bezeichnung Syrid Palaestina ersetzt. Ein bedeuten-
der Teil der Bevölkerung Südjudäas zieht nach dem Norden, in das
f) Der christliche Apologet Justin der Märtyrer schrieb um die Hälfte des
II. Jahrhunderts: „Die es wollen, können auch heute noch das gänzlich verheerte,
mit Schutt bedeckte und brachliegende Land (Judäa) in Augenschein nehmen“
(Apologie I, 53).
115
8*
Das Patriarchat in Galiläa
mehr verschont gebliebene Galiläa. Hier eben sollte das durch die
jüngste Katastrophe zerrüttete jüdische Gemeinwesen erneut auf ge-
richtet werden.
Bald nach dem Tode Hadrians, mit der Thronbesteigung des An-
toninus Pius (i38—161), setzte eine Reaktion gegen die Verfolgungs-
maßnahmen seines Vorgängers ein. Die unmenschlichen, gegen die
jüdische Religion gerichteten Edikte des Hadrian wurden aufgeho-
ben. Unter anderem sollte der Beschneidungsbrauch nicht mehr un-
ter jenes allgemeine römische Gesetz fallen, das die Entmannung
als eine Körperverletzung ahndete: den Juden wurde vielmehr aus-
drücklich gestattet, diesen religiösen Brauch zu beobachten, nur durf-
ten sie ihn an Andersgläubigen nicht vornehmen, was allerdings neu-
bekehrten Männern den Übertritt zum Judentum unmöglich machte.
In Kraft blieb nach wie vor auch das Verbot, das den Juden bei
Todesstrafe das Betreten Jerusalems untersagte1).
Die Aufhebung der schwersten Unterdrückungsmaßnahmen des
Hadrian erfolgte unter seinem Nachfolger anscheinend nicht ohne
Bemühungen seitens der Juden selbst. Eine dunkle talmudische Sage
will folgendes darüber wissen. Die Vertreter des durch die Verfol-
gungen gepeinigten Volkes, der Gesetzeslehrer Jehuda ben Schamua
nebst seinen Freunden, sollen nämlich die Hilfe einer den höch-
sten Würdenträgern des Reiches nahestehenden römischen Matrone
in Anspruch genommen haben. Diese vermochte ihnen indessen nur
den Rat zu erteilen, die Machthaber um Erbarmen anzuflehen. Je-
huda und seine Freunde zogen darauf eines Nachts an den Häusern
der römischen Würdenträger vorbei (ob in Caesarea oder in Rom,
bleibt unklar) und riefen laut: „Oh, Himmel, sind wir nicht eure
Brüder, nicht Kinder desselben Vaters und derselben Mutter? Sind
wir denn schlechter als alle anderen Völker, daß ihr uns so erbar-
mungslos verfolgt?“ Das Flehen der Gehetzten wurde denn auch
erhört: die Verfolgungsedikte des Hadrian wurden aufgehoben und
die Juden durften wieder Sabbat halten, die Beschneidung vorneh-
men und dem Thorastudium obliegen. Die frohe Kunde davon er-
reichte Palästina am 28. Adar (März), und so wurde dieser Tag als
ein Gedenktag in den Kalender aufgenommen.
Die Nachricht von der Außerkraftsetzung der hadrianischen De-
D Bezeugt von einem Zeitgenossen, von dem erwähnten Justin in seiner Apo-
logie I, 47* Vgl. desselben „Gespräch mit Trypho“, 16.
Il6
§ 16. Die politische Lage unter den Antoninen
krete gelangte aber auch zu den jüdischen Flüchtlingen, die sich in
Babylonien und in anderen Ländern verborgen hielten. Viele von
ihnen traten bald die Heimreise an. Indessen ließ mit der Beseitigung
der Verfolgungsmaßnahmen jener administrative Druck, der stets auf
den Rom Untertanen Juden gelastet hatte und nach dem Aufstande des
Bar Kochba besonders unerträglich geworden war, noch immer nicht
nach. Der Hauptrepräsentant dieses Zeitalters, der Patriarch Simon
ben Gamaliel II., kennzeichnet mit folgenden Worten die damalige
Lage der Dinge: „Unsere Vorfahren haben das Joch der fremdländi-
schen Gebieter nur von ferne gespürt und ließen doch den Mut
sinken; wie sollten wir also nicht kleinmütig werden, die wir be-
reits dem fremden Staate einverleibt sind? . . . Wollten wir unsere
Leiden in ein Gedenkbuch eintragen, so kämen wir nie zu Ende da-
mit“1). So mag denn die in den römischen Annalen erhaltenge-
bliebene unklare Nachricht, wonach gegen Ende der Regierung des
Antoninus Pius unter den Judäern ein Aufstand ausgebrochen sei, der
von dem kaiserlichen Statthalter rasch niedergeschlagen wurde, auf
Wahrheit beruhen. Die talmudischen Quellen wollen wissen, daß die
römische Regierung um diese Zeit den Versuch gemacht habe, die
innere Selbstverwaltung der Juden zu schmälern, indem sie ihre Ge-
richtshoheit in Zivilsachen aufhob. Eine andere Sage gibt Grund zu
der Vermutung, daß unter einem der ersten Antoninen, sei es unter
Antoninus Pius oder unter seinem Nachfolger, manche der gegen den
Judaismus gerichteten Edikte des Hadrian von neuem in Kraft ge-
setzt wurden. Dies soll den berühmten Gesetzeslehrer jener Zeit, Si-
mon ben Jochai, veranlaßt haben, nach Rom zu gehen, um die Auf-
hebung der neuen Dekrete zu betreiben, was ihm auch geglückt sein
soll 2).
Alle diese fragmentarischen und unklaren Nachrichten scheinen
nur ein schwacher Widerhall der damals in Vorderasien sich abspie-
lenden politischen Wirren zu sein, an denen auch die Juden nicht
unbeteiligt geblieben sein mochten. Es scheint nicht ausgeschlossen
zu sein, daß der langwierige Krieg der Römer mit den Parthern, zu
dem noch gegen Ende der Regierung des Antoninus Pius gerüstet 1 2
1) Die zwei an verschiedenen Stellen (Midrasch Echa rabbathi V, io und
Talm. Sabbat, i3) angeführten Aussprüche des R. Simon scheinen sich beide auf
diese Zeit zu beziehen.
2) Talm. Meila, 17.
“7
Das Patriarchat in Galiläa
wurde und der dann unter Marc Aurel (161—180) auch tatsächlich
ausbrach, in den Herzen der palästinensischen Juden die Hoffnung
auf Befreiung von dem römischen Joche von neuem erstehen ließ.
Das unterdrückte Volk gab sich dem Wahne hin, daß mit der Hin-
ausdrängung der Römer aus Asien durch die Parther auch seine
eigene Lage sich bessern würde. Diese Hoffnung kommt in dem
Ausspruch des Simon ben Jochai deutlich zum Ausdruck: „Wenn du
ein persisches (parthisches) Roß siehst, das an ein Grabdenkmal im
Lande Israel angebunden ist, so erwarte das Erscheinen des Mes-
sias“. Noch bestimmter äußerte sich ein anderer Gelehrter dieser
Zeit, Juda ben Ilai: „Den Zerstörern (Jerusalems) ist es beschieden,
durch die Hand der Perser (Parther) zu fallen“1). Diese für die
Parther gehegten Sympathien blieben allem Anscheine nach der rö-
mischen Regierung nicht verborgen. Der Mitregent Marc Aurels, Lu-
cius Verus, der Befehlshaber im Feldzuge gegen die Parther war,
sah sich daher veranlaßt, zur Bändigung der widerspenstigen Juden
Repressivmaßnahmen zu ergreifen, um ihnen so die alles zermalmende
Kraft Roms wieder in Erinnerung zu rufen. Nach der erfolgreichen
Beendigung des Krieges und namentlich nach dem Tode des Verus
(169) wurden allerdings diese außerordentlichen Maßnahmen wieder
außer Kraft gesetzt. Der Kaiser Marc Aurel, dieser Philosoph auf dem
Throne, war kein Freund der Unterdrückungspolitik und mag daher
auf die Vorstellungen der jüdischen Vertreter hinsichtlich der ihrem
Volke ehedem gewährten inneren Autonomie hin Entgegenkommen
gezeigt haben.
Über das allgemeine Verhalten des kaiserlichen Philosophen den
Juden gegenüber sind uns übrigens widersprechende Nachrichten
überliefert. Einerseits stellt die talmudische Legende den zweiten
Antonin als einen Busenfreund des damaligen jüdischen Patriarchen
Jehuda ha’Nassi hin (unter dem talmudischen Antoninus ist wohl
Marc Aurel, dessen Regierung in die ersten Jahre des Patriarchats des
Jehuda ha’Nassi fällt, zu verstehen); andererseits weiß die römische
Chronik (des Ammianus Marcellinus) zu berichten, daß Marc Aurel
durchaus keine freundschaftlichen Gefühle für die Juden hegte.
So soll er einst auf einer Reise durch Palästina (im Jahre 176) über
das unsaubere Aussehen der Landbewohner, die ihm in lärmenden
Haufen entgegenkamen, verärgert ausgerufen haben: „Endlich sehe
*) Midrasch Schir ha’schirim rabba, VIII, 11; Talm. Joma, 10.
§ 17. Das Synhedrion und der Patriarch Simon
ich ein Volk, das noch schlimmer ist als die Markomannen, Quaden
und Sarmaten!“
Die traurigen Verhältnisse, die im römischen Reiche nach dem
Ableben Marc Aurels einrissen, verhießen auch den Juden nichts Gu-
tes. Der liederliche kaiserliche Gladiator Commodus (180—192), der
Sohn des philosophischen Kaisers, war ein würdiger Repräsentant
des sittlich verfallenen Roms. Das darauffolgende Interregnum, wäh-
renddessen verschiedene gierige Provinzialstatthalter, Feldherren und
sonstige politische Abenteurer nach der Kaiserkrone ihre Hände aus-
streckten, war ein untrügliches Zeichen dafür, wie weit in dem mäch-
tigen Reiche der Zersetzungsprozeß bereits fortgeschritten war. So
soll einer der Kronprätendenten aus der Provinz, der syrische Statt-
halter Pescennius Niger, den Einwohnern Palästinas, die ihn um Er-
leichterung des Steuerdruckes angingen, folgendermaßen geantwortet
haben: „Ihr wünscht, daß ich in eurer Gegend die Steuern herabsetze,
ich aber möchte sogar die Luft, die ihr einatmet, mit einer Steuer
belegen!“ Unter so beutegierigen Satrapen war freilich die Ruhe in
den Provinzen nicht aufrechtzuerhalten. Als dann Niger im Kampfe
mit dem Afrikaner Septimius Severus, der schließlich die Kaiserkrone
errang (ig3—211), zugrunde ging, wurden die palästinensischen
Städte, die zu Niger hielten, exemplarisch bestraft. Sowohl Samarita-
ner als Juden hatten sich der Sympathien für den niedergerungenen
Niger schuldig gemacht. Den Einwohnern von Neapolis-Sichem wur-
den die Bürgerrechte entzogen. Anläßlich der Züchtigung der Judäer
beschloß der römische Senat, dem Kaiser zu Ehren einen „judäischen
Triumph“ zu veranstalten. Während seines Aufenthalts in den öst-
lichen Provinzen (im Jahre 202) erneuerte Severus das Verbot des
Antoninus Pius, demzufolge es auf Grund des Gesetzes gegen die
Entmannung untersagt war, Andersgläubige zum Judentum zu be-
kehren. Andererseits gestattete er aber „denen, die dem jüdischen
Aberglauben folgen“, Ehrenämter in der allgemeinen städtischen Ver-
waltung zu bekleiden (Decurionat), unter der Voraussetzung, daß sie,
sofern dies ihre religiösen Gefühle nicht verletze, alle den Muni-
zipalbeamten auferlegten Pflichten erfüllten.
§17. Das Synhedrion in Galiläa und der Patriarch Simon
Das politisch an Rom gekettete jüdische Volk mußte alle seine
Kräfte aufbieten, um sich gegen die Gefahr der allgemeinen De-
119
Das Patriarchat in Galiläa
moralisation, die an dem Organismus des Reiches zehrte, zu sichern.
Kaum hatten die Verfolgungen des Hadrian ihr Ende erreicht, als
schon der erste Gedanke der Volksführer der Wiederherstellung der
Selbstverwaltung und einer in sich geschlossenen nationalen Verfas-
sung galt. Wie bereits erwähnt, begannen die nach Babylonien und
anderen Ländern ausgewanderten Gesetzeslehrer nach und nach in
ihre Heimat zurückzukehren. Unter ihnen befand sich auch eine
Schar von Schülern des Akiba, von denen drei bald in der Öffent-
lichkeit rühmlichst bekannt wurden: Meir, Simon ben Jochai und
Jehuda ben Ilai. Man stand vor der Aufgabe, einen Ort ausfindig
zu machen, an dem das Kollegium der Gesetzeslehrer zur Beratung
über gesamtnationale Lebensfragen zusammentreten könnte, doch ließ
sich in ganz Judäa kein passender Ort finden. Der ehemalige Sitz
des Patriarchen und des Synhedrion, Jabne, eignete sich nicht zu
diesem Zwecke, weil es während des Aufstandes des Bar Kochba, als in
der Nähe von Betar gelegen, stark in Mitleidenschaft gezogen worden
war. So versammelten sich denn die Gesetzeslehrer in der galiläischen
Stadt Uscha. Hierher wurden die Gesetzeslehrer und die Gemeinde-
ältesten aus dem ganzen Lande zur Beschlußfassung über die Wege
und Mittel zur Wiederherstellung der durch die Kriegsjahre zerrütte-
ten religiösen und nationalen Verfassung berufen. Die Einwohner
von Uscha nahmen die Mitglieder der Versammlung in freundlichster
Weise auf und sorgten während der ganzen Tagungszeit für ihren
Unterhalt. Das Ergebnis der Beratungen war die Bildung eines neuen
Synhedrion oder „Beth-din“ aus der Mitte der Gesetzeslehrer, sowie
die Wiederherstellung des Patriarchats in dem Geschlechte des Hillel
(um i4o). Zum Patriarchen oder „Nassi“ wurde Simon erwählt,
der Sohn des ehemaligen Patriarchen Gamaliel II. aus Jabne, der
in der Reihenfolge der Hilleidynastie unter dem Namen Simon ben
Gamaliel II. bekannt ist (zum Unterschiede von Simon ben Ga-
maliel I., der sich im nationalen Kriege von 66—70 hervorgetan
hatte).
Simon hatte seinen Vater in sehr jungen Jahren verloren, und als
er ein reiferes Alter erreicht hatte, hinderten ihn die eingetretenen
Wirren, das väterliche Amt zu übernehmen. Nach dem Aufstande des
Bar Kochba gelang es ihm, der Wachsamkeit der hadrianischen
Spitzel zu entgehen. Einige Jahre lang hielt sich Simon außerhalb
Judäas, wahrscheinlich in Babylonien, verborgen und kehrte, als die
120
§17. Das Synhedrion und der Patriarch Simon
Gefahr vorüber war, wieder in die Heimat zurück. Die um-
fassende geistliche und weltliche Bildung, die Simon noch in seiner
Jugend zuteil geworden war (er studierte nicht nur die jüdische Ge-
setzeskunde, sondern auch die „griechische Weisheit“), hätte ihn zur
Bekleidung der „Nassi“- oder Patriarchenwürde auch unabhängig
von seinen erblichen Bechten auf dieses Amt befähigt. So vollzog
denn das Gelehrtenkollegium in Uscha, das sich nunmehr in ein Syn-
hedrion verwandelte, durch die Berufung Simons an die Spitze der
restaurierten Selbstverwaltung nur einen Akt politischer Klugheit. Als
nächste Mitarbeiter wurden dem neuen Patriarchen zwei hervor-
ragende Gesetzeslehrer beigegeben: der erwähnte Rabbi Meir und
Nathan der Babylonier, der erstere mit dem Titel eines Chacham
(d. h. gelehrter Referent), der zweite mit dem eines Ab-beth-din (Ge-
richtsvorsteher).
Die Yerwaltungstätigkeit des Simon ben Gamaliel war mit der
Wirksamkeit des gelehrten Gesetzgebungskollegiums auf das engste
verbunden. Gleich seinem Vater suchte auch Simon den übermäßi-
gen scholastischen Eifer der Gesetzeslehrer durch das Prinzip der
praktischen Zweckmäßigkeit zu dämpfen. Die dem Volksleben ent-
stammenden Normen des Gewohnheitsrechts galten ihm mehr als
schulmäßige Beweisführungen. In der Gesetzgebung vertrat er die
folgenden menschenfreundlichen Prinzipien: „Der Beth-din soll
keine Anordnungen ergehen lassen, deren Befolgung über die Kraft
der Mehrheit geht“; „Belastet nicht das Volk mit unnötigen Verboten:
möge es lieber aus Unwissenheit als mit Vorbedacht sündigen!“
Die milde Art des Simon bewahrte ihn indessen nicht vor einen^
Konflikt mit den maßgebenden Mitgliedern des Gelehrtenkollegiums.
Es kam zu einem Vorfall, wie er sich ähnlich zwischen dem Patri-
archen Gamaliel und den Gesetzeslehrern in Jabne abgespielt hatte.
Auch Simon war wie sein Vater bestrebt, die Macht und die Autori-
tät des Patriarchen zu heben, weil er darin den Eckpfeiler einer ein-
heitlichen Selbstverwaltung erblickte. Um der Patriarchenwürde in
den Augen des Volkes neuen Glanz zu verleihen, führte Simon drei
verschiedene Formen der Ehrenbezeugung dem Patriarchen-Nassi ge-
genüber sowie jedem seiner zwei Mitarbeiter im Synhedrionpräsidium
ein: beim Eintritt des Nassi in die Gesetzgebungs- oder Gerichtsver-
sammlung mußten sich nämlich alle Anwesenden von ihren Sitzen
erheben, während bei dem Erscheinen seiner Stellvertreter, des
I 2 I
Das Patriarchat in Galiläa
„Ab-beth-din“ und des „Chacham“, nur je ein Teil der Anwesenden
aufzustehen hatte. Diese Anordnung verletzte die beiden Mitarbeiter
des Simon, den Gerichtsvorsteher Nathan und den Referenten Meir,
die an Gelehrsamkeit den Patriarchen durchaus übertrafen. Um nun
ihre geistige Überlegenheit allen vor Augen zu führen, verabredeten
sie, der Versammlung so komplizierte und schwierige juristische Fra-
gen vorzulegen, daß Simon, der deren Lösung nicht gewachsen war,
bei der Erörterung seinen Ruf als Gelehrter unweigerlich zerstören
müßte. Die letzte Absicht war angeblich, Simon abzusetzen und das
Amt des Nassi dem Nathan als einem Familienangehörigen des baby-
lonischen Patriarchen oder „Exilarchen“ zu übertragen. Die Ränke
der Opposition blieben indessen nicht geheim und ihre Führer gin-
gen nicht ohne Bestrafung aus: Nathan und Meir wurden kurzerhand
aus dem Gelehrtenkollegium ausgeschlossen. Bald machte sich jedoch
das Ausbleiben der beiden hervorragenden Gelehrten überaus fühlbar.
„Wir sind drinnen, die Thora aber draußen!“ — rief einst eines der*
Mitglieder des Kollegiums mit Anspielung auf den Ausschluß aus.
Auf die Fürsprache einiger Mitglieder hin sah man sich schließlich
genötigt, die Ausgestoßenen wieder zur Beteiligung an den Diskus-
sionen zuzulassen, jedoch unter der Bedingung, daß die von ihnen
stammenden „Halachoth“ (Gesetzesbestimmungen) nicht in ihrem
Namen, sondern als anonyme Vorschläge in den Schulen tradiert
werden sollten. Nathan söhnte sich darauf mit dem Patriarchen aus,
während Meir noch lange in der Opposition verharrte und es end-
lich so weit brachte, daß man über ihn den Bann verhängte. Mit
den folgenden, an den Patriarchen und die anderen Gelehrten ge-
richteten selbstbewußten Worten legte Meir gegen diesen gesetzwidri-
gen Akt Verwahrung ein: „Ich verweigere euch den Gehorsam, so-
lange ihr mir nicht bewiesen habet, über wen, aus welchem Grunde
und für welche Vergehen ihr den Bann verhängt habt!“ Die Folge
dieses Konflikts war, daß Meir in den letzten Jahren seines Lebens
sich ganz von dem Gelehrtenkollegium zu Uscha lossagte und eine
eigene Akademie gründete.
Die auf Zusammenfassung der Macht abzielenden Bestrebungen
des Simon hatten ihren Grund in der damaligen allgemeinen Lage
der Juden, die allerlei separatistische Aspirationen nur zu sehr be-
günstigte. Während des Aufstandes des Bar Kochba und der hadriani-
schen Verfolgungen, als das Patriarchenamt unbesetzt blieb und das
122
§17. Das Synhedrion und der Patriarch Simon
Synhedrion lahmgelegt war, wurde nämlich in Babylonien, das zu
jener Zeit die Zufluchtsstätte für die Flüchtlinge aus Judäa war, der
Versuch gemacht, eine Institution in der Art des Synhedrion ins Le-
ben zu rufen. Ein gewisser Chananja (oder Chanina), ein Neffe des
durch seine Wirksamkeit in Jabne berühmten Josua ben Chananja,
wurde das Oberhaupt dieses babylonischen Synhedrion, das in Nahar-
Pakod, im Bezirke von Nehardea, gegründet wurde. Vor allem ging
Chananja an die Festsetzung der Kalenderfristen und der alljähr-
lichen Feiertage, die bis dahin der ausschließlichen Kompetenz des
palästinischen Patriarchen unterstand. Die babylonischen Gemeinden
begrüßten die neue Institution mit Freuden, doch erblickte man in
Palästina in ihrer Begründung einen offenen Anschlag auf die all-
gemein anerkannte Hegemonie des Heiligen Landes. Die Bildung eines
besonderen geistigen Verwaltungszentrums in Babylonien, wo die Ju-
den noch bis vor kurzem den Anweisungen des Synhedrion von Jabne
unterstanden hatten, bedeutete eine schwere Gefahr für die Ein-
heit der jüdischen Nation und des Judaismus. Dem Beispiel der ba-
bylonischen Juden konnten leicht ihre in den anderen Ländern ver-
streuten Volksgenossen folgen; es würde eine ganze Reihe von Syn-
hedrien entstehen, deren jedes das Gesetz nach seiner Weise aus-
legen würde — und eine Spaltung wäre die unausbleibliche Folge.
Dem Patriarchen war es nun zu verdanken, daß er durch seine klu-
gen Maßnahmen die Gefahr bannte. Er schickte nämlich nach Nahar-
Pakod eine Gesandtschaft mit der Forderung, Chananja möge ange-
sichts der Tatsache, daß die Wirren in Palästina nun zu Ende seien
und das Gelehrtenkollegium in Uscha seine Tätigkeit wiederaufge-
nommen hätte, das dortige Synhedrion unverzüglich auflösen. Bei
dem öffentlichen Gottesdienste im Beisein des Chananja bestieg einer
der palästinensischen Gesandten die Kanzel und begann das Thora-
kapitel, das mit den Worten: „Dies sind die Festtage Gottes“ anhebt,
in der folgenden Persiflage zu lesen: „Dies sind die Festtage des Cha-
nanja“, womit er auf die gesetzwidrige Festsetzung der Feiertags-
fristen durch den babylonischen Usurpator anspielen wollte. Ein an-
derer Gesandter benutzte zu dem gleichen Zwecke einen propheti-
schen Vers, den er so vortrug: „Denn aus Babylon (statt Zion)
geht die Thora aus und das Wort Gottes aus Nahar-Pakod (statt
Jerusalem)“. Auf die Entgegnung des Chananja, Palästina sei ja
jetzt verödet und besitze nicht mehr die früher so maßgebenden
123
Das Patriarchat in Galiläa
Gesetzeslehrer, versetzten die Gesandten: „Die Böcklein sind inzwi-
schen Böcke geworden“, d. h. die ehedem Schüler waren, sind jetzt
selbst Gesetzeslehrer geworden. Nach einigem Widerstreben mußte
Chananja nachgeben. Das Synhedrion zu Nahar-Pakod wurde auf-
gelöst und die babylonischen Juden erkannten von neuem die Autori-
tät des gesetzlichen Synhedrion von Palästina an.
Dergestalt waren die Widerstände, die die Wiederhersteller des na-
tionalen Zentrums in Palästina nach der durch die Katastrophe ver-
ursachten Unterbrechung seiner Wirksamkeit zu überwinden hatten.
Sie haben die Aufgabe glücklich gelöst: die Autorität des ehemaligen
Synhedrion von Jabne und die rastlose Arbeit in den Schulen er-
standen in Galiläa von neuem. Den zwei Generationen der Gesetzes-
lehrer oder „Tannaiten“, der des Jochanan ben Sakkai und des Akiba,
folgte ein drittes Geschlecht, dessen würdige Repräsentanten Rabbi
Meir und das Gelehrtenkollegium zu Uscha waren.
§18. Rabbi Meir und das Gelehrtenkollegium zu Uscha
Einer Sage zufolge stammte Meir aus einer zum Judentum über-
getretenen heidnischen Familie. In seiner Jugend saß er den hervor-
ragendsten Gelehrten der Schule von Jabne, Ismael und Akiba, zu
Füßen und tat sich noch bei deren Lebzeiten als junger Gelehrter
durch außerordentliche Gaben hervor. Akiba verhieß ihm eine glän-
zende Zukunft. Der Aufstand des Bar Kochba und die darauffolgende
Schreckensherrschaft unterbrachen indessen jäh die Laufbahn des
Meir und zwangen ihn, in fremden Ländern umherzuirren; erst nach-
dem Palästina wieder zur Ruhe gekommen war, kehrte er dorthin
zurück und wurde, wie bereits erwähnt, einer der Hauptorganisatoren
der Konferenz zu Uscha, die das Synhedrion und das Patriarchat
von neuem errichtete. Bis zu seinem Bruche mit dem Patriarchen
Simon war Meir dessen treuer Mitarbeiter. Später verließ er Uscha
und gründete seine eigene Akademie in der Nähe von Tiberias. Den
größten Teil des Tages widmete er der Wissenschaft, zur Bestreitung
seines Lebensunterhaltes beschäftigte er sich aber mit einem „sau-
beren und leichten Handwerk“, dem Abschreiben von Büchern. Als
„Libellar“ (ein vom Talmud übernommener lateinischer Ausdruck)
erfand Meir eine besondere Art Tinte und erhob die Kunst des Schön-
schreibens auf eine hohe Stufe der Vollendung.
Auf dem Gebiete der Gesetzeskunde wandelte Meir in den Fuß-
124
§ 18. Rabbi Meir und das Gelehrtenkollegium zu Uscha
tapfen des Akiba und übertraf in der Erfindung komplizierter Rechts-
fälle sogar seinen Meister. Seine Zuhörer gewann er durch die
scharfsinnige und geistreiche Art seines Unterrichts. Er verstand es,
die verschlungensten halachischen Gedankengänge für seine Zuhörer-
schaft dadurch ansprechend zu machen, daß er sich bei seinen Vor-
trägen witziger Vergleiche sowie geistvoller Sagen und Fabeln in reich-
lichem Maße bediente. Für seine Parabeln wählte Meir mit Vorliebe
Motive aus dem Tierreiche: er soll nicht weniger als dreihundert Fa-
beln verfaßt haben, deren Hauptheld die bei den Fabeldichtern be-
liebteste Gestalt, der Fuchs, war (Mischle schualim). Freilich mußte
die von Meir angewandte scharfsinnige dialektische Methode der Ge-
setzesauslegung Männern von raffiniert ausgebildetem Intellekt auch
an und für sich Zusagen. Meir pflegte nämlich jedes Problem von
verschiedenen Standpunkten aus zu beleuchten; es war ihm ein Leich-
tes, ein und denselben Satz sowohl logisch zu beweisen als auch zu
widerlegen, und so erreichte er es, daß durch die restlose Hervor-
kehrung des Für und Wider die Wahrheit schließlich zum Vorschein
kam. Diese raffinierte Dialektik, die später im Talmud auf die Spitze
getrieben wurde, versetzte die Zeitgenossen in Staunen. Sie pflegten
zu sagen, daß es schwer sei, in den Auseinandersetzungen Meirs „sei-
ner wahren Meinung auf den Grund zu kommen“. Viele von den
„Halachoth“ Meirs wurden späterhin in die Mischna, teils mit seinem
Namen, teils als anonyme Thesen, aufgenommen. In seinen Rechts-
entscheidungen und Gerichtsurteilen vertrat er nicht selten die pro-
hibitive und zur Bestrafung neigende Richtung (Chumra, Kenass),
namentlich auf dem Gebiete des Familien- und des Zivilrechts. Aller-
dings galten viele dieser prohibitiven Entscheidungen dem Schutze
der Interessen der Schwachen und der wirtschaftlich Abhängigen. So
forderte er z. B. die Aufnahme verschärfter pekuniärer Garantien zu-
gunsten der Ehefrau für den Scheidungsfall in die „Ketuba“ (Ehe-
kontrakt), um so dem Ehemanne die Scheidung zu erschweren; auch
bestand er darauf, daß ein eine wucherische Schuldverschreibung
vorzeigender Gläubiger mit dem Verluste sowohl des Kapitals als der
Zinsen bestraft werde. Gleich seinem Meister Akiba befaßte sich auch
Meir mit der Systematisierung des Riesenstoffs der „mündlichen
Lehre“. Seine Halachoth-Sammlung ist es, die späterhin Jehuda
ha’Nassi, dem zukünftigen Redaktor der bis zu uns gelangten
„Mischna“, als Hauptquelle diente.
12 5
Das Patriarchat in Galiläa
Unter den Meir nahestehenden Männern erweckt besonderes Inter-
esse die originelle Gestalt eines Freidenkers, die in diesem Reiche
der harten geistigen Zucht einsam hervorragt. Mag sie auch von dem
Nebel der Sage verschleiert sein, so fällt es dennoch nicht schwer,
die Züge einer tief tragischen Persönlichkeit in ihr wiederzuerkennen.
Es war dies einer der Lehrer des Meir, Elischa ben Abuja. Ein
Altersgenosse und Freund des Akiba, hatte sich Elischa in seiner
Jugend dem Studium des Gesetzes gewidmet, um sodann in den er-
leuchteten Kreis der Gelehrten von Jabne einzutreten. Der Weg eines
Gesetzeslehrers lag geebnet vor ihm, doch bog er seitwärts ab; er
vertiefte sich nämlich in die unergründlichen metaphysischen und
theologischen Probleme. Der Talmud berichtet: „Vier (Gelehrte) gin-
gen in den Pardes (,Paradies', eine symbolische Bezeichnung für den
Bereich metaphysischer Forschung) ein: Ben Asai, Ben Soma, Rabbi
Akiba und Elischa ben Abuja. Ben Asai tat einen Blick und hauchte
seine Seele aus, Ben Soma tat einen Blick und kam um seinen Ver-
stand, Rabbi Akiba ging in Frieden ein und wieder hinaus, Elischa
ben Abuja aber zerstampfte alle Gewächse im Garten“. Und in der
Tat, während der aus dem Bereiche der ewigen Probleme „in Frie-
den hinausgegangene“ Akiba seiner rastlosen national-geistigen Wirk-
samkeit oblag, machte der in seinem Glauben wankelmütig gewor-
dene, an seinen früheren Idealen zweifelnde Elischa eine qualvolle
geistige Krise durch. In der talmudischen Überlieferung erscheint er
als ein Hellenenfreund: „Er summte ständig griechische Gesänge vor
sich hin“; als er die Akademie besuchte, kam es vor, daß „die Schrif-
ten der Minäer seiner Busentasche entglitten“. Es scheint, daß die
griechische Philosophie wie auch die Lehren der christlichen Gnosti-
ker ihn in gleicher Weise von dem Wege des angestammten Glau-
bens abirren ließen. Der gnostische Dualismus (eines höchsten We-
sens und eines Demiurgen), vielleicht mit christlichem Anstrich, er-
schütterte das Grunddogma des Judaismus in seinem Geiste, während
die griechische Philosophie ihn an dem Dogma der Vergeltung im
Jenseits und der Totenauferstehung zweifeln machte1). In seiner Ge-
*) Eine talmudische Sage berichtet, daß sich die religiösen Zweifel im Geiste
des Elischa zuerst aus folgendem Anlaß zu regen begannen: er soll einst dabei
gewesen sein, als ein Mann, der gerade ein sittliches Gebot erfüllte, für dessen
Beobachtung die Thora „Glück und langes Leben“ verheißt, einem Schlangenbiß
zum Opfer fiel. Doch ist aus einer anderen Sage zu entnehmen, daß diese seelische
Krise die Folge allgemeinnationaler Verhältnisse war: des unglücklichen Ausgangs
I2Ö
§ 18. Rabbi Meir und das Gelehrtenkollegium zu Uscha
ringschätzung des formalistischen Thorastudiums soll er, der Über-
lieferung zufolge, so weit gegangen sein, daß er einen Rundgang
durch die von Kindern besuchten Schulen machte und dabei ausrief:
„Was treiben die denn hier? Wozu all dies Studieren? Möge lieber
der eine ein Zimmermann, der andere ein Tischler, der dritte ein
Schneidermeister werden?' Ob seines Freidenkertums verfolgt, ent-
fernte sich Elischa immer mehr von seinen ehemaligen Freunden
und galt als aus der Gemeinde ausgeschlossen. Schwierig gestaltete
sich seine Lage zur Zeit des Aufstandes des Bar Kochba und der
hadrianischen Verfolgungen. Der unglückselige Skeptiker, der ver-
gebens die Wahrheit suchte, vermochte sie nicht in jenen religiösen
und nationalen Idealen zu erkennen, für die um jene Zeit seine Brü-
der sich zu Tausenden aufopferten und die den Märtyrertod seines
Freundes Akiba durch strahlenden Glorienschein verklärten. Von
einem Manne, den der große nationale Kampf nichts anging, wandten
sich alle mit Entrüstung ab. Zu dem Beinamen „Sünder“ gesellte sich
nunmehr der Schmähname „Verräter“. Es kamen über Elischa die
ungeheuerlichsten Gerüchte in Umlauf. Es wurde davon gesprochen,
daß er jüdische Kinder zum Heidentum verführe und diejenigen Ju-
den, die ungeachtet der kaiserlichen Dekrete an ihren religiösen Bräu-
chen festhielten, bei den römischen Behörden anzeige. Der von Elischa
gepflegte Verkehr mit einigen höheren römischen Beamten mochte,
im Zusammenhang mit den Gewalttaten des Rufus und der von ihm
begünstigten Bespitzelung, all diesen unsinnigen Gerüchten einen
Schein der Wahrheit verliehen haben. Die dann nach der Religions-
not eingetretene Reaktion im Sinne einer Verschärfung der geistigen
Selbstwehr und der Gesetzesdisziplin mußte Elischa der Gemeinde
der Rechtgläubigen noch mehr entfremden. So stand er einsam, ver-
stoßen da. Man gab ihm den Beinamen Acher, was soviel heißt wie:
der „Andere“, der „Abtrünnige“.
Nur Rabbi Meir wandte sich von dem von allen verstoßenen Frei-
denker, der einstmals sein Meister gewesen war, nicht ab. Weit ent-
fernt davon, in Elischa-Acher einen Missetäter zu erblicken, sah er
in ihm vielmehr eine tragische Persönlichkeit und schätzte all das
der Erhebung des Bar Kochba. Elischa soll nämlich, wie die Haggada erzählt,
den im Kote liegenden Leichnam des öffentlichen Sprechers Chuzpith, eines der
zehn Märtyrer aus dem Kreise Akibas, erblickt und dabei ausgerufen haben: „Die
Zunge, die Perlen (der Weisheit) ausstreute, leckt nun den Staub I“ Hierbei soll sein
Glaube an die göttliche Gerechtigkeit zum ersten Male ms Wanken gekommen sein.
127
Das Patriarchat in Galiläa
Gute, das in diesem eigene Wege gehenden Denker noch übriggeblie-
ben war. „Einen Granatapfel fand ich, das Innere verzehrte ich, die
Schale aber warf ich weg“ — so pflegte Meir denen zu entgegnen,,
die ihm seinen Umgang mit dem Ketzer zum Vorwurf machten. Zwei
durch die talmudische Überlieferung wiedergegebene Vorfälle zeugen
von dem schweren Kampfe, der im Inneren des Elischa wütete. Einst
ritt Elischa am Sabbattage aus, während Meir ihm zu Fuß folgte
und seinen weisen Reden lauschte. Da hielt Elischa plötzlich inne
und sprach zu seinem Jünger: „Meir, kehre um, denn ich glaube,
du hast bereits das Stück Weg zurückgelegt, das man am Sabbat
gehen darf“. — „So kehre denn auch du (auf den Weg der Wahr-
heit) zurück, Meister!“ — rief ihm Meir seinerseits zu. „Oh, nein,“ ver-
setzte Elischa, „für mich gibt es kein Zurück mehr, denn längst
schon vernahm ich die Stimme von oben: ,Tut Buße alle, die ihr
verirrt seid, außer Acher; erkannte doch dieser meine Allmacht und
ist mir dennoch untreu geworden4“. — Später, als Elischa im Sterben
lag, suchte ihn Meir auf und gab sich Mühe, ihn zur Reue zu be-
wegen. „Wird denn meine Buße jetzt noch erhört wer den?“ — fragte
voll Bitternis Elischa. Meir tröstete ihn, daß auch am Rande des
Grabes für die Buße noch immer Zeit genug sei. Da erhob Elischa
seine Stimme und weinte, und schied bald darauf aus dem Leben.
Der große Skeptiker ging in den Tod, voll Trauer um seinen er>-
loschenen Glauben, um die Ideale seiner Jugend und um seine in
die Brüche gegangene Seelenruhe. Zum letzten Male offenbarte sich
vor Meir die abgrundtiefe Tragödie eines Geistes, der nach einem
Ideal lechzte, an das zu glauben ihm jedoch sein trotziger Verstand
verwehrte. „Mein Meister scheint doch mit Gedanken der Reue von
dannen gegangen zu sein4 4 — flüsterte Meir vor sich, als er über der
Leiche des großen Ketzers gebeugt stand.
Neben dieser tragischen Gestalt des Wahrheitssuchers tritt die
abgeklärte Persönlichkeit der Gattin des R. Meir, Beruria (Valeria),
hervor, in der sich die seelische Anmut idealer Weiblichkeit mit der
Verstandeskraft der Männer ihres Kreises vereinigte. Tochter eines
Gelehrten (des Chanina ben Teradion) und zugleich Gattin eines Ge-
lehrten, besaß Beruria selbst reiche Kenntnisse und vermochte es in
den halachischen Erörterungen sogar mit vielen der Schriftgelehrten
aufzunehmen. In ihrer Gesinnung erinnert sie lebhaft an die edelsten
Philosophen der stoischen Schule. Es war ihr beschieden, alle Schrek-
128
§ 18. Rabbi Meir und das Gelehrtenkollegium zu Uscha
ken der hadrianischen Epoche mitzuerleben: ihr Vater starb als Mär-
tyrer auf dem Richtplatz (§ 9), ihre Mutter wurde ermordet, und
ihre jugendliche Schwester in eine römische Stadt verschleppt und
dort in einem „Hause der Huren“ untergebracht. Auf das Drängen
Berurias entriß Meir, unter Einsetzung seines Lebens, die Schwester
der Schmach, indem er die Wache des Freudenhauses bestach und
die Gefangene entführte. Die Jahre des Elends und der Heimatlosig-
keit stählten Berurias Charakter. Sie war ein lebendiger Protest ge-
gen die verbreitete Redensart vom „weiblichen Leichtsinn“ und be-
kundete nicht selten eine Standhaftigkeit der Gesinnung und eine
Weite des Gesichtskreises, die die hochmütigen Gesetzeslehrer, die
auf die Frauen von oben herab zu blicken gewohnt waren, mit Be-
wunderung erfüllten. Einst soll sie ihrem Manne gegenüber eine Äu-
ßerung getan haben, die von ifcrer ethischen Auffassung der Bibel
Zeugnis ablegt. Meir hatte nämlich von streitsüchtigen Nachbarn zu
leiden, und so ließ er sich einmal zu Fluchworten gegen sie hin-
reißen; da erinnerte ihn Beruria an das biblische Wort (Psalmen,
io4, 35): „Mögen die Sünden von der Erde verschwinden und die
Sünder werden nicht mehr sein“1 — „du solltest also (meinte sie)
nicht den Bösen fluchen, sondern Gott anflehen, daß er sie von ihren
Lastern befreie“. Von der Selbstbeherrschung Berurias wurden die
merkwürdigsten Geschichten erzählt. Einst wurden an einem Sab-
battage zwei ihrer Söhne von der Pest hinweggerafft; um die Sabbat-
ruhe ihres Mannes nicht zu stören, verheimlichte sie ihm nun die
schreckliche Nachricht bis zum Sabbatausgang. Als er dann am Abend
die Wahrheit erfuhr und in Tränen ausbrach, erinnerte ihn Beruria
an das Gesetz, wonach ein zur zeitweiligen Aufbewahrung erhalte-
nes Vermögensstück dem rechtmäßigen Eigentümer jederzeit zurück-
zuerstatten sei. „Gott hat’s gegeben, Gott hat’s genommen, der Name
Gottes sei gepriesen“ — so schloß sie mit den Worten Hiobs.
Inzwischen arbeitete das Gelehrtenkollegium in Uscha auch
nach dem Ausscheiden des Rabbi Meir an seinem Werke un-
entwegt weiter. Das Synhedrion in Galiläa stand zunächst vor der
Aufgabe, die Nachwehen der Aufstandszeit zu überwinden, and so
gerieten einige seiner Führer in Konflikt mit den römischen Behör-
den. Durch die Verschleierung der talmudischen Legende hindurch
ersteht ein Bild vor uns, in dem sich das ganze politische Ungemach
jener Zeit widerspiegelt. Eines Tages saßen in Uscha im Kreise ihrer
9 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
129
Das Patriarchat in Galiläa
Freunde drei Gesetzeslehrer: R. Simon ben Jochai, Jehuda ben Ilai
und Jose ben Ghalafta, und unterhielten sich über den Wert der
römischen Kultur. Jehuda meinte, die römische Herrschaft hätte die
eine gute Seite, daß sie die öffentliche Sicherheit gewährleiste und
für die äußere Ordnung sorge. „Bedenkt nur — sagte er — wieviel
Vortreffliches man den Römern zu verdanken hat: sie haben die
städtischen Plätze renoviert, Brücken geschlagen und wohleingerich-
tete Bäder angelegt“1). R. Jose erwiderte nichts, R. Simon ben Jochai
aber, ein geschworener Feind alles Römischen, rief mit Entrüstung
aus: „Alles, was die Römer geleistet haben, haben sie nur zu eigenem
Nutzen getan: sie haben die Marktplätze verschönert, um dort Huren
zur Schau zu stellen, sie richteten Bäder ein, um sich körperlicher
Wonne hinzugeben; sie haben Brücken geschlagen, um von den Rei-
senden Zoll zu erheben!“ Den römischen Behörden blieb nun diese
Unterredung nicht unbekannt. Der politisch zuverlässige Jehuda
wurde darauf reich belohnt, Jose seines Schweigens wegen verbannt,
während Simon ben Jochai für seine romfeindlichen Reden zum Tode
verurteilt wurde. Simon floh und hielt sich mehrere Jahre hindurch
vor der römischen Polizei verborgen. Die Überlieferung fügt noch
hinzu, er habe dabei mit seinem Sohne dreizehn Jahre in einer Höhle
zugebracht. Erst viel später, als in der römischen Verwaltung Judäas
Personalveränderungen eingetreten waren, schloß er sich dem gali-
läischen Gelehrtenkreise von neuem an. Die Heilquellen von Tiberias
stellten seine zerrüttete Gesundheit wieder her, und so konnte er, in
Tiberias und Meron (in der Nähe von Zephath) lebend, an den Ar-
beiten des Synhedrion von Uscha wieder teilnehmen. Im Auftrag des
Synhedrion begab er sich denn auch unter einem der Antonine nach
Rom, um die Aufhebung neuer Repressivmaßnahmen gegen den Ju-
daismus zu erwirken (oben, § 16).
Diese in der Sage erhalten gebliebenen spärlichen Nachrichten
kennzeichnen zur Genüge die politische Stimmung der Führer der
dritten Generation nach dem Falle Judäas. Drückende nationale
Trauer lastete auf diesem Geschlechte, das den Zusammenbruch der
letzten nationalen Hoffnung erlebt hatte. Die geistigen Führer fuhren
*) Damit waren vielleicht die von den Antoninen in Aelia Gapitolina, dem
ehemaligen Jerusalem, zur Verschönerung der Stadt unternommenen Bauten ge-
meint. Dies mochte manchen Judäern geschmeichelt, bei der Mehrzahl aber nur An-
stoß erregt haben. S. Corpus inscriptionum latinarum, B. III, Nr. 116—117. Vgl.
Renan, L’Eglise chretienne, p. 226.
i3o
§ 18. Rabbi Meir und das Gelehrtenkollegium zu Uscha
indessen mit verdoppeltem Eifer fort, den Schutzpanzer des Gesetzes
zu schmieden. Ein Erbe des Kollegiums von Jabne und ein Jünger
des Akiba, pflegte Simon ben Jochai in seiner gesetzgeberischen und
wissenschaftlichen Arbeit sorgfältig die Traditionen der vorangegan-
genen Epoche. Doch wich er in der Methode der Gesetzesauslegung
nicht selten von der kasuistischen Art der Schule des Akiba und des
Meir ab. Simon suchte stets, dem Sinne und der Absicht eines jeden
Gesetzes (Taama di’kera) auf den Grund zu kommen und legte es
nicht dem Buchstaben, sondern dem Geiste nach aus. So dehnte er
das biblische Verbot der Verschwägerung mit den kanaanitischen
Stämmen auch auf alle anderen fremden Völker aus, da ja der eigent-
liche Grund des Gesetzes die Verhütung von Mischehen zwischen Ju-
den und Fremden überhaupt war, damit der nationale Typus in sei-
ner Reinheit erhalten bleibe. In den Fällen jedoch, wo es dem Geiste
des Gesetzes nicht widersprach, pflegte sich Simon auch für mil-
dernde Gesetzesauslegung zu entscheiden. In seinen zahlreichen hag-
gadistischen Sentenzen liegt eine ganze Weltanschauung beschlossen,
die sich durch ihren national-konservativen Geist auszeichnet. Das
schwer lastende römische Joch, unter dem Simon selbst so lange un-
mittelbar zu leiden hatte, bewog ihn zu manchen scharfen Ausfällen
gegen die heidnische Welt, die ihm die Verkörperung aller Laster war.
Nur die jüdische Nation allein sei seiner Ansicht nach dazu berufen,
das höchste sittliche Ideal zu verwirklichen, zu dem der Judaismus
der wahre Weg sei.
Die geschichtliche Persönlichkeit des Simon ben Jochai wurde
später durch eine phantastische, von der Legende erdichtete Gestalt
gänzlich in den Hintergrund gedrängt. Auf Grund der Nachrichten
über den dreizehnjährigen Aufenthalt Simons in einer Höhle schrieb
ihm nämlich die mittelalterliche Legende die Kraft eines Wunder-
täters und die Schöpfung einer „Geheimwissenschaft“ zu. Im XIV.
Jahrhundert wurde er in Spanien zum Verfasser des angeblich gefun-
denen geheimnisvollen Buches „Sohar“ proklamiert, das die Bibel
der Kabbalisten werden sollte. Sein Ruhm stieg ganz besonders seit
dem XVI. Jahrhundert, als die palästinensischen Kabbalisten den
„Sohar“ ins Volk zu tragen begannen. Von nun ab wurde das angeb-
liche Grabmal Simons in Meron zur Wallfahrtsstätte für die From-
men, die noch heute am Tage des „Lag-be’omer“ (18. Ijar) Scharen
von Pilgern herbeilockt.
9*
i3i
Das Patriarchat in Galiläa
Der an der obenerwähnten Unterredung neben Simon ben Jochai
beteiligte Jehuda ben Hai, dessen politische Loyalität von der römi-
schen Regierung entsprechend belohnt wurde, stand gleichfalls mit
in der ersten Reihe der Führer des galiläischen Synhedrion. Er war
der Hauptveranstalter der Restaurationsversammlung in seiner Hei-
matstadt Uscha (§ 17) und galt als „erster Redner“ (Rosch ha’me-
dabrim) in allen öffentlichen Sitzungen. In seinen zahlreichen „Ha-
lachoth“ hielt sich Jehuda streng an die Methode des Akiba und legte
seinen gesetzgeberischen Entscheidungen vielfach die Ausdeutung von
Silben und Ruchstaben des biblischen Textes zugrunde. Seine ethi-
schen Aussprüche zeugen von der besonderen Hochschätzung, die er
der physischen Arbeit entgegenbrachte: „Wer seinen Sohn nicht ein
Handwerk lernen läßt — pflegte er zu sagen — der lehrt ihn das
Räuberhandwerk“.
Was nun den dritten Teilnehmer an der verhängnisvollen Un-
terredung, den wegen seines Schweigens bestraften Jose ben Cha-
lafta, betrifft, so war sein ständiger Wohnsitz die große galiläische
Stadt Zippora. Er zeichnete sich durch Friedfertigkeit und Duldsam-
keit fremden Ansichten gegenüber aus. Ein Gegner der leidenschaft-
lichen Schuldebatten, die, wie er meinte, bis an die Grenze des reli-
giösen Zwiespalts führten, vermochte er nicht selten, die widerstrei-
tenden Parteien zu gegenseitigen Konzessionen zu bewegen. Jose gab
sich unter anderem mit Forschungen auf dem Gebiete der Chrono-
logie der jüdischen Geschichte ab, und die Überlieferung schreibt
ihm die Verfassung des Traktats „Die Reihenfolge der Weltereig-
nisse“ (Seder olam) zu, der eine chronologische Aufstellung der Ge-
schehnisse von der Weltschöpfung bis zur persischen Herrschaft zum
Inhalte hat. Das letzte Kapitel, das bis zum Zeitalter des Verfassers
selbst, d. i. bis zum Aufstande des Rar Kochba, reicht, bietet leider
nur einige höchst fragwürdige Notizen. Rei der Rehandlung der bi-
blischen Zeit sind die chronologischen ßerechnungen von einer Deu-
tung der Geschehnisse in haggadischem Geiste durchsetzt. Für die Ge-
schichtsschreibung ermangelt der „Seder olam“ schon aus dem Grunde
jedes Wertes, weil seine Chronologie sich an die traditionsgemäße,
mit der Weltschöpfung beginnende Zeitrechnung hält und nichts als
eine Wiederholung der biblischen Daten ist. Chronographen und Ge-
schichtsschreiber waren eben um jene Zeit unter den Juden nicht
l32
§ 19. Jehuda haNassi und der Abschluß der Mischna
mehr zu finden1). Die Ereignisse der Vergangenheit waren zum Erb-
gut der im Sagenhaften und Didaktischen schwelgenden Haggada ge-
worden, während die zeitgenössischen Ereignisse nicht einmal aufge-
zeichnet wurden und nach und nach in dem Nebel der Volkslegende
verschwammen.
§ 19. Der Patriarch Jehuda haNassi und der Abschluß der Mischna
Die angestrengte Arbeit des Synhedrion, der Akademien und des
Patriarchats in den seit dem Falle von Jerusalem verstrichenen hun-
dert Jahren fand endlich ihre tiefste Synthese in der Wirksamkeit
eines Mannes, der in seiner Person die Autoritäten aller dieser In-
stitutionen vereinigte. Rabbi Jehuda haNassi, der nach dem Ableben
seines Vaters, Simons ben Gamaliel, das Amt eines „Nassi“ oder eines
Patriarchen angetreten hatte (um i65), war der einflußreichste unter
allen der Dynastie Hilleis angehörenden Trägern dieser Würde. Seine
Geburt fällt in die Zeit des hadrianischen Schreckensregiments. Von
früher Jugend an war er in dem seinen Vater umgebenden Gelehrten-
kreis heimisch und erwarb dann gründliche Kenntnisse in den Schu-
len des Ben Jochai und anderer Gesetzeslehrer. In diesen Kreisen hatte
Jehuda schon früh Gelegenheit, jenes Selbstverwaltungssystem näher
kennen zu lernen, das ganz darauf eingestellt war, unter den allerun-
günstigsten politischen Verhältnissen die größtmögliche innere Unab-
hängigkeit zu bewahren. So waltete denn Jehuda nach der Übernahme
des Patriarchats mit hohem Geschick seines Amtes. Er verstand es,
mit den römischen Behörden freundschaftliche Beziehungen zu un-
terhalten und die Interessen seines Volkes erfolgreich zu vertreten.
Der Überlieferung zufolge soll er sogar der Freund eines der An-
tonine, wahrscheinlich des Philosophen Marc Aurel, gewesen sein.
Von Hause aus sehr wohlhabend, führte Jehuda das Leben eines ver-
mögenden Würdenträgers: so verlangte es seine repräsentative Stel-
lung wie auch der offizielle Umgang, den er mit den römischen Be-
hörden pflegen mußte.
1) Eine andere Chronik, die gleichfalls bis zu den Ereignissen der Bar-Kochba-
Zeit reicht, „Megillath Taanith“ (Fastenrolle), stellt einen kurzen Kalender der
alljährlich wiederkehrender Gedenktage dar, die zur Erinnerung an die wichtig-
sten geschichtlichen Ereignisse festgesetzt waren. Der aramäische, für das Volk
bestimmte Urtext wurde später mit einem hebräischen Kommentar versehen, der
die Bedeutung der im Text verzeichneten Ereignisse erläuterte. Der ganze kurz-
gefaßte Traktat entstammt wohl der Zeit der Mischnasammlung.
i33
Das Patriarchat in Galiläa
In der Person des neuen Patriarchen vereinigte sich somit eine
umfassende Gelehrsamkeit mit staatsmännischer Begabung. In dem
Bereiche der jüdischen Rechtsforschung bekundete er eher einen
Hang zur Synthese, zur Systematisierung, als zu der kleinlichen, die
damaligen Schuldisputationen beherrschenden Analyse. Der Drang zur
Harmonisierung von Gesetz und Leben beseelte Jehuda in noch viel
höherem Maße als seinen Großvater und seinen Vater, die gegen die
weltfremde Eigenbrötelei der Schulen anzukämpfen hatten; ihm blieb
indessen dieser Kampf erspart, denn er beherrschte die Akademie
nicht weniger als das Synhedrion. Der Gesetzeslehrerstand besaß in
der Person des Patriarchen nicht nur ein hochangesehenes Mitglied,
sondern auch einen fürsorglichen Mäzen. Jehuda sorgte nämlich für
den Unterhalt vieler unbemittelter Gelehrten und unterstützte in frei-
gebigster Weise die Schulen, wie er sich denn überhaupt durch seine
großzügige Wohltätigkeit berühmt machte. So ließ er, als das Land
unter Marc Aurel von Hungersnot und Epidemien heimgesucht wurde,
unter den Notleidenden Brot aus seinen Speichern verteilen. Doch
trat bei der Verteilung der Unterstützung sein übermäßiger, geistiger
Aristokratismus nur zu deutlich an den Tag: er befahl nämlich, nur
zugunsten der Gelehrten und der Schriftkundigen, nicht aber der
„Am-ha’arazim“ (des gemeinen Volkes) einzugreifen. Diese so über-
aus ungerechte Teilung erregte den Unwillen der besten unter den
Schülern des Patriarchen. Einer von ihnen, Jonathan ben Amram,
verzichtete darauf, aus seiner Gelehrsamkeit materielle Vorteile zu
ziehen, und so erschien er denn, seinen Stand verheimlichend, bei den
die Hilfsaktion Überwachenden und bat, daß man ihm, „wie einem
hungrigen Hunde oder Raben“ etwas zu essen gäbe. Als bald der
wahre Sachverhalt entdeckt wurde, sah der Patriarch ein, daß man
bei der Speisung von Darbenden keine Klassenunterschiede machen
dürfe und versäumte nicht, dementsprechende Anweisungen zu geben.
Einst gingen die Töchter des Elischa-Acher den Patriarchen um Hilfe
an, wurden aber abgewiesen, da ihr Vater als Ketzer und „Volksfeind“
galt. „Meister,“ riefen die unglückseligen Waisen aus, „vergiß die
Taten unseres Vaters und denke an sein Wissen!“ Dem Patriarchen
kamen Tränen in die Augen und er befahl unverzüglich, den Waisen
Fürsorge angedeihen zu lassen.
Unter Jehuda ha’Nassi gelangte das Synhedrion zu höchstem An-
sehen und hat auch die volle Mitgliederzahl (70) erreicht. Doch hätte
i34
§ 19. Jehuda ha’Nassi und der Abschluß der Mischna
der Patriarch mit vollem Rechte behaupten können: „Das Synhedrion
— bin ich!“, denn sein Wille war tatsächlich für die ganze Tätigkeit
der gesetzgebenden Versammlung bestimmend. Von ihm hing es ab,
den einen oder anderen Gelehrten als der Synhedrionmitgliedschaft
würdig zu erklären. Als Synhedrionvorsteher verfügte er über das
Recht, nach eigenem Ermessen, ohne den Rat der anderen Mitglieder
einzuholen, Richter und Lehrer für die Gemeinden zu ernennen; die
von den anderen Synhedrionmitgliedern vollzogenen Ernennungen be-
durften hingegen der Sanktion des Patriarchen. Sogar die außer-
palästinensischen Gemeinden pflegten sich an den Patriarchen mit
Bitten um Ernennung von Lehrern und Richtern zu wenden. Unter
der Zuhörerschaft der galiläischen Akademien waren auch junge
Leute aus Babylonien reichlich vertreten, die eigens kamen, um ihre»
wissenschaftliche Ausbildung unter der Oberleitung des Jehuda
ha’Nassi zu vollenden. Der bedeutendste unter diesen war Rabbi Chija,
der Lieblings jünger und Arbeitsgenosse des Patriarchen. Von Chija
und seinen Landsleuten konnte Jehuda vieles über die Lebensweise
und die Gemeindeverfassung der babylonischen Juden erfahren. Von
Mißgunst nicht ganz freie Neugierde mochten in dem Patriarchen die
Erzählungen von der glänzenden amtlichen Stellung des Oberhauptes
der babylonischen jüdischen Gemeinden, des „Exilarchen“, erwecken,
der dazu noch als ein Nachkomme aus dem Königsgeschlechte Da-
vids galt (s. unten, § 27).
In der Gesetzgebungspraxis hielt sich Jehuda von jedem Rigoris-
mus fern. An der Tradition des „Hillelhauses“ festhaltend, suchte er
vielmehr den Druck des Gesetzes, sofern er den wirtschaftlichen Inter-
essen des Volkes abträglich war, in jeder Weise zu erleichtern. So
schickte er sich an, das uralte Gesetz von dem Brachliegenlassen des
Landes oder die Schemita abzuschaffen, da dieses Gesetz bei dem
Bestehen des römischen Besteuerungssystems die Landwirtschaft zu
ruinieren drohte. Auch wollte er die zugunsten der Priester in der
Form des Zehnten (Maasser) erhobenen Naturalabgaben, die nach der
Aufhebung des Jerusalemer Tempeldienstes ihren eigentlichen Zweck
eingebüßt hatten, herabsetzen. Diesem Anschlag auf die Überreste
der Vergangenheit widersetzte sich jedoch die Partei der Konserva-
tiven mit R. Pinchas ben Jair an der Spitze. Die übertriebene Fröm-
migkeit: dieses heiligen Mannes gab häufig zu Spott Anlaß; man erzählte
z. B., er habe die auf die Landwirtschaft sich beziehenden Gesetze
i35
Das Patriarchat in Galiläa
so streng befolgt, daß selbst sein Esel sich weigerte, Gemüse anzu-
rühren, von dem der Priesterzehnte nicht abgeteilt worden war. Der
Patriarch wollte sich nun mit den Hütern des Althergebrachten nicht
entzweien und begnügte sich daher mit einer teilweisen Milderung
der Gesetze. So erklärte er einige palästinensische Bezirke mit vorwie-
gend heidnischer Bevölkerung (Skythopolis, Caesarea u. a.) als außer-
judäisches Landgebiet, in dem die Beobachtung der Gesetze über
das Sabbatjahr und den Zehnten nicht verbindlich sei. Auch setzte
sich Jehuda für einige Erleichterungen der zahlreichen Sabbatvor-
schriften ein, die die Sabbatruhe in eine Kette von Entbehrungen ver-
wandelten (wie z. B. die Bestimmungen über „Mukza“, die sogar die
Berührung vieler Gegenstände am heiligen Tage untersagten).
Unter Jehuda ha’Nassi verlegte das Synhedrion seinen Sitz nach
der Hauptstadt Galiläas Zippora (Sepphoris). Die frühere Residenz
des Patriarchen und des Synhedrion, Uscha, büßte ihre Bedeutung
noch um das Ende des Patriarchats des Simon ben Gamaliel ein. Eine
Zeitlang tagte das Synhedrion in Schefaram und Beth-Schearim, bis
es dann in Zippora dauernde Unterkunft fand. Die Wahl fiel an-
scheinend aus dem Grunde auf diese Stadt, weil ihr mildes
Klima der zerrütteten Gesundheit Jehuda ha’Nassis zuträglich
gewesen sein mochte. Überdies dürfte ihn zur Übersiedlung nach
Zippora vielleicht auch noch der Wunsch bewogen haben, sich in
nächster Nähe von den römischen Behörden zu wissen, deren Haupt-
sitz um jene Zeit die Hauptstadt Galiläas war.
Das größte geschichtliche Verdienst des Jehuda ha’Nassi bestand
indessen darin, daß er, von den ihn umgebenden Gelehrten unter-
stützt, das gesamte nachbiblische Material der Gesetze und Überlie-
ferungen, das sich unter der Bezeichnung „mündliche Lehre“ seit den
Zeiten des Esra und der Großen Synagoge bis zu denen des letzten
Synhedrion ununterbrochen angehäuft hatte, sichtete und in Ordnung
brachte. Infolge der unausgesetzten, im letzten Jahrhundert besonders
intensiven akademischen Arbeit war dieser Stoff so umfangreich ge-
worden, daß es nun nicht länger möglich war, ihn im Gedächtnis
aufzubewahren und von Mund zu Mund, von Gelehrtengeneration zu
Gelehrtengeneration treu zu übermitteln. Die alte Tradition, die um
der Würde des geschriebenen biblischen Gesetzes willen verlangte, daß
alle nachbiblischen Gesetze, die Normen des Gewohnheitsrechts sowie
i36
§ 19. Jehuda haNassi und der Abschluß der Mischna
die Deutungen der „Weisen“, nicht in schriftlichen Denkmälern, son-
dern in der Form von mündlichen Überlieferungen aufbewahrt wer-
den sollten, war nun zu den Anforderungen des Lebens wie auch zu
denen der Schule in Widerspruch geraten: im Leben mußte kraft
der realen Verhältnisse neben die schriftliche Uriehre, die Thora, in
Form eines ergänzenden Kodex die „zweite Lehre“, die Mischna1),
treten; aber auch in der Schule mußten die vielwissenden Gelehrten-
köpfe, diese gleichsam lebenden Enzyklopädien, einem zuverlässigeren
Werkzeug des Gedächtnisses, der schriftlichen Enzyklopädie, das Feld
räumen. Ein Bedürfnis danach empfanden schon die Vorgänger des
Jehuda ha’Nassi, und so versuchten denn auch die hervorragenden Ge-
setzeslehrer der vorhergehenden Generationen, Sammlungen verschie-
dener mündlicher Gesetzesbestimmungen und Rechtsentscheidungen
(„Halachoth“) als Leitfaden für den Schulgebrauch zusammenzustel-
len. Das Ergebnis derartiger Versuche waren die uns nicht erhalten-
gebliebenen, von Akiba und Meir zusammengefaßten Mischna joth-
oder Halachoth-Sammlungen (§§ 6 und 18). Doch erst Jehuda
ha’Nassi gelang es, diese Aufgabe endgültig zu bewältigen.
Auch Jehuda verfolgte ursprünglich in erster Linie theoretische
Zwecke, auch er nahm sich vor, eine Sammlung von Gesetzen und
wissenschaftlichen Entscheidungen als Nachschlagewerk für die Aka-
demien zu verfassen. Doch ging er in Plan und Methode seiner Zu-
sammenstellung viel weiter als seine Vorgänger. Die riesige Menge
von Gesetzesbestimmungen und umstrittenen Meinungen, die Jehuda
ha’Nassi gesammelt hatte, bezog sich auf alle Gebiete des Rechts
und der religiösen Praxis und wurde nunmehr nach sachlichen Ge-
sichtspunkten in Gruppen eingeteilt Der bis zu uns gelangte Mischna-
text setzt sich aus sechs Teilen („Sedarim“ = Ordnungen) zusam-
1) Das Wort „Mischna“ ist doppeldeutig und kann entweder von dem Verbum
„schana“ = „lernen“, „durch Repetition einüben“ abgeleitet oder als ein Bestand-
teil des Ausdrucks „Mischna-Thora“, d. i. „zweite Lehre“, Deuteronomium, aufge-
faßt werden. Daraus erklärt sich das Vorhandensein zweier Bezeichnungen für die
Mischna bei den griechischen Schriftstellern: „Paradosis“ (Überlieferung) und „Deu-
terosis“ (nebengeordnete Lehre). In der talmudischen Literatur wird die Mischna
häufig in Gegensatz zu „Mikra“ gebracht, d. i. zu der im synagogalen Gottes-
dienst öffentlich vor gelesenen Thora, während die Mischna nur in den Schulen
gelehrt zu werden pflegte. Wir haben es hier somit mit einer durchgehenden,
sowohl etymologischen wie geschichtlichen Parallele zu den islamitischen „Koran“
und „Sunna“ zu tun.
i37
Das Patriarchat in Galiläa
men, die in folgender Weise angeordnet sind1): i. Seraim („Saa-
ten“) — eine Sammlung von den Ackerbau betreffenden Gesetzen,
so z. B. über die Verteilung von Landbesitz und Bodenertrag, über
das siebente Jahr („Schemita“), über den den Armen zu überlassen-
den Teil der Ernte, über die Heben und den Zehnten zugunsten der
Priester u. dgl. 2. Moed („Feiertage“) — über den Sabbat, die Feier-
und Fasttage. 3. Naschim (Frauen) — über das Ehe- und Familien-
recht. 4. Nesikirt (Schädigungen oder Eigentumsdelikte) — über das
Zivil- und Strafrecht sowie über die Prozeßordnung. 5. Kodaschim
(„Sakramente“) — über Opferdarbringungen und Tempelkultus, über
Speisegesetze und über rituelles Viehschlachten. 6. Taharoth („Reini-
gungen“) — über die rituelle Reinheit von Menschen, Wohnräumen
und Geräten, entsprechend den Vorschriften der Hygiene und der
öffentlichen Gesundheitspflege. In all diesen verschiedenen Teilen,
die ihrerseits in Traktate (Massichtoth) zerfielen, war übrigens die
Klassifikation keineswegs mit Strenge durchgeführt. So beginnt der
die Landwirtschaft betreffende Teil mit einem großen Traktat über
Gebete und synagogale Liturgie (Berachoth); in dem auf das Ehe-
recht bezüglichen Teil sind Traktate von den Gelübden und vom
Nasiräat („Nedarim“, „Nasir“) untergebracht und in dem vom Zivil-
und Strafrecht handelnden Teil ist der Traktat über das Ver-
halten den Heiden gegenüber („Aboda-sara“), sowie eine Samm-
lung von ethischen Sentenzen der Gesetzeslehrer („Pirke Aboth“) mit-
eingeschlossen.
Und dennoch brachte diese wenn auch noch unvollkommene Klas-
sifikation in das Chaos der mündlichen Lehre helles Licht. In jedem
Traktat ist das Material wiederum in Kapitel und diese in Artikel
oder „Mischnajoth“ (Lehrstücke) im engeren Sinne eingeteilt. Jeder
der Artikel formuliert gewöhnlich eine Grundthese oder eine Frage,
worauf die verschiedenen diesbezüglichen Ansichten der Schulen oder
einzelner Gesetzeslehrer folgen. Manchmal wird die von der Mehr-
zahl der Autoritäten vertretene Ansicht als die allgemein anerkannte
ohne Namensnennung („Setam“) angeführt und erst dann die Son-
1) Diese Klassifizierung ist nicht mit Sicherheit unmittelbar auf Jehuda
ha’Nassi zurückzuführen: es mag sein, daß sie erst von den späteren Redaktoren
festgesetzt oder wenigstens, entsprechend der bei der Verbindung der Gemara mit
der Mischna, d. i. bei der endgültigen Abfassung des Textes des palästinensischen
und sodann des babylonischen Talmud vorgenommenen Stoffeinteilung, die heute
bekannte Form gewann.
i38
§19. Jeliuda ha’Nassi und der Abschluß der Mischna
deransicht des einen oder anderen Gesetzeslehrers zitiert; doch werden
auch die Sonderansichten nicht selten anonym angeführt (die Tradi-
tion schreibt diese größtenteils R. Meir oder Jehuda ha’Nassi selbst
zu). Die unbestrittenen Gesetzesbestimmungen sind, wie auch sonst in
Gesetzbüchern, in dogmatischer Weise dargelegt. Der Stil der Mischna
ist überaus knapp und lakonisch. Die Gesetzesvorschrift oder die dis-
sentierende Ansicht ist gewöhnlich kurz gefaßt und entbehrt in den
Fällen, wo Quellen und Motive als den Fachleuten bekannt voraus-
gesetzt wurden, sogar der Motivierung. Die Sprache der Mischna ist
die neuhebräische, die sich von der biblischen poetischen Redeweise
durch wissenschaftliche Präzision und Klarheit sowie durch ihre Ver-
wandtschaft mit der aramäischen Umgangssprache unterscheidet. Nicht
selten kommen darin der griechischen und der lateinischen Sprache
entlehnte Fachausdrücke vor. Es war dies anscheinend die damalige
akademische oder literarisch-wissenschaftliche Ausdrucksweise, da als
Umgangssprache in Palästina schon lange die aramäische Mundart
verbreitet war1).
Einen allgemeinen Begriff von dem Stile und dem Inhalte der
Mischna mögen die folgenden, ihren verschiedenen Teilen entlehnten
und für sich selbst sprechenden Proben vermitteln:
„Welche Benediktion wird beim Genuß von Früchten gesprochen? Für die
Baumfrüchte preist man den ,Schöpfer der Baumfrüchte4, den Wein ausgenom-
men, über den man eine besondere Lobpreisung zu Ehren des ,Schöpfers der
Frucht der Weinrebe4 spricht. Über die Früchte des Feldes (die Getreidearten)
spricht man: ,Gelobt sei der Schöpfer der Früchte der Erde4, nicht aber über
das Brot, für welches eine besondere Danksagung gilt: ,Dem, der das Brot aus
der Erde hervorsprießen läßt4. Beim Genuß von Gemüse preist man den Schöp-
fer der Früchte der Erde4, R. Jehuda meint aber den Schöpfer der Pflanzen-
arten444 (Berachoth, VI, i).
„Welches Maß Arbeit macht einen Bauenden (der Verletzung der Sabbatruhe)
schuldig? — Wenn er etwas auf gebaut, behauen, mit einem Hammer angeschlagen,
mit einer Rauhbank gehobelt, durchbohrt hat. Dies ist die Regel: wer eine Arbeit
verrichtet hat, die am Sabbat selbst eine Spur hinterläßt, ist schuldig. R. Simon
Q S. Anhang, Note 3: Die Verwandlung der mündlichen Lehre in eine schrift-
liche. — Einer talmudischen Erzählung zufolge (Baba kamma, 82—83) soll R. Jehuda
ha’Nassi auch im Privatleben die hebräische Sprache der aramäischen vorgezogen
haben. Er pflegte zu sagen: „Wozu nützt uns im Lande Israel die syrische (ara-
mäische) Sprache? Wir brauchen entweder die heilige (hebräische) oder aber die
griechische Sprache“. Die griechische Sprache war dem Patriarchen, der sich ihrer
im Verkehr mit den römischen Behörden bedienen mußte, in der Tat durchaus
geläufig.
139
Das Patriarchat in Galiläa
ben Gamaliel sagt: Sogar der, der mit einem Hammer auf den Amboß schlägt,
macht sich im Augenblick der Arbeitsverrichtung schuldig, denn er richtet (das
Werkzeug) zur Arbeit zurecht“ (Sabbat, XII, i).
„War das Neujahrsfest (Rosch-ha’schana) auf einen Sabbat gefallen, so pflegte
man dennoch im Tempel (zu Jerusalem) ins Horn zu blasen, in der Provinz aber
nicht. Nach der Zerstörung des Tempels setzte Rabban Jochanan ben Sakkai fest,
daß man allerorten, wo sich ein Beth-din (ein Gerichtshof) befindet, blasen solle.
Rabbi Eleasar behauptete, Rabbi Jochanan hätte (das Blasen) nur in Jabne zu-
gelassen, doch wies man ihn darauf hin, daß dies in gleicher Weise für Jabne
sowie für jeden anderen Ort, an dem sich ein Beth-din befand, gegolten hat“
(Rosch haschana, IY, i).
„Hat jemand seiner Frau einen Ehescheidungsbrief geschickt, dann aber den
Boten eingeholt oder ihm einen anderen nachgesandt und zu ihm gesagt: Die Ur-
kunde, die ich dir gegeben habe, gilt nicht, so ist die Ehescheidung nichtig. Kam
er (der Mann) vor dem Boten zu seiner Frau oder schickte einen anderen und
sagte ihr: Der Ehescheidungsbrief, den ich dir geschickt, ist ungültig, so ist die
Ehescheidung ungültig. War aber die Urkunde der Frau bereits ausgehändigt, so
kann sie der Mann nicht mehr für nichtig erklären. In alter Zeit pflegte der
Mann in solchen Fällen ein anderes Beth-din anzugehen und die Ehescheidung
für ungültig zu erklären, doch R. Gamaliel der Alte hat dies aus praktischen
Erwägungen heraus untersagt“ (Gittin, IV, i).
„Wer Arbeiter unter der Bedingung verpflichtet hat, daß sie früh auf stehen
und spät schlafen gehen, kann sie dazu nicht anhalten, wenn es (bei den Ar-
beitern) nicht ortsüblich ist, früh aufzustehen und spät schlafen zu gehen. Ist es
an dem betreffenden Orte Brauch, die Arbeiter zu verpflegen, so ist der Lohn-
herr zur Verpflegung verpflichtet; ist es Brauch, Süßigkeiten zu verabreichen,
so muß er verabreichen — alles nach geltendem Ortsbrauch“ (Baba mezia, VII, i).
„Sowohl vermögensrechtliche als strafrechtliche Sachen erfordern Nachfor-
schung und Zeugenvernehmung, denn es heißt: ,Eine einheitliche Gerichtsbarkeit
soll bei euch gelten*. Worin besteht nun der Unterschied zwischen vermögens-
rechtlichen und strafrechtlichen Sachen? — Vermögensrechtliche Sachen werden
vor drei Richtern, strafrechtliche dagegen vor dreiundzwanzig verhandelt. Bei der
Verhandlung der ersteren darf man sowohl mit (für den Beklagten) günstigen
als auch ungünstigen Argumenten beginnen, wogegen in strafrechtlichen Sachen
die Verhandlung stets von einer (für den Angeklagten) günstigen Seite her in
Angriff zu nehmen ist. Die vermögensrechtlichen Streitsachen werden mit einer
Stimme Mehrheit sowohl zugunsten als zu ungunsten (des Beklagten) entschieden,
während in Strafsachen eine Stimme Mehrheit wohl zur Freisprechung genügt,
nicht aber zur Verurteilung, die eine Mehrheit von zwei Stimmen erfordert“ usw.
(Sanhedrin, IV, i).
Der außerordentlich knappe Stil wie auch die protokollartige Dar-
legungsweise, bei der die Meinungsverschiedenheiten unter den Ge-
setzeslehrern wohl hervorgehoben sind, die für die umstrittene Frage
ausschlaggebende Ansicht jedoch in keiner Weise kenntlich gemacht
ist — all dies läßt die Mischna weniger als einen Gesetzeskodex denn
als eine Sammlung von für die Gesetzeskunde wichtigem Material er-
i4o
§19. Jehuda ha’Nassi und der Abschluß der Mischna
scheinen, das der weiteren Bearbeitung noch harrte. Bemerkenswert
ist noch, daß hier neben dem geltenden Rechte auch alle bereits außer
Kraft getretenen, auf Opferdienst und Tempelkult, auf Kohanim und
Leviten sich beziehenden Gesetze mitbehandelt werden, da auch diese
den Gegenstand theoretischer Forschung in den Akademien bildeten.
Aus alledem ist zu ersehen, daß die Mischna nach dem ursprünglichen
Plan des Jehuda ha’Nassi in erster Linie dazu bestimmt war, als ein
Nachschlagewerk oder Handbuch für die Rechtsgelehrten und die
Rechtsbeflissenen in den Akademien zu dienen. Dieses Ziel hat sie
denn auch später ganz erreicht: sie wurde zum Gegenstände peinlich-
ster wissenschaftlicher Forschung und juristischer Exegese, die viele
Jahrhunderte hindurch der schulgerechten Wissenschaft unerschöpf-
lichen Stoff boten. Doch sollte durch die Mischna im Laufe der Zeit
auch noch ein anderes, von dem Kompilator unmittelbar gar nicht
erwogenes Ziel erreicht werden: es war ihr nämlich beschieden, zu
einem Kodex geschriebenen Rechts, zur Quelle der Gesetzgebung,
zur zweiten Thora zu werden. Sie sollte gleichsam kanonische Digni-
tät erlangen. Alle Gelehrten, deren Meinungen von ihr zitiert werden,
von den Schulen Hilleis und Schammais angefangen bis zu Jehuda
ha’Nassi, erhielten später den Ehrentitel Tannaiten (Tannaim, Leh-
rende — von der aramäisierten Form des Wortes „schana“: tanna),
während die Gelehrten der nachfolgenden Generationen nur noch als
ihre „Interpreten“ („Amoraim“, Amoräer), als ihre bescheidenen Aus-
leger gelten.
Das große Verdienst des Urhebers der Mischnaniederschrift wurde
noch bei seinen Lebzeiten richtig erkannt. Die Volkstümlichkeit des
Jehuda ha’Nassi übertraf den Ruhm eines Jochanan ben Sakkai und
eines Akiba. Man nannte ihn unter Weglassung des Eigennamens
kurzweg Rabbi (Meister). Späterhin legte man ihm auch noch den
Titel „der Heilige“ bei: „Rabbi Jehuda ha’kadosch“, „Rabbenu
ha’kadosch“ (unser heiliger Meister).
Das Amt eines Patriarchen bekleidete Jehuda ha’Nassi über vierzig
Jahre lang (ungefähr bis 210). Seine letzten Lebensjahre waren durch
physische Leiden getrübt, die die Folge einer schweren Krankheit wa-
ren. Auf seinem Sterbelager bat er, die Trauerzeit nicht allzu lange
währen zu lassen und schon nach dreißig Tagen den Unterricht in
allen Schulen wieder aufzunehmen. Als sich die Kunde verbreitete,
daß der Patriarch in den letzten Zügen liege, strömte das Volk in
Das Patriarchat in Galiläa
Massen nach Zippora, voll Unruhe der Nachrichten über seinen Zu-
stand harrend. Nach dem Ableben des Patriarchen wagte niemand,
mit der traurigen Botschaft vor die erregte Menge zu treten. Da er-
schien ein Jünger des Heimgegangenen, Bar Kappara, im Trauer-
gewande vor dem versammelten Volke und sprach: „Engel und
Sterbliche rangen miteinander um die Bundeslade; die Engel siegten
und die Bundeslade ist dahin!“ Das Volk verstand, was diese Bilder-
sprache zu bedeuten hatte, und ein lautes Wehklagen, das weit in der
Umgegend vernehmbar war, erfüllte Zippora. Der ganze Weg von
Zippora bis nach Beth-Schearim, wohin die Gebeine des Patriarchen
zur Bestattung überführt wurden, war mit dichten Menschenmassen
bedeckt. In den Synagogen hielt man tiefempfundene Reden über die
hervorragenden Verdienste des heimgegangenen Patriarchen, der der
„mündlichen Lehre“ ein ewiges Denkmal gesetzt hat
Fünftes Kapitel
Palästina im letzten Jahrhundert des
heidnischen Rom
(2 I O — 3 l 2)
§ 20. Die politische Lage
Über die Lage der Juden im römischen Reiche im letzten Jahr-
hundert der Vorherrschaft des Heidentums als der Staatsreligion be-
sitzen wir fast gar keine zuverlässigen Nachrichten. Die hervor-
stechendsten Züge des III. Jahrhunderts: der Verfall der Autorität
der kaiserlichen Gewalt, die immer mehr auf das Niveau des orien-
talischen Despotismus herabsinkt, und der ständig zunehmende
Einfluß der Provinzen auf die Hauptstadt haben sicherlich auch auf
das Los der in den östlichen Reichsprovinzen verstreuten Juden zu-
rückgewirkt. Den Thron der Gaesaren erringen nicht selten aus Asien
oder Afrika stammende Günstlinge der Legionen aus der Provinz. Sie
sind es, die die religiösen Kulte des Morgenlandes in die römischen
Tempel und morgenländische Sitten in das römische Leben einführen.
Es macht sich ein religiöser Synkretismus breit, der den späteren Tri-
umph des Christentums als einer ihrem Wesen nach synkretistischen
Religion vorbereitet, zuweilen aber auch dem Judentum nicht un-
günstig ist.
Die rechtliche Lage der Juden im Reiche hatte in dieser Zeit im
großen und ganzen eine Wendung zum Resseren erfahren. Der Kai-
ser Caracalla (211—217), der allen Provinzialen das römische Bür-
gerrecht verlieh, machte dabei auch für die Juden keine Ausnahme
(lex Antonina de civitate vom Jahre 212). Fortan besaßen auch die
Juden Rechte und Pflichten der römischen Bürger, so auch die Ver-
pflichtung, an der städtischen Selbstverwaltung mitzuwirken. Über das
persönliche Verhalten dieses Kaisers den Juden gegenüber wird nur
i43
Palästina im III. Jahrhundert
folgendes erzählt: Caräcalla hätte in seiner Kindheit einen jüdischen
Knaben zum Spielkameraden gehabt; als er eines Tages von einer
seinem Freunde wegen dessen Judentums (ob judaicam religionem)
bei Hofe zugefügten Beleidigung erfuhr, empfand der zukünftige
Kaiser gegen seinen Vater und die anderen an der ungerechten Be-
handlung Mitbeteiligten lebhaften Unmut. Sein für die morgenländi-
schen Kulte schwärmender Nachfolger, Elagabal (Heliogabal), ging
auch an dem jüdischen Kult nicht gleichgültig vorüber. Die Spötter
wollten wissen, daß er sich der Beschneidung unterzogen und den
Genuß des Schweinefleisches verabscheut hätte. Für die Bewohner
Judäas ergab sich jedoch kaum ein Vorteil daraus. Aus den im Tal-
mud erhaltengebliebenen Nachrichten ist zu ersehen, daß die Last der
staatlichen Besteuerung um diese Zeit für die palästinensischen Juden
noch drückender wurde. Ehedem waren nämlich die jüdischen Land-
leute auf Grund altverbürgter Vergünstigungen von den Naturalabga-
ben, der Ablieferung eines bestimmten Ernteteiles zugunsten der im
Lande liegenden römischen Truppen in den Sabbatjahren (Schemita),
da das Land brachlag, frei; jetzt begann man aber diese Abgaben
auch im Erlaßjahr einzutreiben. Der elenden Lage der Ackerbauer
Rechnung tragend, gestatteten die Gesetzeslehrer jener Zeit (R. Jan-
nai, ein Schüler des Jehuda ha’Nassi, und andere), solange die rück-
sichtslose Steuereintreibung anhalten würde, das Land auch im Sche-
mitajahre zu bebauen. Nicht ausgeschlossen erscheint es, daß nach
dem Gesetze des Caracalla über das Vollbürgerrecht die Juden gleich
allen anderen Provinzialen nunmehr auch zur Leistung der Militär-
pflicht herangezogen worden sind, indem sie entweder Rekruten stel-
len mußten oder aber eine besondere Steuer, die sogenannten Rekru-
tengelder (aurum tironicum), die zur Erhaltung von Mietstruppen
verwendet wurden, zu entrichten hatten.
Ein ausgesprochen freundliches Verhalten den Juden gegenüber
bekundete der Kaiser Alexander Severus (222—235), der den Befehl
gab, die alten, ihnen von den ersten Gaesaren verliehenen Vorrechte
nicht anzutasten. Dies mag sowohl in der allgemeinen liberalen Regie-
rungspolitik dieses Kaisers von syrischer Herkunft wie auch in seiner
Vorliebe für den Judaismus seinen Grund gehabt haben. In der Haus-
kapelle (lararium) des Alexander Severus, wo er jeden Morgen seine
Andacht zu verrichten pflegte, standen Darstellungen der von den
verschiedenen Völkern des Reiches vergötterten Helden friedlich ne-
§ 20. Die politische Lage
beneinander. Neben Orpheus fand sich hier die Darstellung des Erz-
vaters Abraham und die des Christus. Von den Juden oder den Chri-
sten lernte der Kaiser seinen Lieblingswahlspruch: „Tue dem anderen
das nicht, was du nicht wünschest, daß er es dir tun solle!“ (Aus-
spruch Hilleis). Diesen Wahlspruch (quod tibi fieri non vis alteri ne
feceris) pflegte er seinen Beamten als die sicherste Richtschnur zur
Vermeidung ungerechter Menschenbehandlung besonders zu empfeh-
len und ließ ihn sogar auf dem Giebel seines Palastes sowie auf man-
chen öffentlichen Gebäuden anbringen. Dem Kaiser sagte ganz be-
sonders der Brauch der jüdischen und christlichen Gemeinden zu,
die Namen der Amtsanwärter rechtzeitig bekanntzugeben, damit die
gegen sie in der Bevölkerung möglicherweise bestehenden Bedenken
in Erfahrung gebracht werden könnten; in dieser Weise verfuhr er
denn auch selbst bei der Ernennung von Statthaltern in den Pro-
vinzen.
Während seiner wiederholten Feldzüge nach Asien gegen die Per-
ser hatte Alexander Severus Gelegenheit, in nähere Beziehungen zu
den Repräsentanten des jüdischen Volkes, zum Patriarchen und den
Gemeindeältesten, zu treten und ihnen seine Gunst zu erweisen. Diese
Vorliebe des Kaisers für die Juden mißfiel den ortsansässigen Grie-
chen und Römern, und die Einwohner Antiochias und Alexandriens
nannten den Kaiser in spöttischer Weise einen „syrischen Synagogen-
vorsteher und Hohepriester“ (syrus archisynagogus et archiereus).
Wie hat sich nun das Los Palästinas in der Periode der fünfzigjäh-
rigen Anarchie (2 35—2 85), die in Rom nach dem Tode des Alexander
Severus herrschte, gestaltet? Die Metropole war von blutigen Fehden
der einander jäh ablösenden Kaiser, die von den einen Legionen auf den
Thron gehoben und von den anderen gestürzt wurden, heimgesucht.
Das Geschick des Reiches war der Soldateska aller Provinzen ausge-
liefert; „der Caesar von heute stieß den von gestern vom Throne“.
Unter solchen Verhältnissen war die Aufmerksamkeit der Zentral-
regierung von dem inneren Leben der fernen Provinzen notgedrun-
gen abgelenkt, und die in sich geschlossenen Nationen, wie die jü-
dische, mochten sich die Lage zur Erweiterung ihrer Autonomie zu-
nutze gemacht haben. Das Prinzip der „starken Gewalt“ gewann im
Reiche von neuem die Oberhand, als den Thron der tatkräftige Dal-
matier Diokletian (2 85—3o5) bestieg, der zwecks Befestigung der
Reichsgewalt in den Provinzen sich zu einem dezentralisierten Ver-
10 Diibnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
i45
Palästina im III. Jahrhundert
waltungssystem entschlossen hatte (das System der Mitregentschaft:
zwei „Auguste“ und zwei „Caesaren“). Der neue Kaiser verfolgte in
grausamster Weise die Christen, deren Missionseifer ihm mit ein
Grund für den Verfall der römischen Staatsreligion zu sein schien,
doch ließ er die Juden unbehelligt. So soll Diokletian, einer talmudi-
schen Nachricht zufolge, während seines Aufenthaltes in Palästina
ein Edikt erlassen haben, wonach alle Völkerschaften den römischen
Göttern opfern mußten; sogar die „Kuthäer“, d. s. die Samaritaner,
hatten das Dekret zu befolgen, nur die Juden allein blieben von dem
Gewissenszwang verschont. Es ging jedoch nicht ohne Versuche ab,
die Juden beim Kaiser anzuschwärzen. Die niedrige Herkunft des
Diokletian (er war der Sohn eines Hirten) gab nämlich nicht selten
zu beleidigenden Ausfällen gegen ihn Anlaß. Wahrheit und Dich-
tung vermengend, berichtet nun die talmudische Legende, daß Dio-
kletian in seiner Jugend ein Schweinehirt gewesen sei und nicht we-
nig unter dem Gespött jüdischer Schulbuben zu leiden gehabt hätte
(dabei fügt sie mahnend hinzu, daß man nie auch den geringsten
der Römer verächtlich behandeln solle, denn jeder von ihnen könne
den Purpur erlangen). Als dann der zum Kaiser gewordene Dio-
kletian in Palästina ein traf, wurde ihm hinterbracht, die Juden mach-
ten sich über ihn lustig, indem sie ihn einen Schweinehirten nennen.
Der erzürnte Kaiser sandte darauf einen Boten nach Tiberias mit dem
Befehl, der Patriarch Jehuda Nessia solle mitsamt den angesehensten
Juden in der Stadt Paneas am Sabbatabend vor ihm erscheinen. Der
Befehl wurde gerade am Freitag gegen Abend zugestellt, als der Pa-
triarch vor Beginn des heiligen Tages ein Bad nahm. Der Patriarch
geriet zunächst in große Verwirrung, da er sich gezwungen sah, die
Sabbatruhe zu verletzen; da machte sich aber der Bademeister an-
heischig, den Patriarchen und die anderen rechtzeitig an Ort und
Stelle zu bringen, und hielt in der Tat Wort. Nachdem die Volks-
ältesten die Vorwürfe des Kaisers vernommen hatten, beteuerten sie,
daß die Juden es an der dem Kaiser gebührenden Ehrerbietung nicht
hätten fehlen lassen und daß sie grundlos verleumdet worden seien.
Dieser sagenhafte Bericht scheint ein Körnchen Wahrheit in sich zu
bergen: bei seinem Aufenthalt in Palästina (so im Jahre 286 und
auch später) mochte Diokletian die Patriarchen Jehuda II. oder Je-
huda III. sowie die jüdischen Gemeindeältesten in der Tat emp-
i46
§ 21. Die Patriarchen in Tiherias
fangen und ihre Fürbitten wie auch die Bezeugung ihrer Untertanen-
treue entgegengenommen haben.
Um diese Zeit ist eine höchst bedeutsame Tatsache zu beobachten:
das nach dem Aufstande des Bar Kochba lange verödet gebliebene
Judäa, dessen Hegemonie sich inzwischen nach Galiläa verschoben
hatte, beginnt sich von neuem zu regen. In der zweiten Hälfte des
III. Jahrhunderts bilden sich bedeutende jüdische Gemeinden und
Akademien in Caesarea, Lydda und anderen Städten. Die hadrianische
Verfügung, die den Juden den Zutritt zu Aelia Capitolina, dem ehe-
maligen Jerusalem, verwehrte, bestand noch immer zu recht, doch
wurden jetzt Ausnahmen gewährt. Dank der Nachsicht der römischen
Wache gelang es manchmal den jüdischen Pilgern, sich in ihre ehe-
malige Hauptstadt einzuschleichen, um an der Stätte, an der sich einst
der Tempel erhob, ihr bitteres Los zu beweinen. Der berühmte christ-
liche Schriftsteller der ersten Hälfte des III. Jahrhunderts, Origenes,
der sich längere Zeit in Palästina aufgehalten hatte, wendet sich in
einem seiner Werke an den „Judäer“: „Oh, Judäer, solltest du in
die irdische Stadt Jerusalem gelangen und gewahr werden, wie sie
zerstört und in einen Trümmerhaufen verwandelt daliegt, so weine
nicht, wie ihr es jetzt, eurem Gefühl gleich Kindern nachgebend,
zu tun pflegt, so schluchze nicht, sondern suche statt der irdischen
Stadt die himmlische“. Inzwischen wurden aber die Wallfahrten der
Juden nach Jerusalem, besonders gegen Ende des III. Jahrhunderts,
eine immer häufigere Erscheinung, und es bildete sich dort sogar,
wie dies aus einigen talmudischen Andeutungen zu ersehen ist, eine
kleine jüdische Siedlung.
§ 21. Die Patriarchen in Tiberias
Nach der rastlosen Arbeit in der Zeit des Jehuda ha’Nassi trat
für eine Zeitlang eine Ruhepause ein. Der Sohn und Nachfolger des
Mischnasammlers, Gamaliel III. (um 210—2 3o), verfügte weder über
die Gelehrsamkeit noch über die staatsmännische Begabung seines
Vaters, und so ging denn seine Wirksamkeit fast spurlos vorüber.
Erhalten haben sich nur einige Aussprüche dieses Patriarchen, die von
der Nüchternheit und Redlichkeit seiner Gesinnung Zeugnis ablegen:
„Schön ist es — pflegte er zu sagen —, wenn sich Gelehrsamkeit mit
weltlichem Geschäfte paart, denn die Mühe um beides, die geistige
i4?
io*
Palästina im 111. Jahrhundert
und die physische Arbeit, hält von der Sünde fern. Das Thorastudium
allein, ohne Beschäftigung mit einem Handwerk, bleibt letzten Endes
fruchtlos und verleitet sogar zur Sünde. Wer sich mit Gemeinde-
angelegenheiten befaßt, soll es nur um des Himmels willen (nicht
aus eigennützigen Motiven) tun . . . Seid vorsichtig den (römischen)
Behörden gegenüber, denn sie ziehen den Menschen nur um ihres
eigenen Nutzens willen an sich; sie zeigen sich freundlich und ge-
fällig, solange es ihr Vorteil ist, stehen aber dem Menschen in seiner
Not nicht bei“ (Aboth, II, 2—3). Diese letzte Warnung war viel-
leicht die Frucht der bitteren Erfahrungen, die der Patriarch bei
seinem Verkehr mit den römischen Behörden in Palästina gemacht
haben mochte.
Eine neue Blütezeit begann für das Patriarchat unter dem Sohne
Gamaliels, R. Jehuda 11. Nessia (die aramäisierte Form von Nassi).
Er trat sein Amt noch in jugendlichem Alter an und stand mehr als
ein halbes Jahrhundert lang an der Spitze der nationalen Selbstver-
waltung (um 2 3o—286, wenn man sich auf chronologische Mut-
maßungen verlassen will). Seinem Großvater an Gelehrsamkeit weit
nachstehend, machte Jehuda II. auch keinerlei Ansprüche, wie jener
als gesetzgeberische Autorität zu gelten, doch setzte er sich stets für
die Machtbefugnisse des Patriarchats aufs entschiedenste ein. Nach
Antritt des Patriarchenamtes verlegte Jehuda seine Besidenz aus Zip-
pora nach Tiherias, wohin auch das Gelehrtenkollegium übersiedelte.
Diese am Ufer des Genezarethsees herrlich gelegene galiläische Stadt
wird von nun ab für die folgenden zwei Jahrhunderte der ständige
Sitz der Patriarchen und der geistige Mittelpunkt des palästinensischen
Judentums. Tiberias sollte in der Epoche der palästinensischen Hege-
monie als das letzte bedeutende Zentrum jüdischer Selbstverwaltung
und akademischer Schaffenskraft eine Rolle spielen. Jehuda Nessia
lebte hier als teils weltlicher, teils geistlicher Würdenträger. Zwischen
Tiberias und Caesarea, der Residenz des römischen Statthalters,
bestanden rege Beziehungen. Der christliche Schriftsteller Origenes,
der um jene Zeit in Palästina, und zwar in Caesarea, lebte (um 2 35),
kennzeichnet folgendermaßen die Bedeutung des Patriarchen, den er
einen „Ethnarchen“ nennt: „Sogar jetzt, da die Römer herrschen
und die Judäer ihnen Tribut, die Doppeldrachme, entrichten, ver-
fügt der Ethnarch neben dem Caesar noch immer über weitgehende
Gewalt. Die geheimen Tribunale richten sich nach ihrem (der Juden)
i48
§ 21. Die Patriarchen in Tiherias
Gesetz und es werden dort manchmal sogar Todesurteile ohne Voll-
macht dazu (von seiten Roms) gefällt, jedoch nicht so (geheim), daß
dies dem Regenten (Statthalter) entgehen könnte. Dies habe ich selbst
in Erfahrung gebracht, da ich mich lange Zeit im Lande dieses Vol-
kes aufhielt“. Diese Erweiterung der Autonomie lag während der Re-
gierung des judenfreundlichen Kaisers Alexander Severus durchaus im
Bereiche der Möglichkeit. In den ersten Jahren seines Patriarchats mag
Jehuda II. mit Alexander Severus, der sich in den Jahren 281—2 33
anläßlich des Krieges mit den Persern in Syrien aufhielt, auch per-
sönlich zusammengetroffen sein, während er in hohem Alter über-
dies noch Gelegenheit gehabt haben mochte, mit dem nach Palästina
gekommenen Kaiser Diokletian in Verbindung zu treten (wenn man
annehmen will, daß der Held der oben, § 20, wiedergegebenen Sage
eben Jehuda II., nicht sein Enkel, Jehuda III., gewesen ist). An-
gesichts seiner nahen Beziehungen zur römischen Staatsgewalt räum-
ten die strengen jüdischen Gesetzeseiferer dem Patriarchen und sei-
nen Angehörigen verschiedene Freiheiten in Lebensführung, Haus-
halt und Tracht ein; in der Familie des Patriarchen sprach man nicht
selten griechisch und las in jenen Werken der griechischen Literatur
oder der 3,griechischen Weisheit“, die die Rechtgläubigen der Jugend
sonst in jeder Weise vorzuenthalten pflegten.
Der liberale, junge Patriarch gab sich indessen mit den we-
nigen, ihm in seiner persönlichen Lebensweise zuteil gewordenen Er-
leichterungen nicht zufrieden; vielmehr wollte er auch das Volk von
dem Drucke besonders einengender Vorschriften befreien. So ver-
suchte er, manche der „achtzehn Regeln“, die in Judäa während des
Nationalitätenkampfes zur Absonderung der Juden von den Heiden
auf gestellt worden waren1), wieder aufzuheben. Die Regeln untersag-
ten nämlich den Juden den Einkauf von Nahrungsmitteln bei Fremd-
stämmigen und lasteten schwer auf dem Verbraucher. Jehuda gestat-
tete nun, eines der wichtigsten Nahrungsmittel, das Olivenöl, bei
Nichtjuden einzukaufen, doch stimmten die Gesetzeslehrer dieser
Neuerung nur widerwillig zu und widersetzten sich in entschiedenster
Weise allen weitergehenden reformatorischen Bestrebungen des Pa-
triarchen.
Während Jehuda II. so aller kleinlichen Reglementierung abhold
war, ließ er um so größere Fürsorge jenen Institutionen angedeihen,
1) S. Band II, S 91.
i4g
Palästina im III. Jahrhundert
die ihm als die wahren Eckpfeiler des Judaismus galten. Nicht wenig
bemühte er sich um die Hebung der Schulbildung und um die Ver-
breitung des Wissens im Volke. „Die ganze Welt — so sagte er ein-
mal — lebt von dem Odem der kleinen Schulkinder; von der heiligen
Sache des Unterrichts der Kinder darf man sich nicht einmal durch
ein Werk wie die Tempelerrichtung ablenken lassen“. Er pflegte die
hervorragendsten Gesetzeslehrer in die einzelnen Städte hinauszusen-
den, um das Volk über die Wichtigkeit der Schulerziehung der Kin-
der aufzuklären und den Unterricht in den bestehenden Schulen zu
überwachen.
Als dem Träger der vollziehenden Gewalt lag es dem Patriarchen
ob, die gerichtlichen und die auf die Verwaltung bezüglichen Ent-
scheidungen des Gelehrtenkollegiums oder des Synhedrion zu voll-
strecken. Zu diesem Behufe standen ihm Diener und Beamte zur
Verfügung; im Notfälle rief er den Beistand der römischen Behörden
an. Mangels einer strengen Abgrenzung der Kompetenzsphären der
weltlichen Macht des Patriarchen einerseits und der geistigen Autori-
tät der Gesetzeslehrer andererseits waren jedoch Konflikte zwischen
den beiden Faktoren unvermeidlich. So machte Jehuda II. von der
auf ihn von seinem Großvater übergegangenen Befugnis, nach eige-
nem Ermessen Richter und Lehrer in den Gemeinden zu ernennen,
einen viel zu weitgehenden Gebrauch. Man warf ihm vor, daß er
nicht selten gegen Entgelt ihrem Berufe nicht gewachsene, unwissende
Leute zu diesen Ämtern befördere. Die tonangebenden Gesetzeslehrer
suchten solche unwürdige Kollegen zu demütigen und öffentlich bloß-
zustellen. Einst setzte der Patriarch einen wenig vorgebildeten Mann
als „Richter“ (Rabbi) ein und trug dem Gelehrten Juda bar Nach-
mani auf, ihm als „Meturgeman“ *) bei der öffentlichen Predigt in
der Synagoge zur Seite zu stehen. Der Neuling bestieg nun die Kanzel,
doch vermochte er aus Verlegenheit oder aus Mangel an Wissen kei-
nen Laut hervorzubringen. Nachdem der gelehrte „Meturgeman“ ver-
gebens auf die Rede des Debütanten gewartet hatte, rief er die Worte
des Propheten aus: „Wehe dem, der zum Holze spricht: Erwache!,
zum Steine: Rege dich! Sollte er Bescheid geben? Ist er doch in Gold
und Silber gefaßt und keinerlei Geist lebt in ihm!“ Auch das Volk
1) Die Amtsobliegenheit eines „Meturgeman“ oder Dolmetschers bestand darin,
die öffentlichen Vorträge der Prediger, denen nicht immer rednerische Begabung
zur Verfügung stand, zu erläutern und dem Volk verständlich zu machen.
i5o
§ 21. Die Patriarchen in Tiherias
begegnete übrigens denen, die geistliche Würden für Geld erstanden,
nur mil Verachtung. Man verweigerte ihnen den Ehrentitel Rabbi und
erhob sich nicht von den Plätzen bei ihrem Erscheinen in den Ver-
sammlungen. „Ihr Tallis (Gebetgewand) ist einem Eselsattel gleich“,
pflegten die empörten Schriftgelehrten zu sagen. Um ähnlichen Miß-
bräuchen oder Fehlgriffen vorzubeugen, wurde nunmehr bestimmt,
daß der Patriarch nur mit Zustimmung des Synhedrion Richter er-
nennen dürfe.
Einflußreiche Gesetzeslehrer schonten indessen auch den Patri-
archen selbst in keiner Weise und machten ihm bald Mißbrauch der
Amtsgewalt, bald Überbürdung des Volkes durch maßlose Besteue-
rung zum Vorwurf. Unter Jehuda II. wurden anscheinend für den
Unterhalt des Patriarchenhofes viel höhere Beträge gefordert als
unter seinen Vorgängern. So konnte denn der berühmte Gesetzes-
lehrer Resch-Lakisch dem Patriarchen, als dieser sich einst in seiner
Gegenwart über die Erpressungen seitens der römischen Beamten be-
klagte, in schroffer Weise zurufen: „Nimm nicht, so wird dir nicht
genommen werden“. Derselbe Gelehrte geriet auch noch aus folgen-
dem Anlaß mit dem Patriarchen in Konflikt. Bei der Repartierung
der durch die Ausbesserung der Stadtmauer von Tiberias und durch
den Unterhalt der Stadtwache verursachten Kosten zog nämlich Je-
huda II. auch die Mitglieder der Gelehrtenkorporation, die ehedem
Steuerfreiheit genossen hatten, zu den Lasten heran. Resch-Lakisch
legte dagegen Verwahrung ein. Eines Tages, als in der Akademie das
Rechtsproblem der Obrigkeitsdelikte erörtert wurde, brachte Resch-
Lakisch die folgende These zur Erörterung: „Ob wohl der Nassi (Pa-
triarch), wenn er sich eines entsprechenden Vergehens schuldig ge-
macht hat, der Geißelstrafe (Malkoth) verfällt?“ Die Versammlung
stand nicht an, die Frage zu bejahen. Der Patriarch, der hierin eine
indirekte Beleidigung seiner Person erblickte, entsandte unverzüglich
einen seiner Diener mit dem Befehl, Resch-Lakisch zu verhaften;
doch hatte sich dieser, von dem Vorhaben Jehudas unterrichtet, in-
zwischen rechtzeitig nach einem Nachbarort gerettet. Tags darauf
wohnte Jehuda einer Sitzung in der Akademie bei, wo der älteste
Gesetzeslehrer R. Jochanan seinen Vortrag halten sollte. Als der Pa-
triarch nun sah, daß dieser nicht zu reden begann und auf jeman-
den zu warten schien, fragte er Jochanan, wer ihm noch fehlen möge.
Dieser erwiderte, er erwarte seinen Freund Resch-Lakisch, ohne den
i5i
Palästina im III. Jahrhundert
keine halachischen Disputationen geführt werden könnten. Als der
Patriarch erfuhr, daß Resch-Lakisch sich in einem Nachbardorf ver-
borgen halte, gestattete er dem in Ungnade gefallenen Gelehrten nicht
nur die sofortige Rückkehr, sondern zog ihm sogar zur Bewillkomm-
nung selbst entgegen. Beim Zusammentreffen dankte Resch-Lakisch
Jehuda für dessen Großmut und Milde, konnte aber gleich darauf,
als der Patriarch auf das tags zuvor Vorgefallene zu sprechen kam,
mit der schroffen Entgegnung nicht zurückhalten: „Glaubst du denn,
daß ich aus Furcht vor dir die Lehren der Thora verschweigen
werde?“
Ein anderes Mal geschah es, daß R. Jose in einer in der Syna-
goge von Tiberias gehaltenen Predigt Jehuda dadurch zu nahe trat,
daß er erklärte, der Hof des Patriarchen eigne sich nunmehr alle
Gaben an, die ehedem den Priestern dargebracht wurden. Jehuda
wollte den dreisten Prediger bestrafen, ließ sich aber durch die Für-
sprache des R. Jochanan und des Resch-Lakisch zur Versöhnung be-
wegen. Bei seiner Zusammenkunft mit R. Jose legte ihm der Patri-
arch unter anderem die Frage vor: „Was bedeutet der biblische Aus-
druck: Wie die Mutter, so die Tochter?“ — und erhielt zur Antwort:
„Wie das Zeitalter, so der Nassi; wie der Altar, so der Priester“. Der
Patriarch fand jedoch Trost in dem folgenden von ihm selbst ge-
prägten Ausspruch: „Jede Generation hat den Parnes (Führer), den
sie verdient“. All dies spricht dafür, daß Jehuda sich im allgemeinen
durch versöhnlichen Charakter auszeichnete und mit den einfluß-
reichen Gesetzeslehrern in gutem Einvernehmen zu leben bestrebt
war. Alle hier erwähnten Konflikte hatten ihren letzten Grund in
jenem inneren Antagonismus zwischen weltlicher und geistlicher Ge-
walt, mit dem schon die Vorgänger Jehudas II. zu rechnen hatten.
Nach dem Tode Jehudas II. beginnt der Niedergang des palästi-
nensischen Patriarchats. Seine Nachfolger, Gamaliel IV. und Je-
huda III. (um 286—33o), hinterließen in der Geschichte fast gar
keine Spuren. Das talmudische Schrifttum läßt sie fast ganz uner-
wähnt. Sie scheinen sich nur auf die Erfüllung ihrer Amtspflichten
beschränkt zu haben, indem sie vor allem für pünktliche Eintreibung
der Staats- und Gemeindesteuern Sorge trugen. Unter ihnen bürgerte
sich der Brauch ein, Bevollmächtigte oder „Apostel“ aus Galiläa in
andere Länder zum Einsammeln von Spenden zugunsten des Patri-
archenhofes auszusenden. Das Patriarchat Jehudas III. fällt in die
I 52
§ 22. Die Epigonen der Mischna und die Amoräer
Zeit der großen Krise im römischen Reiche, die die Verwandlung
der bis dahin verfolgten christlichen Religion in die herrschende, die
Staatsreligion, zur Folge hatte.
§ 22. Die Epigonen der Mischna und die Amoräer
Nach dem Mischnaabschluß ging die geistige Arbeit in Palästina
in zwei Richtungen weiter vor sich. Die einen widmeten sich der
Sammlung jener zahlreichen mündlichen Lehrstücke, die Jehuda
ha’Nassi in seine Mischna nicht miteingeschlossen hatte, und stellten
aus diesem Stoff supplementäre Sammlungen zusammen; die anderen
beschäftigten sich mit der Auslegung des Textes der Mischna, indem
sie die Motive der von ihr getroffenen Entscheidungen oder der in
ihr gesammelten Sonderansichten dissentierender Gesetzeslehrer er-
läuterten und mit den Mitteln der juristischen Interpretationskunst
neue Schlußfolgerungen daraus zogen. Die einen waren Sammler und
Redaktoren, die anderen Interpreten.
Jehuda ha’Nassi, der in seiner Mischna „Halachoth“, d. s. Gesetze
oder Gesetzentwürfe sowie von maßgebenden Autoritäten vertretene
Ansichten, zu einem Ganzen zusammengeschlossen hatte, vermochte
das im Laufe mehrerer Jahrhunderte angehäufte gewaltige Material
der mündlichen Lehre nicht ganz zu erschöpfen. Manche Halachoth
dürfte der gelehrte Patriarch einfach übersehen haben, während er
viele von den ihm geläufigen in die Mischna wohl aus dem Grunde
nicht aufnehmen wollte, weil sie ihm als nicht genügend maßgebend
erschienen oder als zu weitläufige Einzelheiten die gedrängte, lako-
nische Darlegungsart dieser Sammlung nur beeinträchtigt hätten.
Allein Jehuda ha’Nassi hinterließ nicht nur einen leblosen Kodex,
sondern auch lebens- und schaffensfrohe Schüler und Freunde, die
das von ihm eingeleitete Werk der Systematisierung der mündlichen
Lehre nicht im Stiche ließen. Diese Gelehrten — R. Chi ja, Uschaja,
Abba-Areka u. a. — gaben sich alle Mühe, die von dem Meister über-
gangenen Halachoth zu sammeln, und vereinigten sie sodann zu be-
sonderen Sammelwerken. Den neuen Stoff mit dem bereits vorlie-
genden verknüpfend, ordneten sie diesen letzteren innerhalb der sechs
obenerwähnten Mischnateile manchmal auf eine neue Weise an, so
daß neben der Redaktion des Jehuda ha’Nassi andere parallele Re-
daktionen zur Entstehung kamen. So entstanden umfassende Samm-
i53
Palästina im III. Jahrhundert
lungen, die unter dem Titel „Barajta“ (draußen befindliche Hala-
choth) und „Tosephta“ (ergänzende Halachoth oder parallele Mischna-
joth) bekannt sind. Sie waren in verschiedenen, mehr oder weniger
vollständigen Abschriften in den Schulen Palästinas und Babyloniens
in Gebrauch. Die endgültige Redaktion der „Tosephta“ gehört einer
späteren Zeit an, während die „Barajta“ uns als eine besondere Samm-
lung überhaupt nicht erhaltengeblieben ist; doch sind Einzelstellen
daraus als von den Interpreten der Mischna, den Schöpfern der „Ge-
mara“, zitierte Belege in beiden Talmudtexten, dem palästinensischen
und dem babylonischen, überall verstreut1).
Hand in Hand mit dieser Sammlerarbeit, die gleichsam einen
Strich unter das bereits Geleistete zog, ging die intensive schöpferische
Arbeit der Rechtsgelehrten weiter, denen die Mischna für neue wissen-
schaftliche Konstruktionen, für die Aufführung weiterer Stockwerke
der „mündlichen Lehre“ als unverrückbare Grundlage diente. Diese
Gelehrten erhielten den bescheidenen Namen Amoräer (Amoraim),
d. h. Interpreten, obwohl sie im Grunde an dem Werke der Tannaiten
unmittelbar weiter schufen, indem sie durch akademische Erläuterun-
gen und Ausdeutungen die Gesetzgebung und die Rechtskunde bedeu-
tend bereicherten. Ebenso wie die Tannaiten früher auf Grund der
heiligen Thora neue Rechtsnormen zur Formulierung brachten, so
begannen nunmehr auch die Amoräer (freilich mehr aus theoreti-
schem, denn aus praktischem Interesse) solche Normen auf Grund
der gesammelten und schriftlich fixierten Mischna, die für die Schu-
len zur zweiten Thora wurde, aufzustellen und zu begründen. Der
Unterschied zwischen dieser neuen Entwicklungsphase der „münd-
lichen Lehre“ und der vorhergehenden bestand nur darin, daß in
demselben Maße, in welchem die Thora an Kompliziertheit von der
Mischna übertroffen wurde, auch die Deutung dieser letzteren an
Kompliziertheit gewinnen mußte. Die Knappheit der Ausdrucksweise
der Mischna, die in ihr vorkommenden Kontroversen, das Fehlen einer
Motivierung in der Mehrzahl der sowohl endgültig entschiedenen
als auch umstrittenen Lehrsätze — all dies bot unerschöpflichen
Stoff für die tiefgründigen Geister. So verlegten sich denn die einen
auf die Erläuterung der kurzgefaßten und nicht selten überaus viel-
!) Solche Zitate beginnen im Talmud gewöhnlich mit den Worten: „Tanu
rabbanan“ (so lehrten unsere Meister) oder noch kürzer: „Tanu“ (sie lehrten).
Über die Tosephta s. unten, § 4o.
i54
§ 22. Die Epigonen der Mischna und die Amoräer
deutigen Formulierungen der Mischna, die anderen suchten deren
Lehrsätze auf logischem Wege oder durch den Nachweis der ent-
sprechenden Quelle in der Thora zu begründen, wieder andere gaben
sich Mühe, den Text der Mischna mit den Texten der supplementären
Traditionen und Erläuterungen, die in der „Barajta“ gesammelt wa-
ren, in Einklang zu bringen, und andere schließlich ließen alle diese
Quellen vereint zu Worte kommen, um aus einer solchen Zusammen-
stellung theoretische und praktische Schlußfolgerungen ziehen zu
können. Diese Arbeit absorbiert die geistige Energie einer Reihe von
„Amoräer4 4 -Genera t ionen.
Die ersten Amoräer gingen unmittelbar aus der Schule des Jehuda
ha’Nassi hervor. Nach dem Ableben ihres großen Meisters gründeten
sie ihre eigenen Schulen in Galiläa, Judäa und Babylonien und be-
gannen die Mischna, ein jeder nach seiner Art, weiter auszubauen. Im
III. Jahrhundert taten sich in Palästina zwei Gruppen von Amoräern
hervor: eine ältere und eine jüngere. Die Wirksamkeit der älteren
Gruppe fällt ungefähr mit der Periode des Patriarchats Gamaliels III.,
des Sohnes des Jehuda ha’Nassi, zusammen, während die Wirksamkeit
der jüngeren mit dem Patriarchat Jehudas II. zusammenfällt. Der
Hauptrepräsentant der ersteren war R. Chanina bar Chama, der der
letzteren R. Jochanan bar Napacha.
Auf Grund einer letztwilligen Verfügung des Jehuda ha’Nassi trat
nach dessen Tode Chanina bar Chama das Amt eines Vorstehers der
Akademie in der Stadt Zippora an, in der auch der Patriarch Ga-
maliel III. residierte. Der neue Patriarch, dem es im Gegensatz zu
seinem Vater an der Autorität eines Gelehrten fehlte, fand in Cha-
nina einen tatkräftigen Mitarbeiter. Dieser pflegte in seinen wissen-
schaftlichen Untersuchungen wie in den praktischen Rechtsentschei-
dungen stets die Mischna-Lehrsätze zum Ausgangspunkte zu nehmen;
auch berief er sich gerne auf die noch von ihm persönlich gehörten
Meinungsäußerungen des heimgegangenen Mischnasammlers, als wä-
ren sie unumstößliche Wahrheiten. Die Tradition und die Autorität
der Altvorderen galt ihm mehr als alle kasuistischen Spitzfindigkei-
ten, obwohl er auch diese nicht ganz verschmähte. Neben zahlreichen
Halachoth haben sich von ihm im Talmud einige philosophisch-
ethische Sinnsprüche erhalten, die seine großzügige Weltanschauung
bezeugen Das Problem der Willensfreiheit versuchte Chanina durch
folgende präzise Formel zu lösen: „Alles ist in Gottes Hand außer
i55
Palästina im 111. Jahrhundert
der Gottesfurcht“ (Berachoth, 33), d. h. alles ist vorausbestimmt mit
Ausnahme der sittlichen Handlungsweise, die der freien Wahl des
Menschen überlassen ist. Chanina war auch mit der Heilkunst ver-
traut und ein Gegner aller Zauber- und Wunderheilmittel. Als Be-
rater des Patriarchen in geistigen Dingen wurde er einst mit einem
anderen Gelehrten, Josua ben Levi, von dem römischen Statthalter
in Caesarea in Audienz empfangen. Der Statthalter soll sich ehr-
erbietig vor den Gesetzeslehrern erhoben haben, und als man in seiner
Umgebung verwundert fragte, warum er denn „diesen Judäern“ eine
so hohe Ehre erweise, erwiderte er: „Sie erscheinen mir wie Engels-
gestalten“.
Der eben erwähnte Josua ben Levi besaß seine eigene Schule „im
Süden“, d. h. im eigentlichen Judäa, in der Stadt Lydda. In den nach
dem Aufstande des Bar Kochba verödeten Städten des Südens scheint
nunmehr neues Leben erblüht zu sein. Dort lebten und lehrten einige
von den Schülern des Jehuda ha’Nassi. Josua ben Levi sparte keine
Mühe, um auch in den dortigen jüdischen Gemeinden Ordnung zu
schaffen; von Zeit zu Zeit unternahm er in Gemeindeangelegenheiten
Reisen nach Caesarea zum Statthalter. Auch soll er einmal, der Über-
lieferung zufolge, nach Rom gereist sein. Im Süden Palästinas spielte
Josua die Rolle eines Stellvertreters des Patriarchen, und nahm sich
sogar das Recht, Rabbiner und Richter in den einzelnen Gemeinden
zu ernennen. In der Sage erscheint er als ein in die Geheimnisse der1
messianischen Zeit und des Lebens im Jenseits eingeweihter Seher:
in Rom soll er den Messias selbst, als dieser im Stadttore mitten unter
Siechen, die ihre Wunden verbanden, saß, gesehen und erfahren ha-
ben, daß der Messias sich offenbaren werde, sobald die Menschen den
Weg der Gerechtigkeit eingeschlagen haben würden. Einen realeren
Hintergrund verrät eine andere Erzählung über Josua ben Levi. Er
habe nämlich in Rom gesehen, wie man Marmorbildsäulen mit kost-
baren Teppichen umwickelte, um sie vor Regen und Sonne zu schüt-
zen, und wie zugleich die Bettler halbnackt umherirrten, ihre Blöße
kaum mit Lumpen bedeckend. Voll Entrüstung rief er, den Psalmen-
vers (36, 7) parodierend, aus: „Deine Gnade erstreckt sich bis auf
die mächtigen Felsen, deine Grausamkeit aber reicht bis zur Abgrund-
tiefe“, d. h. Rom ist voll zarter Sorge um Steine, läßt aber die Men-
schen in die Tiefen des Elends versinken. Im Mittelalter galt Josua
ben Levi als Verfasser einer Apokalypse, in der die von ihm im
i56
§ 22. Die Epigonen der Mischna und die Amoräer
Paradies und in der Hölle gemachten Erfahrungen ausführlich ge-
schildert werden (Maasse de’Rabbi Josua ben Levi).
Unter den galiläischen Amoräern der älteren Gruppe nahm auch
noch R. Jannai aus Zippora eine hervorragende Stellung ein, derselbe,
der angesichts der Notlage des Volkes zeitweilig die Bestellung der
Felder im Sabbat jahre gestattet hatte (§ 20). Er war ein wohlhaben-
der Mann und scheint Chanina seine Vorrangstellung in den akademi-
schen Kreisen streitig gemacht zu haben. Der Mitarbeiter des Rabbi
bei der Mischnasammlung, R. Chi ja, bemühte sich auch weiter um
die Ergänzung und Vervollkommnung dieses Sammelwerkes. Dabei
stand ihm als treuer Gehilfe R. Uschaja zur Seite, das Haupt einer
Schule zuerst in Galiläa und sodann in der Residenz der römischen
Statthalter von Judäa, in Caesarea.
Zu den Schülern des Jannai gehörte Rabbi Jochanan bar Napacha,
der die jüngere Gruppe der Amoräer des III. Jahrhunderts repräsen-
tiert (er wirkte um 2 3o—*286). Kurz vor dem Ableben des Jehuda
ha’Nassi gelang es dem noch in zartestem Alter stehenden Jochanan,
in der Akademie des großen Meisters dem Unterricht beizuwohnen;
viel später entsann er sich noch, wie er als Kind dort unter den Schü-
lern der „siebzehnten Reihe“ gesessen, die tiefsinnigen, zwischen dem
Patriarchen und den Gelehrten geführten Debatten mitangehört und
— kein Wort verstanden hatte. Seine weitere wissenschaftliche Aus-
bildung erhielt Jochanan in den Schulen des Chanina, Jannai, Uschaja
und anderer Jünger des Mischnasammlers. Seine Lehrjahre brachte
er in Elend und Not zu. Eines Tages sah er sich sogar genötigt, der
Wissenschaft zu entsagen und sich dem Handel zuzuwenden, doch
verkaufte er gar bald seinen kleinen Landbesitz, um sich ganz dem
Thorastudium widmen zu können. Nach langen Wanderjahren grün-
dete er seine eigene Schule in Tiberias. Es geschah dies um die Zeit,
als dem Patriarchen Gamaliel III. in seinem Amte sein Sohn, Je-
huda II. Nessia, folgte, der die Residenz aus Zippora nach Tiberias
verlegte. Jochanan vertrug sich nämlich in Zippora mit dem Vor-
steher der dortigen Akademie, seinem Lehrer Chanina, nicht, da er
sich mit ihm über die Methoden der Mischnaexegese nicht einigen
konnte; in Tiberias war er hingegen ganz auf sich gestellt. Er wurde
hier die rechte Hand des jungen Patriarchen, sein Mitarbeiter im
geistlichen Verwaltungsamte, und scheint auch seinen Unterhalt aus
157
Palästina im III. Jahrhundert
dem Schatze des Patriarchen bezogen zu haben. Man nannte ihn zu-
weilen: „Jochanan aus dem Patriarchenhause“ (debe Nessia).
Jochanan war einer der Hauptschöpfer des sogenannten „palä-
stinensischen Talmud“. Die Mischna bedeutete ihm bereits eine zweite
Thora, und jeder ihrer Ausdrücke schien ihm eine Analyse, eine Er-
läuterung, eine Ausdeutung zu erheischen. Aus solchen Ausdeutungen
zog er die weitestgehenden Schlüsse sowohl wissenschaftlichen als
auch praktischen Charakters. Nicht selten benutzte er zur Erläuterung
des Mischnatextes die ihn vielfach ergänzenden „äußeren Mischna-
joth“ oder die „Barajta“, um auf Grund solcher Kollationierung die
verschiedenartigsten Konstruktionen aufzubauen. Für die Fälle, wo
der Mischnatext divergierende Ansichten mehrerer Tannaiten enthielt,
stellte er Regeln auf, auf Grund derer die ausschlaggebende Meinung
leicht zu erkennen war. Dies gebot unabweisbar die gesetzgeberische
Praxis. Wissensdurst und der Wunsch, sich für das öffentliche Le-
ben vorzubilden, lockten in die von Jochanan in Tiberias geleitete
Schule große Scharen von Zuhörern nicht nur aus Palästina, sondern
auch aus dem fernen Babylonien herbei.
Den Rechtsentscheidungen des Jochanan verschaffte die Vollzugs-
gewalt des Patriarchen praktische Geltung. Den Bemühungen beider
gelang es unter anderem, die liturgische Ordnung in den Synagogen
neu zu regeln. Bei all seiner Wertschätzung der altehrwürdigen Autori-
täten war Jochanan in der Praxis jedem engstirnigen Konservativis-
mus durchaus abhold; gar oft kam er den freiheitlichen Bestrebungen
des Patriarchen Jehuda II. bereitwilligst entgegen: so gestattete er in
gewissen Fällen das Erlernen der griechischen Sprache, wie er denn
überhaupt die griechische Weisheit schätzte, wobei er freilich alle die
Gefahr der Assimilation außer acht lassenden freidenkerischen
Anschauungen entschieden verurteilte. Die despotische Herrschaft
Roms erfüllte ihn mit Entrüstung: er pflegte Rom mit dem Raubtier
der Daniel-Apokalypse zu vergleichen, dessen eiserne Zähne und kup-
ferne Krallen dazu da seien, alle Völker der Erde zu zerfleischen. Er
suchte seine Volksgenossen davon abzuhalten, als Mitglieder in die
städtischen Räte einzutreten, wohin die römischen Behörden gern ver-
mögende Leute beriefen, um auf diese Weise die öffentlichen Kassen
aufzufüllen. „Beruft man dich in die Boule (Rat) — pflegte er zu
sagen — so denke an die Jordangrenze“ (d. h. flüchte dich jenseits
des Jordan).
i58
§ 22. Die Epigonen der Mischna und die Amoräer
Ein Genosse und Mithelfer des Jochanan bei der Bearbeitung der
Mischna und nicht selten auch sein Opponent in der Akademie war
sein Schwager Simon ben Lakisch, der unter dem abgekürzten Na-
men Resch Lakisch bekannt ist. Das Leben dieses Amoräers war voll
von Abenteuern. In seiner Jugend irrte er, von Not verfolgt, von Ort
zu Ort und produzierte sich eine Zeitlang sogar in einem Zirkus als
Tierbändiger, da er sich durch riesige Kraft und große Gewandtheit
auszeichnete. Jochanan, ein alter Schulfreund des Resch Lakisch, ret-
tete ihn schließlich aus dem Elend und Landstreicherleben, indem er
ihm seine schöne Schwester zur Frau gab. Resch Lakisch kehrte nun
zur Gelehrtentätigkeit zurück und erwarb sich bald als einer der
scharfsinnigsten Gesetzesausleger hohen Ruhm. Im Besitze einer her-
vorragenden dialektischen Begabung, behielt er sogar in den Disputa-
tionen mit seinem in hohem wissenschaftlichen Rufe stehenden
Schwager häufig die Oberhand. Fortan hing er an der Wissenschaft
mit Leib und Seele. „Wenn du der Wissenschaft für einen Tag un-
treu wirst — pflegte er nicht selten zu sagen —, so wird sie dir mit
doppelter Untreue heimzahlen“. Trotz all dieser hervorragenden
Eigenschaften gelang es Resch Lakisch indessen nicht, eine selbstän-
dige Stellung in der Öffentlichkeit zu erlangen, und er blieb zeit
seines Lebens nur ein Gehilfe des Jochanan. Dies mag vielleicht durch
sein schroffes Wesen zu erklären sein, von dem er sich zu Zusam-
menstößen mit dem Patriarchen (§ 21) und anderen einflußreichen
Persönlichkeiten hinreißen ließ. Möglich ist es aber auch, daß das
Mißtrauen des Gelehrtenkollegiums gegen Resch Lakisch durch man-
che seiner freidenkerischen Aussprüche erregt wurde. So sprach er
sich z. B. einst dahin aus, daß das ganze „Buch Hiob“ nur eine
„Parabel“, d. i. eine didaktische Dichtung, sei, der gar keine wirk-
liche Begebenheit zugrunde liege; er behauptete ferner, daß alle Be-
griffe von der Engelwelt „aus Babylonien herübergebracht“, d. i. den
Persern entlehnt seien, und daß die Anerkennung einer neben Gott
bestehenden himmlischen Hierarchie dem Geiste des ursprünglichen
Judaismus fremd sei. — Der Tod des Resch Lakisch soll, wie die
Sage wissen will, die Folge einer heftigen akademischen Disputation
mit Jochanan gewesen sein. In der Hitze der Debatte soll nämlich
Jochanan seinen Schwager durch eine schroffe Redewendung so sehr
verletzt haben, daß dieser aus Kummer bettlägerig wurde und bald
i5g
Palästina im III. Jahrhundert
darauf starb. Der greise Jochanan konnte sich über den Tod seines
Freundes bis zu seinem eigenen Lebensende nicht trösten.
Unter den palästinensischen Amoräern nahm R. Jochanan dieselbe
überragende Stellung ein wie einstmals R. Akiba unter den Tannaiten.
Die Mehrzahl der Mischnaausleger wandelte in seinen Fußtapfen; aus
seiner Schule in Tiberias gingen die markantesten Persönlichkeiten
des III. Jahrhunderts hervor: Gesetzeslehrer, Richter und andere be-
deutende Männer. Die in ganz Palästina verstreuten Freunde und Jün-
ger des Jochanan führten sein Werk, wenn auch nicht mit dem glei-
chen Erfolge, weiter fort. Aus den Reihen dieser dritten Gruppe der
palästinensischen Amoräer, die um 280—3i5 wirkte, ragen indessen
auf dem Gebiete der Gesetzeskunde nur wenige bedeutende Persön-
lichkeiten hervor.
Noch bei Lebzeiten des Jochanan tat sich in der Akademie von
Tiberias sein jüngerer Freund, der aus Babylonien gebürtige Eleasar
ben Pedath hervor. Nach dem tragischen Tode des Resch Lakisch war
es Eleasar, der statt dessen Jochanan zur Seite stand. Jedoch war der
hochbetagte Meister mit seinem neuen Assistenten, der ihm bei seinen
Lehrvorträgen nicht widersprach, sondern zu allem ja und amen
sagte, keineswegs zufrieden. „Wie könnte ich dich — so sprach er
häufig zu Eleasar — mit Bar Lakisch vergleichen: wenn ich eine
These zur Erörterung stellte, so pflegte er vierundzwanzig Gründe da-
gegen ins Feld zu führen, worauf ich meinerseits mit der gleichen
Zahl von Gegengründen vorrückte, und aus diesem Widerstreit der
Meinungen ging die Wahrheit lichtvoll hervor“. Nach dem Ableben
des Jochanan stand Eleasar einige Zeit an der Spitze der Akademie
von Tiberias, wobei er zugleich die Amtsobliegenheiten eines Richters
versah und auch sonst in der Öffentlichkeit tätig war. Seine Lands-
leute, die Babylonier, nannten Eleasar voll Hochachtung „den Lehrer
des Landes Israel“ und gingen ihn nicht selten um die Entscheidung
schwieriger Rechtsfragen an.
Der geistige Verkehr zwischen Palästina und Babylonien begann
um diese Zeit überhaupt reger zu werden. Viele Gelehrte reisten von
dem einen Lande in das andere, um in den weitbekannten Akademien,
die beiden Ländern zum Ruhme gereichten, ihr Wissen zu vertiefen.
Zu solchen aus Babylonien gekommenen Gelehrten gehörten auch die
drei Schüler des Jochanan, die nach seinem Tode in Palästina wirk-
ten: Chija bar Abba, R. Ami und R. Assi. Chija sah sich aus Not
160
§ 22. Die Epigonen der Mischna und die Amoräer
veranlaßt, eine Stellung anzunehmen, die seiner Gelehrtenwürde wenig
entsprach: er bereiste nämlich Babylonien und andere Länder als ein
Sendbote oder „Apostel“ mit dem Auftrag, die Spenden zugunsten
des Patriarchen Jehuda III. einzusammeln. R. Ami und R. Assi waren
nach dem Tode des Eleasar ben Pedath die Vorsteher der Akademie
von Tiberias. Von ihnen heißt es, daß sie ihre Vorträge in einer
„Synagoge mit Säulengängen“ (Kenischta debe amude) hielten, die
sich anscheinend noch aus der Zeit Agrippas II. erhalten hat, als man
in Tiberias die Bauweise der griechischen Tempel nachahmte. Beide
Gelehrten führten den Titel „Richter des Landes Israel“ (Dajane
de’Erez Israel) und standen dem Patriarchen als seine nächsten Be-
rater und Mitarbeiter zur Seite. Im Aufträge des Patriarchen bereisten
sie zusammen mit Chija die Städte Palästinas, um die Volks- und
Hochschulen zu inspizieren. Einst kamen diese drei Amoräer in eine
Stadt, wo sie weder einen Gesetzeslehrer noch einen Volksschullehrer
vorfanden. „Wo sind denn die Hüter der Stadt?“ — fragten die
Amoräer. Da wurde ihnen die Stadtwache vorgeführt. „Die meinen
wir nicht,“ riefen die Sendboten aus, „vielmehr meinen wir die Ge-
lehrten und die Lehrer, die dem Worte Gottes dienen, denn es steht
ja geschrieben: Wenn Gott die Stadt nicht behütet, dann wacht ver-
geblich die Wache!“
Von den bedeutenderen Amoräern jener Zeit mag noch R. Abbahu
aus Caesarea erwähnt werden. Auch er war ein Zögling der Schule
Jochanans in Tiberias, doch zeichnete ihn im Gegensatz zu der Mehr-
zahl seiner Fachgenossen nüchtern-praktische Sinnesart und Gering-
schätzung der kleinlichen Schulkasuistik aus. Als Richter und Ge-
meindevorsteher hütete er sich, seine Entscheidungen auf Grund ab-
strakter akademischer Schlußfolgerungen zu treffen und zog es vor,
sich an der lebendigen Erfahrung zu orientieren. In der Residenz des
römischen Statthalters, in Caesarea am Meere, bestand um diese Zeit
eine jüdische Gemeinde, die gegen Ende des III. Jahrhunderts zu %
hoher Blüte gelangte und es bereits mit der Gemeinde von Tiberias
aufnehmen konnte. Es bildete sich dort auch eine Akademie, deren
Mitglieder uns im Talmud häufig unter dem Namen „Lehrer von
Caesarea“ (Rabbanan de’Kisrin) entgegentreten. Diese Gemeinde fand
nun in Rabbi Abbahu, einem Manne von weltlicher Bildung, der das
Griechische beherrschte und im Kreise der römischen Würdenträger
sich frei bewegte, ein würdiges Oberhaupt. Die Zeitgenossen betrach-
11 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
161
Palästina im HL Jahrhundert
teten es als ein Kennzeichen weitgehenden Freidenkertums, daß Ab-
bahu sogar seine Tochter im Griechischen unterrichten ließ, doch
suchte er den Unwillen der Rechtgläubigen dadurch zu beschwich-
tigen, daß er die Kenntnis der griechischen Sprache für eine „Zierde“
der Jungfrau erklärte. Er scheint nicht selten den Patriarchen vor den
römischen Behörden vertreten zu haben, und genoß bei den Römern
große Achtung; die vornehmen römischen Matronen ehrten ihn durch
die Titel: „Haupt des judäischen Volkes“, „Wortführer der judäi-
schen Nation“. Im talmudischen Schrifttum tritt Abbahu weniger als
ein rechtskundiger Halachist hervor denn als ein Haggadist, dem vor
allem die Probleme der religiösen Dogmatik, der Moral und der Phi-
losophie am Herzen lagen.
§ 23. Die Haggadisten und ihre Polemik gegen die Christen
Die Auslegung der Mischna und die Bearbeitung der mit dem re-
ligiösen Ritual und der Rechtskunde zusammenhängenden Fragen er-
schöpfte keineswegs die gesamte geistige Energie der palästinensischen
Amoräer: nicht wenige unter ihnen richteten die ganze Kraft ihres
Denkens in erster Linie auf religiös-ethische Untersuchungen. Neben
den rechtskundigen Halachisten, die in den Akademien Lehrvorträge
hielten, gab es auch Fachmänner der Theologie, die Haggadisten
(Rabbanan de’agadata), die ihren Ansichten hauptsächlich durch das
Predigen in den Synagogen Geltung verschafften.
Von den Zeitgenossen des Jochanan erwarb sich als Haggadist
hohen Ruhm R. Simlai aus Lydda, der eine Art Wanderprediger
(„Darschan“) war. Simlai lag vor allem daran, das jüdische Gesetz
auf seine dogmatischen und sittlichen Grundlagen hin zu prüfen.
Alle Vorschriften der jüdischen Religion, 6i3 an der Zahl, sind von
ihm in zwei Kategorien eingeteilt worden: in 2 48 Gebote und in
365 Verbote. Alle diese sowohl gebietenden wie verbietenden Vor-
schriften bezwecken seiner Ansicht nach nur die geistige und sitt-
liche Vervollkommnung des menschlichen Wesens. Dieses hehre Ziel
komme in dem folgenden uralten Psalm zum Ausdruck, in dem alle
Gesetze des Judaismus auf elf Grundgesetze rein moralischen Inhalts
zurückgeführt seien: „Wer darf gasten in deinem Zelte, wer darf
wohnen auf deinem hohen Berge? i. Wer unsträflich wandelt, 2. wer
recht tut, 3. wer von Herzen Wahrheit redet, 4- wer auf seiner Zunge
162
§ 23. Die Haggadisten und ihre Polemik gegen die Christen
nicht Verleumdung trägt, 5. wer einem anderen nichts Böses zufügt,
6. wer nicht Schmach auf seinen Nächsten lädt, 7. wem der Verwor-
fene als verächtlich gilt, 8. wer die Gottesfürchtigen in Ehren hält,
9. wer, wenn er zu seinem eigenen Schaden geschworen hat, es doch
nicht abändert, 10. wer sein Geld nicht um Zins gibt, und 11. wer nicht
Bestechung gegen den Unschuldigen annimmt“ (Psalm i5). Der Pro-
phet Jesaja habe indessen alle Vorschriften des Judaismus auf sechs
Grundprinzipien zurückgeführt, indem es bei ihm heißt: „Wer in
Rechtschaffenheit wandelt und die Wahrheit redet, wer Gewinn von
Erpressungen verschmäht, wer die Annahme von Bestechung abwehrt,
wer sein Ohr verstopft, um nicht Blutschuld zu hören, und seine Au-
gen verschließt, um nicht an Bösem seine Lust zu sehen — der wird
auf Höhen wohnen“ (Jes. 33, i5—16). Nun habe aber der Prophet
Micha das Wesen des Judaismus in die folgenden drei Gebote zusam-
mengefaßt: „Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was Gott
von dir fordert: nur recht zu tun, sich der Liebe zu befleißigen und
demütig zu wandeln vor deinem Gott“ (Micha, 6, 8). Und auch in den
Schlußkapiteln des Jesajabuches (56, 1) sei der Judaismus auf die
zwei Grundnormen zurückgeführt: „Wahre das Recht und übe die Ge-
rechtigkeit!“, während die Propheten Arnos und Habakuk sämtliche
Gebote in dem einen Grundsatz verankerten: „Denn so spricht Gott
zum Hause Israel: Fragt nach mir, damit ihr am Leben bleibt“
(Am. 5, 4); „Der Fromme wird durch seinen Glauben am Leben
bleiben“ (Hab. 2, 4)- Also, folgert Simlai, bilden Sehnsucht nach
Gott oder Gotteserkenntnis und sittliche Vervollkommnung die ein-
zigen Grundlagen des Judaismus.
Zu den beliebtesten Predigern gehörten ferner noch Samuel bar
Nachmeni, Levi bar Chama und Abba bar Kahana. Die talmudische
Haggada, namentlich aber der Midrasch, sind voll von ihren Predigten
über biblische Texte. Von ihren kurzen Sinnsprüchen verdienen beson-
ders die folgenden hervorgehoben zu werden: „Auge und Herz sind
zwei Mittler der Sünde“; „Kein über einen Menschen hereinbrechen-
des Unheil, das nicht einem anderen zum Vorteil gereichte“; „Drei
Glieder sind dem Willen des Menschen gehorsam, drei andere aber
von ihm unabhängig: die ersteren drei sind Mund, Arme und Beine,
die letzteren Auge, Ohr und Nase“; „Die Sonne geht auf und unter:
ein großer Mann stirbt, ein anderer kommt statt seiner zur Welt“;
„Solange in den Synagogen und Schulen die Stimme Jakobs ertönt,
11*
i63
Palästina im III. Jahrhundert
bleiben die Arme des Esau kraftlos“ (in Anknüpfung an die Bibel-
stelle: „Die Stimme Jakobs und die Arme Esaus“). „Die Arme Esaus“
waren eine bekannte Redewendung zur Bezeichnung der despotischen
Herrschaft Roms, da die Haggadisten unter „Esau“ oder „Edom“ ge-
wöhnlich das römische Reich zu verstehen pflegten. Der Unwille ge-
gen Rom kommt in den damaligen Predigten gar oft zum Durch-
bruch. „War in Ägypten Finsternis, so herrscht in Rom das Chaos,“
sagte R. Abba, auf die damaligen Wirren im Reiche anspielend. „Die
römische Regierung hat nur eines im Sinn: miß ab und gib her (die
Abgaben)!“ Es begegnen uns aber auch Straf reden gegen die im jü-
dischen Leben selbst zutage tretenden Schäden. Die gottesfürchtigen
„Darschanim“ äußern ihre Entrüstung darüber, daß die jüdische Ju-
gend, auch aus den Gelehrtenkreisen, nicht selten in heidnischen
Theatern und Zirkussen zu sehen ist.
Im Talmud haben sich überdies viele Bruchstücke aus dem apo-
logetischen Schrifttum jener Zeit erhalten, das namentlich gegen die
Dogmen des Christentums gerichtet war. Die Haggadisten kämpften
in ihren synagogalen Predigten gegen jene verkehrten Auslegungen
des biblischen Textes an, die von den Repräsentanten der christlichen
Kirche zur Rechtfertigung der Dogmen vom Gottessohn, der Trinität
u. dgl. in Umlauf gebracht worden waren. Manchmal ist aus diesen
Ausfällen gegen die „Minäer“, d. s. die Judenchristen, die Gnostiker
oder die zum Christentum bekehrten Heiden, ein unmittelbarer Nach-
klang religiöser Disputationen herauszuhören, die damals zwischen
jüdischen und christlichen Theologen stattzufinden pflegten. Unter
den Rabbinen gab es sogar besondere Fachleute auf diesem Gebiete.
Zu diesen gehörte der eben erwähnte R. Simlai, der seinen Wohnsitz
in der Stadt Lydda oder Diospolis hatte, wo im III. Jahrhundert auch
eine christliche Gemeinde bestand. (Diese Gemeinde war auf dem
Konzil von Nicäa im Jahre 32 5 bereits durch einen eigenen Reprä-
sentanten, einen Bischof, vertreten.) Die Kirchenlehrer beriefen sich
häufig zur Bekräftigung des Dogmas vom Gottessohn oder der Drei-
faltigkeit (Vater, Sohn und Heiliger Geist) auf den biblischen Gottes-
namen Elohim, der grammatisch die Pluralendung („im“) auf weist.
Um nun diesen Beweisgrund zu entkräften, führte Simlai alle ßibel-
sätze an, in denen dieser Gottesname vorkommt, und machte geltend,
daß das auf ihn sich beziehende Prädikat stets im Singular gebraucht
wird, so z. B. „Elohim schuf“, nicht aber „schufen“. Es war dies ein
i64
§ 23. Die Haggadisten und ihre Polemik gegen die Christen
Beweis nicht nur gegen die Dogmenlehre des Christentums, sondern
zugleich auch gegen die sektiererischen Lehren der Gnostiker, nach
deren Auffassung der allerhöchste Gott die Welt mit der Hilfe eines
Mittlers, des Demiurgen, geschaffen habe, der mit der Lenkung der
Welt- und Menschengeschicke beauftragt worden sei. Was aber die
verschiedenen Gottesnamen (El, Elohim, Adonai usw.) betrifft, die
man im Sinne einer numerischen Verschiedenheit zu deuten suchte, so
begegnete dem Simlai mit dem Hinweis darauf, daß ja auch der
römische Kaiser verschiedene Titel führe: Caesar, Augustus, Basileus
u. dgl. m. Nur eine Bibelstelle machte den Apologeten des Judaismus
Schwierigkeiten, nämlich der Vers, in dem Gott spricht: „Laßt uns
Menschen machen nach unserem Bilde“ (Gen. i, 26); allein auch
in diesem Falle war Simlai um eine Erklärung nicht verlegen; heißt
es doch im folgenden Verse deutlich: „Und Elohim schuf (nicht aber
schufen) den Menschen nach seinem Bilde“. Ein anderer Haggadist,
Samuel bar Nachmeni, ersann aus Anlaß der erwähnten heiklen Bibel-
stelle die folgende Parabel: „Als Moses die Thora niederschrieb und
bei dem Vers anlangte: ,Laßt uns Menschen machen nach unserem
Bilde, uns ähnlich', sprach er zu Gott: Oh, Herr der Welt, durch diese
Wendung gibst du ja den Minäern eine Handhabe zur Bekräftigung
ihrer Irrlehre (von den zwei Gottheiten)! Gott erwiderte jedoch:
Schreibe nur! Wer sich Irrlehren hingeben will, möge es auf seine
eigene Verantwortung tun“.
Noch schärfer polemisierte gegen die Minäer der vorhin erwähnte
Abbahu, das Haupt der jüdischen Gemeinde von Caesarea, wo außer
dem römischen Statthalter auch noch ein christlicher Bischof seinen
Sitz hatte. Die folgenden Worte des Abbahu sind direkt gegen das
Grunddogma des Christentums gerichtet: „Sagt dir ein Mensch: Ich
bin ein Gott, so lügt er; sagt er: Ich bin der ,Menschensohn' (das
evangelische Epitheton für Christus im Sinne des Gottmenschentums),
so wird er schließlich bloßgestellt werden; sagt er: Ich fahre gen
Himmel, so wird er es nie erfüllen“; „Gott ist einem irdischen König
nicht gleich: er hat weder einen Vater, noch einen Sohn, noch einen
Bruder. Dies ist der Sinn des biblischen Verses: Ich bin der erste
und der letzte und es gibt keinen Gott außer mir“. Das Himmel-
fahrtsdogma pflegten die Christen durch die Berufung auf Chanoch
zu bekräftigen, von dem es in der Bibel heißt, daß „Gott ihn zu sich
genommen hatte“; dem begegnete nun R. Abbahu durch den Hin-
i65
Palästina im III. Jahrhundert
weis auf jene Bibelstellen, in denen der Ausdruck „Gott nahm zu
sich“ im Sinne von „Gott ließ ihn sterben“ gebraucht wird.
Ein viel größeres Interesse als die jüdischen Gelehrten hatten an
den religiösen Disputationen die Christen, die ja ihre Glaubenslehre
nur auf dem Wege einer Widerlegung der ungekünstelten, bei dem
„Volk der Schrift“ üblichen Bibelauslegung erhärten konnten. In dem
von Hadrian bis zu Konstantin dem Großen reichenden Zeitraum
(i38—312) hatte nämlich das sich immer weiter im römischen Reiche
ausbreitende Christentum allerlei äußere und innere Hemmnisse zu
überwinden: Verfolgungen von seiten der römischen Obrigkeit einer-
seits, aber auch Spaltungen und Irrlehren innerhalb der christlichen
Gemeinden selbst und das Eindringen von allerlei heidnischen Kult-
formen in die Kirche andererseits. Der Gnostizismus, der im Christen-
tum des II. Jahrhunderts üppig ins Kraut geschossen war, war frei-
lich im folgenden Jahrhundert bereits verblüht. Das Wesen der gno-
stischen Lehren bestand in dem Dualismus der Gottheit, der das Chri-
stentum den synkretistischen orientalisch-hellenistischen Auffassungen
verwandt machte. Hieraus wurden die mannigfaltigsten Formen der
„Gnosis“ oder der mystischen Gotteserkenntnis abgeleitet, für die ein
Grundunterschied zwischen dem allerhöchsten Wesen einerseits und
dem Schöpfer der sichtbaren Welt (Demiurgen) andererseits bestand,
d. i. zwischen „zwei Urprinzipien“ (Schtei reschujoth): dem geistigen
und dem materiellen Element der Gottheit oder zwischen Gott und
seiner Emanation in Form einer Stufenleiter von guten und bösen
Geistern, von Engeln und Dämonen. In der Praxis wirkte sich diese
ganze Mystik entweder in einem maßlosen Asketismus oder in abson-
derlichen Kulten und Mysterien aus, in denen die Religion auf das
Niveau der Magie oder der Zauberei herabgedrückt wurde. Das junge
Christentum lief Gefahr, im wiedererstehenden Heidentum gänzlich
zu versumpfen. Nur mit großer Mühe gelang es der Ökumenischen
oder „Katholischen“ Kirche, sich aus diesem gnostischen Sumpfe her-
auszuretten und ihr Dogma von der Dreieinigkeit des Gott-Vaters,
Gott-Sohnes und des Heiligen Geistes zu befestigen. Zugleich mit den
Irrlehren der Gnostiker wurde jedoch innerhalb der Kirche nach und
nach auch die Sekte der Judenchristen ausgerottet, die im ersten
christlichen Jahrhundert den Anspruch machte, die wahre Vollstrek-
kerin des Willens Christi zu sein. Es wurde bereits hervorgehoben
(§ 10), daß der Aufstand des Bar Kochba, in dessen Verlauf das
166
§ 23. Die Haggadisten und ihre Polemik gegen die Christen
antinationale Wesen des Judenchristentums erneut zutage trat, zu
einem endgültigen Bruch zwischen diesem und dem Judentum führte.
Die Judenchristen, die sich den Juden immer mehr entfremdeten,
um ganz unter den Heidenchristen aufzugehen, verstärkten nun in
dem neuen Milieu jene polemische Tendenz, die in einer scharfen
Kritik des Judaismus auf Grund seiner eigenen Verfassung, der im
evangelischen Geiste umgedeuteten Bibel, ihren Ausdruck fand.
Um diese Zeit gab es bereits in Palästina einige bedeutende Zen-
tren des Christentums. Das den Juden unzugänglich gewordene Je-
rusalem, das Hadrian in das heidnische Aelia verwandelt hatte, stand
den Christen, die während des Aufstandes ihre Treue Rom gegenüber
bezeugten und immer wieder die sie von den aufrührerischen Juden
trennende Kluft in Erinnerung brachten, völlig offen. So faßte denn
hier eine christliche Gemeinde, die vornehmlich aus bekehrten Grie-
chen bestand, festen Fuß und ließ sich die Pflege der durch die Le-
gende vom Leben und Leiden Christi geheiligten Stätten in Jerusalem
und seiner Umgebung besonders angelegen sein. Das Wasser des Je-
rusalemer „Taufbeckens“ galt als heilbringend und die Heilquelle
lockte ganze Scharen von abergläubischen Siechen herbei. In Beth-
lehem zeigte man den Pilgern die Zufluchtsstätte und die Krippe des
Christkindes. Ein bedeutenderer Mittelpunkt des Christentums ent-
stand im III. Jahrhundert in Caesarea. Von jeher ein Gegenpol der
heiligen Stadt, die den Juden verhaßte Residenz der römischen
Statthalter, wurde Caesarea nunmehr auch zur Residenz des Bi-
schofs der palästinensischen Christen. Dort traf der berühmte Ori-
genes, als er von Alexandrien dorthin gekommen war, eine ganze
Gruppe von gelehrten christlichen Theologen an, denen eine reich-
haltige Bibliothek zur Verfügung stand. Diese Büchersammlung eben
benutzte später Eusebius bei der Abfassung seiner bekannten „Kir-
chengeschichte“. Christliche Gemeinden bildeten sich überdies in
Lydda-Diospolis, Jabne-Jamnia, in Bethlehem, Samaria-Sebaste, Si-
chem-Neapolis und an einigen anderen Orten Judäas und Samarias;
dagegen waren in Galiläa die Christen im III. Jahrhundert nur sehr
selten anzutreffen. Es vollzog sich gleichsam ein Austausch der Land-
bereiche: das jüdische Zentrum verschob sich nach dem Aufstande
des Bar Kochba aus Judäa nach Galiläa, der Urheimat des Christen-
tums, während sich die Christen in dem verheerten Judäa mit seiner
gedemütigten, verwüsteten Hauptstadt gesammelt hatten. Erst in der
167
Palästina im III. Jahrhundert
zweiten Hälfte des III. Jahrhunderts begannen, wie bereits erwähnt,
die Juden und mit ihnen die jüdische Kultur in der umgekehrten
Richtung aus Galiläa nach Judäa zurückzuströmen.
§ 24. Die Apologeten des Christentums und des Judentums
(Justin, Celsus, Origenes, Tertullian)
Schon um die Mitte des II. Jahrhunderts, bald nach der Unter-
drückung des Aufstandes des Bar Kochba, erstand in einer der christ-
lichen Gemeinden des Bezirkes von Samaria, in der Stadt Sichem-
Neapolis, ein neuer, den Spuren der Evangelisten folgender Bekämp-
fer des Judaismus: es war dies Justin Martyr, der in der kirchlichen
Literatur auch unter dem Namen Justin der Philosoph bekannt ist
(gest. um i65). Ein gebildeter Grieche, der zunächst in den Lehren
Platos, der Stoiker und der Pythagoräer die Wahrheit zu finden
hoffte und sich schließlich zum Christentum bekehrte, hatte sich
Justin gegen zwei Fronten zu wehren: sowohl gegen das Heidentum
als auch gegen das Judentum. Gegen das Heidentum galt es schon aus
dem Grunde sich zur Wehr zu setzen, weil unter den Kaisern An-
toninus Pius und Marc Aurel die Christenverfolgungen von neuem
mit großer Wucht einsetzten. So suchte denn Justin in zwei griechisch
abgefaßten und an zwei Kaiser gerichteten „Apologien“ (um i5o
und i65) die Christen gegen die Anklagen der Römer ebenso zu ver-
teidigen, wie ehedem Josephus Flavius die Juden gegen die Anschul-
digungen eines Apion und der alexandrinischen Griechen in Schutz
nehmen mußte. Hierbei wählte er nicht selten auch ganz dieselbe Ver-
teidigungstaktik. Wie ehedem den Juden, so warf man nämlich jetzt
auch den Christen Atheismus vor, da sie gleichfalls die römischen
Götter verleugneten. Justin entgegnete aber: „Wir gestehen es, daß
wir solchen vermeintlichen Göttern gegenüber gottlos sind, doch nicht
dem wahren Gotte gegenüber“ (I. Apolog., 6). Allein es fällt Justin
nicht leicht, die Grenze zwischen Christentum und Heidentum zu zie-
hen. Um die halbheidnischen Vorstellungen von Christus dem Gottes-
sohne, von seiner Geburt, den Wunderwerken, von seinem Tode und
seiner Auferstehung einleuchtend zu machen, sieht sich der Apologet
genötigt, sich auf gleichgeartete griechische Mythen zu berufen, so
auf den Mythus von den von Weibern gezeugten Zeussöhnen, von
Dionysos, der „zerfleischt ward, dann aber auferstand und den Hirn-
§ 24. Die Apologeten des Christentums und des Judentums
mel erstieg“, oder gar auf die Sage von der wunderbaren Heilkunst
des Äskulap; auch weist er auf den Ritus der Eucharistie hin, der in
dem aus Persien nach Rom gedrungenen Mithrakultus üblich war, wobei
er sich freilich hinzuzufügen beeilt, daß hier dämonische Kräfte, bei
den Christen aber die göttliche Macht mit am Werke sei (I. Apolog.,
21—25, 66; Dialog., 69—70 u. sonst). Um so entschiedener ist aber
seine Ablehnung des zeitgenössischen Judentums oder, genauer, des
bei den Römern mißliebigen jüdischen Volkes. Schon in der ersten
an die Römer gerichteten Apologie (3i) erblickt Justin den Triumph
des Christentums darin, daß „nach dem Erscheinen Christi die Römer
die Judäer niedergerungen und sich ihres ganzen Landes bemächtigt“
hätten. Voll Zorn hebt er hervor, daß „im letzten judäischen Kriege
Barkocheba, der Führer des Aufstandes, die Christen, die Christus
nicht verleugnen wollten, den fürchterlichsten Martern preisgegeben“
habe, und will damit beweisen, die Christen hätten wegen ihrer Treue
Rom gegenüber von den jüdischen Meuterern gelitten. Noch ganz
unter dem unverwischten Eindruck des unterdrückten Volksauf-
standes stehend, kann Justin seine Schadenfreude darüber nicht ver-
hehlen, daß Judäa nunmehr verwüstet und den Juden das Betreten;
Jerusalems bei Todesstrafe verboten sei (I. Apolog., 47, 53; Dialog.,
16, 92, 110). Für die Apologie des Christentums macht er sich aber
die Leiden der Juden in der Weise zunutze, daß er das hereingebro-
chene Unheil als eine gerechte Vergeltung für das Verhalten der Ju-
den gegen Christus deutet.
Direkt gegen das Judentum ist die große Abhandlung des Justin:
„Dialog mit dem Judäer Trypho“ (abgefaßt um das Jahr i5o) ge-
richtet1). Mit unverhohlener Gereiztheit spricht hier der Verfasser
von den Juden, denen er offene Feindseligkeit gegen die Christen zum
Vorwurf macht. „Die Juden verwünschen — so behauptet er — in
ihren Synagogen die an Christus Glaubenden“, sie suchen zu bewei-
sen, daß „Christus wegen Abtrünnigkeit gekreuzigt worden war, sie
senden in alle Länder ihre Boten aus, um die christliche Sekte als
!) Der Diskussionsgegner des Justin, Trypho aus Ephesus, scheint eine er-
dichtete Person zu sein, die jedoch für die damaligen hellenistisch gebildeten Ju-
den typisch sein mochte. Jedenfalls hat er mit R. Tarphon aus Jabne, dem Zeit-
genossen des R. Akiba, nichts zu tun, trotz der gegenteiligen Meinung mancher
auf einer kirchlichen Überlieferung (Eusebius, Hist, eccles. IV, 18, 6) fußenden
Gelehrten. Der strenge Gesetzeseiferer und Feind der Minäer, R. Tarphon, könnte
unmöglich die Sprache des nüchternen Rationalisten Trypho führen.
169
Palästina im III. Jahrhundert
eine gottlose und widerrechtliche hinzustellen44 (Dialog., 16, 17, 96,
108, 117, 137). Sogar den Judenchristen, die nach wie vor an den
Mosesgesetzen festhielten und auch die Heidenchristen dazu zu be-
wegen suchten, ist Justin wenig freundschaftlich gesinnt; er beteuert,
daß „die Heidenchristen sowohl zahlreicher als auch eifriger im Glau-
ben sind als die Christen aus der Mitte der Judäer und Samaritaner44
(Dial., 47; I. Apolog., 53). Der Grundgedanke Justins besteht darin,
daß alle Thoravorschriften, wie z. B. die den Sabbat, die Beschnei-
dung, den Opferdienst und den Speiseritus betreffenden, den Juden
nur um ihrer Sünden willen, zur Erweichung ihrer „verstockten Her-
zen44, auf erlegt worden seien; wahre Frömmigkeit bedürfe dessen
nicht, denn, fügt der Apologet naiverweise hinzu, von Adam bis Abra-
ham kam man ja ohne den Beschneidungsritus, und bis Moses auch
ohne die übrigen Gesetze sehr wohl aus (Dial., 16, 19—23). Das
Christentum, das den Menschen die „Beschneidung des Herzens44, die
geistige Erlösung gebracht hat, habe sie zugleich von dem Joche des
Gesetzes befreit, wiederholt Justin die Worte des Apostels Paulus,
allerdings ohne seinen Namen zu nennen.
Ganz unzulänglich werden die Beweisgründe des Justin in seiner
positiven Verteidigung der christlichen Dogmatik. Die gelassene Be-
merkung des Juden Trypho, daß sich die Christen ganz willkürlich
„irgendeinen Christus ausgedacht44 hätten, der es ja nicht nötig ge-
habt hätte, sich aus einem Gotte in einen Menschen zu verwandeln
und die Kreuzigung über sich ergehen zu lassen, wenn er wirklich ein
Gott und ein zur Erlösung des Menschengeschlechtes von der Sünde
berufener Messias gewesen wäre, versetzt Justin in hellen Zorn. Zum
Beweise der Göttlichkeit Jesu führt der Apologet die bekannte Pro-
phezeiung Jesajas an (7, i4): „Siehe da, die Jungfrau wird schwan-
ger werden und einen Sohn gebären44, indem er die Ansicht der jüdi-
schen Weisen, derzufolge die Stelle einfach so aufzufassen sei, daß
ein junges Weib (nicht aber eine „Jungfrau44) einen Sohn gebären
werde, und zwar den künftigen König Hiskia, entschieden in Abrede
stellt (Dial., 43, 67 u. sonst). Auch viele Stellen in den Psalmen, in
denen von dem „Könige der Herrlichkeit44 Salomo die Rede ist, will
er gleichfalls auf Christus beziehen (Dial., 34, 36). In seiner Beweis-
führung bedient sich Justin manchmal auch falsch zitierter Bibelstel-
len; so behauptet er z. B., daß ein Psalmvers (96, 10) den Wort-
laut hat: „Gott ward König vom Baume her (vom Kreuze)44, während
170
§ 24. Die Apologeten des Christentums und des Judentums
die letzten Worte in Wirklichkeit im Bibeltext fehlen. Des Hebräi-
schen nicht mächtig, benutzte Justin die ungenaue griechische Bibel-
übersetzung, die Septuaginta, deren Abschriften überdies um jene Zeit
nicht selten durch tendenziöse Interpolationen der Eiferer des Chri-
stentums entstellt waren. Justin wirft aber in seiner Ahnungslosigkeit
den jüdischen Gelehrten vor, sie hätten alle auf Christus sich bezie-
henden „Prophezeiungen“, wohl von der Art des angeführten Psal-
menwortes, aus der Bibel gestrichen (Dial., 71—75). Den Juden jener
Zeit, die nicht nur über den Sinn, sondern auch über jede Silbe ihrer
Heiligen Schrift treu wachten, mochten solche Anschuldigungen nur
komisch Vorkommen.
Der jüdische Opponent, der in dem „Dialog“ des Justin als die
von vornherein zur Niederlage verurteilte Partei sich nur schwach
zur Wehr setzt, ließ sich einige Zeit später, in dem um das Jahr 180
abgefaßten Werke des griechisch-römischen Philosophen Celsus (Kel-
sos) „Das wahre Wort“ („Alethes Logos“)1), und zwar diesmal in
einem Tone schärfster Polemik, erneut vernehmen. Gleich seinem Zeit-
genossen Marc Aurel und der Mehrheit der gebildeten Römer jener
Zeit betrachtete auch Celsus die heidnische Religion in erster Linie
als eine Staatseinrichtung und verurteilte von diesem Standpunkte aus
in gleicher Weise das Judentum wie das Christentum. Die Äußerun-
gen des Celsus über den Judaismus sind für die aufgeklärten Römer
jener Epoche der „Götterdämmerung“, als die geistigen Repräsentan-
ten der antiken Religion sich an den Rationalismus oder Naturalismus
gleichsam als an einen Rettungsanker klammerten, höchst bezeich-
nend. Dem Celsus erscheint der Schöpfer des Judaismus, Moses, als
ein Betrüger, der die Juden zu dem Glauben verleitet habe, „als gäbe
es nur einen einzigen Gott“ (Contra Celsum, I, 21—2 3). Er wundert
sich sehr darüber, daß die Juden „den Himmel und die ihn bewoh-
nenden Engel verehren, die allermächtigsten himmlischen Wesen aber,
die Sonne, den Mond und die Sterne, die unbeweglichen wie die um-
herirrenden, mißachten“. „Ist es denn möglich anzunehmen — fragt
er voll Staunen —, daß das Ganze göttlich, die Teile aber nicht gött-
lich seien? Ist es denn vernünftig, geheimnisvolle Wesen, die nur ge-
1) Dieses Werk, das aus acht Teilen bestand, ist nur in den umfangreichen
Exzerpten bis zu uns gelangt, die von dem christlichen Theologen Origenes ein
halbes Jahrhundert später in seiner apologetischen Schrift ,,Contra Celsum“ an-
geführt worden sind.
I7I
Palästina im 111. Jahrhundert
blendeten Augen im Nebel der Zauberei oder trügerischer Visionen
erscheinen, anzubeten, die sinnfälligen und glänzenden Propheten (die
personifizierten Naturkräfte) aber, die über Regen, Wolken, Donner
und Blitz, über alle Früchte der Erde gebieten, in denen die Gottheit
sich unzweideutig offenbart, alle diese sichtbaren Boten von oben her,
diese wahren himmlischen Engel, so durchaus gering zu schätzen?“
(Ibid. V, 6.) Die lobenswerte Treue der Judäer ihren Gesetzen gegen-
über ist der Meinung des Celsus zufolge gewiß aller Achtung wert,
doch kann ihnen ein Tadel nicht erspart bleiben, insofern sie sich als
Besitzer der höchsten Weisheit aufspielen. „Ist es denn nicht gleich,
ob er (Gott), der Höchste, Zeus, Adonai, Zebaoth, Amon, wie bei den
Ägyptern, oder Papai, wie bei den Skythen, genannt wird?“ Auch
die Beschneidung mache die Judäer nicht heiliger, denn die Ägypter
übten diesen Brauch schon lange vor ihnen; ebensowenig der Verzicht
auf den Genuß des Schweinefleisches, denn auch darin ahmten sie die
Ägypter nach, die aber überdies dem Genüsse von Hammel- und
Ochsenfleisch sowie von Fischen entsagen, während die Pythagoräer
überhaupt jede nicht vegetarische Kost zurückweisen. Auch scheint es
nicht durchaus sicher zu sein — fügt Celsus voll Ironie hinzu —,
daß die Juden sich besonderer göttlicher Gunst erfreuten: „Sehen
wir doch, was aus ihnen und ihrem Lande geworden ist“. Dies ist
der einzige Punkt, in dem Celsus mit Justin übereinstimmt, während
er sonst sowohl zu ihm als auch zu allen anderen Apologeten des
Christentums in schroffstem Gegensatz steht.
Bringt Celsus dem Judaismus wenigstens als einem System prak-
tischer, das jüdische Volk zu einer Einheit verbindender Vorschriften
noch einiges Verständnis entgegen, so vermag er dem Christentum
überhaupt keinen Sinn abzugewinnen, indem er in ihm nichts als
dunklen Aberglauben, mystischen Wahn und Auflehnung gegen die
Vernunft erblickt. In den ersten zwei Teilen seines Werkes legt Cel-
sus seine Kritik des Christentums einem Juden in den Mund. Dieser
erinnert in lebhafter Weise an den Rationalisten Trypho, zeigt sich
jedoch in seiner Polemik viel kühner als der Widerpart Justins. Die
Rollen sind hier vertauscht: der Angreifende ist der Jude. Ob Gelsus
sich in seiner antichristlichen Einstellung in der Tat von irgendeinem
hellenisierten Juden, den er in Rom oder auf seinen Reisen im Orient
kennengelernt haben mochte, beeinflussen ließ, oder ob er sich viel-
leicht auf diesem Wege nur den einschlägigen literarischen Stoff ver-
172
§ 24. Die Apologeten des Christentums und des Judentums
schafft hatte, ist schwer zu entscheiden, doch steht die Mitwirkung
jüdischen Geistes bei der Abfassung seines Werkes jedenfalls fest.
Manchmal scheint es, als polemisiere hier ein Jude unmittelbar gegen
Justin. Zur Widerlegung der christlichen Argumentation, wonach sich
viele Weissagungen der jüdischen Propheten angeblich auf Christus
als Messias beziehen, läßt Celsus seinen Juden zu Jesus in folgender
Weise reden: „Wie willst du denn beweisen, daß diese Voraussagen
sich gerade auf dich beziehen und nicht auf Tausende von anderen*
die nach jenen (alten) Propheten zur Welt gekommen sind? Gab
es doch in der Welt Schwärmer, Phantasten und Betrüger genug,
deren jeder sich ebenso für einen vom Himmel herabgekommenen
Sohn Gottes ausgab 1“ Auch die Wunderwerke Jesu seien nichts we-
niger als überzeugend: „Haben sie doch nicht mehr zu bedeuten als
die Leistungen aller sonstigen Wundertäter, die damit prahlen, daß
sie noch Gewaltigeres zu vollbringen imstande seien: geben doch auch
die ägyptischen Taschenspieler für ein paar Groschen ihre Kunst-
stücke auf den Marktplätzen zum besten, indem sie Geister beschwö-
ren, Kranke heilen und die Seelen der Toten herbeizitieren. Sollten
wir nun darum glauben, daß all diese Leute Gottessöhne sind?“ Mit
beißender Ironie setzt sich der Jude bei Celsus mit dem Dogma der
Auferstehung Christi auseinander. „Ist es denn je vorgekommen, daß
ein wirklich Verstorbener leiblich von den Toten auferstanden wäre?
Erachtet ihr es als bewiesen, wenn ihr uns erzählt, daß derjenige, der
sich bei Lebzeiten nicht zu helfen wußte, nach dem Tode auferstan-
den sei und die Wundenmale, die Spuren des von ihm erlittenen
Kreuzestodes an seinem Körper, nämlich die durch die Nägel stig-
matisierten Hände, gezeigt habe? Und wer hat denn all dies gesehen?
Eine geisteskranke Frau, wie ihr ja selbst sagt, oder jemand sonst
von dieser Gesellschaft von Zauberern, die das ihnen in der Phantasie
Vorschwebende in der Wirklichkeit zu sehen wähnten . . . Den Tod
Jesu am Kreuze haben gar viele wahrnehmen können, seine Auferste-
hung aber nur einer. Zuverlässiger wäre es, wenn das Gegenteil ge-
schehen wäre“1). In solchen Worten tritt der Sarkasmus des Skep-
tikers, irgendeines Voltaire jener Zeit, etwa von der Art des Freundes
des Celsus, des Schriftstellers Lukian, deutlich zutage; attisches Salz
würzt hierbei den Rationalismus eines Juden, der sich seiner ganzen
1) Origenes, Contra Celsum, I, 5o, 67, 68; II, 55, 70, 75.
I73
Palästina im 111. Jahrhundert
Geistesverfassung nach gegen die Vermischung des Göttlichen und
Menschlichen in der Persönlichkeit Christi aufbäumen mußte.
Die Beeinflussung des Gelsus durch die im Judentum wirksamen
antichristlichen Strömungen erhellt auch daraus, daß er die Legende
über die Abstammung Jesu von einem gewissen Panthera erwähnt,
der angeblich unerlaubten Verkehr mit der Mutter Jesu, Maria, ge-
pflogen, ebenso wie die Nachricht, daß Jesus die „Geheimkunst“ der
Magie in Ägypten erlernt hätte (Contra Celsum I, 6, 7, 28, 32).
Nun tritt uns aber Jesus auch im Talmud an manchen Stellen als der
* „Jeschu ben Pandera“ entgegen, in dessen Namen man Wunderkuren
und magische Beschwörungen vollführen zu können wähnte1).
Über die „Gotteslästerung“ des Celsus empört, gaben sich die
Christen alle Mühe, seine Schrift aus dem Verkehr zu ziehen. So ist
sie denn auch in der Tat der Nachwelt nicht erhaltengeblieben, und
nur einzelne Bruchstücke davon sind uns dadurch bewahrt worden,
daß einer der „Kirchenväter“ sie, um die Beweisführung des gott-
lästernden Buches zu widerlegen, in sein eigenes Werk aufgenom-
men hat. Es war dies Origenes (geb. in Alexandrien um 18 5, gest
in Tyrus um 2 54), der erste christliche Denker von Rang, der die
neue Glaubenslehre mit der neoplatonischen Philosophie seiner Zeit
in Verbindung brachte. Die größeren Werke des Origenes: „Von den
Urprinzipien“ und „Gegen Celsus“ suchten diese christliche Philo-
sophie in der Vernunft zu verankern, während seine zahlreichen exe-
getischen Schriften zu den Büchern des Alten und Neuen Testaments
sie auch noch durch die Autorität der Heiligen Schrift decken soll-
ten. Die Grundidee des Origenes, die Idee des Logos oder der ver-
mittelnden göttlichen Substanz, ist Philo entlehnt, von dem er auch
die Methode der allegorischen Bibelauslegung übernommen hat; doch
wurde das eine wie das andere den Bedürfnissen des Christentums
angepaßt: der verkörperte Logos nimmt die Gestalt Christi an und
die Realität wird allegorisch umgedeutet, damit von vornherein fest-
stehende Dogmen nachträglich den Schein einer Begründung erhalten.
Origenes, der um 2i5 aus Alexandrien nach Palästina übersiedelte,
lebte lange Zeit in Caesarea, dem Sitze des christlichen Bischofs;
dorthin folgten ihm auch seine Schüler, und so wurde Caesarea im
D Sabbat, io4; Aboda-sara, 4o, 4i (vgl. Jerus. Talmud, Sabbat, i4)- Im
Mittelalter erfuhr diese Legende eine Bearbeitung in dem bekannten Werke „Tol-
doth Jeschu“.
§ 2ä. Die Apologeten des Christentums und des Judentums
III. Jahrhundert das akademische Zentrum des Christentums. In Pa-
lästina erlernte Origenes, der mit den jüdischen Gelehrten in nähere
Beziehungen getreten war, die hebräische Sprache, um durch den Ur-
text der Bibel die griechische Septuaginta kritisch nachprüfen zu
können. Achtundzwanzig Jahre lang arbeitete er an diesem Werke und
stellte schließlich die Bibeltexte in sechs parallelen Reihen zusammen,
indem er das Original in hebräischen und griechischen Schriftzeichen
sowie die vier griechischen Übersetzungen, die Septuaginta, die des
Akylas, des Symmachos und des Theodotion, nebeneinander stellte.
So entstand das unter dem Namen „Hexapla“ (das Sechsfache) be-
kannte Werk des Origenes, in dem die verschiedenen Lesarten durch
besondere Zeichen vermerkt waren. Das wertvolle Werk wurde in der
Bibliothek von Caesarea auf bewahrt, bis es nach einigen Jahrhunder-
ten spurlos verschwand; nur Fragmente daraus haben sich in den
späteren Schriften der Kirchenväter, namentlich in denen des heiligen
Hieronymus, unversehrt erhalten. Während seines Aufenthaltes in
Caesarea und in den anderen Städten Palästinas verkehrte Origenes
viel in den Kreisen der jüdischen Gesetzeslehrer. Er war mit dem
Patriarchen Jehuda II. oder mit dessen Bruder Hillel (Jullos) per-
sönlich bekannt. Er erzählt, daß er mit den „jüdischen Weisen“ über
die biblischen Berichte von den Wundern sowie über die messiani-
schen Weissagungen des Alten Testaments häufig debattierte. Bei die-
sen Diskussionen ging es, nach den Erwiderungen des Origenes zu
urteilen, ohne die polemischen Sticheleien zu, an denen die Streitreden
des rationalistischen Juden bei Celsus so überreich sind. Die palä-
stinensischen Rabbinen mochten sich inzwischen von der Zwecklosig-
keit aller Disputationen mit den Christen überzeugt haben und stan-
den deren Propaganda nunmehr mit viel größerer Seelenruhe gegen-
über, um nur in den Fällen, wo man sich unmittelbar an sie wandte,
aus ihrer Reserve herauszutreten.
Doch wurde der Jahrhunderte alte Streit der beiden Religionen an
anderen Orten mit ungeschwächter Heftigkeit weitergeführt. Der
Vorkämpfer des Christentums in Nordafrika (in Karthago), der den
Kirchenvätern zugezählte Tertullian (wirkte um 197—215), befehdete
die Juden mit den Waffen eines Justin. In der ägyptischen wie in
der afrikanischen Diaspora überhaupt waren die Beziehungen zwi-
schen Juden und Christen noch überaus gespannt. Tertullian beklagt
sich über die feindselige oder verächtliche Behandlung, die die Chri-
175
Palästina im III. Jahrhundert
sten von den Juden zu erdulden hätten, welche „aus Mißgunst“ die
Heiden gegen die Jünger Christi aufzubringen suchten; die Synagogen
nennt er Wespennester (fontes persecutionum). In seiner Schrift
„Gegen die Judäer“ (Adversus Judaeos) erwähnt Tertullian leiden-
schaftliche öffentliche Disputationen, die in Karthago zwischen Juden
und Christen stattzufinden pflegten. In diesem Werke wie in seiner
„Apologie“ sucht er vor allem darzutun, daß nicht die Juden, son-
dern die Christen nunmehr das auserwählte Volk seien. Das Alte Te-
stament sei von Gott als ein provisorisches Gesetz erlassen worden,
das nur so lange in Kraft bleiben sollte, bis sich die Menschen auf
das höhere Gesetz Christi des Erlösers vorbereitet hätten. Nun haben
die Juden das Neue Testament zurückgewiesen und so sind sie denn
heute „zerstreut, vereinsamt, weitab von ihrem heimatlichen Him-
melsstrich, und irren in der Welt herum, ohne einen irdischen und
einen himmlischen König zu haben; nicht einmal als Fremdlinge dür-
fen sie ihr Heimatland (Jerusalem) betreten und ihm ihren Gruß ent-
bieten“. In gleicher Weise urteilten auch die Nachfolger des Ter-
tullian im III. Jahrhundert, die Bischöfe von Karthago, Cyprian und
Commodian, die gegen das Judentum gerade um die Zeit schrieben,
als die Christen durch die von dem Kaiser Decius gegen sie eingelei-
teten Verfolgungen in höchste Erregung versetzt worden waren1).
Von dieser Art waren die Beziehungen zwischen den beiden Reli-
gionen an der Schwelle jenes Jahrhunderts, in dem das Christentum
unter Konstantin dem Großen zur Staatsreligion des römischen Rei-
ches werden sollte, um sich aus einer verfolgten Religion rasch in eine
verfolgende zu verwandeln.
1) Über die afrikanische Diaspora dieser Zeit s. unten, § 2 5.
176
Sechstes Kapitel
Die Diaspora und das autonome Zentrum
in Babylonien
§ 25. Die Veränderungen in der orientalisch-römischen Diaspora
Zwei gewaltige Auswandererströme ergossen sich aus Judäa in die
Diaspora im Laufe der hier zur Darstellung gelangenden Epoche: der
erste nach dem Falle Jerusalems, im Jahre 70, der andere nach dem
Falle von Betar und dem mißlungenen Aufstande des Bar Kochba
(i38). Der erste löste bekanntlich in den in Asien und Afrika ver-
streuten jüdischen Gemeinden, die sich plötzlich ihres geheiligten
religiösen Zentrums beraubt sahen, eine mächtige Bewegung gegen
Rom aus. Die zweite Auswanderung vermochte hingegen in der Dia-
spora, die kurz zuvor unter Trajan für ihre revolutionären Anwand-
lungen büßen mußte, keine bemerkenswerten neuen Antriebe hervor-
zubringen. Doch bewirkte dieser Zuwandererstrom aus dem verheer-
ten Judäa, der die Bildung neuer Kolonien mit sich brachte, eine be-
deutende Erweiterung der geographischen Grenzen der Diaspora. Zu-
gleich wurde dadurch auch das Band, das die Diaspora mit dem da-
mals in Galiläa befindlichen Zentrum der nationalen Hegemonie ver-
knüpfte, immer fester.
Zahlenmäßig gewann vor allem die syrische Diaspora, die Palä-
stina am nächsten lag. Die große jüdische Gemeinde von Antiochia
spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in dem sozialen und wirt-
schaftlichen Leben dieser Provinz. Sie hat fortwährend einen Kampf
gegen die dortige christliche Gemeinde zu führen, die in Antiochia,
dem ältesten Sitz der christlichen Bischöfe, der späteren „Patri-
archen“, in stetem Aufstieg begriffen war. Daß dieser Kampf nicht
erfolglos war, ist aus den strengen Strafreden zu ersehen, in denen
die Führer der Kirche in späterer Zeit gegen die unter den Einfluß
12 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
177
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
der Juden geratenen Christen wetterten (Johannes Chrysostomus im
IY. Jahrhundert, s. unten § 34). — Der syrischen Diaspora schlossen
sich unmittelbar die jüdischen Kolonien in Kleinasien an, deren be-
deutendste sich um jene Zeit in Kappadocien befanden. Im Mischna-
und Talmudschrifttum finden sich Notizen über jüdische Kaufleute und
Gesetzeslehrer aus Kappadocien, über Reisen, die dorthin von palästi-
nensischen Gelehrten unternommen wurden, sowie über manche dort
übliche Bräuche. In der Hauptstadt Kappadociens, Masaka oder Cae-
sarea, befand sich eine jüdische Gemeinde, die jedoch im III. Jahr-
hundert bei der Invasion des persischen Königs Schabur I. der Zer-
störung anheimfiel1). Daß jüdische Gemeinden auch in vielen an-
deren Orten Kleinasiens (Smyrna, Ephesus, Hierapolis, Apamea usw.)
bestanden, ist durch die erhaltengebliebenen griechischen Inschriften
auf Grabmälern und sonstigen Altertumsüberresten bezeugt, in denen
jüdische Namen nicht selten mit den Titeln „Archont“ oder „Archi-
synagogos“ (Gemeindevorsteher) Vorkommen und auch von einer jü-
dischen Bevölkerung (laos ton joudaion) oder von einer reli-
giösen Gemeinde (synagoge) die Rede ist. Die jüdisch-hellenistische
Diaspora in Vorderasien hat überhaupt in dieser Periode ihre frühere
Stellung im allgemeinen bewahren können, mit dem einzigen Unter-
schiede, daß sie sich jetzt nicht nur gegen die heidnische, sondern
auch gegen die christliche Umwelt zu behaupten hatte.
Im III. Jahrhundert bestand auch noch eine jüdische Kolonie in
Palmyra, das von den Juden und Griechen Tadmor genannt wurde.
In dieser mitten in der syrischen Wüste liegenden Oase entstand um
jene Zeit ein kleines Ein tagsreich, durch das die Handelsstraße aus
Palästina nach Arabien führte. Die Herrscher von Palmyra standen
unter dem Druck zweier sich gegenseitig befehdender Mächte: unter
dem Roms einerseits und dem des neuentstandenen persischen Sassa-
nidenreiches andererseits, bald der einen, bald der anderen Groß-
macht gefügig. Für die Rom im Kriege gegen Persien, das in Syrien
und Kleinasien viele Eroberungen gemacht hatte, geleistete Hilfe er-
hielt der Herr von Palmyra, Odenath, den Titel eines Statthalters des
römischen Morgenlandes. So gerieten Palästina, Syrien und Klein-
asien vorübergehend (261—273) unter die Gewalt der Herren von
Palmyra. Die Nachfolgerin des Odenath nach dessen gewaltsamem
!) Vgl. Mischna: Ketuboth XIII, 11; Tosephta: Sabbat, II, 3, u. XV, 8;
Jebamoth, XIV, 5; Babyl. Talmud: Moed katan, 26 a u. sonst.
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§ 25. Die orientalisch-römische Diaspora
Tode (267), die Königin Zenobia, erwarb sich hohen Ruhm durch
Förderung von Kunst und Wissenschaft. An ihrem Hofe lebten hoch-
gebildete Römer; aber auch freidenkende Christen standen bei ihr
in Gunst, so z. B. der antiochenische Bischof, der verketzerte Paulus
von Samosata, der die Göttlichkeit Jesu nicht anerkannte und der jü-
dischen monistischen Auffassung überaus nahekam. Manche Kir-
chenschriftsteller waren später der Meinung, daß Zenobia eine Jüdin
gewesen sei. Es mag sein, daß diese halb heidnische, halb christliche
Königin in der Tat auch für die jüdische Religion Sympathien ge-
hegt hat, doch werden sie sich wohl kaum auf das jüdische Volk er-
streckt haben. Wenigstens wissen die talmudischen Nachrichten über
die Bewohner von Tadmor und ihre Herrscher nur Ungünstiges zu
erzählen. Der Zeitgenosse des Odenath und der Zenobia, das Haupt
der Akademie von Tiberias, R. Jochanan, sagt z. B. einmal: „Selig
ist der, der den Fall Tadmors erleben wird“. Es haben sich dunkle
Nachrichten über von Zenobia veranlaßte Judenverfolgungen erhalten,
sowie über damit zusammenhängende Fürbitten palästinensischer Ge-
setzeslehrer. Vielleicht hat die Königin von Palmyra, nachdem sie
sich zur unabhängigen Gebieterin des römischen Morgenlandes pro-
klamiert hatte, ihre Macht in der Tat auch den Juden zu spüren ge-
geben. Doch war die Oberhoheit von Palmyra, wie gesagt, nur von
kurzer Dauer. Der römische Kaiser Aurelian, der „Wiederhersteller
des Reiches“, machte dem sich als Großmacht aufspielenden winzi-
gen Staate ein schnelles Ende, indem er die Stadt Palmyra bis auf
den Grund zerstörte und die übermütige Königin Zenobia zur Ge-
fangenen machte (273).
In raschem Niedergange ist um diese Zeit das kosmopolitische
Alexandrien in Ägypten begriffen. Der ehemalige jüdisch-helleni-
stische Synkretismus, auf dessen Boden so viele Wunderblüten gei-
stiger Schöpfungskraft hervorgesprossen waren, weicht hier vor der
christlichen Kultur, in der das Heidentum allmählich aufgeht, Schritt
für Schritt zurück. Zum eingewurzelten Judenhaß der alexandrini-
schen Griechen gesellt sich nunmehr der Fanatismus „der Christen,
Diesem doppelten Ansturm vermag die jüdische Kolonie kaum stand-
zuhalten. Ihre weniger widerstandsfähigen Elemente werden von der
neuen griechisch-christlichen Strömung hinweggespült, die innerlich
gefestigteren aber schließen sich ab oder wandern aus. Nach der im
II. Jahrhundert unter Trajan erfolgten Erhebung der Diaspora geht
12*
*79
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
das jüdische Alexandrien seiner Bedeutung als geistiges Zentrum
gänzlich verlustig. Noch spielt es als ein wichtiges Handels- und In-
dustriezentrum der Mittelmeerküste eine Rolle, doch laufen ihm auch
hierbei die benachbarten Kolonien des nordafrikanischen Küstenstri-
ches bald den Rang ab. Unausgesetzt hält die Emigration der Juden
aus Ägypten nach den anderen römischen Provinzen Nordafrikas an
und führt zur Bildung bedeutender Siedlungen in Tripolitanien,
Mauretanien und Numidien (in den späteren Algerien, Tunis und
Marokko). Zwischen dem II. und IV. Jahrhundert entstehen festge-
fügte Gemeinden mit Synagogen, besonderen Bestattungsstätten (Ne-
kropolen), mit Archonten und synagogalem Amtspersonal in den
Städten Karthago, Utika, Naro und dem mauretanischen Caesarea.
Davon zeugen die an diesen Orten bei den Ausgrabungen vielfach auf-
gefundenen Inschriften auf Grabdenkmälern und sonstigen Altertums-
überresten1). Von dem inneren Leben dieser Gemeinden erfahren wir
aus den Berichten der zu jener Zeit dort tätigen Kirchenschriftsteller,
die für die Verbreitung des Christentums in Nordafrika wirkten.
Schon früh wurde Nordafrika zum Schauplatz des Kampfes zwi-
schen Christentum und Judentum. Den Feldzug gegen die afrikani-
schen Juden eröffnete gegen Ende des II. Jahrhunderts der bereits
erwähnte Tertullian (§ 2 4). Den leidenschaftlichen Eiferer der Kirche
erfüllte der überhandnehmende Einfluß der jüdischen Gemeinde zu
Karthago, die die Heiden mächtig anzog und so mit den kirchlichen
Missionaren wetteiferte, mit Sorge. Tertullian verspottet nun die ju-
daisierenden Heiden, die „den Tag des Saturn (den Sabbat) der Ruhe
und üppigen Mahlzeiten widmen, der ihnen fremden jüdischen Le-
bensweise aber fernbleiben“. Er schildert unter anderem eine in
Karthago zwischen einem Christen und einem zum Judentum über-
getretenen Heiden erfolgte Disputation. Man diskutierte die Frage,
ob die Israel in der Bibel zuteil gewordenen Verheißungen auch in
bezug auf Nichtjuden Geltung hätten. Der Jude stellte dies hinsicht- i)
i) Die Inschriften sind zum größten Teil in lateinischer Sprache abgefaßt,
doch kommen darin auch hebräische Wörter, so z. B. das Wort „Scalom“ =
Friede, vor. Die Grabmäler sind nicht selten mit synagogalen Emblemen (mit
siebenarmigen Leuchlern u. dgl.) verziert. Die Inschriften an den Mauern der
Synagogen erwähnen oft die Ehrentitel der Gemeindevorsteher: Archisynagogus,
pater synagogae u. dgl. Auch kamen hier aus dem II. und III. Jahrhundert
stammende Tafeln zum Vorschein, die Beschwörungen von Dämonen im Namen
Jahves, „des Gottes Isaaks, Abrahams und Israels“ enthalten.
180
§ 25. Die orientalisch-römische Diaspora
lieh der vom Heidentum zum Christentum Bekehrten in Abrede. Die
Zuhörerschaft geriet in Erregung, es waren von beiden Seiten
schroffe Reden zu vernehmen, die Disputation zog sich bis zum
Abend hin und man ging, ohne irgendeinen Beschluß zu fassen, aus-
einander (um 200). Trotz der großen Energie, die Tertullian bei der
Bekämpfung des jüdischen Einflusses in Predigt und Schrift auf-
wandte, vermochte er diesem Einfluß keinen Abbruch zu tun. So
sah sich denn sein Jünger Cyprian, ein zum Christentum bekehrter
Heide, der es bis zu der Würde des Bischofs von Karthago gebracht
halte (249), wiederum genötigt, einen apologetischen Traktat von der
damals so beliebten Art „Gegen die Judäer“ zu schreiben. Im Gegen-
satz zu Tertullian vermied es Cyprian, die Juden in seinen Schriften
durch ungehaltene Worte vor den Kopf zu stoßen, und suchte ihnen
nur zu beweisen, daß der Weg zur Erlösung durch die Taufe so-
wohl den Heiden als auch den Juden selbst offenstehe. Um so un-
genierter überhäufte ein anderer kirchlicher Würdenträger jener Zeit,
der der Dichtkunst huldigende Bischof von Karthago, Commodian,
die Juden und die Judaisierenden mit einem ganzen Schwall von
Schmähreden in Versform („Carmen apologeticum adversus judaeos
et gentes“; „Instructiones adversus gentium deos“, um 2 4o—2Öo).
Aus diesen leidenschaftlich-gehässigen Reden spricht deutlich die
Furcht vor der „jüdischen Versuchung“, die für diejenigen, die im
Zeichen der jüdischen Heiligen Schrift vom Heidentum zum Chri-
stentum übertraten und die Juden demgemäß als die maßgebendsten
Schriftinterpreten betrachten mußten, beinahe unüberwindlich war.
„Wozu rennst du denn — so beschwört Commodian den judaisieren-
den Heiden — in die Synagoge? . . . Willst du denn Halbjude, Halb-
heide sein? Blind warst du und bist du auch nun mitten unter Blin-
den, du Tropf! In eine Falle nur kann der Blinde den Blinden nach
sich ziehen“. Unverhohlen gibt Commodian seiner Schadenfreude
über das traurige Los des jüdischen Volkes Ausdruck, indem er in
diesem Los eine wohlverdiente Strafe für die hartnäckige Verleug-
nung Christi erblickt. Die Dichtwerke des Commodian wimmeln von
so vielen maßlosen Beschimpfungen der Juden, daß sich dem Leser
unwillkürlich die Frage auf drängt, ob wohl dem Verfasser (in Kar-
thago oder in seiner Heimatstadt, dem palästinensischen Gaza, wo er
noch als Heide seine Jugend verbracht hatte) von seiten der Ange-
181
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
hörigen der ihm verhaßten Nation nicht irgendeine Unbill wider-
fahren ist.
Unter dermaßen schwierigen Verhältnissen, bei dem unvermeid-
lichen Kampf gegen zwei Fronten — einerseits gegen die fremde Um-
welt und andererseits gegen das angriffslustige Christentum — ver-
mochten die jüdischen Gemeinden in Nordafrika nur mit Mühe ihre
religiöse Freiheit und ihre innere Autonomie zu erhalten, doch reich-
ten ihre Kräfte nicht mehr dazu aus, ein selbständiges geistiges Zen-
trum, eine zentrale, autonome, alle Gemeinden zu einem großen na-
tionalen Verband zusammenschließende Organisation ins Leben zu
rufen. Diese Aufgabe in der Diaspora zu vollbringen war um diese;
Zeit einzig und allein Babylonien berufen.
§ 26. Das parthische und neupersische Babylonien
Das uralte Land zwischen Euphrat und Tigris, die Wiege der mor-
genländischen Kultur, wo im Morgengrauen der Weltgeschichte die
hebräischen Stämme den Märchen ihrer ersten Kindheit lauschten,
wo späterhin die Gefangenen Judäas „saßen und weinten, wenn sie
Zions gedachten“ — dieses Land sollte im III. Jahrhundert der christ-
lichen Ära zu einem der bedeutendsten Kulturzentren des zerstreu-
ten Volkes werden. Sieben Jahrhunderte waren bereits seit der Zeit
verstrichen, da die nach Babylonien verschleppten Judäer unter Kyros
in ihre Heimat zurückkehrten, einen Teil ihrer Stammesbrüder als
Kolonie im „Lande des Exils“ zurücklassend. Diese Kolonie, gleich-
sam die Mutter der Weltdiaspora, gedieh und entfaltete sich abseits
von der lärmerfüllten Bühne der Weltgeschichte und wurde von den
großen politischen Umwälzungen, durch die die Schicksale Vorder-
asiens in den folgenden Jahrhunderten bestimmt wurden, verhältnis-
mäßig wenig berührt. Während die altpersische Achämenidenherr-
schaft hier zunächst der griechisch-syrischen Obergewalt Platz ma-
chen mußte (312 v. d. ehr. Ära), die dann wieder von der Herrschaft
der Parther abgelöst wurde (um die Mitte des zweiten vorchristlichen
Jahrhunderts), konnte sich die Judenheit Babyloniens ununterbrochen
weiter entwickeln, indem sie ihre nationale Kultur aufs sorgfältigste
behütete und ihre geistige Gemeinschaft mit der Metropole in Judäa
auch fernerhin aufrecht erhielt. Als einziges Erbgut der griechischen
Kultur der Seleucidenepoche blieb den babylonischen Juden nur die
182
§ 26. Das parthische und neupersische Babylonien
sogenannte „seleucidische Ära“1), die bei ihnen noch viele Jahrhun-
derte später als offizielle Zeitrechnung im Gebrauch stand. Bemer-
kenswert ist die Tatsache, daß Judäa und Babylonien fast gleichzeitig,
um die Mitte des II. Jahrhunderts v. d. ehr. Ära, die Seleucidenherr,-
schaft abschüttelten, das eine dank den Heldentaten der Hasmonäer,
das andere infolge des Einfalls der Parther und der Siege ihres Kö-
nigs Mithridates I.
In den sturmerfüllten Jahrhunderten, da in Judäa der has-
monäische Staat, das römische Protektorat, der Fall Jerusalems, die
Erhebung des Bar Kochba und die neue nationale Niederlage in ra-
schem Wechsel aufeinander folgten, erfreuten sich die Juden Baby-
loniens unter dem Schutze der parthischen Könige aus der Dynastie
der Arsaciden, der „großen Gebieter des Iran“, einer ruhigen und
sicheren Existenz. Zur Zeit des Niederganges der Hasmonäerdynastie
sahen die babylonischen Juden eine der höchstgestellten Persönlich-
keiten Judäas in ihrer Mitte weilen: den unglückseligen, von den Par-
thern gefangengenommenen königlichen Hohepriester Hyrkan II.;
unter Herodes I. gaben sie dem Mutterlande einen Hohepriester (Cha-
nanel) und den großen Gesetzeslehrer Hillel, den Reformator der
„mündlichen Lehre“. Ein halbes Jahrhundert vor dem Falle Jerusa-
lems bekehrten sich die Könige des parthischen Vasallenreiches Adia-
bene unter dem Einfluß der babylonischen Juden zum jüdischen
Glauben. Um die gleiche Zeit wurde der von Juden bewohnte Bezirk
von Nehardea in Babylonien zum Stützpunkt der von den Brüdern
Aniläus und Asinäus geführten kriegerischen jüdischen Freischar, die
fünfzehn Jahre lang die Umgegend unsicher machte und auch der
Regierung Parthiens nicht wenig Sorge bereitete* 2). Endlich stießen
die babylonischen Juden während des Feldzuges des Trajan auch mit
den Römern unmittelbar zusammen: sie unterstützten ihre parthischen
Mitbürger bei der Abwehr der räuberischen Weltmacht und gaben zu-
gleich, indem sie in den Herzen ihrer Volksgenossen in Judäa von
neuem die Begeisterung für die Freiheit entfachten, den ersten An-
stoß zu der revolutionären Erhebung unter Hadrian (oben, § 7). Der
Zusammenbruch des Bar-Kochba-Aufstandes und die Gewaltmaßnah-
men des Hadrian trieben neue Massen von Auswanderern aus Judäa
nach Babylonien, darunter auch viele Familien aus den gebildeten
D Band II, S 2.
2) Band II, §§ 47, 60, 96.
l83
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
Kreisen der jüdischen Gesellschaft. Das nationale Leben der babyloni-
schen Juden erhielt dadurch einen neuen Energiezufluß, so daß sie
sogar den kühnen Plan faßten, sich von der palästinensischen Hege-
monie ganz unabhängig zu machen. Der Versuch des Chananja, ein
besonderes babylonisches Synhedrion in Nahar-Pakod zu gründen,
schlug allerdings fehl (§ 17), doch konnte es kaum noch zweifelhaft
sein, daß das jüdische Babylonien früher oder später aus eigener
Kraft ein nationales Autonomiezentrum aufbauen werde. Im Zeitalter
des Jehuda ha’Nassi und der Mischnasammlung sandte Babylonien
ganze Scharen junger Leute nach Galiläa, die in den dortigen Aka-
demien ihre Hochschulbildung genossen, um dann mit großen Kennt-
nissen und reicher Erfahrung in Fragen der Gemeindeselbstverwal-
tung in ihre Heimat zurückzukehren.
Die allgemeine Lage der Juden im Partherreiche ermöglichte ihnen
eine freie soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Die kriegerischen
Widersacher der Römer im Morgenlande, die Parther, begegneten
überhaupt den ihnen Untertanen Fremdstämmigen mit Duldsamkeit,
um so mehr den Juden, die gleich den Parthern die Römer, die Un-
terjocher Judäas, von ganzem Herzen haßten und den Kampf gegen
sie in jeder Weise unterstützten. Andererseits vermochte auch die halb
persische, halb griechische Mischkultur der Parther auf die einheit-
liche nationale Kultur der Juden, die dazu noch im Lande in kom-
pakten Massen lebten, in keiner Weise zersetzend einzuwirken. Manche
babylonische Städte waren zum überwiegendsten Teil von Juden be-
wohnt, die sich hier keineswegs als Fremdlinge, sondern als altein-
gesessene Bürger fühlten. So wies die Stadt Nehardea am Euphrat
eine fast ausschließlich aus Juden bestehende Bevölkerung auf und
spielte lange Zeit die Rolle eines babylonischen Jerusalem; zur Zeit,
da noch der Jerusalemer Tempel bestand, befand sich hier eine
Schatzkammer, wohin alle Geldspenden der Babylonier zugunsten des
Tempels flössen. In der Nähe von Nehardea lagen zwei Städte, Pum-
badita und Sura, wo sich gleichfalls jüdische Gemeinden von jeher
eines ruhigen Lebens erfreuten. Vornehmlich von Juden bewohnt
war außerdem die der parthischen Hauptstadt Ktesiphon am nächsten
liegende Stadt Machusa am Tigris. Abgesehen von diesen vier Haupt-
gemeinden lebten die Juden in kompakten Massen auch in vielen an-
deren babylonischen Städten und Ortschaften. Sie trieben Ackerbau,
Viehzucht, aber auch Handel und allerlei Gewerbe. Ihre allgemein-
i84
§ 26. Das parthische und neupersische Babylonien
bürgerlichen Verpflichtungen beschränkten sich fast ausschließlich
auf die Abführung von Kopf- und Grundsteuern an die Staatskasse,
während sie zur Befriedigung aller sonstigen sozialen und geistigen
Bedürfnisse ihre eigenen administrativen, gerichtlichen und munizi-
palen autonomen Institutionen, sowie ihr eigenes Oberhaupt, den
„Exilarchen“, besaßen, dessen Würde der Würde des palästinensi-
schen Patriarchen entsprach.
Der hoho Wohlstand und die innere Unabhängigkeit, zu denen sich
die babylonischen Juden aufgeschwungen hatten, waren jedoch durch
eine jäh hereingebrochene politische Krise in schwerste Gefahr ge-
raten. Nach vierhundertjähriger Herrschaft kam nämlich die par-
thischo Dynastie der Arsaciden zu Fall. Die Urbewohner des Landes,
die Perser, die sich der fremdstämmigen Dynastie gegenüber stets
«feindselig verhalten hatten, machten endlich in einem Aufstande ge-
gen den König Artaban IV. ihrem Unwillen Luft. Der Führer der
Aufständischen war ein Nachkomme des altpersischen Geschlechts der
Sassaniden namens Ardeschir (Artaxerxes), der das Gebiet von Persis
mit der alten Stadt Persepolis (Istachar) als Vasallenfürst unter sich
hatte. Nachdem er sich zum unabhängigen Herrscher dieses Gebietes
ausgerufen hatte, bemächtigte er sich nach und nach des ganzen Iran
und der übrigen parthischen Länder, darunter auch Babyloniens. Der
letzte parthische König Artaban IV. fiel im Kampfe gegen die Auf-
ständischen, und der Sieger Ardeschir legte sich darauf den Titel „der
König der Könige des Iran“ bei (226). So bildete sich das Neuper-
sische Reich, das vier Jahrhunderte lang unter der Herrschaft der
Sassaniden bestand. Als Hauptstadt des neuen Reiches galt offiziell
die heilige Stadt Persepolis, wo sich der „Feuertempel“ des könig-
lichen Hauses befand, doch behielt die politische Führung des Landes
nach wie vor die ehemalige parthische Hauptstadt Ktesiphon, die, wie
erwähnt, mitten unter den großen jüdischen Siedlungen Babyloniens
gelegen war. Diese nahe Nachbarschaft der Regierung verursachte den
Juden nicht wenig Unannehmlichkeiten. Der Urheber der nationalen
Restauration, Ardeschir, wurde nämlich von dem Ehrgeiz getrieben,
den neugegründeten Staat auf die Höhe des Persien eines Kyros oder
Darius zu erheben und zugleich der altpersischen Religion des Zara-
thustra (Mazdaismus) von neuem zur Vorherrschaft zu verhelfen. So
gewannen denn die Priester des Parsismus oder die „Magier“ (die
„Chabbare“ im Talmud) den größten Einfluß auf die Staatsgeschäfte.
i85
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
Die Vorrangstellung des Klerus mußte aber der Lage der Anders-
gläubigen zum Nachteil gereichen. Die fanatisierten persischen Prie-
ster, die Eiferer der Feueranbetung, versäumten es in der Tat auch
nicht, den den Jupiter verehrenden Griechen, den Christen, aber auch
den in Babylonien lebenden Juden in härtester Weise zuzusetzen. So
wurde z. B. an den persischen Feiertagen, als die Zeremonien zu
Ehren des Lichtgottes Ormuzd vor sich gingen und in den Götzen-
tempeln das heilige Feuer angezündet zu werden pflegte, den Juden
untersagt, in ihren Häusern Licht zu machen. Die allzu eifrigen
Feueranbeter drangen gewaltsam in die Häuser der Juden ein und
konfiszierten den gesamten Brennstoff zur Beleuchtung ihrer Feuer-
tempel.
Doch nahmen diese Verfolgungen bald ein Ende. Die Juden ver-
fügten in Babylonien über einen so weitgehenden Einfluß, daß dief
neue Gewalt sich ihnen gegenüber auch in politischer Hinsicht Zwang
auferlegen mußte. Hatte sie der erste König aus der Sassaniden-
dynastie, Ardeschir, aus Rücksicht auf die fanatischen Priester des
Feuerkultes, die ihm zum Throne verhalten, hart bedrängt, so erwies
sich sein Nachfolger, der mächtige Herrscher Schabur I. (Sapor,
241—272) den Juden gegenüber um so entgegenkommender. Einer
der Repräsentanten der jüdischen Selbstverwaltung in Babylonien ge-
hörte zu seinen nächsten Vertrauenspersonen (unten, § 28). In einen
endlosen Krieg mit seinen Nachbarn, den Römern, verwickelt, sah
sich Schabur auf die Sympathien der Juden als eines internationalen
Faktors sowie auf ihre finanzielle Unterstützung angewiesen. Auf sei-
nem Siegeszuge gegen die Römer drang Schabur in die von Juden
dicht bevölkerte Hauptstadt Syriens Antiochia sowie in Kleinasien ein.
I11 Caesarea-Masaka, der Hauptstadt Kappadociens, scheint er auf
einen bewaffneten Widerstand seitens der dortigen jüdischen Bevöl-
kerung gestoßen zu sein und war gezwungen, mit ihr wie mit einer’
kriegführenden Partei zu verfahren: der Überlieferung zufolge sol-
len bei der Eroberung dieser römischen Provinz durch die Perser
zwölf tausend Juden ums Leben gekommen sein. Bald geriet sogar der
römische Kaiser Valerian selbst in persische Gefangenschaft (260).
Doch gelang es dem Fürsten von Palmyra, Odenath (§ 2 5), die Rö-
mer aus ihrer Notlage zu befreien. Nicht genug, daß er die Perser
aus Syrien vertrieb, drang er mit seinem Heere auch noch tief in,
Mesopotamien ein, belagerte die Hauptstadt Ktesiphon und zerstörte
186
§ 27. Die Exilarchen
zugleich auf seinem Wege die jüdische Stadt Nehardea (261). Die
jüdische Gemeinde mußte hier für ihre Treue dem König Schabur
gegenüber hart büßen. So war denn die Diaspora zwischen zwei Feuer
geraten: zwischen Rom und Persien. Die Kunde von der Zerstörung
Nehardeas durch den Fürsten von Palmyra versetzte die Juden Ba-
byloniens und Palästinas in tiefe Trauer: dieser Volksschmerz war
es, der in den oben (§ 2 5) erwähnten zornerfüllten Worten der Ge-
setzeslehrer über Tadmor und seine Bewohner zum Ausdruck kam1).
Nach dem Tode Schaburs I. setzte in Persien eine Zeit voller Wirren
ein. Drei Jahrzehnte lang hielten sich wenig befähigte Herrscher auf
dem Thron, die das Land vor dem Ansturm des Erzfeindes, der Rö-
mer, nur unzulänglich zu beschützen vermochten. Mehr als einmal
drangen die römischen Truppen auf dem Wege nach Ktesiphon in
Babylonien ein, und unter dem Kaiser Diokletian gelang es ihnen so-*
gar, Armenien und einen Teil von Nordmesopotamien den Persern zu
entreißen (298). Die unmittelbare Nachbarschaft der Römer konnte
für die babylonischen Juden nichts Erfreuliches bedeuten, und doch
wurde ihnen die römische Gefahr zum Nutzen: in ihrer prekären
Lage auf die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung angewiesen,
hütete sich nämlich die persische Regierung wohl, die Bürgerrechte
und die freie Selbstverwaltung der Juden irgendwie anzutasten. So
sahen sich denn die in den verschiedenen Städten Babyloniens in
kompakten Massen lebenden Juden de jure oder wenigstens de facto
im Besitze einer ungeschmälerten Autonomie. Unter solchen Verhält-
nissen konnte Babylonien neben Palästina zu einem zweiten Auto-
nomiezentrum der jüdischen Nation werden.
§ 27. Die Exilarchen und die Autonomie der Gemeinden
An der Spitze der jüdischen Selbstverwaltung in Babylonien stand
eine von der Regierung formell anerkannte Amtsperson, die den jü-
dischen Titel Resch-Galuta oder, der späteren griechisch-lateinischen
1) In den talmudischen Überlieferungen tritt als Zerstörer Nehardeas ein ge-
wisser Papa bar Nazar auf, den Graetz für mit Odenath identisch hält, während
andere (so Nöldeke) in ihm nur einen Bruder oder einen sonstigen Familien-
angehörigen des Odenath zu sehen geneigt sind. Das Jahr der Zerstörung Nehar-
deas ist von Graetz in der Note 28 zum IV. Band seiner „Geschichte“ zutreffen-
der angegeben als im Texte des Buches selbst: die Zerstörung fällt in der Tat
in das Jahr 261, nicht aber in das Jahr 259 (vgl. S. 272 u. 455 in der
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
Ausdrucksweise zufolge, den eines Exilarchen, d. i. „Oberhaupt der
Exulanten“ oder Diasporafürst, führte. In den Volksüberlieferungen
wird die Entstehung des Exilarchats in die uralte Zeit des babyloni-»
sehen Exils zurückverlegt. Die alte Überlieferung stellt nämlich die Be-
hauptung auf, daß schon seit jener fernen Zeit die in Babylonien zu-
rückgebliebenen Judäer ihre eigenen, dem Königshause Davids ent-
stammenden Oberhäupter besaßen, und zwar Nachkommen des von
Nebukadrezzar in die Gefangenschaft abgeführten judäischen Königs
Jojakin sowie seines Enkels Serubbabel. Da die babylonischen Juden
noch lange ihre alte Benennung „Bne ha’gola“ oder einfach „Gola“ (Ex-
ulantengemeinde) beibehielten, so hießen demgemäß auch ihre Ober-
häupter „Rosche-Gola“ oder aramäisch „Resche-Galuta“. Die Glaub-
würdigkeit der Überlieferung von einer ununterbrochenen Reihe von
Exilarchen aus dem Geschlechte Jojakins und Serubbabels, die wäh-
rend der ganzen Periode der altpersischen und parthischen Herr-
schaft an der Spitze der babylonischen Diaspora gestanden haben
sollen, mag, was die Einzelheiten betrifft, allerdings in Zweifel ge-
zogen werden, doch scheinen dabei zwei Hauptpunkte geschichtlich
durchaus verbürgt zu sein: erstens daß das Exilarchat, dessen Re-
präsentanten erst im III. Jahrhundert d. ehr. Ära durch ihr öffent-
liches Wirken unzweifelhaft in den Umkreis der Geschichte traten,
in Wirklichkeit schon viel früher bestand; zweitens daß die Exilar-
chenwürde tatsächlich in einem bestimmten Geschlechte, das sich von
der judäischen Königsdynastie Davids herleitete, erblich war.
In der Epoche des zweiten Judäa,, bis zur Katastrophe des Jahres
70, bleibt das Leben der babylonischen Judenheit, als einer weit ab-
seits liegenden Kolonie, noch in völliges Dunkel gehüllt, und so sind
uns aus dieser Zeit gar keine Nachrichten über die Wirksamkeit ihrer
Führer erhaltengeblieben: es ist dies die vorgeschichtliche Periode
des Exilarchats. Dieser in Dunkel gehüllte Zeitraum währt bis zum
Aufstand des Bar Kochba, und erst nach diesem neuen Zusammen-
bruch., als große Scharen von Exulanten wieder einmal aus Judäa
nach Babylonien strömten, heben sich die Nebel der Vorgeschichte,
von denen die transeuphratische Diaspora bis dahin umhüllt war.
Nunmehr beginnen die Exilarchen, wenn auch vorerst in verschwom-
menen Umrissen, als diejenigen Würdenträger hervorzutreten, die
ihrem Range nach den Patriarchen Palästinas nicht nachstanden. So
stand z. B. dem aus Judäa gekommenen Chananja bei seinem Ver-
188
§ 27. Die Exilarchen
suche, in Babylonien ein unabhängiges Synhedrion zu gründen, ein
gewisser Würdenträger Achia oder Nechunja zur Seite, der, wie es
scheint, das Amt eines Exilarchen bekleidete. Um dieselbe Zeit über-
siedelte ein Familienangehöriger des babylonischen Exilarchen, der
Gelehrte R. Nathan, nach Palästina und trat das Amt des Stellver-
treters des judäischen Patriarchen Simon ben Gamaliel II. an (§ 17).
Es machte sich damals sogar eine Tendenz bemerkbar, mit der Würde
des palästinensischen Patriarchen irgendeinen Vertreter des babyloni-
schen Exilarchengeschlechts zu betrauen. Aus diesem Grunde eben
mochte der erwähnte Nathan für das Amt eines „Nassi“ in Betracht
gekommen sein, und selbst dem großen Patriarchen Jehuda ha’Nassi
schien die Rivalität der babylonischen Abkömmlinge der „Davidischen
Dynastie“ nicht ungefährlich zu sein. Babylonischer Exilarch war
nämlich zu dieser Zeit (um 200) Mar-Huna1), der sich mit dem
Plane trug, Palästina zu besuchen. Als nun der Patriarch Jehuda da-
von Kenntnis erhielt, erklärte er, wie die Überlieferung wissen will,
daß er dem hohen Gast, als einem Nachkommen des Königs David
in gerader männlicher Linie, alle Ehren zu erweisen bereit sei. Dar-
auf soll eines Tages sein Jünger, der Babylonier Chija, zu ihm mit
der Nachricht geeilt sein, der Exilarch Huna sei bereits eingetroffen;
der Patriarch wurde blaß vor Aufregung, doch stellte sich bald her-
aus, daß man nur einen Sarg mit den irdischen Überresten des Huna
gebracht hatte, um ihn, seinem letzten Willen gemäß, im Heiligen
Lande zu bestatten. Aus alledem ist zu ersehen, daß die Exilarchen
zu Beginn des III. Jahrhunderts, d. i. gegen Ende der Periode der
parthischen Herrschaft, auch weit über die Grenzen Babyloniens hin-
aus als Führer des Volkes durchaus anerkannt waren. Seitdem zieht
sich die Kette der „Diasporafürsten“ im Morgenlande durch acht
Jahrhunderte hindurch ununterbrochen hin. Die Dürftigkeit des Ur-
kundenstoffes macht es nicht immer möglich, die Aufeinanderfolge
der dieses hohe Amt bekleidenden Persönlichkeiten mit chronologi-
scher Sicherheit zu bestimmen, doch stoßen wir überall auf die Spu-
ren ihrer Wirksamkeit, die sich nicht selten mit dem Wirken der
hervorragenden, im Talmud verewigten Gesetzeslehrer aufs engste be-
rührt.
Die Würde des babylonischen Exilarchen entsprach, wie bereits
erwähnt, der Würde des Patriarchen in Palästina, doch verfügte der
189
1) „Mar“ bedeutet auf aramäisch soviel wie „Herr“.
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
erste über eine viel größere Machtvollkommenheit, die überdies einen
viel weltlicheren und mehr politischen Charakter hatte. In Persien, wo
jede Provinz von einem besonderen Satrapen regiert wurde, war der
Exilarch eine Art Satrap des jüdischen Stammes, der in den wichtig-
sten Bezirken der Provinz Babylonien auch in der Tat den Kern der
Bevölkerung bildete. Doch war dies gleichsam eine erbliche Satrapie:
die Regierung sah in diesem Falle davon ab, die einzelnen Träger die-
ser Würde zu ernennen, und beschränkte sich darauf, die sich vom
Vater auf den Sohn vererbende Macht zu sanktionieren. Der Exilarch
zählte seinem Range nach zu den höchsten Würdenträgern im Reiche,
was auch in seiner besonderen Tracht, dem seidenen Überwurf mit
goldenem Gürtel, zum Ausdruck kam. Von Zeit zu Zeit wurde er in
feierlicher Audienz vom Könige empfangen. Am persischen Neujahrs-
tage pflegte er diesem eine bestimmte Geldsumme als Ehrengabe zu
überreichen, die aber eigentlich nur eine obligatorische Steuerentrich-
tung bedeutete. In späterer Zeit lebten die Exilarchen mit fürstlicher
Pracht, sie hatten ihren eigenen Hofstaat, ein besonderes Ehren-
gefolge, eine zahlreiche Dienerschaft und pflegten in Luxuswagen
durch die Stadt zu fahren. Die Einkünfte des Exilarchen setzten sich
aus besonderen Natural- und Geldabgaben zusammen, die von den jü-
dischen Gemeinden in Babylonien entrichtet wurden. In den öffent-
lichen Versammlungen erwies man dem Exilarchen die seiner Würde
gebührenden Ehren. Unter anderem war es Sitte, ihm in den Syna-
gogen beim Thoraverlesen die Thorarolle zu seinem Platz zu bringen,
während alle anderen bei dieser Gelegenheit die Kanzel zu besteigen
hatten. An den Feiertagen brachten ihm große Volksscharen ihre
Glückwünsche dar. Die Residenz des Exilarchen war in dieser Zeit-
periode fast immer Nehardea.
Die Funktionen des Exilsfürsten waren überaus mannigfaltig. Er
galt vor allem als der Oberrichter der babylonischen Juden, sowohl
in zivil- als in strafrechtlichen Sachen. Die wichtigsten Rechtsstreitig-
keiten pflegte er selbst zu entscheiden, während er für die gewöhn-
liche Rechtspflege einzelne Ortsrichter ernannte. Zugleich war er der
höchste jüdische Verwaltungsbeamte: als solcher überwachte er die
öffentliche Sicherheit in den von Juden bewohnten Städten, sowie den
Handel auf den Märkten, und übte die Aufsicht über richtiges Maß
und Gewicht aus, wozu er besondere Kontrolleure (Agoranomen) er-
nannte. Der Exilarch hatte in bezug auf die ihm unterstellte Bevöl-
190
§ 28. Rab und Samuel. Die akademische Organisation
kerung das Recht „des Stockes und der Peitsche“, er konnte mit an-
deren Worten die Unfügsamen nach eigenem Ermessen bestrafen und
durfte auch bei der Steuereintreibung zugunsten des Staatsschatzes zu
Zwangsmaßnahmen greifen. Daß bei solch weitgehenden Machtbefug-
nissen Übergriffe unvermeidlich waren, ist wohl ohne weiteres klar.
So bezichtigte man in der Tat die Exilarchen und ihre Diener nicht
selten der Gewalttätigkeit, des Amtsmißbrauches, der Yolksbedrückung
und auch der Geringschätzung der in hohem Ansehen stehenden Ge-
setzeslehrer. Auch wurde ihnen häufig nicht genügend strenge Be-
obachtung der religiösen Vorschriften und der Volksbräuche zum Vor-
wurf gemacht, doch waren viele geneigt, ihnen diese Freiheiten ange-
sichts ihrer amtlichen Stellung und des damit zusammenhängenden
Umgangs mit den Andersgläubigen nachzusehen. Von einigen Exilar-
chen heißt es, daß sie nicht einmal das Gesetz zur Genüge kannten
oder gänzlich unwissend waren; indessen gab es auch solche, die
gleich den besten der palästinensischen Patriarchen selbst mit den
Vorstehern der talmudischen Akademien an Gelehrsamkeit wetteifern
konnten. Zu diesen gehörten einige Exilarchen des III. und IV. Jahr-
hunderts, die Nachfolger des erwähnten Mar-Huna, die oft gleich-
falls Mar-Huna oder aber Mar-Ukba hießen. Gemeinsam mit den ba-
bylonischen Gelehrten, den Amoräern, wachten sie über die Selbstver-
waltung der Gemeinden, ganz so, wie dies die Patriarchen mit Bei-
stand der palästinensischen Amoräer jener Zeit zu tun pflegten. In
Babylonien waren jedoch unter der parthischen und später unter der
neupersischen Herrschaft die Vorbedingungen für eine segensreiche
Entwicklung dieser Gemeindeautonomie viel günstiger, da man hier,
von seltenen Ausnahmen abgesehen, die Einmischung der Staatsgewalt
viel weniger als in den Provinzen des römischen Reiches zu spüren
bekam. Hieraus erklärt sich jener Aufschwung des nationalen Lebens
und des geistigen Schaffens, der von nun ab die babylonischen Juden
in die vorderen Reihen des geschichtlichen Geschehens stellt und ihrer
zukünftigen nationalen Hegemonie die Wege ebnet.
§ 28. Rab und Samuel. Die akademische Organisation
Der große Aufschwung des akademischen Lebens in Babylonien in
der ersten Hälfte des III. Jahrhunderts geht auf zwei Männer zurück.
Es waren dies Abba Areka, der später kurzweg Rab (Meister) genannt
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
zu werden pflegte, und Samuel Jarchinai, auch Mar oder Samuel
genannt1). Beide in Babylonien geboren und mit hervorragenden Gei-
stesgaben bedacht, konnten sie in der Heimat, wo es um jene Zeit
weder Hochschulen noch hervorragende Gesetzeslehrer gab, ihren
Wissensdurst nicht stillen. Dem Beispiel R. Chijas und anderer Lands-
leute folgend, gingen sie nach Palästina, wo damals der Patriarch
Jehuda ha’Nassi gerade an seiner Mischnasammlung arbeitete und wo
sie in den Akademien von Zippora und Tiberias regstes geistiges Le-
ben vorfanden. Zu Jüngern des Patriarchen geworden, errangen sich
Abba und Samuel gar bald eine Vorrangstellung in den Kreisen der
akademischen Jugend. Besonders tat sich Abba durch seine dialek-
tische Begabung hervor; bei der Erörterung strittiger Gesetzgebungs-
fragen trat er sogar dem Patriarchen selbst nicht selten mit Erfolg
entgegen. Da sie dem Prozeß der Mischnasammlung unmittelbar bei-
wohnten, vielleicht auch selbst daran teilnahmen, hatten die babyloni-
schen Gelehrten Gelegenheit, in die letzten Geheimnisse der münd-
lichen Lehre einzudringen. Mit reichen Kenntnissen ausgerüstet und
von dem sehnlichsten Wunsch erfüllt, das, was damals als wahre Bil-
dung galt, auch in Babylonien heimisch zu machen, traten sie voll
Zuversicht den Heimweg an (um 200).
Rab Abba, oder Rab, wie man ihn nunmehr zu nennen pflegte,
versah zunächst das Amt eines „Meturgeman“ oder Auslegers von Vor-
trägen in der Schule von Nehardea als Assistent ihres Rektors („Resch-
Sidra“), des greisen Gelehrten Rab Schila. Der Assistent übertraf aber
bei weitem den Rektor an Gelehrsamkeit und wurde auch bald als
dessen Nachfolger in Aussicht genommen. Nach dem Ableben des Rab
Schila lehnte es jedoch Rab ab, diese Stellung, die als die ehrenvollste
in Babylonien galt, einzunehmen und überließ das Rektorat seinem
Freunde Samuel, der als ein geborener Nehardäer eher Anrecht darauf
besaß. Er selbst übernahm auf Anerbieten des Exilarchen das Amt
eines „Agoranomen“, d. i. eines Handelskontrolleurs oder Bezirks-
inspektors, der in allen Gemeinden Babyloniens über richtiges Maß
und Gewicht, sowie über die Einhaltung von Höchstpreisen für Le-
bensmittel die Aufsicht zu führen hatte. Bei Ausübung dieses für
einen Gelehrten wenig geeigneten Amtes geriet Rab manchmal in un-
liebsame Konflikte mit dem Exilarchen. So verhängte dieser einst
!) In Babylonien wurden die Gelehrten mit „Rab“ oder „Mar“ angeredet
und nicht mit „Rabbi“ (mein Meister), wie in Palästina.
192
§ 28. Rab und Samuel. Die akademische Organisation
über seinen Agoranomen wegen Mangels an Diensteifer die Gefäng-
nisstrafe. Doch gereichte die Amtstätigkeit Rab zu großem Nutzen.
Als Bezirksinspektor das Land bereisend und mit den verschiedensten
Menschen in Berührung kommend, hatte er Gelegenheit, Lebensweise
und Sitten der Volksmassen aus eigener Anschauung kennenzulernen.
Die Erfahrungen, die er dabei machte, waren ziemlich trostlos: das
gemeine Volk verharrte an vielen Orten in Unwissenheit und Unsitte
und ließ sich die Übertretung vieler religiöser Vorschriften zuschulden
kommen. Aus Unkenntnis des Gesetzes übertrat man z. B. sehr häufig
die strengen Speisegesetze. So hörte Rab einst in einer Ortschaft, wie
eine Frau die andere fragte, wieviel Milch man für eine bestimmte
Portion Fleisch in den Topf tun müsse. (Die Vermischung von Milch
und Fleisch war bekanntlich vom Gesetze untersagt.) Während seiner
Diensttätigkeit scheint Rab auch mit dem letzten parthischen König
Artaban IV. in Berührung gekommen zu sein. Der König soll den jü-
dischen Gelehrten hochgeschätzt und ihm einst sogar ein wertvolles
Geschenk gemacht haben. Diese Rab erwiesene Gunst soll bis zum
Lebensende des Königs unverändert geblieben sein. Als dann die Nach-
richt von dem Tode Artabans im Kampfe mit den aufständischen Per-
sern kam, rief Rab voll Trauer aus : „Nun ist das Band gelöst 1“ Er
befürchtete, daß mit dem Falle der parthischen Dynastie in der Lage
der Juden eine Wendung zum Schlimmen eintreten werde, und seine
Befürchtungen haben sich zunächst auch als nicht unbegründet erwie-
sen, denn unter dem ersten Herrscher aus der neupersischen Dynastie,
Ardeschir, veranlaßten die Magier, wie bereits erwähnt, in der Tat
Verfolgungen gegen die jüdische Religion.
Nachdem Rab so die Lehrjahre und die entbehrungsreichen Wan-
derjahre hinter sich hatte, eröffnete sich ihm endlich der richtige Le-
bensweg: nunmehr gab er sich ganz der Verbreitung des Wissens un-
ter seinen Landsleuten hin. Er gründete in der Stadt Sura eine Hoch-
schule nach dem Vorbild der palästinensischen Akademien (219). Der
Zudrang zu dieser Schule (,Jeschiba, aramäisch Metibta oder auch
„Sidra“) aus den verschiedenen Orten Babyloniens und auch aus an-
deren Ländern war so groß, daß es im Schulgebäude an Platz fehlte
und Rab für den Unterricht auch noch den sein Haus umgebenden
großen Garten zur Verfügung stellen mußte. Als wohlhabender Mann
unterstützte er außerdem viele seiner bedürftigen Schüler aus eigenen
Mitteln. Besondere Sorge trug er um die Landleute der Umgegend: in
13 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
193
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
den frühen Morgenstunden und am späten Abend, wenn diese von
ihrem Tagewerk frei waren, pflegte er auch für sie Vorlesungen ab-
zuhalten. Es mag sein, daß damals schon der Grundstein für jene
akademischen Versammlungen gelegt wurde, die vor den Feiertagen,
gegen Ende der Winter- und Sommerzeit, stattfanden („Kalla“) und
sich späterhin so einbürgerten, daß sie in Babylonien zu einer Art
Volksuniversität wurden1).
Das Wissen so ins Volk tragend, versäumte es Rab zugleich nicht,
die Schule mit dem Leben in Verbindung zu bringen. Überaus zahl-
reich sind die von ihm selbst herrührenden gesetzgeberischen Ent-
scheidungen, die unter dem Namen „Memra“ bekannt sind und sich
durch ihre konservative Tendenz auszeichnen. In der Mehrzahl der
Fälle zog es Rab vor, das Gesetz nicht in milderndem, sondern in er-
schwerendem Sinne, im Geiste der Schule Schammais, auszulegen. Be-
sonders streng waren seine das Ehescheidungsrecht betreffenden Ent-
scheidungen, die darauf abzielten, die Familienmoral der babyloni-
schen Juden auf ein höheres Niveau zu heben. Im akademischen Le-
ben fiel Rab in Babylonien dieselbe Rolle zu, die seinem jüngeren
Zeitgenossen Jochanan ben Napacha in Palästina oblag: er war der
Stammvater der Amoräer, der Ausleger und Fortsetzer der Mischna.
Aus Palästina brachte er den eben zum Abschluß gelangten Mischna-
text mit und begann ihn selbständig zu bearbeiten, so den Grundstein
zu dem babylonischen Talmud legend, der in den folgenden Jahrhun-
derten parallel neben dem palästinensischen entstand, um ihn schließ-
lich sogar zu überdauern. Die Methoden der Mischnabearbeitung in
der Schule des Rab wichen im großen und ganzen nur wenig von
!) Graetz und die anderen ihm folgenden Geschichtsschreiber geben in die-
sem Zusammenhänge eine ausführliche Schilderung der alle sechs Monate vor den
Feiertagen veranstalteten Versammlungen, indem sie diese als eine von Rab ge-
schaffene Institution betrachten. Die talmudischen Quellen bieten jedoch keine
genügenden Anhaltspunkte dafür. Die Hauptquelle, auf die sich die Geschichts-
schreiber berufen (Sukka, 26a; vgl. Graetz, Gesch. IV, 260, Aufl. 1898), spricht
ganz deutlich von in Sura „am Sabbatfeiertage im Hause des Resch-Galuta“
(Schahbata de’rigle debe resch-galuta) abgehaltenen Versammlungen und auch von
diesen nur im Zusammenhang mit den Amoräern der nachfolgenden Generation
(R. Chisda und Rabba bar Huna).. Die im Talmud vielfach unter dem Namen
„Kalla" (wörtlich: „allgemeine“, d. h. soviel wie „Universitäten") erwähnten
Schulkongresse oder örtlichen Versammlungen (s. den vollständigen „Aruch" von
Kohut, s. v. Kall) waren im III. Jahrhundert noch im Anfangsstadium ihrer Ent-
wicklung und gelangten zur Blüte erst in den folgenden Jahrhunderten (s. unten,
SS 44 u. 60).
§ 28. Rab und Samuel. Die akademische Organisation
denen dar palästinensischen Amoräer ab; nur kam dort mehr der
Hang zur raffinierten Dialektik zum Vorschein, der überhaupt ein
Charakteristikum der babylonischen Schulen war. So sind denn die
im Talmud verewigten, zwischen Rab und Samuel geführten halachi-
schen Debatten überreich an originellen kasuistischen Kunstgriffen
auf dem Gebiete der Rechtskunde und der Gesetzesauslegung.
Die ihm nach der halachischen Arbeit noch verbleibende Mußezeit
widmete Rab der Haggada und der religiösen Poesie. Es werden ihm
viele Hymnen zugeschrieben, die später in der synagogalen Liturgie
Aufnahme fanden. So wird er als der Verfasser jener erhabenen Hym-
nen in der Rosch-ha'schana-Liturgie („Malchujoth, Sichronoth, Schof-
roth“ im Mussaphgebete) angesehen, die bis zum heutigen Tage mit
allergrößter Feierlichkeit und unter Hornklängen in den Synagogen
vorgetragen werden1). Sollte diese Überlieferung auf Wahrheit be-
ruhen, so müßte Rab als der Vater der synagogalen Poesie und als
einer der vortrefflichsten liturgischen Dichter aller Zeiten angespro-
chen werden. Die berühmte Hymne „Alenu“ aus dieser Reihe, die
später zum alltäglichen Schlußgebet wurde, stellt ein eindrucksvolles
Bekenntnis der jüdischen Religion dar, die dabei zu allen anderen
Glaubenslehren in schroffen Gegensatz gestellt wird:
„Uns liegl es ob, zu huldigen dem Herrn des Weltalls und dem, der die
Welt geschaffen, die Ehre dafür zu geben, daß er uns nicht gemacht, wie die
Völker aller Länder und uns nicht das gleiche Los hat beschieden, wie all den
Völkerscharen. Denn sie bücken’ sich vor einem Gespenst und einem Nichts und
flehen zu einem Gott, der nicht helfen kann, wir aber beugen das Knie, bücken
uns und bekennen unseren Glauben vor dem König über die Könige der Könige 2),
dem Heiligen, gelobt sei er, der die Himmel hat ausgespannt und die Erde hat
gegründet, dessen Herrlichkeit thronet in den höchsten Höhen. Er ist unser Gott,
und keiner sonst; er ist in Wahrhaftigkeit unser König und keiner außer ihm . . .
Darum hoffen wir, Gott, unser Herr, auf dich, daß wir ehestens schauen werden
deine ganze Macht und Herrlichkeit, daß alle Greuel von der Erde verschwinden
und alle Götzen vertilgt sein werden, daß die Welt im Reiche des Allmächtigen
vollkommen werden wird, daß alle, die leben im Fleische, dich bei deinem Namen
rufen und alle Sünder auf Erden sich zu dir bekehren werden . . .**
!) In der talmudischen Überlieferung (Jer. Rosch-ha’schana, I, 3 u. Aboda-
sara, I, 2) wird diese Hymnenreihe „Hornklangliturgie der Schule des Rab“
(Tekiata debe rab) genannt.
2) Es wird vermutet, daß hierin eine Anspielung auf den hochfahrenden Titel
der parthischen und persischen Monarchen: „König der Könige des Iran“ ent-
halten sei.
195
13*
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
Es war dies eine stolze, gegen das Heidentum in allen seinen x\b-
arten gerichtete Herausforderung, gegen all „die Gespenster und das
Nichts“, die sich ebensogut hinter der Mystik der Christologie wie
hinter der altersschwachen Abgötterei oder der persischen Feuer-
anbeter-Religion verbargen. Zugleich kommt aber hierin auch der
erhabene messianische Traum des Judentums zum, Ausdruck: „daß
die Welt (das ganze Menschengeschlecht) im Reiche des Allmächti-
gen vollkommen werde“. In diesem Hymnus, der für die christliche
Kirche der späteren Jahrhunderte zu einem Vorwände für Judenver-
folgungen wurde, klingt das Nationale im Universalen aus. Von der
gleichen universalistischen Stimmung sind auch die übrigen Hymnen
aus derselben Reihe getragen, die alle von messianischer Sehnsucht,
von einem leidenschaftlichen Herbeisehnen des Gottesreiches auf Er-
den durchdrungen sind1).
Von der Wirksamkeit des Rab als eines haggadistischen Predigers
zeugen seine uns erhaltengebliebenen zahlreichen ethischen Sentenzen.
Hier einige Proben davon: „Die Thoragebote bezwecken nur die sitt-
liche Reinigung des Menschen“; „Wer kein Mitleid mit dem Nächsten
empfindet, ist nicht von Abrahams Stamm“; „Der Vater soll nie ein
Kind dem anderen vorziehen: der Erzvater Jakob hat seinen Lieb-
lingssohn Joseph den anderen Kindern vorgezogen — und wie
schlimm waren die Folgen!“ Jegliche physische Arbeit, namentlich
aber die Feldarbeit, schätzte Rab sehr hoch: „Lieber ein kleiner Acker
— sagte er einst zu seinem Sohne — als ein großes Warenlager“;
„Besser, daß du krepiertes Vieh auf dem Markte schindest und dei-
nen Lohn dafür empfängst, als daß du mit Selbstüberhebung
sprichst: Priester bin ich, ein Vornehmer bin ich“. Seine demokra-
tische Gesinnung tritt unverkennbar in dem folgenden Ausspruch zu-
!) In diesen Hymnen tritt das Rosch-ha’schana-Fest besonders eindrucksvoll
als der Tag des göttlichen Gerichts über die Menschen (Jom ha’din) hervor, an
dem alle von dem Menschen im Laufe des Jahres vollbrachten guten und bösen
Taten abgewogen werden. Der Geschichtsschreiber der mündlichen Lehre, J. H.
Weiß, der gerade hinsichtlich dieses Teiles der Neujahrshymnen die Verfasser-
schaft Rabs voll anerkennt, hebt treffend hervor, daß hierbei der alte Streit über
die Bedeutung des „Erinnerungstages“, wie das Neujahrsfest in der Bibel genannt
wird, zuerst seine praktische Lösung gefunden hat. Seitdem ist diese Vorstellung
von dem alljährlich wiederkehrenden „Gerichtstage“, mit dem auch noch das Jom-
Kippur-Fasten in Zusammenhang gebracht wurde, von allerlei volkstümlichem Glau-
ben überwuchert worden, so daß sich diese feierlichen Tage dadurch schließlich
in „Schreckenstage“ (Jomim noroim) verwandelten.
196
§ 28. Rab und Samuel. Die akademische Organisation
tage: „Wegen viererlei Sünden gehen die Vermögenden ihres Vermö-
gens verlustig: die einen, weil sie den Arbeitslohn der Arbeiter zu-
rückhalten, die anderen, weil sie sich ihn aneignen, noch andere, weil
sie die Last (der Arbeit) von ihren Schultern abstreifen und sie auf
ihren Nächsten wälzen, andere endlich, weil sie sich ein hoffärtiges
Benehmen (gegen die Arbeitenden, die Armen) erlauben“.
Nahezu dreißig Jahre stand Rab an der Spitze seiner Akademie zu
Sura. Es war dies eine stürmische Zeit in der Geschichte Babyloniens,
das gerade die Ablösung der parthischen Herrschaft durch die per-
sische über sich ergehen lassen mußte. Doch die politischen Wirren
vermochten den Meister von seiner geistigen Tätigkeit nicht abzulen-
ken. Er starb im Jahre 247. Auf die Nachricht von seinem Tode
bestimmten die babylonischen Juden eine Trauerzeit von zwölf Mona-
ten. Gleich Jehuda ha’Nassi, den man schlechtweg „Rabbi“ nannte,
lebte auch der Stammvater der babylonischen Amoräer unter dem
ehrenvollen, seinen eigentlichen Namen Abba Areka ersetzenden Na-
men Meister, „Rab“ im Andenken des Volkes fort.
Der Genosse und tatkräftige Mitarbeiter des Rab, Samuel Jarchinai
(auch Arioch genannt), leitete, wie erwähnt, nach dem Tode des
Schuloberhauptes R. Schila die Akademie von Nehardea. Seinem Cha-
rakter und seinen geistigen Interessen nach war Samuel unter den
damaligen Gesetzeslehrern eine seltene Ausnahmeerscheinung. Er be-
schränkte sich nicht auf die talmudische Wissenschaft allein, sondern
befaßte sich überdies voll Eifer mit der Mathematik, den Naturwisr-
senschaften und der Medizin. Als Arzt glaubte Samuel die Mehrzahl
der Krankheiten auf infizierte Luft zurückführen zu können. Seine
Lieblingsbeschäftigung war die Astronomie, auf Grund deren er die
Kalenderberechnungen ausführte. „Die Himmelsbahnen — so pflegte
er zu sagen — sind mir geradeso bekannt wie die Straßen Nehardeas;
nur die Kometen machen mich stutzig“. Er stellte sogar einen Kalen-
der mit genauer Berechnung der Jahresfeiertage auf, doch unterließ
er dessen Veröffentlichung, da die Festsetzung der Feiertage von je-
her ein Vorrecht des palästinensischen Synhedrion bildete und so ein
wichtiges Bindeglied zwischen den verstreuten Teilen der Judenheit
und dem Heiligen Lande war. An speziellem Wissen auf dem Gebiete
der religiösen Gesetze Rab nachstehend, übertraf ihn Samuel in der
Kenntnis des jüdischen bürgerlichen Rechts. Vom Exilarchen in das
Amt eines Bezirksrichters von Nehardea eingesetzt, hatte Samuel Ge-
*97
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
legenheit, die Tragweite der juristischen Theorien, um die man sich
in den Akademien stritt, praktisch zu erproben. Die Anforderungen
des praktischen Lebens bewogen nun Samuel, jenes berühmte Grund-
prinzip aufzustellen, demzufolge die allgemein-bürgerlichen Gesetze
eines jeden Staates für die dort lebenden Juden verbindlich sein soll-
ten und wonach das jüdische Recht sich diesen Gesetzen anzupassen
hatte. Dieses Prinzip brachte er in dem folgenden kurzen Sinnspruch
zum Ausdruck: „Das Staatsgesetz ist Gesetz“ (Dina de’malchuta dina),
d. h. es ist auch für die Juden rechtskräftig. Dies war die Form, in
der Samuel das Prinzip der inneren nationalen Selbstverwaltung mit
dem Prinzip der Staatsverwaltung in Einklang zu bringen suchte, was
für die Diaspora in der Zukunft größte Bedeutung gewinnen sollte.
Um gutnachbarliche Beziehungen zwischen den Juden und den An-
dersgläubigen aufrechterhalten zu können, war er bereit, auf manche
Rigorosität des jüdischen Gesetzes Verzicht zu leisten. Den Kaufleuten
machte er zur Pflicht, gegen Volksgenossen wie gegen Fremde glei-
chermaßen Redlichkeit zu üben. Unter anderem traf Samuel eine
Reihe von Maßnahmen zur gesetzlichen Regelung des jüdischen Han-
delswesens. Der beim Verkauf erzielte Gewinn durfte der von ihm
getroffenen Bestimmung zufolge ein Sechstel des Warenpreises nicht
übersteigen. Zugleich trat er jedoch dafür ein, daß die Agoranomen
(die Handelskontrolleure) nur richtiges Maß und Gewicht, nicht aber
auch die Marktpreise zu überwachen haben sollten, da diese seiner
Meinung nach durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage be-
stimmt wurden.
Im Gegensatz zu Rab söhnte sich Samuel sehr bald mit dem Über-
gang der Macht von den Parthern an die Perser aus. Er stand in
freundschaftlichen Beziehungen zu dem König Schabur I., der den
Ruhm der Sassanidendynastie begründete, und erfreute sich seiner be-
sonderen Gunst. Die Loyalität Samuels der neuen Dynastie gegenüber
ging so weit, daß er einst bei der Nachricht, die Truppen Schaburs
hätten während eines Feldzuges gegen die Römer in einer von ihnen
eroberten Stadt der römisch-asiatischen Provinz die gesamte jüdische
Bevölkerung niedergemacht, davon Abstand nahm, seiner Trauer durch
das übliche Zerreißen des Obergewandes öffentlich Ausdruck zu ver-
leihen. Er begründete seine Handlungsweise damit, daß die Juden,
die dem persischen König bewaffneten Widerstand geleistet hatten,
198
§ 28. Rab und Samuel. Die akademische Organisation
ihr Verderben selbst verschuldet hätten1). Auch mit den in der Stern-
kunde bewanderten gelehrten persischen Magiern pflegte Samuel Um-
gang, ohne sich dabei an die Warnungen des Rab zu kehren, der es
für nicht unbedenklich hielt, von den Magiern, den Fanatikern der
Zarathustrareligion, auch nur das geringste zu übernehmen. Über-
haupt ist bei Samuel ein gewisser Hang zum Freidenkertum nicht zu
verkennen. So behauptete er, daß das zukünftige „messianische Zeit-
alter“, das nach den volkstümlichen Begriffen eine Zeit voll mysti-
scher Wunder werden sollte, sich nur dadurch von der Gegenwart un-
terscheiden werde, daß das jüdische Volk dann seine politische Un-
abhängigkeit wiedererlangt haben wird. Dieses Freidenkertum mochte
der gesetzgeberischen Autorität Samuels in den Augen der talmudisti-
schen Fachleute nicht wenig Abbruch getan haben. Das Haupt der
palästinensischen Amoräer R. Jochanan bemerkte z. B. eines Tages,
als er von Samuel dessen Kalender mit der Berechnung der Feiertage
auf sechzig Jahre hinaus erhielt, mit unverhohlener Geringschätzung:
„Ja, auf das Rechnen versteht er sich“. Während Jochanan in seinen
Schreiben an Rab diesen ehrerbietig „unser Meister in Babylonien“
titulierte, redete er Samuel in seinen Briefen einfach „unser Genosse“
an. — Samuel überlebte Rab ungefähr um zehn Jahre und starb
um 257.
Ein Zeitgenosse des Rab und des Samuel war der Exilarch Mar
Ukba /., ein tatkräftiger Verwaltungsbeamter und zugleich ein hervor-
ragender Rechtsgelehrter. Er lebte in der Nähe von Nehardea und
stand jenem Bezirksgericht vor, dem Samuel als Mitglied angehörte.
Von diesem Exilarchen wird berichtet, daß er allen Zerstreuungen
aus dem Wege ging und all seine Mußezeit der Wissenschaft und der
Wohltätigkeit widmete. Allein auch er hielt in seiner Amtstätigkeit
nicht immer die gebotenen Grenzen ein, so daß die durch ihn zu
Schaden Gekommenen sich oft bei Samuel beschweren mußten, der
freilich gegen seinen Vorgesetzten nichts auszurichten vermochte.
!) Die talmudische Überlieferung spricht in diesem Zusammenhänge von 12 000
Juden, die im kappadocischen Caesarea-Masaka den Tod gefunden haben sollen
(Moed katan, 26; s. oben, § 26), doch fällt dieses Ereignis erst in das Jahr 260,
als Samuel nicht mehr am Leben war. Ist an der Überlieferung überhaupt etwas
Wahres, dann müßte sie sich auf irgendeine frühere Katastrophe beziehen, die
sich während des persischen Feldzugs des Jahres 2 52, als das Heer Schaburs Ar-
menien eroberte und auch Kleinasien überfiel, ereignet haben mochte.
*99
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
§ 29. Die zweite Generation der babylonischen Amoräer
(260-300)
Der dem geistigen Leben in Babylonien von Hab und Samuel ge-
gebene Anstoß hatte Folgen von allergrößter Wichtigkeit. Die Aka-
demien von Nehardea und Sura bildeten nicht nur Fachgelehrte aus,
sondern ließen durch öffentliche Vorlesungen auch in den breitesten
Volksschichten das Interesse für die Wissenschaft wach werden. Der
Drang zum Wissen ergriff die gesamte babylonische Judenheit. Die
Schule beherrschte nunmehr alle Lebenssphären. In höchstem Ansehen
in der Öffentlichkeit stand der akademisch gebildete Gelehrte (Zurba
me’rabbanan); die Bezeichnung „Mann vom Lande“ (Am-ha’arez)
wurde auch hier, wie ehedem in Palästina, ein Schmähwort. Es bür-
gerte sich die Ansicht ein, daß ohne gründliche Kenntnis des Ge-
setzes und seiner Auslegung wahre Frömmigkeit überhaupt unmög-
lich sei. Das Studium der Mischna galt schon aus dem Grunde als
obligatorisch, weil ihre Gesetzesbestimmungen in der jüdischen Selbst-
verwaltung und im Gerichte praktische Anwendung fanden. Exilar-
chen, Richter, Schulvorsteher, Gesetzeslehrer, Prediger bildeten eine
festgefügte Hierarchie von Trägern weltlicher und geistlicher Würden,
die gemeinsam die inneren Angelegenheiten der babylonischen Ge-
meinden im Geiste der nationalen Gesetzgebung verwalteten. Zuweilen
versah ein und dieselbe Person mehrere Funktionen zugleich. Die
Rektoren der Akademien (Rosche metibta) fungierten z. B. nicht sel-
ten als Richter (Dajanim), so die Gesetze, die in der Schule in rein
theoretischer Weise ausgearbeitet wurden, auch für die Praxis nutz-
bar machend. Diese Wechselwirkung von Schule und sozialer Praxis
war für beide von großem Vorteil und wirkte auf die auf Rab und
Samuel folgende zweite Generation der babylonischen Amoräer in
höchstem Grade anregend.
Nach dem Tode Samuels wurde mit der Leitung der Akademie von
Nehardea Rab Nachman bar Jakob betraut. Der jüngste von den
Schülern Samuels, erlangte er diesen wichtigen Posten nur dank sei-
nen verwandtschaftlichen Beziehungen. Er war nämlich mit der
Exilarchentochter Jalta verheiratet und somit mit der einflußreichen
Aristokratie verschwägert. Auch noch ein anderes Ehrenamt wurde
ihm von seinem Schwiegervater übertragen, das des Oberrichters der
babylonischen Juden. In den ersten Jahren der Wirksamkeit desNach-
200
§ 29. Die zweite Generation der babylonischen Amorder
man ereignete sich jedoch die bereits erwähnte Katastrophe: der Herr
von Palmyra Odenath (nach den talmudischen Quellen Papa bar Na-
zar) überfiel Nehardea und zerstörte es bis auf den Grund (261).
Die jüdische Gemeinde löste sich auf, und auch der Exilarch mit-
samt seinem Schwiegersöhne Nachman siedelten nach Machusa über,
um der Reichshauptstadt Ktesiphon näher zu sein. Die Akademie und
das Obergericht nahmen hier unter der Oberleitung R. Nachmans
ihre Tätigkeit bald wieder auf. Geistige und weltliche Macht in seiner
Person vereinigend und dem Exilarchen nahestehend, vermochte die-
ser Gesetzeslehrer seine akademische Körperschaft in ein kleines Syn-
hedrion zu verwandeln, in dem weittragende gesetzgeberische Ent-
scheidungen gefaßt werden konnten. Diese Entscheidungen betrafen
hauptsächlich die Gerichtsverfassung in den autonomen jüdischen Ge-
meinden. R. Nachman galt als eine große Autorität auf dem Gebiete
der Rechtskunde, namentlich auf dem der Zivilprozeßordnung, die
er auf Grund seiner langjährigen Erfahrung durch manche maß-
gebenden Prinzipien bereicherte, die sich in der jüdischen Gerichts-
barkeit bis in späte Zeit erhalten haben. Auch er suchte, gleich sei-
nem Meister Samuel, das jüdische Gesetz dem Staatsgesetze anzu-
passen, und verdankte sogar manche seiner Neuerungen der persischen
Gesetzgebung. Seine Agrarreformen scheinen durch die Anforderun-
gen der unruhigen Zwischenzeit zwischen den Regierungen Schaburs I.
und II. bedingt gewesen zu sein, als die unausgesetzten Kriege die
Grundlage des gesamten jüdischen Wirtschafts- und Erwerbslebens
in Babylonien, den Ackerbau, aufs schwerste erschütterten1).
Inzwischen hielt auch das akademische Kollegium von Sura in!
seiner Tätigkeit nicht inne. Nach dem Ableben des Rab stellte sich an
die Spitze dieser Akademie sein Jünger Rab Huna. Wie viele andere
Gelehrte jener Zeit war auch Huna von Beruf Landmann. Obwohl
später wohlhabend geworden und mit einem akademischen Grade aus-
gezeichnet, ließ er dennoch von seiner landwirtschaftlichen Betäti-
gung nicht ab. Auch als Richter und Haupt des Gelehrtenkollegiums
konnte man ihn nicht selten des Abends mit Ackerbaugeräten vom
Felde heimkehren sehen. Eines Tages fanden ihn die zur Gerichts-
verhandlung erschienenen Parteien voll Eifer auf seinem Felde arbei-
tend; er erklärte sich nur unter der Bedingung bereit, in die Verhand-
lung ihrer Sache einzutreten, wenn sie statt seiner einen anderen Ar-
1) S. unten, § 46.
201
Die Diaspora und das Zentrum in Babylonien
beiter zur Feldbewässerung stellten. Als Rektor der Akademie von
Sura leitete sie Huna ganz im Geiste seines ruhmreichen Vorgängers
Rab. Der Überlieferung zufolge soll die Zahl der Zuhörer in der
Schule von Sura nicht selten bis auf achthundert gestiegen sein. Den
Notleidenden unter ihnen stand Huna immer hilfreich zur Seite. Seine
Autorität wurde sogar in den akademischen Kreisen Palästinas voll
anerkannt. Ein treuer Freund und später der Nachfolger Hunas im
Amte des Schuloberhauptes war der scharfsinnige Halachist Chisda.
Beide nannte man ehrfurchtsvoll die „Greise von Sura“.
Nach der Zerstörung von Nehardea und der Auflösung der dorti-
gen Akademie entstand ein neues bedeutendes wissenschaftliches Zen-
trum, das den erlittenen Verlust voll ersetzte, in Pumbadita, in dessen
talmudischer Schule sich die besten Lehrkräfte von Nehardea wieder
zusammenfanden. An der Spitze dieser Schule stand Rab Jehuda ben
Jeheskel, ein Schüler des Rab und des Samuel. Seine Lehrer und
Freunde zeichneten ihn mit dem Beinamen „der Scharfsinnige“
(„Schinna“, „Chariph“) aus, und zwar nicht ohne Grund, denn er
war einer der Hauptschöpfer jener überfeinen Dialektik im Bereiche
der Gesetzeskunde, die dem babylonischen Talmud sein eigenartiges
Gepräge verleiht. Die wesentlichsten Kennzeichen dieser talmudischen
Methode bestanden darin, daß man durch haarscharfe logische Ana-
lyse in einander am fernsten liegenden Erscheinungen gemeinsame
Merkmale entdeckte, in einander verwandten oder ganz gleichartigen
Erscheinungen hingegen die Unterschiede hervorhob und in den
Äußerungen oder Interpretationen verschiedener Gesetzeslehrer wirk-
liche oder auch nur scheinbare Widersprüche ausfindig zu machen
suchte, um sie dann durch allerscharfsinnigste, häufig aber nur an,
den Haaren herbeigezogene Analogien, Definitionen und Schlußfolge-
rungen wieder aus dem Wege zu räumen. Das Lieblingsfach des Je-
huda ben Jeheskel war die Rechtskunde und der Umkreis der stritti-
gen Probleme des Ritus, wo der kasuistischen Methode ein fast gren-
zenloses Betätigungsfeld zur Verfügung stand. Diejenigen unter den
Amoräern, die dieser allzu waghalsigen Methode mit Zurückhaltung
gegenüberstanden, pflegten spöttisch zu sagen, daß man in Pumbadita
Meister in der Kunst sei, „einen Elephanten durch ein Nadelöhr him-
durchgehen zu lassen“.
Viele von den Jüngern der Wissenschaft, die sich mit dieser scho-
lastischen Methode nicht befreunden konnten, gingen nach Palästina,
202
§ 29. Die zweite Generation der babylonischen Amoräer
um ihre Studien in den Schulen des R. Jochanan und Resch Lakisch
fortzusetzen. Manche von ihnen erwarben sich hier hohen wissen-
schaftlichen Ruf und wurden sogar zu Leitern akademischer Körper-
schaften. Andererseits schickte aber auch Palästina einen Teil seiner
Gelehrten in die an den Ufern des Euphrat in Blüte stehenden Aka-
demien. So vollzog sich zwischen den Schulen Palästinas und Baby-
loniens ein ständiger Austausch wissenschaftlicher Kräfte. Im
III. Jahrhundert war Babylonien noch auf die geistige Unterstützung
Palästinas angewiesen, doch kommt es schon im nächsten Jahrhun-
dert zu einem Tausch der Rollen: infolge des durch die Unterdrük-
kungsmaßnahmen der ersten christlichen römischen Kaiser verursach-
ten Verfalls der galiläischen Schulen wird sich die Judenheit des
Mutterlandes gar bald auf den geistigen Beistand ihrer mesopotami-
schen Kolonie angewiesen sehen.
203
Zweit e s Buch
Die palästinensisch-babylonische
Hegemonie unter der Herrschaft
des christlichen Rom, Byzanz’
und Persiens
(315—638)
§ 30. Allgemeine Übersicht
Zu Beginn des IV. Jahrhunderts vollzog sich jene geschichtliche
Umwälzung, durch die das Los des Judentums im römischen Reiche
fortan in unmittelbare Abhängigkeit von der Entfaltung der christ-
lichen Staatlichkeit geriet. Unter dem Drucke der politischen Verhält-
nisse rief der Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion
im ganzen Reiche aus. „Die Lehre nicht von dieser Welt“, wie sie
ihr Stifter selbst kennzeichnete, ging so ein enges Bündnis mit der
Militärmonarchie ein und statt das „Himmelreich auf Erden“ zu be-
gründen, verstrickte sie sich ganz in die irdischen Dinge. Die Staats-
gewalt und die noch vor kurzem verfolgte, jetzt aber triumphierende
Kirche vereinigten sich, um den Menschen mit Leib und Seele in ihre
Gewalt zu bekommen. Die uralte Nation, die sich im Laufe zweier
Jahrtausende gegen alle Monarchien der heidnischen Welt behauptet
hatte, sah sich so plötzlich von dem eisernen Ring des christlichen
Reiches umschlossen, der Palästina und die ganze römische Diaspora
umfaßte. Endlich konnte das Christentum mit dem Judentum abrech-
nen. Wenn die Kirche bis dahin gegen die Synagoge nur in Wort und
Schrift polemisiert hatte, so greift sie jetzt, auf das Schwert des Staa-
tes gestützt, zu einer Polemik ganz anderer Art: zu dem Beweisgrund
der rohen Gewalt. Der neugeborene christliche Staat hätte wohl
den Juden die von Rehabeam bei der Thronbesteigung gesprochenen
Worte wieder einmal ins Gedächtnis rufen können: Hat euch mein
Vorgänger mit Peitschen gezüchtigt, so will ich euch mit Skorpionen
züchtigen. Und in der Tat setzt mit dem Jahre 3i5, also unmittelbar
nach den von Konstantin dem Großen „im Zeichen des Kreuzes“ er-
rungenen Siegen, für die Juden als ein im christlichen Staate kaum
geduldetes Element eine Periode gesetzgeberischer Verfolgungen in
Form von allerlei Rechtsbeschränkungen und Repressalien ein, eine
Periode, die auch heute, nach Ablauf von sechzehn Jahrhunderten,
noch immer nicht als ganz abgeschlossen gelten kann.
207
Die palästinensisch-babylonische Hegemonie
Seit dem Ende des IV. Jahrhunderts, als die Dezentralisation des
römischen Reiches zu seiner endgültigen Spaltung in zwei Hälften,
die östliche und die westliche, Byzanz und Italien, geführt hatte (3g5),
ist das Los der palästinensischen Juden nur noch mit dem zum Be-
herrscher Asiens gewordenen Byzanz verknüpft Ihre soziale Lage
wird nunmehr von den Purpur- und Ornatträgern in Konstantinopel
bestimmt. Der Judaismus sieht sich dem Byzantinismus gegenüber,
der kommenden Macht des Mittelalters, die das Leben in die
Fesseln der dogmatischen Unduldsamkeit schlagen will. Das heid-
nische Rom konnte sich noch (abgesehen von den Zeiten akuter Re-
volutionskrisen) mit der inneren Autonomie des Judentums, insofern
es keine Ansprüche auf politische Unabhängigkeit machte, in dieser
oder jener Weise abfinden; dem ganz von konservativ-kirchlichen
Tendenzen durchdrungenen „neuen Rom“ an den Ufern des Bosporus
war hingegen der Gedanke an eine freie jüdische Selbstverwaltung,
zumal in Palästina, ganz und gar unerträglich. Auf „Erez Israel“, auf
die geschichtliche Heimat und das nationale Zentrum des Judentums,
erhob Byzanz Ansprüche ganz besonderer Art: es bedeutete ihm nicht
irgendeine asiatische Provinz unter anderen, sondern das „Heilige
Land“, den Schauplatz der evangelischen Wunderwerke, das Land, wo
das „Grab des Herrn“ lag, wo das Taufwasser des Jordan floß, wo
Nazareth und Bethlehem gelegen waren. Hier konnte die mit Macht
ausgestattete Kirche keineswegs die Nachbarschaft der Synagoge, ge-
schweige denn ihre Gleichberechtigung, dulden. Der jüdische Patri-
arch in Tiberias und der christliche Bischof in Jerusalem erscheinen
als zwei feindliche Mächte. So muß das Patriarchat zunächst in den
Hintergrund treten, um dann ganz zu verschwinden, wodurch der Ver-
fall des nationalen Zentrums des Judentums in seinem Heimatlande
auch äußerlich zum Ausdruck kommt (429).
Das Judentum hat sich gegen einen doppelten Ansturm von oben
wie von unten zu wehren. Einerseits sind es die christlichen Pilger
und die fanatisierten Mönche, die die Synagogen in Palästina zer-
stören und in Brand stecken, während die Regierung von Byzanz an-
dererseits, den Einflüsterungen der Bischöfe Folge leistend, den Ju-
den durch besondere Gesetze die Errichtung neuer Synagogen ver-
bietet. Mitunter scheut sich die Regierung nicht, sich auch in das
geistige Leben der Juden einzumischen, indem es ihnen das öffent-
liche Vorlesen der Bibel in der griechischen Übersetzung aufzwingt
208
§ 30. Allgemeine Übersicht
und den Unterricht der mündlichen Lehre oder des Talmud („Deu-
terosis“) in den Akademien untersagt (unter Justinian). Hand in Hand
mit diesen Bedrückungsmaßnahmen geht die systematische Kürzung
der bürgerlichen Rechte. Die Gesetzgebung des Kaisers TheodosiusII.
und seiner Nachfolger bis zu Justinian drückt die Juden auf den
Stand einer nur „geduldeten“, außerhalb der bürgerlichen Gesell-
schaft stehenden Nation herab. Indessen haben die Juden das Ver-
mächtnis der Freiheit noch immer in Erinnerung, und so lassen sie
ihrer Empörung gegen die Gewalttaten von unten und die Unterdrük-
kung von oben her nicht selten freien Lauf. Exzesse vergelten sie
mit Exzessen, sie mißhandeln ihre Verfolger in den Straßen von
Caesarea, Antiochia und Alexandrien, sie rächen sich für die Schän-
dung der Synagogen und für die Entweihung der Thorarollen.
Unter Justinian bemächtigt sich ihrer große Erregung, die schließ-
lich unter Heraklius in einer offenen Erhebung zum Durch-
bruch kommt: sie schließen sich den in Palästina eingefallenen per-
sischen Truppen des Chosroi II. an und sind ihnen bei der Eroberung
des Landes behilflich (6i4). Nur kurze Zeit vermögen indessen die
Juden in der Erniedrigung ihrer Unterjocher Genugtuung zu finden,
denn gar bald gelingt es dem Kaiser, die Herrschaft von Byzanz in
Palästina wiederherzustellen (629). Doch droht dieser Herrschaft
schon von einer neuen Seite Gefahr: von der der siegreichen Krieger
des Islam, die schon nach zehn Jahren das Heilige Land besetzen,
um in Jerusalem eine Moschee zu errichten, ein Sinnbild der Herr-
schaft sowohl über die Kirche wie über die Synagoge (638).
Traurig wäre es um das jüdische Volk bestellt gewesen, wenn By-
zanz die Alleinherrschaft im Orient zugefallen wäre. Glücklicherweise
mußte es jedoch seine Herrschaft mit dem Persien der Sassaniden
teilen, das den Ansturm von Byzanz auf die benachbarten Gebiete zu
hemmen wußte und ihm nicht selten sogar empfindliche Niederlagen
in Syrien und Kleinasien beibrachte. Nach dem persischen Babylonien,
wo sich schon ehedem ein jüdisches autonomes Zentrum gebildet
hatte, strömten nun jene Kräfte, die in der Heimat keine Betätigung
finden konnten. Dorthin eben, in das Land der Exilarchen und der
talmudischen Akademien, verschob sich nach und nach die jüdische
nationale Hegemonie. Drei Jahrhunderte früher konnten die Führer
des palästinensischen Judentums ihre babylonischen Rivalen noch mit
der Bibelvers-Parodie: „Aus Babylonien (statt aus Zion) geht die
14 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
209
Die palästinensisch-babylonische Hegemonie
Lehre aus“ (§ 17) verhöhnen, jetzt sollte aber der Scherz Ernst wer-
den. Das von einem historischen Nimbus umstrahlte Palästina muß
nun seine Hegemonie mit Babylonien teilen. Während dort die natio-
nale Autonomie immer mehr eingeengt wird, schuf hier eine freie
Selbstverwaltung günstige Bedingungen für die Entfaltung einer
eigenartigen Kultur in ihrer ganzen Reichhaltigkeit. Allerdings hatten
die Juden auch in Persien schwere Zeiten durchzumachen, da sie nicht
selten unter dem Fanatismus der Magier, der Priester des Mazdais-
mus, sowie unter der Willkür der Könige und ihrer Satrapen zu lei-
den hatten. Doch waren dies nur vereinzelte Ausbrüche der Verfol-
gungswut, die nie zu einer systematisch betriebenen Entrechtung im
bürgerlichen Leben oder zu einem ernstlicheren Anschlag auf die
Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinden und auf ihre geistige Frei-
heit wurden. Gegen solche lokale und vereinzelte Verfolgungen ver-
mochten die babylonischen Juden sich wohl zu behaupten, weil sie,
auf die kompakte Volksmasse und auf ihre feste innere Organisation
gestützt, über eine genügend grqße Kraft der passiven Resistenz ver-
fügten. So wird es in dieser Zeitperiode möglich, eine Riesenarbeit,
wie die Sammlung und die Abfassung des babylonischen Talmud, die-
ses Arsenals der geistigen Waffen der sich wehrenden Nation, zum
Abschluß zu bringen. Nunmehr ist das autonome Zentrum an den
Ufern des Euphrat mit solchen Waffen reichlich versehen, so daß im
zweiten Viertel des VII. Jahrhunderts, da über Asien und Nordafrika
ein politischer Sturm hinwegbraust und den gesamten Landbesitz
Persiens und Byzanz' in die Hände der den Orient mit dem Schwerte
Mohammeds erobernden Araber spielt, die babylonische Diaspora nicht
nur unerschüttert bleibt, sondern sich sogar die uneingeschränkte He-
gemonie im Judentum des großen arabischen Kalifats zu sichern
weiß.
Abseits von den zwei Metropolen des orientalischen Judentums —
von Palästina und Babylonien — gedeiht und entfaltet sich eine neue
Diaspora in den europäischen Besitzungen von Byzanz und im west-
römischen Reiche, späterhin auch in den neuentstehenden Reichen
der Goten und Franken, der Gallier und der Germanen. Doch gehört
die Geschichte dieser westlichen Diaspora und ihrer Geschicke bereits
der folgenden, der „europäischen“ Periode in der Geschichte des jü-
dischen Volkes an1).
1) S. Band IV, Erstes Buch: Die Periode der Ansiedlung in Europa.
210
Erstes Kapitel
Palästina im ersten Jahrhundert des
christlichen Rom
(3i5—429)
§ 31. Konstantin der Große und die Anfänge des christlichen Staates
Die längst herangereifte Krise des Heidentums im römischen
Reiche war zu Beginn des IV. Jahrhunderts endlich zum offenen
Ausbruch gekommen. Ihr Herannahen wurde durch politische Ur-
sachen wesentlich beschleunigt, nämlich durch den Kampf um die
kaiserliche Macht in der riesigen Monarchie, die infolge ihres gestör-
ten Gleichgewichts in zwei Hälften, eine westliche und eine östliche,
zu zerfallen begann. Schon in den letzten Regierungsjahren des Ver-
folgers der Christen, Diokletian, setzte jener Bürgerkrieg unter sei-
nen Mitregenten ein, in dem der Partei, die sich auf die christlichen
Teile des Heeres stützte, von vornherein der Erfolg winkte. Dies sah
der neue Kaiser Konstantin der Große (3i2—337) w°hl ein, als er
im Kampfe mit seinen Rivalen das Banner des Kreuzes entfaltete.
Die Sage von der Vision eines Kreuzes am Himmel mit der Verhei-
ßung: „In diesem Zeichen wirst du siegen!“, die Konstantin mitten
in der blutigen Schlacht gegen seinen Nebenbuhler Maxentius gehabt
haben soll, kennzeichnet in treffender Weise nur das Kräfteverhältnis
der sich gegenseitig bekämpfenden Parteien: der Kaiser verdankte in
der Tat seinen Sieg nicht zuletzt jener Kriegerschar, die in den Reihen
seines Heeres im Zeichen des Kreuzes kämpfte. Später waren es die-
selben Heeresteile, die Konstantin in seinem Kriege gegen einen an-
deren Mitregenten, Licinius, unterstützten, mit dessen Beseitigung
seine Alleinherrschaft endgültig gesichert war (32 3). So war denn
das von Konstantin mit der christlichen Kirche eingegangene Bündnis
auf gegenseitige Hilfeleistung und beiderseitigen Nutzen gegründet,
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
weshalb nach errungenem Siege die Kirche, wie zu erwarten war,
nicht leer ausging: das Christentum wurde zur Staatsreligion des rö-
mischen Reiches proklamiert.
Das Ergebnis dieses vom Staate mit der neuen Kirche eingegan-
genen Bündnisses war unter anderem ein Umschwung im Verhalten
des Staates den Bekennern des Judaismus gegenüber. In den ersten
Jahren seiner Regierung, als Konstantin nur die rechtliche Gleich-
stellung des Christentums neben dem Heidentum anstrebte, hielt er
sich auch in bezug auf das Judentum an das Prinzip der Gleich-
berechtigung. Sein „Edikt von Mailand“ (3i3), das allen Bürgern
des römischen Reiches Gewissensfreiheit verhieß, erstreckte sich, wie-
wohl in erster Linie eine besondere Begünstigung der bislang verfolg-
ten Christen bezweckend, doch auch auf die Juden. Der Judaismus
galt nach wie vor als „erlaubte Religion“ (religio licita) und seine
offiziellen Repräsentanten, die „Patriarchen, Synagogenhäupter und
Presbyter“, genossen die gleichen Vorrechte wie die geistlichen Wür-
denträger der anderen Bekenntnisse. Bald machen sich jedoch An-
zeichen einer gewissen Feindseligkeit den Juden gegenüber bemerk-
bar, wohl unter dem Einfluß der den Kaiser umgebenden christlichen
Bischöfe, die, soeben noch verfolgt, jetzt selbst zu Verfolgern geworden
waren. Schon im Jahre 3i5 wurde den Juden untersagt, unter den
Christen Proselyten zu machen, sowie ihre zum Christentum über-
getretenen Glaubensgenossen zu bedrängen. Der Stil dieses kaiserlichen
Dekrets verrät deutlich seine Urheber, die Eiferer der Kirche: „Den
Judäern, ihren Obersten und Patriarchen bedeuten wir: sollte nach
Veröffentlichung dieses Gesetzes jemand wagen, sich an demjenigen,
der ihre schädliche Sekte (eorum feralem sectam) verlassen und sich
zum Kulte Gottes (des christlichen) bekehrt hat, mit Steinen oder in
irgendeiner anderen Weise zu vergreifen, wie es heute unseres Wis-
sens zu geschehen pflegt, so wird er den Flammen übergeben und
mitsamt seinen Helfershelfern verbrannt werden. Sollte sich aber je-
mand aus dem Volke ihrer gottlosen Sekte (nefariam sectam) an-
schließen oder ihren Zusammenkünften beitreten, so wird er zusam-
men mit ihnen (die ihn bekehrt haben) der verdienten Strafe verfal-
len“1). Noch unverhohlener wurde das Prinzip der Gewissensfreiheit
*) Codex Theodosianus, XVI, 8, i. Erwähnt sei noch, daß in gleichen Wen-
dungen auch Dekrete gegen die heidnische Religion abgefaßt wurden, die um
jene Zeit noch über ziemlich weitgehende Macht im Reiche verfügte. So hießen
212
§ 31. Die Anfänge des christlichen Staates
im letzten Jahrzehnt der Regierung Konstantins durchbrochen, als
er zum unbeschränkten Selbstherrscher wurde und statt Rom Kon-
stantinopel (Byzanz) zur Hauptstadt des Reiches machte. In dieser
Zeit ließ er sich nämlich in erster Linie von kirchenpolitischen Er-
wägungen leiten.
Wie weit das Bestreben des triumphierenden Christentums, auch
die letzten Spuren eines Zusammenhanges mit dem Judentum zu ver-
wischen, fortgeschritten war, zeigte das erste Weltkonzil von Nicäa
(32 5), an dem mehr als zweihundert christliche Bischöfe und son-
stige Geistliche teilnahmen. Mitten unter den Streitigkeiten über das
dem Judaismus so fremde Dogma der Trinität, über das „Glau-
bensbekenntnis“ oder darüber, ob der Gottessohn dem Vater we-
sensgleich sei (anläßlich der Irrlehre des Arius, der die Wesensgleich-
heit von Gott und Christus in Abrede stellte), wurde ein Beschluß ge-
faßt, der auch die rituelle Entfremdung des neuen Glaubens gegen-
über dem alten endgültig besiegelte. Ehedem pflegten nämlich die
christlichen Gemeinden Asiens ihr Passahfest gleichzeitig mit den
Juden zu feiern, d. h. in der Mitte des Monats Nissan oder, was das-
selbe ist, mit Anbruch des Vollmondtages in diesem Frühlingsmonat
Die westlichen Gemeinden (in Rom und an anderen Orten) feierten
hingegen das Wunder der Auferstehung Christi stets an einem der
Sonntage jenes Monats, der nach ihrem eigenen Kalender als erster
Frühlingsmonat galt. Das Konzil von Nicäa beschloß nun, daß die
Christen Ostern vollkommen unabhängig vom jüdischen Passahfest
feiern sollten, und zwar an einem Sonntage nach Vollmond des Früh-
lingsmonats, wie es bei den westlichen christlichen Gemeinden zum
Teil schon Brauch war. Die Motive dieses Entschlusses legt der Haupt-
wortführer des Konzils, der Kirchengeschichtsschreiber Eusebius, dem
Kaiser Konstantin selbst in den Mund: „Unwürdig wäre es, daß wir
bei diesem heiligen Feste der Sitte der Juden folgten, die ihre Hände
mit dem ungeheuerlichsten Verbrechen befleckten und geistig blind
blieben. Fortan wollen wir mit dem uns feindlichen Judenvolke nichts
mehr gemein haben, denn unser Heiland hat uns einen anderen Weg
gewiesen ... Es wäre ja widersinnig, zuzulassen, daß die Juden sich
z. B. die heidnischen Tempel in der Amtssprache „Tempel der Lüge'* u. dgl. m.
S. Codex Theod., passim. Auf weitere Belegstellen aus dem Kodex des Theo-
dosius ist in der Bibliographie zii diesem Paragraphen hingewiesen.
2l3
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
rühmen sollten, wir seien nicht imstande, das Passahfest ohne ihre
Anweisungen zu begehen“. Diejenigen ost-christlichen Gemeinden, die
sich dieser Entscheidung der Passahfrage nicht fügen wollten, wur-
den als „judaisierende“ unnachsichtig mit dem kirchlichen Bann-
fluch belegt. — Einige Jahrzehnte später beschloß das Kirchenkonzil
von Laodicea (zwischen 343—38o), in der Bekämpfung der Judai-
sierenden einen Schritt weiter zu gehen und die Christen noch mehr
gegen die Juden abzuschließen: es wurde untersagt, an jüdischen Fe-
sten und Mahlzeiten teilzunehmen, das Osterbrot (azyma) zu genießen
u. dgl. m. Besonders wurde den Christen eingeschärft, nicht mit den
Juden gemeinsam der Sabbatruhe zu pflegen: „Die Christen dürfen
die Juden nicht nachahmen und sollen am Sabbat nicht müßig gehen.
Vielmehr sollen sie an diesem Tage ihre Arbeit verrichten, denn als
Christen haben sie nur den Tag des Herrn (Sonntag) heilig zu
halten“.
In der Haltung Konstantins gegen die Juden war noch ein Hin-
und Herschwanken zwischen der kirchlichen Politik und der Tradi-
tion der Duldsamkeit der „erlaubten Religion“ gegenüber bemerkbar.
So wurde durch das Gesetz vom Jahre 321 die Amtierung in der
städtischen Verwaltung (Decurionat) den Juden erneut zur Pflicht ge-
macht, was eine schwere Belastung bedeutete, da man. hierzu gewöhn-
lich vermögende Leute heranzog, die für den bei der Steuereintrei-
bung in ihrer Stadt sich etwa ergebenden Fehlbetrag persönlich ver-
antwortlich gemacht wurden. Die Dekrete aus den Jahren 33o und
331 befreiten jedoch von dieser Munizipaldienstpflicht neben dem
christlichen Klerus auch die „Hierarchen, Synagogenvorsteher, Syna-
gogenväter (patres synagogarum) sowie alle sonst an den Synagogen
Angestellten“. Indessen legte der Kaiser in den letzten Jahren seines
Lebens von neuem seinen Eifer für die Kirche an den Tag, indem
er den Juden noch einmal aufs strengste verbot, ihre zum Christen-
tum übergetretenen Glaubensgenossen zu „belästigen“ (335). Zugleich
untersagte er auch den Juden, an ihren sich zum Christentum oder
zu einer anderen nicht jüdischen Religion bekennenden Sklaven den
Beschneidungsritus vorzunehmen; im Übertretungsfalle ging der Jude
seines Eigentumsrechts an dem Sklaven verlustig und war zu dessen
Freilassung verpflichtet. Doch erreichte dieses Gesetz das Gegenteil
des von ihm Gewollten: um die Freiheit zu erlangen, unterzogen sich
die Sklaven nur zu gern der Beschneidung, so daß der Gesetzgeber
2 I 4
§ 31. Die Anfänge des christlichen Staates
später die den „Verführer“ bedrohende Strafe erheblich verschärfen
mußte.
Viel entschiedener wurde die kirchliche Politik unter Kaiser Con-
stantius (837—361) betrieben, der in der östlichen Hälfte des Rei-
ches als Despot regierte und dabei die Zerstörung der heidnischen
Tempel sich nicht weniger als die Errichtung von christlichen Kir-
chen angelegen sein ließ. Um den gefürchteten Wettbewerb des Ju-
dentums bei der religiösen Propaganda auszuschließen, ahndete die
Regierung des Constantius die Bekehrung von Sklaven zum Juden-
tum in der Weise, daß der Herr des neubekehrten Sklaven nicht nur
diesen freilassen mußte, sondern darüber hinaus die Todesstrafe oder
die Verbannung zu gewärtigen hatte (Gesetz vom Jahre 33g). Später
wurde den Juden die Erwerbung christlicher Sklaven überhaupt un-
tersagt. Einer der Urheber der damaligen kirchlichen Politik, der
Bischof von Caesarea, Eusebius (der berühmte Kirchengeschichts-
schreiber), begründete diese strenge Maßnahme damit, daß die Nach-
kommen derjenigen, die Christus gekreuzigt haben, die von Christus
befreiten Sklaven nicht besitzen dürften. Gleichzeitig erging ein Ge-
setz, das Ehen zwischen Juden und Christinnen in der folgenden ver-
letzenden Form untersagte: „Es soll fortan darauf geachtet werden,
daß die Juden nicht christliche Frauen in ihre Abscheulichkeiten
(flagitiis) verwickeln, widrigenfalls setzen sie ihren Kopf aufs Spiel“.
Das Recht, Proselyten zu gewinnen, blieb ausschließlich der herr-
schenden Kirche Vorbehalten. Im Jahre 357 erhielt die „verdiente
Strafe“, mit der das Gesetz noch unter Konstantin die zum Judentum
übertretenden Christen bedrohte, eine nähere Präzisierung: „Sollte
jemand nach Veröffentlichung dieses Gesetzes aus einem Christen zu
einem Juden werden und sich nachweislich deren (der Juden) gottes-
lästerlichen Versammlungen (sacrilegis coetibus) anschließen, so be-
fehlen wir, sein gesamtes Vermögen zugunsten des Staatsschatzes ein-
zuziehen“.
Alle diese Beschränkungen entsprachen vollauf dem Geiste des
Zeitalters, in dem die christliche Kirche sich urplötzlich aus ihrer
bedrängten Lage in die einer Bedrängerin versetzt sah. Im Bunde mit
der streitbaren Kirche schafft nun die Staatsgewalt jene Verfassung,
die späterhin im ganzen Bereiche des „neuen Rom“ unantastbar wer-
den sollte. Diese Kreuzung römischer Staatlichkeit mit der christlichen
Kirche wird eine geschichtliche Macht erzeugen, die mit dem ur-
215
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
sprünglichen, theoretischen Christentum nur sehr wenig gemein hat.
Drei Jahrhunderte früher traten die Schöpfer des Christentums mit
ihrer Predigt gegen die judäische nationale Staatsreligion auf, die ja
in jener Epoche lediglich der Panzer einer schwachen, gegen den ge-
waltigen römischen Militärstaat sich wehrenden Nation war, und nun
ergreift das Christentum selbst das Schwert der weltlichen Gewalt,
um die religiöse und nationale Freiheit der unterworfenen Völker zu
erdrücken. Es gab eine Zeit, da die Apostel des Christentums die
Pharisäer darum tadelten, weil sie bei ihrem religiösen Aufbauwerk
die Hilfsmittel der Staatsgewalt für sich in Anspruch zu nehmen
suchten, während die christlichen Bischöfe des IV. Jahrhunderts, die der
Politik am kaiserlichen Hofe in Konstantinopel die Richtung weisen,
nicht einmal davor zurückschrecken, die die Kirche zerfleischenden
Streitigkeiten über das nicäische Glaubensbekenntnis, darüber, ob der
Gottessohn mit dem Vater eines Wesens sei u. dgl., durch die Macht
des römischen Schwertes zur Entscheidung zu bringen. Die Krieger der
Synagoge schmiedeten das Rüstzeug der praktischen Gesetze, nur um
ihre Nation unversehrt zu erhalten; die Krieger der Kirche schmie-
deten aber Ketten von Dogmen, die dann jahrhundertelang auf dem
Gewissen der gesamten Menschheit lasteten.
§ 32. Der Aufstand in Galiläa. Der Patriarch Hillel II.
Wie wirkte nun die neue Krise auf das Herz des Judentums, auf
Palästina, zurück? Viel zu tief war die religiöse und nationale, Juden-
tum und Christentum trennende Kluft, zu groß die in den Herzen der
einen gegen die anderen entstandene Erbitterung, als daß an ein fried-
liches Zusammenleben von Synagoge und Kirche noch zu denken ge-
wesen wäre. Unter Konstantin hörte Jerusalem allerdings auf, das
heidnische „Aelia Capitolina“ zu sein und erhielt seinen alten Namen
wieder zurück, doch wurde es zugleich die heilige Stadt der Christen,
da sich dort, der Sage zufolge, das ,,Grab des Herrn“ befand. An
der Stelle, wo sich das Kapitol des Jupiter erhoben hatte, wurde nun-
mehr ein prächtiger christlicher Tempel errichtet. Die unter der An-
leitung des dortigen Bischofs veranstalteten Ausgrabungen förderten
an der Stätte, wo seit der Zeit Hadrians ein Tempel der Venus stand,
das angebliche Grabmal Christi zutage. Der Tempel wurde nieder-
gerissen und an seiner Statt eine christliche Kirche erbaut, in der die
„Überreste des Kreuzes Christi“ auf bewahrt wurden. Zu diesen heiligen
216
§ 32. Der Aufstand in Galiläa. Hillel II.
Stätten in Jerusalem sowie zu der geweihten Stätte Bethlehem be-
gannen nunmehr die christlichen Pilger in Massen hinzuströmen. Das
Heidentum war hier ausgetilgt, doch blieb das Dekret des heidnischen
Kaisers Hadrian, das den Juden das Betreten ihrer ehemaligen Haupt-
stadt untersagte, nach wie vor in Kraft. Nur einmal im Jahre, am
Fasttage des 9. Ab, ließ die römische Wache die jüdischen Wallfahrer
in die Stadt hinein, die dann an der Stätte des zerstörten Tempels
ihre Klagen laut werden lassen durften. Diese Wohltat ließen sich die
römischen Beamten von den Pilgern gut bezahlen. Die Eiferer der
Kirche blickten nicht ohne Schadenfreude auf diese Erniedrigung der
Juden, in der sie die Vergeltung für ihr Verhalten gegen Christus
und die Apostel zu sehen glaubten.
Die jetzt wieder reger gewordene christliche Propaganda unter
den Juden konnte freilich keine besonderen Erfolge aufweisen:
Fälle von Abtrünnigkeit kamen nur ganz vereinzelt vor. So
trat ein gewisser Joseph aus Tiberias, der als „Sendbote“ (Apo-
stolos) des jüdischen Patriarchen zur Einsammlung der Spenden
Kleinasien bereiste, hier in freundschaftliche Beziehungen zu einem
Bischof und begann insgeheim die evangelischen Bücher zu studieren.
Als er darauf von seinen Volksgenossen in Cilicien wegen seines
heuchlerischen Benehmens zur Verantwortung gezogen wurde, ließ
er sich in aller Form taufen und wurde ein eifriger Missionar des
neuen Glaubens. Joseph wußte sich bald die Gunst einflußreicher
Kirchenwürdenträger und selbst des Kaisers Konstantin zu sichern,
der ihm den Titel eines „comes“ (Gefolgsmann eines hohen Würden-
trägers) verlieh. Joseph stand nicht an, seinen Gönnern die wunder-
lichsten Märchen über die Vorgeschichte seiner Bekehrung zu erzäh-
len, darüber, wie ihm Christus im Traume und im Wachen leibhaft
erschienen sei; er behauptete, daß auch der kürzlich verstorbene jü-
dische Patriarch eine Neigung zum Christentum bekundet und auf
seinem Sterbebette sogar die Taufe empfangen hätte. Einige dieser
Märchen des Joseph sind durch einen Kirchenschriftsteller jener
Zeit1), der sie für bare Münze nahm, der Nachwelt erhaltengeblieben.
Nachdem der Abtrünnige vom Kaiser die Genehmigung zur Errich-
D Es war dies der bekannte Verfasser der Schrift „Gegen die Irrlehren“,
der Bischof von Gypern und Kircheneiferer Epiphanius, der Joseph persönlich
kannte und ihn auch vielfach begünstigte (Adversus haereses, I. Buch, 2. Teil,
4—12). Der Überlieferung zufolge soll Epiphanius selbst ein getaufter Jude ge-
wesen sein.
217
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
tung von Kirchen in Galiläa erhalten hatte, ging er voll Eifer an
deren Erbauung in Tiberias, dem Zentrum der jüdischen Selbstver-
waltung, sowie in Zippora und Nazareth, wobei seine ehemaligen
Glaubensgenossen nicht wenig von seinen Ränken zu leiden hatten. Die
Errichtung von Kirchen im Morgenlande pflegte nämlich nicht sel-
ten von der Zerstörung heidnischer Götzentempel, aber auch jüdischer
Synagogen begleitet zu werden. Die triumphierenden Eiferer des Chri-
stentums durften nunmehr ihr Zerstörungswerk ungestraft auch in
Galiläa vollbringen. Die Folge davon waren Unruhen in der bis dahin
friedlichen judäischen Provinz, die schließlich zu einem bewaffneten
Konflikt mit den römischen Behörden führten.
Schwere Zeiten brachen damals über Palästina herein. Der Kaiser
Constantius war in einen langwierigen Krieg mit dem mächtigen per-
sischen Herrscher Schabur II. verwickelt, der den Römern die Grenz-
gebiete Mesopotamiens zu entreißen suchte. Constantius entsandte nun
gegen die Perser ein gewaltiges Heer unter dem Befehl seines Mit-
regenten, des „Caesars“ Gallus (35o—351). Ein bedeutender Teil
dieses Heeres, der von dem Legaten Ursicinus (im Talmud „Arsakin“
genannt) befehligt war, hatte in Palästina sein Standquartier und bil-
dete zwei Jahre lang eine Landplage für die dortige jüdische Bevöl-
kerung. Die Juden mußten die Krieger in ihren Häusern beherbergen
und sie auch verpflegen. Die Armeeführer zwangen die Landesein-
wohner, sogar an Sabbattagen und am Passahfest für die Soldaten Brot
zu backen, wie sie denn überhaupt ihre religiösen Gefühle in jeder
Weise verletzten. So soll z. B. Ursicinus der Überlieferung zufolge
in einer Stadt in der Nähe von Tiberias eine Thorarolle verbrannt ha-
ben. Zugleich stiegen die vom Staate geforderten regulären wie auch
außerordentlichen Abgaben ins Maßlose und wurden überdies mit der
größten Rücksichtslosigkeit eingetrieben1). Dieser von den Zivil- und
Militärbehörden gleichzeitig ausgeübte Druck, vielleicht auch noch
die Übergriffe christlicher Fanatiker, versetzten schließlich das Volk
in helle Empörung. Die Juden Galiläas gerieten in Aufruhr. An ihrer
Spitze stand ein Mann, der in den lateinischen Quellen Patricias heißt.
Den Herd des Aufstandes bildete die Stadt Zippora oder Sepphoris,
die von den Römern in Diocaesarea umbenannt worden war. Die Ju-
den überfielen hier des Nachts die römische Besatzung, machten sie
J) Dies wird auch durch das Sendschreiben des Julian Apostata an die Ju-
den vom Jahre 362 bestätigt. S. unten, § 33.
2l8
§ 32. Der Aufstand in Galiläa. Hillel II.
nieder und bemächtigten sich ihrer Waffen. Von hier aus unternah-
men die Aufständischen Überfälle auf die in den benachbarten Städten
lagernden Römer. Auch Tiberias und Lydda scheinen von der Erhe-
bung nicht unberührt geblieben zu sein. Es mag sein, daß die auf-
ständischen Galiläer eine Niederlage der Römer im Kriege gegen die
Perser erhofften und sich inzwischen mit ihren einflußreichen Stam-
mesgenossen in Persien und Babylonien in Verbindung gesetzt hatten.
Doch sollten ihre Hoffnungen fehlschlagen. Ehe noch die Revolution
auf das ganze Land übergegriffen hatte, gelang es den Römern, ihrer
Herr zu werden. Gallus (oder richtiger dessen Unterführer Ursicinus)
machte alle in Aufruhr geratenen Ortschaften dem Erdboden gleich.
Diocaesarea wurde zerstört und ebenso zum Teil auch Tiberias und
Lydda. Tausende von Insurgenten fanden bei dieser grausamen Un-
terdrückung des Aufstandes den Tod (302). Viele retteten sich durch
Flucht in andere Länder oder hielten sich in Höhlen verborgen. Die
Verfolgten suchten manchmal dem Verderben dadurch zu entgehen,
daß sie Pflaster auf ihre Nase legten, um von der ihnen nachstel-
lenden römischen Polizei nicht erkannt zu werden; doch lieferten
Denunzianten die Gehetzten den Römern aus. Einer der Gesetzeslehrer,
der sich zusammen mit einer Insurgentengruppe in einer Höhle ver-
steckt hielt, erzählte später: „Als wir uns vor den Feinden in den un-
terirdischen Gängen verbargen, hatten wir Kerzen bei uns; brannten
diese dunkel, so wußten wir, nun ist es Tag, wenn sie aber heller zu
flackern begannen, so erkannten wir daran die Nacht“1).
Der mißglückte Aufstand zog neue Unterdrückungsmaßnahmen
!) Unsere ganze Kenntnis dieser in Dunkel gehüllten Revolutionsperiode grün-
det sich auf den fragmentarischen Berichten der damaligen Kirchengeschichts-
schreiher, der Fortsetzer des Werkes des Eusebius, Socrates und Sozomenus (Socr.
Historia ecclesiae, II, 33 und Sozom. IV, 7, 5), sowie des römischen Geschichts-
schreibers Aurelius Victor in seiner Lebensbeschreibung des Kaisers Gonstantius
(De caesaribus, 42, 10). Die Zerstörung von Diocaesarea, Tiberias, Diospolis
(Lydda) „und vieler anderer Städte“ unter „Caesar Gallus“ wird auch von dem
heiligen Hieronymus in seiner „Chronik“ unter dem Jahre 2369 erwähnt. Die
im Texte angeführten Stellen, die an keinen bestimmten Namen oder Vorfall
anknüpfen, kennzeichnen eher die Zeitepoche als die Einzelepisode. Ein nicht
ganz klarer Satz in „Pesikta rabbathi“ (Kap. i5, gegen Ende: „Wer wird Ver-
geltung üben an Edom? — Natronal“) verleitete Graetz (Gesch. IV, 316) zu
der Vermutung, daß der Führer des Aufstandes Natrona hieß; doch scheint diese
Vermutung auf schwachen Füßen zu stehen, denn das Wort „Natrona“ wird von
den Kommentatoren als ein Gattungsname gedeutet und überdies bleibt es nicht
ausgemacht, auf welchen Zeitpunkt sich dieser Satz beziehen mag. Mit viel grö-
2I9
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
der Regierung nach sich, die sowohl die Selbstverwaltung der Ge-
meinden, als auch die religiöse Lebensführung betrafen. Der Patri-
arch und das Synhedrion von Tiberias waren durch die rohe Ein-
mischung der römischen Behörden in ihrer früheren Bewegungs-
freiheit stark behindert. Der Träger der Patriarchenwürde war damals
Hillel 1L (um 33o—365), der Sohn Jehudas III. Angesichts der be-
drängten Lage der palästinensischen Gemeinden und des Niederganges
des Autonomiezentrums in Galiläa tat Hillel den ersten Schritt zur
Einschränkung der Kompetenzsphäre der Patriarchen, indem er so
gleichsam ein Beispiel der Selbstaufopferung gab. Eine der Haupt-
funktionen des Patriarchen als des Synhedrionoberhauptes bestand
bekanntlich (oben, § 5) darin, daß er allmonatlich Beobachtungen der
Mondphasen anstellte, um auf Grund dieser Beobachtungen und spe-
zieller kalendermäßiger Berechnungen die Feiertage zu fixieren, so-
wie die Schaltjahre, zur Ausgleichung des Mondjahres mit dem Son-
nenjahre, festzusetzen, worüber er dann den jüdischen Gemeinden in
den entfernten Gegenden Palästinas und in Babylonien Nachricht zu-
kommen ließ. Dieses Vorrecht der Patriarchengewalt trug, wie er-
wähnt, nicht wenig dazu bei, die Hegemonie des palästinensischen
Zentrums unter den Juden der Diaspora aufrechtzuerhalten; zugleich
zeitigte es aber in der Praxis viele Unzuträglichkeiten, die sich be-
sonders in jener Epoche fühlbar machen mußten, als die Römer in
ständigem Kriege mit den Persern lagen, wodurch der Verkehr zwi-
schen Palästina und Babylonien stark behindert wurde* 1), und als
ßerer Sicherheil; kann auf die Katastrophe der Jahre 35 i—352 eine andere Ho-
milie der „Pesikta“ (Kap. 8) bezogen werden, in der von einem von den Römern
an den Juden in vier Orten: Akko (Ptolemais), Lydda, Zippora und Tiberias
vollzogenen Blutgericht die Rede ist.
1) Es ist wohl möglich, daß die Römer während der Kriege mit den Per-
sern aus Furcht vor politischem Verrat es den palästinensischen Juden direkt
untersagten, mit ihren babylonischen Volksgenossen zu verkehren. Im Talmud
finden sich manche Hinweise darauf. So war z. B. um die Zeit des galiläischen
Aufstandes aus Palästina nach Babylonien an das Haupt der Akademie vom Ma-
chusa, Raba, ein chiffrierter Brief geschickt worden, in dem verblümt über Ver-
folgungen durch die Römer mitgeteilt wurde und zugleich Anweisungen im Zusam-
menhang mit der erfolgten Festsetzung des Schaltjahres erteilt wurden (Sanhedrin,
12). Dem gleichen Gesetzeslehrer wird von seinem palästinensischen Kollegen das
folgende Kalendergeheimnis verraten: „Wenn du merkst, daß die Winterzeit sich
bis zum 16. Nissan (bis zur Passahzeit) hinzuziehen droht, so säume nicht, dieses
Jahr für ein Schaltjahr zu erklären“ (Rosch-ha’schana, 21). Hiermit wird also
bereits eine Handhabe geboten, durch die Babylonien sich vom palästinensischen
Patriarchat im Kalenderwesen unabhängig machen konnte.
220
§ 32. Der Aufstand in Galiläa. Hillel II.
überdies, im Zusammenhang mit der Unterdrückung des Aufstandes
in Galiläa, auch das Synhedrion in Tiberias selbst nicht mehr regelrecht
zu funktionieren vermochte. Dies bewog nun den Patriarchen Hillel II.
(im Jahre 35g) eine Ordnung einzuführen, auf Grund deren alle jü-
dischen Gemeinden selbständig und unabhängig von einem zentralen
Synhedrion ihren Kalender regeln konnten1). Dies war um so mehr
geboten, als das Konzil von Nicäa für die Christen bereits einen be-
sonderen Passahkalender festgesetzt hatte, so daß es auch für die
Juden höchste Zeit wurde, sich bei der Festsetzung des Termins des
Passahfestes von denen abzusondern, die das Fest der Befreiung
Israels nunmehr auch formell in eines zur Verherrlichung des auf-
erslandenen Gottmenschen verwandelt hatten. So veröffentlichte denn
der Patriarch Hillel ein von ihm auf Grund bestimmter Regeln ge-
schaffenes Kalender System, das so einfach war und dabei mit den
astronomischen Berechnungen so sehr übereinstimmte, daß es in sei-
nen Grundzügen bis zum heutigen Tage bei den Juden im Gebrauch
geblieben ist2). Die diesem jüdischen Kalender zugrunde liegende
Maßeinheit ist die zur Vollendung des Mondkreislaufes nötige Zeit,
d. i. der aus 29 Tagen und 12 Stunden mit einem Bruchteil beste-
hende Monat. Demgemäß setzt sich das aus 12 Monaten bestehende
Mondjahr aus 354 Tagen und 8 Stunden zusammen. Da nun aber die
jüdischen Feiertage den vom Sonnenkreislauf abhängenden Jahreszei-
ten entsprechen (das Passahfest hängt mit dem Frühlingsbeginn, Sche-
buoth mit dem Frühlingsende, Sukkoth mit dem Herbstanfang usw.
zusammen), so war es unabweisbar notwendig, das jüdische Mondjahr
mit dem den Wechsel der Jahreszeiten bewirkenden Sonnenjahr in
Einklang zu bringen. In diesem zählte man aber in alter Zeit 365
Tage und 6 Stunden, d. s. ungefähr 11 Tage mehr als im Mondjahr;
!) Daß die Reform eben um diese Zeit zustande kam, ist von einer alten, auf
den Gaon Hai zurückgehenden Tradition bezeugt, die uns durch den Astronomen
des XII. Jahrhunderts, Abraham ben Chija (Sefer ha’ibbur), vermittelt ist. Da-
selbst wird auch ein genaues Datum angegeben: das Jahr 670 der seleucidischen Ära
(li’schtaroth), d. i. das Jahr 358 d. ehr. Ära. Indessen bleibt die chronologische
Frage noch immer umstritten.
2) Das Grundprinzip dieses Systems, nämlich die Ausgleichung von Mond-
und Sonnenjahr durch die periodisch wiederkehrende Einfügung eines Schalt-
monats, war bereits viel früher in Assyro-Babylonien und im alten Griechenland
bekannt. Auch die Juden haben dieses System noch in der Epoche der persi-
schen Herrschaft der chaldäischen Sternkunde entlehnt (vgl. Band I dieser „Ge-
schichte“, § 82).
22 I
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
daraus wurde nun errechnet, daß sich alle neunzehn Jahre zwischen
der Zeitberechnung nach der Sonne und der nach dem Monde eine
Differenz von 210 Tagen oder von sieben dreißigtägigen Monaten er-
gibt. Man beschloß daher, daß zur Ausgleichung des Mondjahres mit
dem Sonnenjahr auf einen neunzehnjährigen Zyklus (Machsor) sieben
Schaltjahre, d. h. solche, die nicht aus 12, sondern aus i3 Mond-
monaten bestehen, fallen müssen. Was aber die Monate selbst be-
trifft, so haben sie wechselweise bald 29, bald 3o Tage und gelten
demgemäß als „vollzählig“ oder „nicht vollzählig“. Der erste Herbst-
monal Tischri (September) gilt als der Jahresbeginn1).
Die Veröffentlichung dieses Kalendersystems war der erste Schritt
zur Dezentralisierung der jüdischen Gemeindeverwaltung. Das Ge-
heimnis des Patriarchen und des Synhedrion war nunmehr verraten:
die einzelnen Gemeinden waren nicht mehr jedesmal auf die Send-
boten des palästinensischen Synhedrion angewiesen, die ihnen bis da-
hin die Fristen des Neumondes und der Feiertage mitzuteilen hatten.
Auf Grund der Kalenderberechnungen konnten die Juden fortan ohne
besondere Verabredung die festgesetzten Feiertage überall an densel-
ben Tagen begehen. Obwohl nach dieser Neuerung ein Zweifel an der
Genauigkeit der Fristen nicht mehr auf kommen konnte, hielten die
außerhalb Palästinas lebenden Juden an der altüberkommenen Ge-
wohnheit fest, den großen Feiertagen einen zweiten Festtag folgen
zu lassen (§ 5), so daß sich die „zweiten Tage“ im Passah-, Sche-
buoth-, Rosch-ha’schana- und Sukkothfest bis heute erhalten haben.
§ 33. Julian Apostata
Mitten in dem über die jüdische Nation hereinbrechenden Unheil
und Mißgeschick, diesen Vorboten des düsteren Mittelalters, blitzte
für einen Augenblick ein heller Lichtstrahl auf. Den Kaisern Kon-
stantin und Constantius, den Ahnherren des christlichen römisch-
byzantinischen Reiches, folgte für eine kurze Zeit Julian auf dem
Throne (361—363), der von den Kirchengeschichtsschreibern den
D Nach dem Zeugnis des christlichen Schriftstellers Julius Africanus, der
zu Beginn des III. Jahrhunderts gelebt hat (s. Eusebius, Demonstratio evangelica,
VIII), sollen die Juden, ebenso wie die orientalischen Griechen, Mond- und Sonnen-
jahr durch Einschaltung dreier Monate in je acht Jahren ausgeglichen haben.
Doch war den jüdischen Gesetzeslehrern in Babylonien schon damals eine ge-
nauere Ausgleichungsweise auf Grund des neunzehnjährigen Zyklus wohl bekannt.
§ 33. Julian Apostata
Beinamen „Apostata“ oder „Abtrünniger“ erhielt Der philosophisch
gebildete, freidenkende und von den besten Traditionen der antiken
Welt beseelte Julian vermochte nicht, seine Ideale mit den kirchlichen
Begriffen in Einklang zu bringen, die ihm seine christlichen Erzieher
in der Jugend einzuimpfen suchten. Fremd waren ihm sowohl die
neuen religiösen Dogmen und die engherzige Intoleranz ihrer Anhän-
ger wie auch der klösterliche Standpunkt der Kirche, von dem aus
sie Leben, Sittlichkeit und alle sozialen Fragen beurteilte, kurz, das
gesamte System jener geistigen Selbstbeschränkung, das den forschen-
den Gedanken in die mystischen Dogmen des Glaubens einzuzwängen
suchte. Er war von dem Willen durchdrungen, dem siegreichen Zug
des Christentums als einer Staatsreligion Einhalt zu gebieten, die
Gleichberechtigung aller Glaubensformen wiederherzustellen, die Kul-
tur des alten Rom, des aufgeklärten Hellenismus zu neuem Leben zu
erwecken und eine bessere bürgerliche Ordnung auf der Grundlage
der Freiheit und der Gerechtigkeit zu errichten. Voll Mitgefühl mit
den Opfern des harten kirchlichen Regimes unter Constantius, pro-
klamierte er von neuem religiöse Duldsamkeit, widerrief die Vorrechte
der Christen und verbot ihnen, die Heiden gewaltsam zu ihrem Glau-
ben zu bekehren oder sie in irgendeiner anderen Weise zu bedrängen.
Nicht minder freundlich verhielt sich Julian auch den unter seinen
Vorgängern verfolgten Juden gegenüber. Ein überzeugter Hellenist,
konnte er dem Judaismus, dessen strenger Monotheismus und natio-
nale Absonderung ihm durchaus fremd waren, freilich keine beson-
dere Verehrung entgegenbringen, und doch gab er ihm, insofern er
den Rationalismus aller Mystik vorzog, vor dem Christentum den Vor-
zug1). Seine Sympathien für die Juden mochten ihren Grund nicht
zuletzt darin haben, daß die Juden zugleich mit den dem Hellenismus
treugebliebenen Heiden den Verfolgungen des Constantius ausgesetzt
gewesen waren. So hat denn Julian gleich nach seiner Thronbestei-
gung den Juden die ihnen geraubten Bürgerrechte wieder verliehen
und sie von der schwer auf ihnen lastenden Sonderbesteuerung befreit.
Aber auch darüber hinaus gab Julian in einem besonderen Sendschrei-
ben „An die Gesamtheit der Juden“ seiner tiefen Sympathie für das
Judentum Ausdruck und verkündete seinen Willen, „die heilige Stadt
Jerusalem“ auf eigene Kosten wieder aufzubauen und sie, nach glück-
1) Julian war mit der Bibel in der griechischen Übersetzung wohl vertraut
und berief sich in seinen Briefen nicht selten auf biblische Sagen und Gesetze.
220
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
lieh er Rückkehr aus dem persischen Feldzuge, auch persönlich zu be-
suchen. Das griechisch abgefaßte Schreiben des Julian wurde im
Herbst des Jahres 302 von Antiocha aus erlassen und hatte folgen-
den Wortlaut:
„An die Gesamtheit der Juden.
In früherer Zeit gab man euch das Joch der Sklaverei dadurch besonders zu
spüren, daß man euch ohne alle Vorankündigung neue Steuern auf erlegte und
euch zwang, unzählige Mengen Goldes an den kaiserlichen Schatz abzuführen. Vieles
von eurem Mißgeschick habe ich selbst wahrnehmen können, doch noch mehr
erfuhr ich, als ich die Steuerrollen vorfand, die zu eurem Nachteil angelegt wor-
den waren. Ich selbst hob eine euch für die Zukunft zugedachte Steuer auf und
wandte so (neuen) Schimpf von euch ab; ich selbst übergab die in meinen Ar-
chiven Vorgefundenen, zu eurem Nachteil angelegten Steuerrollen den Flammen,
damit niemand euch als Gotteslästerer in Verruf bringen könne1). Daran war
nicht so sehr mein ruhmreicher Bruder Gonstantius schuld als vielmehr jene Bar-
baren an Geist und die Gottlosen an Gemüt, die an seinem Tische saßen und die
ich ergreifen, in die Kerkergruft werfen und dem Tode preisgeben ließ, damit
nicht einmal das Andenken an ihr Verderben bei uns erhalten bleibe. Von dem
Wunsche beseelt, euch noch größere Gunst zu erweisen, bewog ich meinen Bru-
der, den ehrwürdigen Patriarchen Julos^), die von euch sogenannte „Apostole“
(Sendbotensteuer) aufzuheben, damit niemand mehr euer Volk durch die Ein-
treibung solcher Abgaben bedrücken könnet). So werdet ihr denn alle in meinem
ganzen Reiche der Sorgen enthoben sein und, im Genüsse der Ruhe, werdet ihr
inbrünstige Gebete für das Wohl meines Reiches dem allmächtigen Gotte und
Schöpfer der Welt (Demiourgos) weihen können, der mich mit seiner eigenen
Hand gekrönt hat. Es ist von jeher so gewesen, daß diejenigen, die vom Schick-
sal getroffen werden, den Mut sinken lassen und nicht einmal wagen, die Hände
zum Gebet zu erheben; diejenigen aber, die da in voller Sicherheit leben und froh
von Gemüt sind, vermögen viel innigere Gebete für das Wohl des Reiches an
den Höchsten zu richten, der mir in meiner Regierung aufs beste beistehen kann,
wie ich es mir vorgenommen habe. So sollt ihr tun, und ich werde dann, nach
glücklicher Beendigung des Krieges gegen die Perser, die heilige Stadt Jerusalem
wieder errichten und so, wie ihr sie schon lange erbaut zu sehen wünscht, auf
meine Kosten erneuern lassen; dort will ich gemeinsam mit euch den Allmäch-
tigen preisen“.
Das Vorhaben Julians, die „Heilige Stadt“ zu erneuern, lag zwei-
fellos in der Linie seiner allgemeinen Politik. In seinem Beschlüsse, * 2 3
!) Gemeint sind anscheinend die Dekrete aus der Zeit des Konstantin und
Constantius, in denen die Juden „eine schädliche, gottlose Sekte“ genannt wur-
den (oben, § 3i).
2) Es war dies der obenerwähnte Patriarch Hillel II. Die Wendung „Bruder“
(adelphos) sollte das Wohlwollen einem hohen Würdenträger gegenüber, als wel-
cher der jüdische Patriarch galt, zum Ausdruck bringen. (Das Wort „Patriarches“
steht im Urtext selbst.)
3) Damit ist die durch besondere „Sendboten“ (apostoloi) zugunsten des Pa-
triarchen eingetriebene Steuer gemeint.
224
§ 33. Julian Apostata
das entwürdigende Gesetz, das den Juden das Betreten Jerusalems
untersagte, aufzuheben und dort ihren Tempel wiederherzustellen, ließ
sich der Kaiser nur von dem Grundzuge seiner gesamten Politik lei-
ten, die auf die Restaurierung aller ehedem verfolgten Kulte ausging.
Es lag ihm daran, gerade in Jerusalem einen jüdischen Tempel als
Gegengewicht gegen die christliche Kirche des „Grabes Jesu“, gleich-
sam als Symbol der Gleichstellung der Religionen zu errichten;
zugleich bedeutete dies einen Protest gegen die Bestrebungen der
Kirche, das jüdische Palästina als das heilige Land des Christentums
für sich zu monopolisieren und dort alle Spuren der ursprünglichen
jüdischen Kultur zu verwischen. Den Berichten der zeitgenössischen
christlichen und heidnischen Schriftsteller zufolge soll nun Julian
an die Erfüllung seines Versprechens noch vor Beendigung des per-
sischen Feldzuges herangetreten sein. Er entsandte nach Jerusalem
seinen Freund, den hochgebildeten Verwaltungsbeamten Alypius aus
Antiochia. und trug ihm auf, die Vorbereitungsmaßnahmen für die
Bauarbeiten zu treffen. Die Statthalter in Syrien und Palästina wurden
angewiesen, Alypius mit allem für den Tempelbau Nötigen zu ver-
sorgen. Schon stand das Baumaterial bereit und eine Unmenge von
Arbeitern gingen bereits daran, die auf der Stätte, wo sich einst der
Jerusalemer Tempel erhob, auf gehäuften alten Trümmer wegzuräu-
men: der alte sehnlichste Wunsch des jüdischen Volkes schien seiner
Erfüllung nahe zu sein.
Wie dürften nun die Juden diese unverhoffte Wendung in ihrem
Schicksal auf genommen haben? In dem damaligen jüdischen Schrift-
tum, das an historiographischem Material überhaupt sehr dürftig ist,
wird das Ereignis mit keinem Worte erwähnt. Die zeitgenössischen
christlichen Schriftsteller berichten, daß die Juden die Kunde von der
in Angriff genommenen Restauration des Tempels mit Begeisterung
auf nahmen. Viele Gemeinden, sogar die weitabliegenden, sollen zur
Aufbringung der Baukosten Geldspenden geschickt haben, die Frauen
verkauften zu diesem Zwecke ihren Schmuck, viele schafften selbst
die Steine für die Errichtung der Mauern herbei und beteiligten sich
auch sonst mit Freuden an den Bauarbeiten. Doch scheint es auch
solche gegeben zu haben, die an den Erfolg des Unternehmens nicht
glaubten. Nach einer ganzen Reihe von geschichtlichen Katastrophen
hatte die Hoffnung auf Wiedergeburt in dem größten Teil des Vol-
kes ihren politischen Charakter eingebüßt und einen mystisch-mes-
15 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
22Ö
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
sianischen, ins Übernatürliche spielenden Zug gewonnen. Woran man
noch glaubte, war das wunderbare Erscheinen des Messias, des ge-
heimnisvollen Auserwählten Gottes aus dem Hause Davids, der allein
dazu berufen sein würde, Jerusalem und den Tempel wiederherzu-
stellen und das in alle Winde verschlagene Volk wieder zu vereinigen.
Der Heide Julian entsprach freilich, bei all seiner Großmut, keines-
wegs dem mystischen Ideal eines Messias, wie er in der Phantasie des
Juden lebte; die Erneuerung Jerusalems und des Tempels einfach
auf Befehl eines römischen Kaisers hin entsprach nur wenig jenen
poetischen Vorstellungen von den großen Wundern und den heroi-
schen Taten, die ein solches Ereignis im „messianischen Zeitalter“
einleiten sollten. So war es nur natürlich, daß viele Juden dem Unter-
nehmen Julians durchaus mißtrauisch gegenüberstanden. Dieses Miß-
trauen wurde durch den folgenden Vorfall noch verstärkt. Als nämlich
die Bauarbeiter die Trümmer des alten Tempels endlich hinweggeräumt
hatten und an die Ausgrabung der Sockelschicht gingen, brachen aus
der Tiefe Flammen empor und versengten einige der Grabenden. Man
nimmt an, daß diese Entzündung durch die plötzliche Verbindung
von unter dem alten Grundbau lange zusammengepreßt gebliebenen
Gasen mit der Luft entstanden sein mag. Das Volk erblickte jedoch
darin gleichsam ein warnendes Zeichen von oben, und so wurden alle
weiteren Arbeiten zur Wiederherstellung des Tempels eingestellt1).
1) Über diesen Vorfall berichtet als erster ein Zeitgenosse und Feind des Julian,
der christliche Schriftsteller Gregor von Nazianz (Orat. IV, V u. XXI, 32),
der um des Ruhmes der Kirche willen noch hinzufügt, daß sich über den rau-
chenden Bautrümmern im Himmel ein Kreuz gezeigt hätte. Ihm folgend schil-
derten die wunderbare Begebenheit die Kirchengeschichtsschreiber Sokrates (Hist.
Eccles. III, 20), Sozomenus (V, 22) und Theodoret (III, i5). Nicht unerwähnt
ließen sie auch die Kirchenväter des folgenden Jahrhunderts Ambrosius (Epistol.
4o), Johannes Chrysostomus (Orat. III Contra Judaeos) und zum Teil auch
Hieronymus (Kommentar zum Buche Daniel IX, 34). Eine weniger voreinge-
nommene Schilderung der Episode gab der römische Geschichtsschreiber Am-
mianus Marcellinus (Rerum gestarum XXIII, 1), ebenfalls ein Zeitgenosse des
Julian. Manche Forscher ziehen die Tatsache der Tempelerrichtung überhaupt in
Zweifel, da diese zu der Erklärung des Julian in seinem Schreiben im Wider-
spruch steht, wonach an den Aufbau erst nach der Beendigung des persischen
Feldzuges, aus dem jedoch der Kaiser nicht mehr zurückkehrte, herangetreten
werden sollte; andere wieder bezweifeln die Echtheit des julianischen Schreibens
selbst. Man kann indessen die tendenziösen Ausschmückungen der Kirchenge-
schichtsschreiber wohl außer acht lassen, ohne dabei die Tatsache selbst, den Re-
staurationsversuch, in Zweifel zu ziehen, über den uns ja auch noch das Zeugnis,
einer neutralen heidnischen Quelle, das des Marcellinus, vorliegt.
226
§ 34. Theodosius I. und die Kirchenväter
Die letzte Ursache des mißglückten Versuches des Julian ist in-
dessen in den politischen Verhältnissen zu suchen. Der Kaiser war
ganz von dem persischen Feldzug in Anspruch genommen; er hatte
nämlich gegen Schabur II. nicht nur einen Angriffs- sondern zu-
gleich auch einen Verteidigungskrieg zu führen, da die Perser manche
der römischen Besitzungen in Mesopotamien an sich gerissen hat-
ten. Er stieß nun mit seinem riesigen Heere bis nach Babylonien
vor und besetzte auch einige von Juden bewohnte Städte, wobei übri-
gens das in der Nähe der Hauptstadt Persiens Ktesiphon gelegene
Machusa, das durch seine jüdische Akademie hochberühmt war, der
Zerstörung anheimfiel. Doch war es ihm nicht beschieden, noch wei-
ter vorzudringen: ein Pfeil, der angeblich von einem christlichen
Krieger aus seinem eigenen Heere auf ihn abgeschossen wurde,
machte seinem Leben mitten im Feldzuge ein Ende (363). Der Kai-
ser, der sich mit so großen Reformplänen trug, starb fern von sei-
ner Heimat, mit dem wehmutsvollen, an Christus gerichteten Aus-
ruf: „Du hast gesiegt, Galiläer!“ Die Christen erblickten in dem
jähen Tode des „Abtrünnigen“ sowie in dem Mißerfolg des von ihm
in Jerusalem begonnenen Baus, der dem Judaismus zu neuem An-
sehen verhelfen sollte, einen Fingerzeig von oben1). Was aber die
Juden betrifft, so sahen sie sich nun, nach einer zweijährigen Ruhe-
pause, wieder in die alte Lage versetzt: von neuem sollte ihr Los
durch eine von religiöser Unduldsamkeit durchdrungene Gesetzgebung
bestimmt werden. Denn es waren weniger die Staatsmänner als die
christlichen Theologen, die um jene Zeit der Politik des römisch-
byzantinischen Reiches die Richtung wiesen.
§ 34. Theodosius /. und die Kirchenväter
Unter den nächsten Nachfolgern des Julian Apostata (Jovian, Va-
lentinian und Valens, 361—378) schenkte die streitbare Kirche den
Juden nur wenig Aufmerksamkeit. Die Kirche war damals ganz von
dem mächtigen „inneren Feind“ in Anspruch genommen, von der
1) Das Frohlocken der Christen über den Mißerfolg der Restauration des
Judentums wird von den Kirchenschriftstellern noch damit erklärt, daß die Juden,
durch die Gunst des Julian ermutigt, in Palästina angeblich viele Kirchen zerstört
hätten, um so für die Synagogenzerstörungen unter Konstantin und Constantius
Rache zu nehmen (Ambrosius und Sozomenus an den zitierten Stellen). Anderer-
seits will der spätere christliche Verfasser der „Syrischen Chronik“, Bar Hebraeus,
15*
227
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
weitverbreiteten Ketzerei der Arianer, die übrigens den Glaubens-
dogmen des Judaismus viel näher stand als das katholische Glau-
bensbekenntnis, da die Arianer die göttliche Natur Christi in der ab-
soluten Form nicht anerkennen wollten. Die Irrlehre stand unter dem
Schutze mächtiger Gönner: zu den Anhängern des rationalistischen
Arianismus zählte nämlich der Kaiser selbst, der Gebieter der öst-
lichen Hälfte des Kaiserreiches. Nach dem Bericht des Chronisten soll
Valens, der gegen die katholische Partei ankämpfte, den Juden beson-
ders gewogen gewesen sein. Auch sein Bruder Valentinian, der Kaiser
des Westens, der auf die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwi-
schen den sich befehdenden religiösen Parteien bedacht war, wider-
setzte sich einer Schmälerung der Bürgerrechte der Juden. Unter an-
derem befreite er die Synagogen als Stätten der Andacht von der
militärischen Einquartierung. Doch bald brach die Agitation des
fanatischen Klerus gegen die Juden von neuem mit solchem Unge-
stüm los, daß selbst die mächtigen Kaiser ihr in jeder Weise
Rechnung tragen mußten.
Der Wiederhersteller der Selbstherrschaft, der Eiferer der Kirche
Theodosius I. der Große (379—895), besaß noch staatsmännische
Einsicht und Feingefühl genug, um die staatsbürgerlichen Interessen
den kirchlichen nicht ganz preiszugeben. Von der Grundtatsache aus-
gehend, daß die jüdische Religion gesetzlich nicht verboten sei („Ju-
daeorum sectam nulla lege prohibitam satis constat“), gab er Befehl,
die Juden an der freien Ausübung ihres Kultes nicht zu behindern,
und bedrohte jene Fanatiker der Kirche, die die Synagogen zu plün-
dern oder zu zerstören wagen sollten, mit einer strengen Strafe (393).
Auch ließ er die Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinden unange-
tastet, indem er ihren Vertretern das Recht zuerkannte, die Entschei-
dungen „ihrer berühmten Männer und erlauchten Patriarchen“ (viro-
rum clarissimorum et illustrium patriarcharum) zur Richtschnur zu
nehmen. Allerdings galten die Juden auch den Gesetzgebern zur Zeit
des Theodosius als eine „Rotte in ihrem Aberglauben Verstockter“
(in ea superstitione sedulus coetus), von denen sich die Rechtgläubi-
gen möglichst fern halten sollten. So untersagte denn das Gesetz vom
wissen, daß in dem syrischen Edessa die Christen alle Juden wegen ihres Bünd-
nisses mit dem Antichrist Julian niedergemacht hätten. Es mag sein, daß es
während dieser zweijährigen Periode an manchen Orten zwischen den Juden und
den Christen, die der Politik des Kaisers mit so verschiedenen Gefühlen gegen-
überstanden, in der Tat zu Zusammenstößen gekommen war.
228
§ 54. Theodosius I. und die Kirchenväter
Jahre 388 erneut Ehen zwischen Christen und Juden. Auch wurde
es den Juden bei strengster Strafe abermals verboten, christliche Skla-
ven zu ihrem Glauben zu bekehren (384).
Und doch erregte sogar diese so sehr geschmälerte Gewissens-
freiheit das Mißfallen der Häupter des katholischen Klerus, der in
der Demütigung der anderen Religionen den Triumph seiner eige-
nen zu erblicken vermeinte. Die Geistlichkeit kämpfte gegen den ge-
mäßigten Liberalismus der weltlichen Gewalt energisch an und blieb
meist siegreich. Durch leidenschaftliches Predigen gegen den Arianis-
mus und Judaismus stachelte der Klerus die Massen immer wieder
gegen die Anhänger dieser Glaubenslehren auf. So überfielen denn die
Fanatiker nicht selten die Juden während ihres Gottesdienstes, zer-
störten die Synagogen oder verwandelten sie in Kirchen, ohne sich
an die vom Gesetz angedrohte Strafe auch nur im geringsten zu
kehren.
Die entschiedensten Gegner der Gewissensfreiheit waren die höch-
sten geistlichen Würdenträger, die in späterer Zeit in den Rang der
„Väter der Kirche“ oder der „heiligen Väter“ erhoben wurden. Einer
von ihnen, der berühmte Bischof von Mailand Ambrosius, geriet im
Zusammenhang mit der „jüdischen Frage“ (wie sie damals auf ge-
faßt zu werden pflegte) mit dem Kaiser selbst in schärfsten Kon-
flikt. In der syrischen Stadt Callinicum zerstörte nämlich eine vom
Bischof und den Mönchen der benachbarten kirchlichen Hochburg
Edessa aufgestachelte Christenmenge die jüdische Synagoge. Davon
in Kenntnis gesetzt, befahl der Kaiser Theodosius, die Teilnehmer
der Judenhetze zu bestrafen, und ersuchte überdies den Bischof, die
Synagoge auf dessen eigene Rechnung wieder aufzubauen (um 388).
Der über diesen Befehl empörte Bischof Ambrosius wandte sich nun
an den Kaiser mit einem zornsprühenden Brief, in dem er klarzu-
machen suchte, daß in dieser Sache die „Ehre Gottes“ auf dem Spiele
stehe und daß man einen christlichen Hierarchen nicht zwingen
könne, eine jüdische Synagoge, eine „Stätte des Unglaubens und der
Ruchlosigkeit“, wo Christus alltäglich gelästert werde, mit eigenen
Händen zu erbauen. Die Zerstörung der Synagoge sei, wie Ambrosius
meinte, nur eine gerechte Vergeltung dafür gewesen, daß die Juden
unter Julian Apostata, wie er zu wissen glaubte, christliche Kirchen in
Gaza, Damaskus, Alexandrien und an anderen Orten zerstört hätten.
Auf Grund dieser Argumentation bat nun Ambrosius den Kaiser, seinen
229
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
Erlaß zu widerrufen. Theodosius ließ dieses Schreiben zunächst unbe-
antwortet; als er aber bald darauf nach Mailand kam, berührte der
rastlose Bischof von neuem die Synagogenangelegenheit in einer von der
Kirchenkanzel in Gegenwart des Kaisers gehaltenen Ansprache. Theodo-
sius sah sich nunmehr gezwungen, dem Drängen des Ambrosius nach-
zugeben, und hob seine in der Sache der Judenhetze ergangene Ent-
scheidung wieder auf. Der Wankelmut des Kaisers hatte zur Folge,
daß die von Fanatikern auf gestachelten Christenmassen um des grö-
ßeren Ruhmes der Kirche willen die jüdischen Gebethäuser auch fer-
nerhin ungestraft demolierten. Da erließ Theodosius sein obenerwähn-
tes Edikt an die Zivil- und Militärbehörden mit der Vorschrift, allen
derartigen Ausschreitungen energisch entgegenzutreten. Die Juden wa-
ren somit in dieser Beziehung noch immer besser daran als die Hei-
den, deren Götzentempel von den Christen ungehindert zerstört wer-
den durften.
Während so im Westen der Bischof von Mailand gegen den Ju-
daismus zu Felde zog, fiel diese Aufgabe im Osten dem berühmten
Prediger Johannes aus Antiochia zu, dem späteren Erzbischof von Kon-
stantinopel, den die Kirchengeschichte durch den Ehrennamen Chry-
sostomus („Goldmund“) verherrlicht hat. Ging die Agitation des Am-
brosius darauf aus, den von der weltlichen Macht den Juden in Aas-
sicht gestellten Schutz zu vereiteln, so bekämpfte die Predigt des Jo-
hannes die spontane Bekundung gegenseitiger Sympathien seitens der
Anhänger der Kirche und der Synagoge. Viele Christen Antiochias,
insbesondere Frauen, besuchten nämlich an Sabbattagen und an den
anderen jüdischen Feiertagen die Synagogen, wohnten dem feierlichen
Gottesdienst am Jom-Kippur bei, lauschten dem Hornklang am Rosch-
ha’schana und nahmen zusammen mit den Juden an dem Jubel des
Sukkothfestes teil. Überdies wandten sich die Christen in Gerichtsan-
gelegenheiten nicht selten an jüdische Richter und verschmähten es
nicht, auch die Hilfe jüdischer Ärzte in Anspruch zu nehmen. In dem
Verkehr mit den Juden eine religiöse Gefahr für die von ihm Be-
treuten witternd, trat nun der gottesfürchtige Asket Johannes mit
acht gegen den Judaismus und die Juden gerichteten Predigten auf
den Plan (386—388). In diesen Predigten tritt all die Besorgnis, die
die Rivalität der Synagoge, dieses erstgeborenen Kindes der Offen-
barung, in den Herzen der Kircheneiferer noch immer erweckte, kraß
zutage. Für seine Reden gegen das Judentum wählte Johannes den
23o
§ 54. Theodosius /. und die Kirchenväter
Vorabend der jüdischen Herbstfeiertage und begründete dies vor sei-
nen Zuhörern damit, daß er, gleich einem sorgsamen Hirten, seine
Schafe so vor dem sich heranschleichenden Wolfe warnen wolle („Re-
den gegen die Judäer“ IV, i). Mit der ganzen Wucht seiner Bered-
samkeit wettert er gegen die Christen, die sich durch die jüdischen
Bräuche verlocken lassen: „Bei den elenden und unglückseligen Juden
setzt jetzt gerade eine ganze Kette von Feiertagen ein: Hornklänge,
Laubhütten, Fasttage, und nun gehen viele von den Unsrigen hin, um
diese Zeremonien anzugaffen, während manche sich sogar nicht ent-
blöden, an den Feierlichkeiten und dem Fasten unmittelbar teilzu-
nehmen! . . . Ich weiß nur zu gut, daß viele den Juden Hochachtung
entgegenbringen und ihre jetzt veranstalteten Zeremonien als heilig
erachten, darum beeile ich mich auch, die verderbliche Ansicht mit
der Wurzel auszureißen“ (I, i—3). Um dies zu erreichen, sucht Jo-
hannes die Synagogen dadurch zu verunglimpfen, daß er sie mit dem
für einen Asketen so überaus grausigen Worte „Theater“ brandmarkt:
„Zwischen Synagoge und Theater besteht gar kein Unterschied“, denn
auch in der Synagoge versammeln sich „Scharen von verweichlichten
Männern und unzüchtigen (d. h. geputzten) Frauen . . . Die Synagoge
ist nicht nur ein Haus der Unzucht und ein Theater, sondern auch
eine Räuberhöhle und eine Lagerstätte wilder Tiere“. Und auch um
den Beweis ist er nicht im mindesten verlegen: hat doch noch der
Prophet Jeremias den Spruch getan: „Ist euch denn dieses Haus (der
Jerusalemer Tempel) zur Räuberhöhle geworden?“
In der jüdischen Gemeinde von Antiochia gab es anscheinend nicht
wenig wohlhabende Leute, die gleich den heidnischen Griechen nicht
abgeneigt waren, ihr Leben zu genießen, und so hält denn der aske-
tisch gesinnte Redner mit seinem Staunen darüber nicht zurück, wie.
man eine Religion schätzen könne, deren Bekenner sich über das Le-
ben im Jenseits, „über die ewigen Qualen, den Flammenfluß und die
dunkle Unterwelt“ gar keine Gedanken machen, sondern „sich^ganz
an den Augenblick klammern und nur das eine im Sinne haben: essen,
trinken, sich wegen der Tänzer (im Zirkus) herumbalgen und um der
Kunstreiter willen schlagen“ (I, 4). Die Synagoge ist ihm darüber
hinaus die Zufluchtsstätte böser Geister: „Mag sich dort auch kein
Götze erheben, um so wohnlicher fühlen sich da die Dämonen“; „es
ist die Sammelstätte der Christusmörder, derjenigen, die das Kreuz
bedrängen“. Im Götzentempel ist die Gottlosigkeit wenigstens allen
23t
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
offenbar, in der Synagoge gedeiht sie aber im Verborgenen (I, 6).
Die Christen mögen sich hüten, ihre Weiber dorthin gehen zu lassen:
„sie werden den Teufel in ihrer Seele heimbringen“, denn die Seelen
aller Juden sind eine Behausung von Dämonen (II, i). Johannes ruft
seinen Zuhörern noch einmal in Erinnerung, daß das Konzil von
Nicäa im Jahre 32 5 verboten habe, das christliche Osterfest gleich-
zeitig mit dem jüdischen Passah zu begehen, ein Beweis, daß die
Kirche in jeder Weise bestrebt sei, von der Synagoge loszukommen
(III, 3). Die Geistlichkeit scheint besondere Spitzel in ihrem Dienste
gehabt zu haben, die alle die Synagogen besuchenden Christen anzu-
zeigen hatten. Voll Zorn ruft darum Johannes der Herde seiner Gläu-
bigen zu: „Du trachtest danach, dich insgeheim in die Synagoge zu
schleichen und verbietest es deinen Dienern, Freunden und Nachbarn,
dich bei den Priestern anzuzeigen! . . .“ (VIII, 8).
Das Hauptargument des Johannes Chrysostomus in seiner Polemik
gegen das Judentum bildete die Behauptung, daß der jüdische Got-
tesdienst außerhalb des Jerusalemer Tempels jedes Sinnes entbehre,
da doch mit der Zerstörung Jerusalems die jüdische Religion jede
Existenzberechtigung eingebüßt hätte. Der Erhärtung dieses Argumen-
tes ist noch eine besondere Abhandlung gewidmet: „Gegen Juden und
Heiden gerichtete Betrachtungen darüber, daß Jesus Christus der wahre
Gott sei“. Als Christus in Jerusalem einzpg — so sucht Johannes sei-
nen Gedanken zu begründen — prophezeite er, daß dort nicht ein Stein
auf dem anderen bleiben werde, und siehe da, bald darauf wurde der
Tempel von den Römern eingeäschert, und Jerusalem verwandelte sich
in einen Trümmerhaufen. Nun haben sich die Juden unter Hadrian von
neuem erhoben, erreichten indessen nur die Verwandlung Jerusalems
in die heidnische Stadt Aelia. Johannes behauptet, daß auch vor kur-
zem noch, unter Konstantin, die Juden wieder einmal einen Auf-
standsversuch unternommen hätten, daß aber der Kaiser befohlen
hätte, den Aufrührern die Ohren abzuschneiden und sie zum ab-
schreckenden Exempel durch die Straßen zu führen1). „Und nun,
erst vor zwanzig Jahren, suchte Julian (Apostata), der alle Könige an
1) Dieser Hinweis („Reden gegen die Juden“ V, n) konnte nicht ganz aus
der Luft gegriffen sein, da der Verfasser der Zeit Konstantins noch sehr nahe-
stand. Eher ist hier eine Namensverwechslung zu vermuten: der Hinweis mag sich
auf den galiläischen Aufstand vom Jahre 351 beziehen, der sich unter Constantius,
dem Mitregenten und Nachfolger des Konstantin, abgespielt hatte (oben, $ 3i).
232
§ 54. Theodosius 1. und die Kirchenväter
Gottlosigkeit übertraf, die Juden zunächst zum Götzendienst zu be-
wegen, um ihnen sodann den alten Gottesdienst (den jüdischen) anzu-
bieten, sie aber baten einen so verstockten Gotteslästerer und Heiden
um die Wiederherstellung ihres Tempels; der Plan ging jedoch in
Brüche: kaum hatte man die Bauarbeiten begonnen, als aus dem
Erdinneren Flammen emporschlugen und viele Menschen verbrann-
ten . . . Solltest du jetzt nach Jerusalem kommen, so wirst du nur
noch die Grundschicht (des Baues) zu Gesicht bekommen“. „Was
mochte sich nun der Tempelerneuerung in den Weg gestellt haben
— fragt der Redner — wenn nicht die göttliche Macht selbst? Stehen
ihnen (den Juden) denn nicht Reichtümer im Überfluß zur Verfü-
gung? Besitzt denn ihr Patriarch, der allerorten bei Allen Spenden
einsammeln läßt, nicht unerschöpfliche Schätze? Gibt es denn ihrer
(der Juden) wenig in Palästina, in Phönizien und auch sonst überall?“
„Und doch vermochten sie bei all ihrer Macht den Jerusalemer Tem-
pel nicht wiederherzustellen. Synagogen haben sie in vielen Städten
erbaut, jene Stätte aber, die ihrem Staate die Macht verlieh und an
der das Judentum seinen Rückhalt hatte, neu erstehen zu lassen — das
ging über ihre Kraft“. Daraus erhelle, daß es ein verworfenes Volk
sei und daß das Judentum mit dem Entstehen des Christentums der
Auflösung anheimfallen müsse. Die in der Verleugnung Christi von
den Juden bekundete Halsstarrigkeit hätten nun die Glaubenerfüllten
den „Christusmördern“, die auch heute noch die Christen durch ihren
Unglauben in Versuchung führen, mit aufrichtigem Haß zu vergelten.
Der gewaltigen Rednergabe des Johannes Chrysostomus war es in
der Tat gegeben, diesen Haß nicht allein bei seinen Zeitgenossen, son-
dern auch noch in den nachfolgenden Generationen immer aufs neue
zu entfachen, da seine Reden in dem Schrifttum der „Kirchenväter“
verewigt wurden. Und doch hätte wohl der Redegewandte gegen Ende
seines Lebens kaum selbst den Gedanken wiederholt, daß alle Laster
bei den Juden nisten, während alle Tugenden allein unter den Christen
gedeihen. Auf den hohen Posten des Oberhauptes der Geistlichkeit,
des Erzbischofs von Konstantinopel, berufen, wurde er nämlich später
ein Opfer des Ränkespiels der Bischöfe und Mönche, die es wohl ver-
standen, ihren Machenschaften am kaiserlichen Hofe Erfolg zu ver-
schaffen. Unter dem Kaiser Arcadius seiner Würde enthoben (4o3)
und seinen Lebensabend in der Verbannung zubringend, pflegte Jo-
hannes zu sagen, daß über alles die böse Art der Bischöfe und
233
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
Mönche zu befürchten sei, die von ihm auch nach seinem Sturze nicht
abließen, während sogar „Juden, Ketzer und Heiden“ ihm angeblich
ihr Mitgefühl bezeugten.
§ 35. Die Zeit Theodosius II.
Nach dem Tode Theodosius I. (39 5) und der darauf erfolg-
ten Aufteilung des römischen Reiches in ein östliches und westliches,
in Byzanz und Italien, mit je einem Kaiser für jede der zwei Hälf-
ten, wird das Los des jüdischen Morgenlandes völlig an das von By-
zanz1) gekettet. Die Lage der Andersgläubigen im christlichen Reiche
wird ganz und gar durch das unzertrennliche Bündnis von Staat und
Kirche in Konstantinopel bestimmt. Entscheidend ist das Prinzip, wo-
nach alle, die sich nicht zum Christentum bekennen, ebenso wie die Ket-
zer innerhalb der christlichen Gemeinde selbst, für ihre religiöse Ab-
sonderung mit der Entziehung bestimmter Bürgerrechte bestraft wer-
den müssen. In der Gesetzgebung der ersten christlichen Kaiser, von
Konstantin bis zu Theodosius L, machte sich noch ein gewisses Schwan-
ken im Verhalten gegen die „Ungläubigen“ bemerkbar, so daß die
Zentralregierung sich zuweilen für die von den allzu eifrigen Fana-
tikern der Kirche mit Füßen getretenen Rechte der Andersgläubigen
sogar kraftvoll einzusetzen pflegte. Diese Unbeständigkeit in der Un-
terdrückungspolitik den Juden gegenüber ist auch noch unter den
nächsten Nachfolgern Theodosius I., den Kaisern Arcadius im Osten
und Honorius im Westen, wahrzunehmen. Allmählich nimmt jedoch
das Schwanken ein Ende. Die Politik der Unterdrückung bürgert sich
immer mehr ein und wird schließlich, von der Autorität der allmäch-
tigen Kirche gedeckt, zur unerschütterlichen Grundlage der gesamten
Rechtsordnung des christlichen Staates.
Unter Kaiser Arcadius (895—4o8) glaubte die byzantinische Re-
gierung die Juden vor den Gewalttaten der ihnen feindlich gesinnten
christlichen Umwelt noch in Schutz nehmen zu müssen. So wurde
durch kaiserliche Erlasse den Statthaltern zur Pflicht gemacht, An^-
griffe der Menge auf die Synagogen zu verhindern und die Unantast-
barkeit der Gemeindeselbstverwaltung der Juden sowie der Macht
der „erlauchten (illustrium) Patriarchen“ in jeder Weise zu be- * IV.
!) Die Lage der Juden im weströmischen Reiche kommt im folgenden,
IV. Bande, Kap. I, zur Behandlung.
§ 35. Die Zeit Theodosius II.
schützen. Doch gewinnt schon unter dem byzantinischen Kaiser Theo-
dosius II. (4o8—45o) die repressive Richtung in der Gesetzgebung
die Oberhand. Die Kompetenzsphäre der jüdischen nationalen Auto-
nomie schrumpft rasch zusammen, und ihrem Zentralorgan, dem pa-
lästinensischen Patriarchat, wird ein schwerer Schlag versetzt (s. §
36). Nicht genug damit, schlägt die Staatsgewalt auch den elementar-
sten Prinzipien der Gewissensfreiheit offen ins Gesicht. Schon zu Be-
ginn seiner Regierung erließ Theodosius II. ein Dekret, das den Ju-
den die Errichtung neuer Synagogen untersagte1). Späterhin wird
dieses Verbot vom Kaiser in einer Reihe von gegen „die verab-
scheuungswürdigen Heiden, Judäer und Ketzer“ (abominandorum pa-
ganorum, judaeorum atque haereticorum) gerichteten Dekreten, denen
zufolge nur noch die Renovierung der baufällig gewordenen Syna-
gogen gestattet war (aus den Jahren 42 3 und 43g), aufs neue be-
stätigt. In dieser Weise gingen die Gesetzgeber in jenen Jahren vof,
als der von den Mönchen aufgehetzte christliche Mob, der die heid-
nischen Tempel verheerte, an vielen Orten auch die Synagogen zer-
störte oder in Kirchen verwandelte. So mußten sich denn die der Zer-
störungswut preisgegebenen jüdischen Gemeinden nur mit der Reno-
vierung der beschädigten Synagogen begnügen; waren sie dagegen bis
auf den Grund zerstört oder infolge Alters eingestürzt, so war es
untersagt, an ihrer Stelle neue zu erbauen.
Zugleich wurden Maßnahmen getroffen, um den Juden oder, wie
das Gesetz sich ausdrückte, den im jüdischen Aberglauben Verharren-
den, die Staatsämter, die zivilen wie die militärischen, unzugänglich
zu machen. Zunächst verwehrte man ihnen den Zutritt zum Militär-
dienst und sodann die Bekleidung aller Verwaltungsämter überhaupt,
„damit sie die erlangte amtliche Autorität nicht zu Ungunsten der
Christen mißbrauchen könnten“ (Dekrete aus den Jahren 4*8 und
439). Eine Ausnahme wurde ursprünglich nur für den freien Advo-
katenberuf gemacht, doch wurden später auch in dieser Beziehung
den Juden ebenso wie den Ungläubigen imd Ketzern überhaupt aller-
lei Beschränkungen auf erlegt. Auch das Familienrecht blieb von dem
Eingriff des Gesetzes nicht verschont: ein Dekret des Jahres 426
untersagte den Juden und den Samaritanern, ihre zum Christentum
f) Dieses Dekret ist offenbar noch vor dem Jahre 4i5 ergangen, da in die-
sem Jahre dem jüdischen Patriarchen dessen Übertretung bereits zum Vorwurf
gemacht wurde. S. unten, § 36.
*
235
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
übergetretenen Kinder („die aus dem Dunkel ihres Aberglaubens in
den Lichtkreis des christlichen Glaubens eingetreten sind“) zu ent-
erben; die Eltern besaßen nicht das Recht, ihre abtrünnig geworde-
nen Kinder in ihrem Testament zu übergehen oder ihren Erbteil zu
schmälern, selbst in dem Falle nicht, wenn die Kinder sich eines Ver-
brechens gegen ihre Eltern schuldig machten, für das sie eine gesetz-
liche Strafe zu gewärtigen hatten. Die getauften Kinder konnten sich
ihr Erbteil stets auf gerichtlichem Wege sichern. Diese Vergewalti-
gung des Willens der Erblasser rechtfertigt der Gesetzgeber durch die
Berufung auf die „Vorzüge der (von den Neubekehrten) erwählten
Religion“. Ein schroff polemisierender Ton ist in der Motivierung
jener Gesetze zu vernehmen, die den Juden den Besitz christlicher
Sklaven untersagten. Zunächst wurde es den Juden allerdings gestat-
tet, solche Sklaven unter dem Vorbehalt in ihrem Dienst zu behalten,
daß sie sie an der freien Ausübung ihrer Religion nicht behinderten
(4i5); später (in den Jahren 417 und 42 3) untersagte jedoch Theo-
dosius II. den Juden, unter welcher Bedingung immer, christliche
Sklaven zu erwerben, da „wir es für ungerecht halten, daß die from-
men Knechte durch die Herrschaft gottloser Käufer befleckt wer-
den“1).
Bei einem so feindseligen Verhalten der weltlichen und kirchlichen
Behörden sowie der christlichen Volksmassen gegen die Juden war es
nur natürlich, daß auch diese ihrerseits die gleichen Gefühle bekun-
deten. An vielen Orten wehrten sie sich kraftvoll gegen die Über-
fälle der kirchlichen Fanatiker und gingen hie und da selbst zum An-
griff über. Aus Entrüstung über die Verhöhnungen durch die Chri-
sten ließen sie sich manchmal sogar zu öffentlichen Kundgebungen
gegen die kirchlichen Symbole hinreißen. Noch im Jahre 4o8 wur-
den die provinzialen Behörden von den Kaisern Honorius und Theo-
dosius II. angewiesen, allenthalben das Benehmen der Juden während
„ihres hochfeierlichen Hamanfestes“ (festivitatis suae solemnis Aman),
da sie „zur Verunglimpfung der christlichen Religion ein das heilige
Kreuz nachahmendes Gebilde“ (sanctae crucis adsimulatam speciem)
zu verbrennen pflegen, aufs schärfste zu beobachten. Aus den späte-
ren Jahrhunderten ist uns in der Tat der Volksbrauch bekannt, am
Purimfeste eine Holzfigur des biblischen Judenhassers Haman zu
!) Über die Auswirkungen dieser Verbote im wirtschaftlichen Leben der Ju-
den s. unten, S 46.
236
§ 35. Die Zeit Theodosius II.
verbrennen, die manchmal die Form eines Kreuzes auf weisen mochte.
Im Jahre 4i5 zog indessen der harmlose Purimscherz in der Stadt
Antiochia überaus traurige Folgen nach sich. Die Juden des nahe-
gelegenen Städtchens Imnestar zimmerten nämlich am Purimtage für
Ham an einen Galgen in Kreuzesgestalt, hängten irgendeine Figur,
wohl einen Holzklotz, daran und schlugen auf den Popanz ein. Im
Volke verbreitete sich sofort das Gerücht, die Juden hätten einen
christlichen Knaben ans Kreuz geschlagen1). Es wäre beinahe zu
einem blutigen Zusammenstoß zwischen der christlichen und jüdi-
schen Bevölkerung von Imnestar und Antiochia gekommen, doch ge-
lang es dem Kaiser Theodosius, die auf gepeitschten Leidenschaften
dadurch zu beschwichtigen, daß er alle an der Purimdemonstration
Beteiligten mit einer strengen Strafe belegte.
Inzwischen breitete sich jedoch in ganz Syrien eine antijüdische
Bewegung aus, die sich darin äußerte, daß die Christen in die Syna-
gogen eindrangen und sie in Kirchen verwandelten, oder zum minde-
sten die Gottesdienstgeräte entwendeten, um sie teils zu vernichten,
teils in den Kirchen zu verwenden. Da setzte sich für die Juden der
syrische Präfekt Asklepiodot, ein Oheim der Kaiserin, ein. Auf seine
Fürsprache hin gab Theodosius II. Befehl, den Juden die weggenom-
menen Synagogen zurückzuerstatten und ihnen an Stelle der bereits
in Kirchen verwandelten Gotteshäuser Bauplätze zur Errichtung neuer
Synagogen anzuweisen, sowie den Geldwert der für die Kirchen ein-
gezogenen synagogalen Geräte zu ersetzen (Dekret vom i5. Februar
42 3). Gegen diese Verfügung traten jedoch die kirchlichen Fanatiker
unter Führung des durch seinen Asketismus berühmten Mönches Si-
meon des Styliten auf. In den „Lebensbeschreibungen der Heiligen“
der christlichen Kirche wird über diese Heldentat des heiligen Simeon
folgendes erzählt: „Der gottlose und verruchte Asklepiades, der Oheim
der Kaiserin und unter dem Kaiser Theodosius Statthalter (in Syrien),
war den Heiden und Juden gewogen, den Christen aber Feind. Auf
seine Fürsprache hin erging ein kaiserlicher Erlass, demzufolge alle
Synagogen und Sabbatgebethäuser, die die Christen den Juden weg-
!) Der Bericht über diesen Vorfall wird von dem zeitgenössischen Kirchen-
geschichtsschreiber Sokrates (Hist. eccl. VII, 16) wiedergegeben, der selbstredend
von einer tatsächlich stattgefundenen Kreuzigung fest überzeugt ist; doch wird
jeder mit der jüdischen Geschichte Vertraute diese „Tatsache“, den ersten Fall
der Ritualmordlüge, nicht anders als alle anderen Verleumdungen dieser Art in
den späteren Jahrhunderten werten.
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
genommen hatten, diesen zurückgestellt werden sollten; die Christen
mußten auf eigene Rechnung Synagogen errichten (an Stelle der weg-
genommenen oder zerstörten). Der kaiserliche Erlaß und die Ver-
fügung des Statthalters wurden in vielen Städten bekanntgegeben.
Eine große Trauer ergriff darauf alle Christen, besonders weil sie Zu-
sehen mußten, wie Heiden und Juden, weiß gekleidet, sich der Freude
und dem Jubel hingaben . . . Die kummererfüllten Bischöfe erschie-
nen nun vor dem hochwürdigen Simeon (dem Styliten) und erstat-
teten ihm darüber Bericht, indem sie ihm die Kundgebungen des
Kaisers und des Statthalters vorlegten. Der Hochwürdige entbrannte
in Eifer für den Namen des Herrn. Mutig richtete er sich auf und
schrieb (an den Kaiser) unerschrockene Worte, voll fürchterlicher
Drohungen (es folgt eine Prophezeiung, daß Gott den Kaiser
für die den „ungläubigen Juden“ erwiesene Gunst bestrafen werde).
Als der Kaiser den Brief gelesen hatte, erbebte er vor Schreck und tat
Buße. Er gab unverzüglich Befehl, allenthalben kundzutun, daß seine
früheren Erlasse ungültig und daß den Christen und den Priestern
Gottes alle Ehren zu erweisen seien“. Weiter wird erzählt, der juden-
freundliche Präfekt wäre seines Amtes enthoben worden (was in
Wirklichkeit gar nicht der Fall war) und Theodosius hätte bei den
heiligen Vätern, den Bischöfen und Mönchen Abbitte geleistet, auf
daß sie in ihren Gebeten seiner gedächten. Es ist wohl anzunehmen,,
daß der fromme Kaiser durch den Protest des weitbekannten Einsied-
lers Simeon in der Tat irre gemacht worden war, und so widerrief er
denn das Dekret, das den jüdischen Gemeinden für die weggenomme-
nen Synagogen Schadenersatz zubilligte; doch unterließ er es nicht,
noch im selben Jahre durch einen neuen Erlaß (vom April 4^3) das
Verbot, künftighin Synagogen wegzunehmen oder zu verbrennen
(synagogas nullus occupet nullus incendat), aufs neue zu bestätigen.
Den treuen Kindern der Kirche zum Trost fügte der Kaiser aller-
dings hinzu, daß den Juden von Rechts wegen nur alte Synagogen zu
renovieren, nicht aber neue zu erbauen erlaubt sei. Später erging!
noch ein neuer Erlaß des Theodosius (43g), der die Errichtung einer
neuen Synagoge mit Geldstrafe und mit Beschlagnahme des Gebäu-
des zugunsten der Kirche bedrohte.
Unter Theodosius II. gelang es der streitbaren christlichen Prie-
sterschaft, auch in der alten Brutstätte heidnischen Judenhasses, im
ägyptischen Alexandrien, das Volk gegen die Juden aufzustacheln. Die
238
§ 35. Die Zeit Theodosius II.
Beziehungen zwischen Christen und Juden hatten sich hier schon im
IY. Jahrhundert, als der „Vater des rechten Glaubens“ (Pater ortho-
doxiae), der Erzbischof Athanasius der Große, seine Herde von den
räudigen Schafen des Arianismus säuberte, scharf zugespitzt. Die Ju-
den waren ihm nämlich als Bundesgenossen der Arianer im Partei-
kampfe, der ihn mehr als einmal zur Flucht aus Alexandrien zwang,
äußerst verhaßt. Aber auch die Nachfolger des Athanasius aus den
Reihen der Kirchenväter hielten an dessen Ausrottungspolitik den
Ketzern gegenüber unentwegt fest. Zu Beginn des V. Jahrhunderts
stand an der Spitze dieser Glaubenseiferer von Alexandrien der dor-
tige Erzbischof Cyrill, einer jener „Kirchenväter“, der sich durch
seine Verfolgungen der Ketzer und Andersgläubigen besonders be-
rühmt gemacht hat. Durch die Gewaltmaßnahmen der Partei Cyrills
aus der Fassung gebracht, griffen nun auch die Juden zu keineswegs
einwandfreien Mitteln. So geschah es z. B. einmal, daß eine Schar
von Juden, als sie einen Anhänger der feindlichen Partei, den Hetzer
Hierax, im Theater erblickten, in laute Rufe ausbrachen, er sei hier
nur mit der Absicht erschienen, um Ausschreitungen anzuzetteln. Der
alexandrinische Präfekt Orestes, der wohl Grund genug hatte, der
lautgewordenen Anklage Glauben zu schenken, befahl den Hetzer auf
der Stelle zu verhaften und auf der Folterbank einem Verhör zu
unterziehen. Bald darauf schlugen die Juden mitten in der Nacht
Feueralarm, indem sie das Gerücht verbreiteten, eine der Kirchen von
Alexandrien stehe in Flammen; als aber die Christen zum Feuer-
löschen herbeigeeilt kamen, schlugen die Juden sie nieder. Da ent-
schloß sich der Erzbischof, den Feinden der Christen eine warnende
Lehre zu erteilen. Die von ihm aufgehetzte Christenmenge plünderte
die jüdischen Häuser und Synagogen und verjagte die ausgeraubten
halbnackten Juden aus der Stadt (4i4). Der den Juden gewogene
Präfekt Orestes vermochte gegen den allmächtigen Bischof nichts
auszurichten; er beschwerte sich allerdings über Cyrill in Konstanti-
nopel, doch fand das Vorgehen des Glaubenseiferers dort uneinge-
schränkte Billigung. Die fanatischen Mönche aus den Reihen der Mit-
streiter des Cyrill überfielen darauf den Beschützer der Juden,
Orestes, den einer der Mönche am Kopfe verwundete. Es waren dies
dieselben von religiösem Fanatismus besessenen Kreise, aus denen gar
bald auch die Mörder der berühmten Hypatia hervorgingen, die an
der Akademie von Alexandrien Vorlesungen über griechische Philo-
23(>
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
sophie hielt: die Unmenschen zogen die „Schwarzkünstlerin“ aus
ihrem Wagen, schleiften sie nackt durch die Straßen und machten sie
schließlich in einer Kirche nieder (4i5). So fanden sich Hellenismus
und Judaismus nach jahrhundertelangem Hader in den ihnen von
dem gemeinsamen Feind, der streitbaren Kirche, zugefügten Leiden
von neuem zusammen.
Das harte Geschick der Juden im byzantinischen Reiche ließ un-
ter ihnen eine messianische Bewegung aufkommen. Auf der Insel
Kreta, wo die christlichen Griechen die Juden hart bedrängten und
sogar Anstalten trafen, sie des Landes zu verweisen, erschien näm-
lich ein falscher Messias namens Moses, der das jüdische Volk auf
wunderbare Weise von seinem Joche zu befreien und es in das ge-
lobte Land zu führen verhieß. Der falsche Messias gewann einen gro-
ßen Anhang. Die Juden von Kreta verließen ihre Häuser, ihr Hab
und Gut und hielten sich zum Auszug bereit. Am festgesetzten Tage
schritt nun Moses an der Spitze einer Riesenschar von Gläubigen zur
Meeresküste und befahl seinen Anhängern, sich ins Meer zu werfen,
indem er ihnen versicherte, die Fluten würden sich, wie einst beim
Auszug aus Ägypten, teilen, um dem Volke eine trockene Straße auf
dem Meeresgründe zu bahnen. Viele der Schwärmer säumten denn
auch nicht, der Weisung des Wundertäters Folge zu leisten. Die einen
fanden in den Wellen den Tod, andere wurden von Schiffern aus
dem Wasser gezogen. Auch der falsche Messias war verschwunden
(um 44o). Von Kummer gebeugt, sollen sich darauf viele Juden von
Kreta (wenn man dem kirchlichen Chronisten Glauben schenken soll)
zum Christentum bekehrt haben1).
In dem die Juden treffenden Unheil erblickten die kirchlichen Ei-
ferer nichts als eine Demütigung des Judaismus. Eine solche Lage
der Dinge schien nicht nur den verblendeten Fanatikern, sondern
auch den hervorragendsten Theologen jener Zeit, wie z. B. den Kir-
chenvätern Hieronymus und Augustin (gest. 4^o und 43o) nur natür-
lich zu sein. Der heilige Hieronymus, der als Abt eines christlichen
Klosters in Bethlehem vierzig Jahre in Palästina zugebracht hatte, war
mit den Urquellen des jüdischen Schrifttums viel vertrauter als irgend-
ein anderer unter den kirchlichen Theologen. Die gelehrten Talmu-
!) Auch über diesen Vorfall hat sich nur eine einzige Nachricht erhalten:
die Erzählung des Kirchengeschichtsschreibers Socrates (Hist. Eccles. VII, 36).
2 4o
§ 35. Die Zeit Theodosius II.
disten aus Lydda pflegten ihn heimlich zu besuchen, brachten ihm
die Kenntnis des Hebräischen bei und lasen mit ihm die Heilige
Schrift in ihrem Urtext. So pflegte einer dieser Lehrer, Bar Chanina,
die Zelle des Hieronymus stets in der Nacht aufzusuchen (nocturnus
praeceptor), da der heilige Mönch wegen seines Umgangs mit den
Juden in Verruf zu kommen fürchtete. Diese Studien waren es, die
dem Hieronymus späterhin die Abfassung seiner berühmten „Vul-
gata“ ermöglichten, jener lateinischen Bibelübersetzung, die ihren
Platz neben der griechischen Septuaginta zu behaupten vermochte und
im Mittelalter der einzige von der lateinischen Kirche anerkannte Text
der Heiligen Schrift war. Dem talmudischen Schrifttum und den
synagogalen Predigten jener Zeit hatte aber Hieronymus seine hagga-
dische Methode der Bibelauslegung zu verdanken (s. unten, § 4i)-
Und doch empfand er, wie er selbst bekennt, „einen unaussprechlichen
Haß gegen die Juden, die heute noch in ihren Synagogen unsern
Herrn lästern“. Gleich Chrysostomus erblickt auch er in der Zer-
streuung der Juden ein Wahrzeichen der Verworfenheit des Juden-
tums. Alle Diasporaländer der Reihe nach aufzählend, ruft Hierony-
mus voll Ironie aus: „Dies, o Judäer, sind all deine Länder ihrer
Länge und Breite nach!“1) Voll innerer Befriedigung schildert er die
Demütigungen und Ärgernisse, die die jüdischen Pilger zu erdulden
haben, wenn sie sich einmal im Jahre, am Fasttag des 9. Ab, an
die Stätte des zerstörten Tempels in Jerusalem heranschleichen, um
ihrer Trauer über das nationale Unheil freien Lauf zu lassen* 2). In-
dessen ersteht sogar aus der Schilderung dieses Feindes Israels ein
Bild voll erhabener Tragik:
„Bis auf den heutigen Tag ist den treubrüchigen Einwohnern (den Juden),
die die Diener Gottes und namentlich den Gottessohn ermordet haben, der Zu-
tritt zu Jerusalem verwehrt; sie werden dorthin nur zum Wehklagen eingelassen.
Mit Geld müssen sie sich die Erlaubnis erkaufen, die Zerstörung ihres Staates be-
weinen zu dürfen. Diejenigen, die einstmals das Blut Christi erstanden, müssen
jetzt sogar für ihre Tränen bezahlen, so daß nicht einmal das Weinen ihnen un-
entgeltlich zuteil wird. An dem Tage, an dem Jerusalem einst von den Römern
eingenommen und zerstört worden war, wird man gewahr, wie das kummervolle
Volk einherzieht, wie altersschwache Weiber und Greise, mit Lumpen angetan,
herbeiströmen, die also schon in ihrem Äußeren und in ihrer Tracht den Zorn
Gottes verraten. Die Scharen der Unglückseligen drängen sich zusammen, und
D Briefe des heiligen Hieronymus, Nr. 189 (an Dardanus).
2) Im Kommentar zum Buche des Propheten Zephanja I, i5f. (verfaßt im
Jahre 892).
16 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
2 41
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
dort, wo am strahlenden Kreuze der Herr auferstanden ist, wo von der Höhe
des Ölberges herab das Zeichen des Kreuzes erglänzt, beweint die Ruinen seines
Tempels ein unglückseliges Volk, das jedoch des Mitleids nicht wert ist (populum
miserum et tarnen non esse miserabilem). Noch sind ihre Augen voll Tränen, noch
zittern ihre Hände und ihre Haare sind zerzaust, und schon fordert ihnen die
Wache den Lohn ab für die Erlaubnis, weiter Tränen zu vergießen . . . Sie
jammern über das in Asche gelegte Heiligtum, über den der Zerstörung ver-
fallenen Altar, über die einstmals festen Städte, über die hohen Türme des Tem-
pels, von denen man einst Jakob, den Bruder des Herrn, hinunterstürzte“.
„Ein unglückseliges Volk, das jedoch des Mitleids nicht wert ist“
— dies war das grausame Losungswort des neuen Rom gegen die Ju-
den. Eine schreckenerregende Legende von einem gottesmörderischen
Volke zieht durch die Welt, ruft in den Herzen den Haß wach und
entstellt gänzlich die geschichtliche Perspektive. Wie befremdend
wirkt dieses Brandmal der „Gottlosigkeit“ auf der Stirn des gott-
tragenden Volkes, das gerade in der Vermenschlichung der Gottheit
durch das Christentum die ungeheuerlichste Gotteslästerung und die
Erniedrigung der reinen Idee des Monotheismus erblicken mußte. Wie
bezeichnend ist auch das immer wiederkehrende Beweismittel der
Kirchenväter gegen die Juden: Ihr seid unglücklich, folglich habt ihr
unrecht! Drei Jahrhunderte früher machte zum erstenmal dieses Ar-
gument die von den Römern verfolgte Kirche durch den Mund Justins
des Märtyrers geltend, indem sie auf die Verwandlung Jerusalems in
das heidnische Aelia hinwies; jetzt glaubte aber die triumphierende
Kirche, durch den Mund des Chrysostomus und Hieronymus, die
Verdammung des Judentums mittels der Tatsache beweisen zu kön-
nen, daß seinen Bekennern der Eintritt in die heilige Stadt durch die
christlichen Behörden verwehrt sei. Die Juden hätten indessen den
Kirchenvätern darauf erwidern können: Ihr selbst schafft ja erst die
Voraussetzung für euren Beweis, indem ihr die christlichen Kaiser
dazu verleitet, ganz so wie ihre heidnischen Vorgänger zu handeln.
Ebensowenig wie der Triumph eines Titus und Hadrian den Vor-
zug des* Heidentums zu beweisen vermöchte, kann auch der Triumph
eines Konstantin und Theodosius den Vorzug des Christentums be-
weisen!
Ein harter Kampf wurde zwischen den jüdischen und christlichen
Gemeinden auch in den Städten Nordafrikas ausgefochten, wo um
jene Zeit so glorreiche Kirchenväter wie der obenerwähnte Cyrill von
Alexandrien und der größte unter den Theologen, der heilige Augu-
242
§ 35. Die Zeit Theodosius II.
stin, wirkten. Jüdische Gemeinden gab es in den verschiedenen Städ-
ten Numidiens, Mauretaniens und Tripolitaniens, und auch in der
bischöflichen Residenz des Augustin, in der Stadt Hippon, fehlte eine
solche nicht. Die Führer der Kirche blickten hier voll Sorge auf die
Erfolge der judaisierenden Sekten unter den Christen, namentlich auf
die der Donatisten und der „Coelicolen“ (coelicolae = Ilimmels-
anbeter). Die Lehre dieser letzteren stellte ein Gemisch judenchrist-
licher und heidnischer Auffassungen dar1). Gegen diese Sekten er-
ging im Jahre 409 ein kaiserliches Dekret, das die Sektierer zu den
übrigen in ihren Bürgerrechten beschränkten Ketzern rechnete. Auch
Augustin disputierte nicht wenig mit diesen Judaisierenden. Um die
ihm anvertrauten Schafe vor einer „Ansteckung“ zu bewahren, ver-
faßte auch er, gleich der Mehrzahl der Kirchenväter, eine polemische
Abhandlung gegen die Juden („Tractatus adversus judaeos“). Die
Bibel in seiner Weise auslegend, fand er darin die Prophezeiung, daß
Gott „das Haus Jakobs“, d. i. die Juden, verstoßen, das „Haus Is-
raels“ aber, unter dem man die Christen zu verstehen habe, auser-
wählen werde. Der Jude hätte sich nur aus dem Grunde erhalten kön-
nen, weil Gott ihn mit dem Kainszeichen gebrandmarkt habe, „damit
ihn nicht erschlüge, wer ihn irgend träfe“; doch müsse er den christ-
lichen Völkern untertan sein. In ihrer Erniedrigung seien die Judäer
„Zeugen ihres Unrechts und unserer Wahrheit“ (testes iniquitatis
suae et veritatis nostrae)2). Der Jude sei der geborene Sklave des
*) Außer diesen in den gesetzgeberischen Urkunden genannten Sekten von
Judaisierenden erwähnen die Theologen jener Zeit auch noch andere gleichgeartete*
Sektenbildungen. Kann man sich auch schwer auf den Verfasser der Schrift „Ge-
gen die Irrlehren“, Epiphanius, verlassen, der die damals noch bestehenden Sekten
von den längst verschwundenen nicht zu. unterscheiden wußte, so darf man um
so mehr die Behauptungen des heiligen Hieronymus nicht außer acht lassen, denen
zufolge in seiner Zeit an manchen Orten noch Überreste der Judenchristen, so
die „Ebioniten“ oder „Minäer“, anzutreffen waren. Im Jahre 4o4 schrieb er näm-
lich an Augustin: „Was soll ich nun über die sich als Christen aufspielenden
Ebioniten sagen? Bis zum heutigen Tage ist in allen Synagogen des Morgen-
landes die Irrlehre der sogenannten Minäer anzutreffen, die noch von den Phari-
säern verdammt worden war; diese Ketzer, die man gewöhnlich unter dem Namen
„Nazaräer“ kennt, glauben an den Herrn Christus, der von Maria geboren, unter
Pilatus hingerichtet wurde und dann auferstanden ist . . . Indem sie aber zugleich
Juden und Christen sein wollen, sind sie weder Juden noch Christen“.
2) Diese Auffassung, die bei Augustin in den verschiedensten Formen wieder-
kehrt (vgl. Patr. lat. T. XXXVI—XXXVII, passim), sollte späterhin ein Eckstein
der mittelalterlichen kirchlichen Weltanschauung werden.
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
Christen (ecce judaeus servus est christiani). In Anlehnung an den
auf Esau und Jakob sich beziehenden Bibelvers, demzufolge der ältere
dem jüngeren dienstbar sein sollte, sagt Augustin: „Dies will heißen,
daß das erstgeborene jüdische Volk dem nachgeborenen christlichen
Volke dienen werde“, so gleichsam den jüdischen Predigern (der Hag-
gada und des Midrasch, s. § 4i) direkt entgegentretend, denen Esau-
Edom ein Sinnbild des christlichen Rom, Jakob aber das des jüdi-
schen Volkes bedeutete. Voll Selbstzufriedenheit spricht (in einem
Werke, das von manchen Augustin, von anderen Ambrosius zuge-
schrieben wird) der Christ zum Juden: „Du bist von deinem Staate
losgerissen, mir tributpflichtig, von der Macht zurückgedrängt, die
Präfektur ist dir unzugänglich, denn ein Jude ist nicht würdig, Beam-
ter (comes) zu sein, in den Senat wirst du nicht aufgenommen, zum
Militärdienst hast du keinen Zutritt“. Der gesamten antijüdischen Ge-
setzgebung jenes Zeitalters wird hiermit gleichsam der Stempel der
Kirche aufgedrückt. In seinem Werke „Vom Reiche Gottes“ (De civi-
tate dei) weist Augustin dem jüdischen Volke eine Stellung zu, wie
sie ihm später tatsächlich im mittelalterlichen Staate beschieden war:
die Stellung einer außerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsordnung
stehenden, rechtlosen Kaste. Möge nur das Judentum so lange das
Kainszeichen an seiner Stirn tragen — sagt Augustin — bis es sich ein-
mal zu Christus bekehrt. Er glaubt, daß dies zumindest noch vor dem
Eintritt des Jüngsten Gerichts geschehen werde. Dann „werden sich
die Juden zu unserem Christus bekehren, dann wird der Prophet Elias
ihnen jenes Gesetz, das sie jetzt nur fleischlich begreifen, auch gei-
stig klarmachen und das Herz der Väter wird sich dann den Kindern
zuwenden“.
§ 36. Die letzten Patriarchen in Palästina
Nachdem die byzantinische Regierung die Bürgerrechte der Juden
um des Ruhmes der Kirche willen immer mehr geschmälert hatte,
scheute sie sich nicht, auch nach ihren nationalen Rechten die Hände
auszustrecken. Das bis dahin unangetastet gebliebene Gebiet der jüdi-
schen Selbstverwaltung zog die Aufmerksamkeit der christlichen Ge-
setzgeber immer mehr auf sich. Schon mit der religiösen Autonomie
der jüdischen Gemeinden und mit ihrer syiiagogalen Hierarchie konn-
ten sie sich nur schwer abfinden; um so mehr mußte ihnen die dem
244
§ 36. Die letzten Patriarchen in Palästina
palästinensischen Patriarchen zustehende weltliche Autonomie. mit der
untergeordneten Lage des Judentums im christlichen Staate unverein-
bar erscheinen. Den Eiferern der Kirche war die hohe Stellung
des die erniedrigte Nation repräsentierenden jüdischen Patriarchen
stets ein Dorn im Auge. Aus Verfügungen des Kaisers Arcadius,
der vor der öffentlichen Ehrverletzung „der erlauchten Patriarchen“
(illustrium patriarcharum) sowie vor Eingriffen in ihre Vorrechte
warnte (396—897), ist zu ersehen, daß derartige Anschläge durchaus
keine Seltenheit mehr waren. Doch bald sieht sich die höchste Ge-
walt selbst genötigt, dem Fanatismus des Volkes Konzessionen zu ma-
chen. Schon im Jahre 398 trafen die Kaiser Arcadius und Honorius
in einem besonderen, an die Provinzialbehörden gerichteten Dekret die
Entscheidung, daß die „gemäß dem gewöhnlichen römischen Recht
lebenden“ Juden in allen „mit ihrem Aberglauben (Religion) nicht
zusammenhängenden“ Sachen die allgemeinen gerichtlichen Instanzen
anzugehen und alle ihre Streitfälle auf Grund der römischen Gesetze
zu schlichten haben: nur auf ausdrücklichen Wunsch der Prozeß-
parteien können ihre zivilrechtlichen Streitfälle (in negotio civili) vor
einem von beiden Parteien erwählten jüdischen Gericht oder vor
ihrem Patriarchen verhandelt werden, doch sollen auch die Entschei-
dungen dieser Gerichte von den römischen Behörden zur Vollstreckung
gebracht werden1). Nachdem so die autonome Gerichtsbarkeit der jü-
dischen Gemeinden und des Patriarchats von der römischen Regie-
rung gekürzt worden war, entschließt diese sich alsbald zu einem
noch viel einschneidenderen Eingriff in die Befugnisse des Patriar-
chats. In seinem in Mailand erlassenen Dekret vom Jahre 89g2)
lenkt der Gebieter der westlichen Hälfte des Reiches, Honorius, die
Aufmerksamkeit der lokalen Behörden darauf, daß die Häupter der
jüdischen Gemeinden (die „Archisynagogen“), die Ältesten (pres-
byteri) sowie die Sendboten, die von den Juden „Apostel“ genannt
und von dem Patriarchen zu bestimmten Zeiten zum Einsammeln von
Gold und Silber ausgesandt werden, bei den einzelnen Gemeinden
festgesetzte Beträge erheben und sie dem Patriarchen übermitteln.
Die Behörden werden nun angewiesen, diese Summen an den kaiser-
lichen Schatz abzuführen, „damit es den Massen der Judäer kund
a 45
1) Cod. Theod. II, 1, 10.
2) Ibid. XVI, 8, i4.
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
werde, daß wir das Recht, das Volk in dieser Weise auszuplündern,
aufgehoben haben“; sollten indessen die von dem Patriarchen, diesem
„Verheerer der Judäer“ (ab illo depopulatore judaeorum) ausgesand-
ten Sammler eintreffen, so sind sie als Übertreter des Gesetzes dem
Gericht zu übergeben. Mit aller Deutlichkeit tritt hier das Bestreben
zutage, die Machtstellung des Patriarchen und seiner Beauftragten zu
untergraben, zugleich aber auch der Wunsch, die hohen Beträge der
Patriarchensteuer zugunsten des kaiserlichen Schatzes einzuziehen, ein
Wunsch, der mit der angeblichen Sorge für die Interessen des jüdi-
schen Volkes nur unzureichend bemäntelt wird. Diese rücksichtslose
Stellungnahme der weströmischen Regierung gegen die Person des
Patriarchen und gegen sein uraltes Hoheitsrecht fand indessen in Kon-
stantinopel, wo man über die Verhältnisse in Palästina und die Wirk-
samkeit des Patriarchen viel besser unterrichtet war, wie es scheint,
keine Zustimmung. In dem Konstantinopeler Dekret vom Jahre 4o4x)
wurde denn auch ausdrücklich erklärt, daß „alle den hochehrwürdi-
gen Männern (viris spectabilibus) oder den von ihnen eingesetzten
Oberen durch unsern Vater seligen Andenkens (Theodosius I.) und
durch die ihm vorangegangenen Herrscher verliehenen Vorrechte“
nach wie vor in Kraft bleiben sollten. Gleichzeitig hatte man sich
auch in Rom eines besseren besonnen, und so erging noch in demsel-
ben Jahre ein Dekret des Honorius, durch das in Widerrufung des
Mailänder Befehls vom Jahre 399 dem Patriarchen von neuem das
Recht zuerkannt wurde, die bevollmächtigten Sammler oder „Apostel“
auszusenden* 2). Diese Schwankungen waren zweifellos eine Folge der
verschiedenartigen Einflüsse, die sich an den Höfen der beiden Kai-
ser geltend machten. Es wird wohl kein Zufall gewesen sein, daß die
Anschläge auf die Kompetenzsphäre des jüdischen Patriarchats ge-
rade in die Jahre fallen, da in Konstantinopel Johannes Chrysostomus
Patriarch war (398—4o3), derselbe, der mit so grenzenlosem Haß
1) Cod. Theod. XVI, 8, i5.
2) So ist wohl der lakonische Satz des Dekrets (Cod. Theod. XVI, 8, 17):
cunctos scire volumus, judaeis mittendi copiam (die Befugnis, Spenden zu über-
senden) a clementia nostra esse concessam, zu verstehen. In dem vorangehenden
Satz wird darauf hingewiesen, daß die früheren Beschränkungen sich auf die dem
„Patriarchen von den Judäern der hiesigen Gegenden zugegangenen“ Spenden
(quae patriarchis a judaeis istarum partium praebebantur) bezogen hatten, d. h.
auf die, die aus dem weströmischen Reiche oder genauer aus Italien, wo das
Dekret ergangen war, flössen.
246
§ 36. Die letzten Patriarchen in Palästina
von der Macht and den „zahllosen Schätzen“ der jüdischen Patriar-
chen zu sprechen pflegte und sie selbst „herumreisende Krämer“
(tous kapelous tous emporous) nannte.
Zehn Jahre waren bereits nach diesem Hin- und Herschwanken
der Regierung in der Frage der jüdischen Autonomie verstrichen, als
unter Theodosius II. dem Patriarchat ein entscheidender Schlag ver-
setzt wurde. Am 17. Oktober 4i5, zur Zeit der antijüdischen Bewe-
gung in Antiochia und Alexandrien, erließ nämlich Theodosius II. ein
an den Provinzialpräfekten Aurelianus gerichtetes Dekret folgenden
Inhalts: „Da Gamaliel (Gamalielus, der Patriarch) sich eingebildet
hat, daß er als eine ein hohes Ehrenamt bekleidende Person (quo ma-
gis est erectus fastigio dignitatum) straflos (das Gesetz) übertreten
dürfte, so wisse nun, daß wir dem Chef der Behörden einen Befehl
des Inhalts zukommen ließen, man solle ihm (Gamaliel) das die Prä-
fektenwürde verleihende Ehrendiplom wegnehmen und ihn nur in
der Würde, die er vor der Präfektur innehatte, belassen. Fortan soll
er (der Patriarch) keine neuen Synagogen bauen, die aber (deren Bau
bereits in Angriff genommen ist), die sich in einsamen Gegenden be-
finden, darf er, wenn sie ohne Empörung (seitens der Christen)x) er-
halten werden können, zu Ende bauen lassen. Es steht ihm (dem Pa-
triarchen) kein Recht zu, über Christen zu Gericht zu sitzen, so daß
alle Streitfälle zwischen diesen und den Juden vor den Bezirksvor-
stehern (rectores provinciae) verhandelt werden müssen. Sollte er (der
Patriarch) es wagen, einen Christen oder einen Anhänger irgendeiner
anderen Sekte, mag es ein Freier oder ein Sklave sein, mit dem ju-
däischen Zeichen (der Beschneidung) zu besudeln, so wird er gleich
jedem anderen (der an der Sache beteiligten) Judäer der ganzen
Strenge des Gesetzes verfallen. Ist er noch im Besitze eines sich zum
heiligen christlichen Glauben bekennenden Sklaven, so soll er ihn,
laut dem Gesetze des Constantius, für die Kirche freigeben“.
Auf Grund dieser Urkunde, die für das Los des Patriarchats von
entscheidender Bedeutung werden sollte, ist wohl anzunehmen, daß
dem Patriarchen Gamaliel die Präfektur und die mit ihr verbundenen
Vorrechte deshalb entzogen wurden, weil er sich um die beengenden,
die Erbauung von Synagogen, die Schlichtung von Streitfällen zwi-
*) Die hier versuchte Deutung des unklaren Textes des Dekrets (Cod. Th. XVI,
8, 22), das auch in abweichender Weise auf gefaßt werden kann, wird im An-
hang, Note 4, näher begründet.
2/t7
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
sehen Juden und Christen, die Bekehrung von Sklaven zum Juden-
tum u. dgl. betreffenden Vorschriften zu wenig kümmerte. In seinem.
Kampfe gegen die Einschränkung der Bürgerrechte der Juden und
gegen die Schmälerung ihrer Autonomie erlitt jedoch Gamaliel eine
Niederlage, und so mußte er denn diese mit dem Verluste vieler seiner
Verwaltungsfunktionen büßen. Es besteht hier zweifellos ein Zusam-
menhang mit jenen Volkstumulten gegen die Juden, die in diesen Jah-
ren in zwei großen Zentren der jüdischen Diaspora, in Antiochia und
Alexandrien, ausgebrochen waren. Unter dem Drucke der Kirchen-
politiker entschloß man sich nun, das Judentum mitten ins Herz, in
den Bereich seiner nationalen Autonomie, zu treffen. Es scheint, daß
schon damals in Konstantinopel der Entschluß gefaßt wurde, den jü-
dischen Patriarchen, dieses lebendige Sinnbild des autonomen jüdi-
schen Palästina und seiner Verbindung mit der Diaspora, zu stürzen,
doch wurde dies nicht mit einem Schlage vollbracht. Zunächst
schränkte Theodosius II. die Rechte des Patriarchen nur ein, vierzehn
Jahre später, als Gamaliel gestorben war, entschloß er sich jedoch,
auch die Institution des jüdischen Patriarchats selbst aufzulösen. Im
Jahre 429 wurde in Konstantinopel ein kaiserliches Dekret erlassen,
das von der Aufhebung des Patriarchats in unzweideutiger Weise
Zeugnis ablegt Es wird darin „den von den Synhedrien der beiden
Teile Palästinas1) ernannten Ältesten (primates) oder denen in den
anderen Provinzen“ vorgeschrieben, alle bei ihnen „nach dem Tode
der Patriarchen“ (post excessum patriarcharum), d. i. nach dem Er-
löschen der Patriarchendynastie, eingelaufenen Spenden an den Staats-
fiskus abzuführen. Zugleich werden die jüdischen „Primaten“ ver-
pflichtet, über die aus allen Synagogen einfließenden Gelder alljähr-
lich Bericht zu erstatten, wie sie es ehedem bei der Eintreibung der
„Kronabgaben“ (coronarii auri) zugunsten des Patriarchen zu tun
pflegten. Auch die Abgaben, die in den westlichen Provinzen des Rei-
ches früher für den Patriarchen gesammelt wurden, mußten künftig-
hin gleichfalls an den kaiserlichen Schatz abgeführt werden. * VII,
!) In utriusque Palaestinae synedriis (Cod. Theod. XVI, 8, 29). Palästina
war um jene Zeit in drei Verwaltungs gebiete eingeteilt: Palaestina prima (Judäa),
P. secunda (Galiläa) und P. tertia (die arabischen Grenzgebiete). Vgl. Cod. Theod.
VII, 4, 3o und auch sonst. Aus dem Texte des Dekrets ist zu ersehen, daß da-
mals jüdische Synhedrien in beiden Palästinas, d. i. in Judäa und Galiläa, be-
standen. Vermutlich sind darunter die akademischen Kollegien in Lydda und Ti-
berias gemeint.
248
§ 36. Die letzten Patriarchen in Palästina
Auf diese Weise hatte die byzantinische Regierung, nach der bibli-
schen Redewendung, „ermordet und das Erbe angetreten“: nicht ge-
nug damit, daß sie die autonome Institution des Judentums aufhob,
eignete sie sich auch noch deren Einkünfte an. Nach drei Jahrhun-
derte langem Bestehen (wenn man die Zeit Gamaliels von Jabne, des
ersten Patriarchen nach dem Falle Judäas, zum Ausgangspunkt
nimmt) bricht jene Dynastie der halb geistlichen, halb weltlichen
Würdenträger ab, die bisher die jüdische Selbstverwaltung vor der
römischen Regierung offiziell repräsentiert hatte. Über die letzten
Vertreter dieser Dynastie besitzen wir nur äußerst dürftige Nach-
richten. Nach Hillel II., dem Freund des Julian Apostata, hatten nur
noch drei seiner Nachfolger das Patriarchenamt inne: Gamaliel V.
(um 365—385), Juda IV. (385—4oo) und Gamaliel VI. oder der
Letzte (Gamaliel Batraa, um 4oo—42 5). Unter Gamaliel V. kam es
anscheinend zum ersten Zusammenstoß zwischen dem Patriarchen und
der römischen Obrigkeit in Judäa. So wird in den Briefen des heili-
gen Hieronymus berichtet, daß der Statthalter in Judäa, der Konsu-
larius Hesychius, sich mit Hilfe seines Sekretärs verschiedener, dem
Patriarchen Gamaliel gehörender Urkunden bemächtigt hätte; Gama-
liel beschwerte sich darüber beim Kaiser Theodosius I. und Hesychius
mußte für seine Eigenmächtigkeit mit dem Leben büßen. Es wird
vermutet, daß diese Urkunden (chartae) Rundschreiben des Patriar-
chen waren, durch die die Gemeinden Palästinas und der Diaspora
über die Feiertagstermine sowie über spezielle Geldsammlungen und
ähnliche Angelegenheiten, für die das Patriarchat zuständig war, in
Kenntnis gesetzt wurden. Da der Patriarch seine Residenz in der galiläi-
schen Stadt Tiberias, im „zweiten Palästina“ hatte, so glaubte sich der
Statthalter in Judäa oder im „ersten Palästina“ berechtigt, die an die
ihm unterstehenden jüdischen Gemeinden gerichteten Schreiben den
Sendboten des Patriarchen wegnehmen zu dürfen1). Die Tatsache,
daß ein römischer Beamter für die Verletzung der Vorrechte des jü-
dischen Patriarchen bestraft worden ist, weist darauf hin, daß Theo-
dosius I. dessen Privilegien noch als unantastbar ansah. Die Verhält-
nisse änderten sich aber schon unter seinen Nachfolgern, wie dies aus
1) Hypothese von Krauß in seinem Artikel über die Verwaltungsordnung im
Palästina jener Zeit (s. Bibliographie zu diesem Paragraphen).
249
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
den erwähnten Dekreten des Arcadius, Honorius und Theodosius II.
ersichtlich ist, und Gamaliel der Letzte zog sich bereits wegen der
Verteidigung seiner Rechte, die von der byzantinischen Regierung im-
mer mehr geschmälert wurden, sogar große Unannehmlichkeiten zu1).
Der dem repräsentativen Organ der jüdischen Autonomie versetzte
Schlag war nur eine Rückwirkung des Kampfes, den die gleichfalls
den Patriarchentitel beanspruchenden christlichen Bischöfe Palästi-
nas gegen das jüdische Patriarchat geführt hatten. Die Väter der
triumphierenden Kirche in Jerusalem wollten den Patriarchen der
„verworfenen“ Synagoge in Tiberias nicht neben sich dulden —und so
mußte der Besiegte vor dem Sieger zurückweichen. Durch die immer
weiter fortschreitende Einschränkung der jüdischen Selbstverwaltung
geschwächt, ging das entkräftete Patriarchat schließlich ganz zugrunde.
Die autonome Institution, die unter der Gewalt des heidnischen Rom
über zwei Jahrhunderte lang ihre Wirksamkeit entfalten konnte,
mußte in der todbringenden Atmosphäre des „neuen Rom“, das sich
mit den Äußerungen selbständigen Lebens innerhalb des ihm verhaß-
ten Judentums nicht abfinden konnte, rasch verdorren. *4uf den
Trümmern des jüdischen Patriarchats in Palästina wurde nun das
christliche Patriarchat begründet. Dem Beschluß des Konzils von
Chalcedon (451) zufolge erhielt der Bischof von Jerusalem den Ti-
tel eines Patriarchen und wurde einer jener fünf Patriarchen des
römisch-byzantinischen Reiches (in Rom, Konstantinopel, Antiochia,
Alexandrien, Jerusalem), die man später mit den „fünf Sinnen“ des
kirchlichen Organismus zu vergleichen pflegte. Sich auf den mächti-
gen Beistand der Staatsgewalt stützend, stieg das christliche Palästina
auf Kosten des jüdischen immer höher empor. Das Autonomiezentrum
der durch die Geschichte legitimierten Landesherren hat sich aller-
dings auch nach der Aufhebung des jüdischen Patriarchats noch er1
halten können, doch hatte das Zentrum in Galiläa seine ehemalige un-
eingeschränkte nationale Hegemonie bereits eingebüßt und seine An-
ziehungskraft für die Diaspora war in ständigem Schwinden begrif-
*) Über die Persönlichkeit des Gamaliel VI. ist uns nur bekannt, daß er sich
auch mit der Medizin beschäftigte, was von seinem Zeitgenossen, dem römischen
Schriftsteller Marcellus (De medicamentis XXIII, 77), bezeugt wird, der von
einem durch den Patriarchen Gamaliel erprobten Mittel gegen die Melancholie
berichtet. Gamaliel VI. scheint kurz vor dem im Jahre 429 ergangenen Dekret
ohne Erben verstorben zu sein, wie dies namentlich aus den Worten: post excessum
patriarcharum folgt.
2 5o
§ 37. Die Diaspora im christlichen Morgenlande
fen. Von nun ab mußte das jüdische Palästina seine Hegemonie mit
Babylonien teilen, um diesem sodann endgültig den Vorrang einzu-
räumen.
§ 37. Die Diaspora im christlichen Morgenlande
Wir besitzen ein aus dem Anfang des V. Jahrhunderts vom heili-
gen Hieronymus stammendes Zeugnis, demzufolge die jüdischen Sied-
lungen sich damals in ununterbrochener Kette „von Mauretanien über
Afrika und Ägypten, Palästina und Phönizien, Coelesyrien und
Osroena1), Mesopotamien und Persien bis nach Indien“ hinzogen. Auf
diese Zerstreuung der Nation als auf ein Wahrzeichen des göttlichen
Zornes spielte eben der Kirchenführer an, als er das Judentum mit
dem oben (§ 35) angeführten Ausruf verhöhnte. Der heilige Hi-
eronymus hätte noch hinzufügen können, daß die Christen im ganzen
Bereiche des römisch-byzantinischen Reiches ihrerseits nichts unter-
ließen, um dem himmlischen Urteil über das in Ungnade gefallene
Volk die peinlichst genaue Vollstreckung folgen zu lassen. Der Ansturm
des triumphierenden Christentums und die Abwehr des Judentums
— dies ist der Hauptinhalt der Geschichte der byzantinisch-jüdischen
Diaspora vom IV. bis zum VII. Jahrhundert. Diese Abwehr absorbiert
die gesamte Energie des zerstreuten Volkes. Es galt, gegen eine mäch-
tige geschichtliche Strömung anzukämpfen, sich gleichzeitig gegen das
siegreiche Kreuz des Priesters, gegen das Joch des Staatsgesetzes und
gegen die Bedrohung der rasenden Menge zu behaupten. Der Kampf
um die geistige Selbsterhaltung verzehrte jene Kräfte, die unter nor-
malen Bedingungen der weiteren Entwicklung der Nation, der Entfal-
tung ihres Schaffens hätten zugute kommen können. Dies erklärt zur
Genüge die Stagnation im Leben vieler jüdischer Kolonien und ihre
völlige Abhängigkeit von den geistigen Metropolen Palästina und Ba-
bylonien, dieser zwei unverwüstlichen Sammelbecken der nationalen
Energie.
Den ersten Ansturm der neuen Staatsreligion hatte das altjüdische,
in der Mitte zwischen den beiden jüdischen Hauptzentren gelegene
Antiochia zu bestehen. Die Bischöfe von Antiochia waren stets die
vorwärtsdrängenden Bannerträger der streitbaren Kirche. Eifriger als
1) „Osroena“ hieß der Bezirk von Edessa in Syrien, an der Grenze des
römischen und persischen Landbesitzes, wo sich eine autonome christliche Kolonie
gebildet hatte.
201
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
alle anderen standen sie auf dem Boden des Grundprinzips des Kon-
zils von Nicäa, daß die Kirche von der Synagoge möglichst fern gehal-
ten werden solle. „Maxime Pascha cum judaeis non tenere“ („Vor al-
lem darauf achten, daß Passah nicht zusammen mit den Juden gefeiert
werde“) — dies war das Losungswort des antiochenischen Konzils vom
Jahre 341, welches das Gebot von Nicäa vom Jahre 32 5 neu bestä-
tigte. Zwanzig Jahre später wurde dann Syrien durch das Gerücht von
dem Versuch des Julian Apostata, Jerusalem und den jüdischen Tem-
pel wiederherzustellen, in tiefste Erregung versetzt. Während sich die
syrischen Juden dem Jubel über den Eintritt des messianischen Zeit-
alters hingaben, waren die Christen voller Sorge über die Pläne des
kaiserlichen Antichristen, die auf die Zerstörung der heiligen Legende
von Christus als Messias hinausliefen. Der „Triumph der Juden“
wurde schließlich vereitelt, und so bot sich denn dem Bischof von An-
tiochia, Johannes Chrysostomus, Gelegenheit, die ihm verhaßten Ri-
valen von der Kanzel herab verächtlich zu machen. Mehr als alles
andere fürchtete dieser kirchliche Rhetoriker, wie wir bereits gesehen
haben (§ 34), den Einfluß der antiochenischen Synagoge auf die
Christen, die sich zu ihr wie durch „dämonische“ Kraft hingezogen
fühlten. Aus den Strafreden des Chrysostomus ist zu ersehen, daß die
jüdische Gemeinde von Antiochia in der zweiten Hälfte des IV. Jahr-
hunderts noch stark, wohlhabend und wohlorganisiert war. Die in
ihrem Kultus noch nicht völlig unbeirrbaren Christen konnten nicht
umhin, die jüdischen religiösen Bräuche nachzuahmen, und sogar der
Bischof selbst, der gegen diese Nachahmung so heftig protestierte, sah
sich genötigt, an einer sonderbaren, mit einer jüdischen geschicht-
lichen Legende zusammenhängenden Zeremonie teilzunehmen. Die
Christen von Antiochia hielten nämlich das Andenken jener sagen-
haften sieben jüdischen Brüder und ihrer Mutter in Ehren, die nach
der Überlieferung am Vorabend des Makkabäeraufstandes wegen der
Zurückweisung des hellenischen Götzendienstes von Antiochus Epi-
phanes einem martervollen Tode preisgegeben worden wären. Die
glaubenseifrigen Antiochener waren überzeugt, daß dieses „Ereignis“
sich gerade in Antiochia abgespielt hätte. Über dem angeblichen Grabe
der Märtyrer erhob sich dort eine christliche Kapelle, in der alljähr-
lich am i. August ihr Andenken verherrlicht zu werden pflegte. Jo-
hannes Chrysostomus beteiligte sich nun selbst an dem Gottesdienst
und hielt dabei auch die Predigt. Das Absonderliche lag darin, daß der
2Ö2
§ 37. Die Diaspora im christlichen Morgenlande
christliche Bischof die Heldentaten von Märtyrern pries, die für eben
jene Idee ihr Leben hingegeben hatten, gegen die er in seinen Pre-
digten mit solchem Ungestüm ankämpfte. Nicht umsonst hatte also
die christliche Priesterschaft solche Furcht vor der „dämonischen“
Macht des Judentums, dessen Bekenner ihr nicht selten Magier und
Zauberer zu sein schienen1). Die magische Kraft der Mutterreligion
hat die Neophyten der Kirche zugleich angezogen und abgeschreckt
Unter den byzantinischen Kaisern wurde Antiochia, das die Resi-
denz des ältesten Patriarchen der Kirche geworden war, mehr als
einmal der Schauplatz von Zusammenstößen zwischen Christen und
Juden (§§ 34, 35). Mit dem Erstarken des christlichen Elements
wurden die Ausschreitungen gegen die jüdische Gemeinde, die so
nach und nach ihrem Verfall entgegenging, immer häufiger. Zugleich
litt die Gemeinde oft auch unter den Unbilden der Kriegszeit, da die
Stadt, an der Grenze Persiens gelegen, während der endlosen römisch-
persischen Kriege nicht selten von Überfällen heimgesucht wurde.
Später, in der Regierungszeit des Justinian, wurde Antiochia von den
persischen Truppen des Chosroi-Anoscharvan fast gänzlich verheert
(54o); der Sieger siedelte viele Antiochener, darunter auch Juden, in
seiner Hauptstadt Ktesiphon an, wo er für sie in der Nähe des von
Juden bewohnten babylonischen Machusa einen besonderen Vorort
unter dem Namen „Antiochia des Chosroi“ oder Neu-Antiochia grün-
dete (s. unten, § 42). Die bedeutendste jüdische Gemeinde Syriens
verschmolz somit zum Teil mit dem nationalen Zentrum in Babylo-
nien schon ein Jahrhundert vor der durch den arabischen Eroberungs-
feldzug erfolgten Vereinigung der beiden Länder in der Monarchie
des muselmanischen Kalifats.
Viel ernstere Einbuße erlitt die Metropole der ägyptischen Dia-
spora, Alexandrien. Es ist verbürgt, daß auch noch um diese Zeit die
dortigen wohlhabenden Juden einen weit ausgedehnten Handel betrie-
ben, indem sie auf dem Meerwege Getreide nach Rom und Kon-
1) „Wer gemeinsam mit den Magiern Mahlzeit hält, — sagt der damalige sy-
rische Bischof (Ephraem Syrus aus Edessa oder, wie andere meinen, Isaak von An-
tiochia) — darf den Leib unseres Herrn nicht genießen. Wer mit den Zauberern
trinkt, ist nicht würdig, das Blut unseres Heilands zu trinken. Der mit den Juden
Speisende wird des künftigen Lebens nicht teilhaftig werden. Alle diese drei Men-
schenarten werden eine Beute der Flammen werden, und der sich zu ihnen Ge-
sellende wird die Hölle erben, wohin er zusammen mit den Juden, den Zauberern
und ihrem Meister, dem Satan, geraten wird“.
253
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
stantinopel exportierten und auch mit anderen europäischen Häfen
rege Handelsbeziehungen unterhielten. An diesen Unternehmungen
waren die Juden von Alexandrien, Cyrene und anderen Handelszen-
tren der nordafrikanischen Küste sowohl als Schiffsherren wie auch
als Schiffsknechte beteiligt. In Alexandrien bestand eine Genossen-
schaft jüdischer Reeder, der „Navicularier“ (navicularii), die ebenso
wie die Christen gleicher Berufsart mit einer besonderen Naturalsteuer
belastet waren: es lag ihnen nämlich ob, Staatsgelder und -waren un-
entgeltlich zu befördern. Da jedoch die Schiffseigentümer der schwer
lastenden Verpflichtung, die sie in ihren Handelsunternehmungen be-
hinderte, manchmal aus dem Wege zu gehen suchten, machte der
Präfekt von Ägypten für deren Einhaltung die gesamte jüdische Ge-
meinde von Alexandrien verantwortlich. Die gesetzwidrige Maßregel
wurde indessen durch ein Dekret Theodosius I. (390), das die sub-
sidiäre Bürgschaft in diesem Falle für unangebracht hielt, wieder
aufgehoben1). — In den Briefen des Bischofs von Cyrene, Synesius,
hat sich eine lebenswahre Schilderung der Sitten jüdischer Seefahrer
jener Zeit (4o4) erhalten. Synesius machte nämlich eine Reise aus
Alexandrien nach Cyrene auf einem Schiffe, das der jüdische Na-
vicularius Amarantus sein eigen nannte. Der Steuermann* 2) war ein
Jude, und auch von den zwölf Matrosen gehörte die Mehrzahl der
gleichen Nationalität an. Infolge der schlechten Geschäfte des Schiffs-
eigentümers war das Fahrzeug in äußerste Verwahrlosung geraten,
so daß, statt der üblichen drei, nur ein Anker zur Verfügung stand.
Das Schiff führte mehr als fünfzig Reisende, Männer und Frauen,
mit sich, deren Kabinen durch Segeltuch Vorhänge voneinander ge-
trennt waren. Eines Tages, an einem Freitag, setzte schwerer Seegang
ein, das Schiff wurde zum Spielball der Wellen und die Reisenden
schwebten in größter Gefahr. In diesem gefahrvollen Augenblick ließ
der Steuermann plötzlich das Steuer los und das Schiff trieb führer-
los umher: es brach nämlich der Sabbatabend an, und die Juden
mußten, ihrem Gesetze gemäß, jede Arbeit ruhen lassen. Alles Flehen
der zu Tode erschrockenen Reisenden, der Steuermann möge doch
das Steuer wieder ergreifen und das Schiff lenken, blieb erfolglos:
!) Cod. Th. XIII, 5, 18.
2) Für das im griechischen Texte des Briefes stehende Wort „Kybernetes“
hat der Talmud die Bezeichnung „Kabarnet“, „Kebernet“. Diese Entlehnung des
technischen Fachausdrucks ist ein Beweis mehr für die weite Verbreitung des
Schifferhandwerks unter den Juden jener Zeit.
254
§ 37. Die Diaspora im christlichen Morgenlande
er las seinen Leuten laut aus der Bibel (to biblion) vor, ohne sich an
das Geschrei und die Drohrufe zu kehren, „wie ein echter Makkabäer
und ein standhafter Bekenner des Dogmas“. Erst um Mitternacht, als
die Gefahr für das Schiff ganz offenbar wurde und die Reisenden
dem Tode ins Antlitz sahen, kehrte der Steuermann aus freien Stücken
an seinen Platz am Steuer zurück. Jetzt *— sagte er — gestattet das
Gesetz, an die Arbeit zu gehen, da unser Leben unmittelbar bedroht
ist1). In dieser lebenstreuen Erzählung kommt die wichtige Rolle, die
die Juden im wirtschaftlichen Leben des Landes spielten, deutlich'
zum Vorschein.
Der Wohlstand der jüdischen Gemeinde von Alexandrien wurde
jedoch durch die Hetze im Jahre 4i5, die unter Mitwirkung des
gottesfürchtigen Erzbischofs Cyrill angezettelt worden war (oben,
§ 35), stark erschüttert. Die Vertreibung bedeutete für viele den völ-
ligen Ruin; und obwohl die Mehrzahl der Vertriebenen später zweifel-
los in die Heimatstadt zurückgekehrt ist, war es nicht mehr möglich,
die ehemalige Organisation der jüdischen Gemeinde wieder aufzu-
richten. Seit dieser Zeit wissen die Chroniken sogar von Zusammen-
stößen zwischen Juden und Christen in Alexandrien nichts mehr zu
berichten: der beste Beweis, daß die jüdische Gemeinde ihren Ein-
fluß, der früher die Mißgunst der Nachbarn zu wecken pflegte, völlig
eingebüßt hatte.
Um so häufiger wurden solche Zusammenstöße in den anderen
Provinzen des römischen Afrika, wohin beträchtliche Teile der ägyp-
tischen Gemeinden schon vor langer Zeit überzusiedeln begannen
(§ 2 5). Im IV. Jahrhundert kam es in den Städten Mauretaniens,
Cyrenaikas, Tripolitaniens und Numidiens immer wieder zu Konflik-
ten zwischen den jüdischen und christlichen Gemeinden, wobei sich
die Juden manchmal für die von den Christen verfolgten Heiden ein-
setzten. So geschah es z. B. einmal, daß in dem mauretanischen Cae-
sarea irgendeine fanatisierte Christin, namens Markiane, auf einem
öffentlichen Platze die Bildsäule der Diana umstürzte; die heidnischen
Behörden nahmen sie fest und sperrten sie in ein Gefängnis, in des-
sen Nähe sich das Amphitheater und das Haus des Gemeindevorste-
hers, des Archisynagogen Budarius, befand. Als ein Haufen von Ju-
den die Eingesperrte an dem Kerkerfenster erblickte, überhäuften sie
1) Eine auffällig richtige Wiedergabe der talmudischen Vorschrift: pikuacb
nefesch docha schabbath (Trakt. Sabbat, 182 a und sonst).
2 55
Palästina im ersten Jahrhundert des christlichen Rom
sie mit Vorwürfen; da wurde Markiane von prophetischer Wut er-
griffen und rief fluchend aus, das Haus des Archisynagogen möge in
Flammen aufgehen. Am Tage des Gerichts über Markiane sollen nun
Budarius und andere Juden die Heiden gegen die Angeklagte auf ge-
stachelt haben. Hierfür wurden die Juden — wie der christliche Ver-
fasser der Lebensgeschichte dieser Märtyrerin berichtet — verdienter-
maßen bestraft: „Im Augenblick, da die Seele der gottesfürchtigen
Jungfrau von ihrem Körper schied, wurde das Haus des Gottlästerers
Budarius mitsamt allen seinen Bewohnern von himmlischem Feuer
verzehrt“. Gewöhnlich brauchten jedoch die Christen das „himm-
lische“ Gericht über die Juden nicht erst abzuwarten: sie machten mit
den „Feinden der Kirche“ kurzen Prozeß, indem sie gegen die Juden
und ihre Synagogen selbst Gewalt anwendeten. Gegen Ende des IV.
und zu Beginn des V. Jahrhunderts, zu der Zeit, da in Afrika der
heilige Augustin seine Wirksamkeit entfaltete (§ 35), vermochten
sich die jüdischen Gemeinden gegen den Ansturm des kirchlichen Fa-
natismus noch zu behaupten, da sie nicht selten bei ihren heidnischen
Nachbarn sowie bei den judaisierenden Sektierern, die man unter
Theodosius II. gleichfalls nicht schonte, Beistand fanden. Später je-
doch, als die christlichen Gemeinden erstarkten, hatten die jüdischen
Gemeinden neben jenen einen immer schwerer werdenden Stand. So
wurden unter Justinian, wie wir später sehen werden (§ 38), die Ju-
den in der in Gyrenaika gelegenen Stadt Boreion gewaltsam getauft.
Nachdem Justinian die Vandalen aus Afrika vertrieben hatte, gab er
nämlich selbst dem Statthalter dieser Provinz einen der Vandalen wür-
digen Rat: die jüdischen Synagogen und die Andachtsstätten der Ket-
zer, der Arianer und der Donatisten in Kirchen des rechten Glaubens
zu verwandeln. Die Juden retteten sich vor dieser Not durch Flucht
in die benachbarten Gebiete der Berbern. Hier harrten sie so lange
aus, bis ihre Erlöser, die Araber, erschienen, die die Byzantiner aus
Nordafrika endgültig verdrängten.
256
Zweites Kapitel
Palästina und die Diaspora in den letzten
Jahrhunderten der byzantinischen
Herrschaft
(429—638)
§ 38. Die Zusammenstöße zwischen Christen und Juden und die
Gesetze des Justinian
Im V. Jahrhundert brach über das römische Reich die letzte Krise
herein. Die Fluten der großen Völkerwanderung stürmten gleichzeitig
gegen beide Hälften des Reiches an. Während die westliche Hälfte in-
folge der wiederholt von den „Barbaren“ — den Westgoten (4io),
den Vandalen (455) und den Herulern (476) — unternommenen An-
griffe auf Rom endgültig auseinanderbrach, ging Byzanz vorerst nur
seiner afrikanischen Kolonien verlustig (das Vandalenreich in Ber-
berien von 439 bis 534). In diesem geschichtlichen Chaos verlieren
sich auch die Spuren der jüdischen Geschichte. Die zweite Hälfte des
V. und das erste Viertel des VI. Jahrhunderts stellen in der Ge-
schichte Palästinas und der angrenzenden Länder einen in Dunkel ge-
hüllten Zwischenraum dar. Sogar die vielgepriesene byzantinische Ge-
setzgebung gibt uns für diese Zeit keinen Fingerzeig hinsichtlich des
von der Staatsmaschinerie auf die Juden ausgeübten Druckes. Aus
der Zeitspanne zwischen der Veröffentlichung des „Kodex des Theo-
dosius“ (438) und der des „Kodex des Justinian“ (529 und 534) ist
uns kein einziges neues, auf die Juden bezügliches Gesetz erhaltenge-
blieben. Nur die byzantinischen „Chronographen“ jener Zeit berich-
ten unter anderem über einige der damaligen auch die Juden betref-
fenden Begebenheiten, namentlich über Zusammenstöße mit den
Christen.
17 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
267
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
Diese Zusammenstöße hatten nicht nur religiöse, sondern auch
wirtschaftliche Ursachen. Wir haben bereits gesehen (§ 37), daß die
Juden, ungeachtet der Rechtsbeschränkungen, sich auch im christ-
lichen Staate in ihren wirtschaftlichen Positionen zu behaupten ver-
mochten. Sc standen sie in so bedeutenden Zentren wie der syrischen
Hauptstadt Antiochia und dem ägyptischen Alexandrien mit den Grie-
chen auf allen Gebieten des Handels und der Industrie in erfolgrei-
chem Wettbewerb. Auch in der Hauptstadt von Byzanz, Konstanti-
nopel, gelangten sie zu einflußreicher Stellung. Ein gewisser Teil der
jüdischen Gesellschaft mochte vielleicht sogar in den politischen
Kampf, den damals die zwei griechischen Zirkusparteien, die „Grü-
nen“ und die „Blauen“, ausfochten, mitverwickelt gewesen sein. Die
Anhänger der beiden Parteien wetteiferten nämlich miteinander bei den
in den Hippodromen veranstalteten Spielen und stifteten überdies poli-
tische Kundgebungen oder gar einfache Straßenbalgereien an, bei denen
manchmal auch Juden verletzt wurden. Unter Kaiser Zeno (474—491)
hatte dieses Ungestüm der Zirkusparteien in Antiochia blutige Ereig-
nisse zur Folge. Die Partei der „Grünen“ verbrannte hier die Syna-
goge, machte viele Juden nieder und warf ihre Leichen in die Flam-
men. Als man dem Despoten Zeno darüber Bericht erstattete, tat er
den Ausspruch: „Die Grünen haben sich allein dadurch strafbar ge-
macht, daß sie nur tote und nicht lebendige Juden den Flammen
Preisgaben“ (486). Unter dem Nachfolger des Zeno, dem Kaiser
Anastasius, kam es in Antiochia, nachdem ein Anhänger der Partei
der „Grünen“, der Zirkusreiter Kalliopa aus Konstantinopel, dort ein-
getroffen war, wieder zu einer Judenhetze. Die „Grünen“, die an-
scheinend mit den Juden, den Anhängern der Gegenpartei, in Kon-
flikt geraten waren, begaben sich zu den olympischen Spielen in den
Vorort Daphne, wo sie die Synagoge demolierten und die dort Beten-
den ausplünderten und niedermachten. An der Stelle der zerstörten
Synagoge wurde eine Kapelle zu Ehren des heiligen Leontius er-
baut (507).
Unter Kaiser Zeno nahmen die christlichen Behörden unter ande-
rem den Kampf mit einem schon längst abgelösten Zweige des Ju-
dentums auf, mit den Samaritanern. Dieses winzige Völkchen, das
seinen Tempel auf dem Berge Gerisim bei Sichern hatte, begann sich
258
§ 38. Die Zeit Justinians
nämlich nach lange währender Lethargie plötzlich zu regen1). Als die
Christen im IV. Jahrhundert die palästinensischen Juden hart zu be-
drängen begannen, erhoben die Samaritaner von neuem ihr Haupt.
Ihr Führer namens Baba-Rabba legte den Grundstein zu einer neuen
Organisation ihrer Gemeinden in Sichem-Neapolis und in anderen
Städten Palästinas. Am Fuße des Berges Gerisim wurde ein neuer
Tempel errichtet, mitten unter den heiligen Grabmälern, in denen der
Überlieferung zufolge die Gebeine des biblischen Patriarchen Joseph,
des angeblichen Ahnherrn der Samaritaner, sowie mancher Hoheprie-
ster aus uralter Zeit ruhten. Der christliche Klerus versuchte nun
wiederholt, sich dieser heiligen Stätten zu bemächtigen, und unter:
Zeno schickte man sich sogar an, den Samaritanern ihren Tempel zu
rauben, um auf dem Gerisim das Zeichen des Kreuzes aufzupflanzen.
Die samaritanische Chronik weiß zu berichten, daß die Kircheneiferer
die Samaritaner gewaltsam zum Christentum bekehrten. Ob aller die-
ser Untaten riß endlich den Samaritanern die Geduld. Im Jahre 484
(nach anderen Nachrichten im Jahre 490) kam es in Sichern zu
einem Aufstand. Am christlichen Pfingstfest drangen die Samaritaner
in eine Kirche ein, richteten den am Altar stehenden Bischof Tere-
bintius übel zu und schändeten die heiligen Sakramente. Auch in der
Residenz des byzantinischen Statthalters, Caesarea, legten die Auf-
ständischen unter der Anführung eines gewissen Justus die Kirche in
Asche und brachten viele Christen ums Leben. Der Aufstand wurde
jedoch von dem kaiserlichen Statthalter niedergeworfen, Justus ver-
fiel der Todesstrafe, während man die Samaritaner aus dem Gebiet
um den Berg Gerisim kurzerhand vertrieb. Auf seinem Gipfel wurde
zu Ehren der Gottesmutter eine große Kirche errichtet. Um die Kirche
herum erbaute man eine Festung, in der eine starke Garnison unter-
gebracht wurde, die den aufrührerischen Stamm in Sichern stets in
Schach halten sollte. Später, unter dem Kaiser Anastasius, machten die
Samaritaner freilich den Versuch, die Kirche der heiligen Maria mit-
samt ihrer auf dem Gerisim erbauten Festung zu erstürmen, doch hol-
ten sie sich dabei nur blutige Köpfe.
1) In dem obenerwähnten, die „Navicularier“ betreffenden Gesetze Theodo-
sius I. vom Jahre 390 werden diesen Beruf ausübende alexandrinische „Judäer
und Samaritaner“ erwähnt. Die Samaritaner scheinen sich also damals auch au-
ßerhalb Palästinas im wirtschaftlichen Leben bemerkbar gemacht zu haben. Auch in
anderen Gesetzen jener Zeit werden „Judäer und Samaritaner“ in einem Atem
genannt.
17*
259
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
Die Verfolgungen der Juden und Samaritaner wurden gleichsam
zu einem politischen System unter Justinian (52 7—565). Dieser
größte aller Despoten von Byzanz, dem es gelungen war, einen be-
deutenden Teil Italiens seinem Besitzstände einzuverleiben und auch
Nordafrika zurückzuerobern, nahm sich nämlich vor, alle „falschen“
Religionen und Irrlehren in seinem Reiche endgültig auszurotten. So
wurden denn heidnische Hellenen und von dem orthodoxen Dogma
abgefallene christliche Sektierer, Juden und Samaritaner in gleicher
Weise erbarmungslos verfolgt. Mit der größten Erbitterung fiel die
Staatsgewalt um jene Zeit namentlich über die Letzterwähnten her. In
ihrer halb judaistischen Glaubensform witterte man eine besonders
gefährliche Anlockung für die zahlreichen Schismatiker der Kirche,
um so mehr als sich gerade damals auch noch eine neue Irrlehre von
einer christlich-samaritanischen Mischform zu verbreiten begann.
Dies war wohl mit ein Grund, warum die Gesetze der Jahre 52 7—532,
durch die die Bürgerrechte der „schädlichsten“ Ketzer, der Mani-
chäer, Montanisten und anderer, in drückendster Weise geschmälert
wurden, es besonders auf die Samaritaner abgesehen hatten. Es wurde
ihnen das Recht entzogen, über ihren Besitz nach freiem Ermessen
letztwillig zu verfügen und sogar in den unter ihnen selbst entstehen-
den Rechtsstreitigkeiten vor Gericht Zeugnis abzulegen. In dieser Be-
ziehung waren also die Samaritaner noch schlechter gestellt als die
Juden, die nur gegen Christen nicht als Zeugen auftreten durften,
denen aber sonst guter Glaube durchaus zugebilligt zu werden pflegte.
Die Verfolgungen der Samaritaner riefen abermals eine offene
Empörung unter ihnen hervor. Schon in den ersten Regierungsjahren
des Justinian nahm die Gärung immer mehr zu, um sich dann im
Jahre 529 in einer bewaffneten Erhebung Luft zu machen. Der Auf-
stand brach zuerst in Sichem-Neapolis aus, wo die christlichen Ein-
wohner keine Gelegenheit ungenützt ließen, die religiösen Gefühle der
Samaritaner zu verletzen. So bürgerte sich z. B. in Palästina und Ana-
tolien (Kleinasien), wie der byzantinische Chronist Malala berichtet,
die folgende Unsitte ein: am Sabbat pflegten die nach dem Vorlesen
des Evangeliums aus den Kirchen kommenden Burschen die Häuser der
Samaritaner mit Steinen zu bombardieren. Einst begaben sich die Roh-
linge in Neapolis aus der Kirche direkt zur Synagoge, um diese in
gewohnter Weise mit Steinen zu bewerfen. Da stürzten sich aber die
Samaritaner mit Waffen in den Händen auf die frechen Ruhestörer,
260
§ 38. Die Zeit Justinians
schlagen viele von ihnen nieder und demolierten die Kirche des hei-
ligen Basilius, wobei auch der Bischof und einige Priester verletzt
wurden. Damit war das Zeichen zum allgemeinen Aufstande gegeben.
Die Leitung des Aufstandes hatte ein gewisser Julian ben Sabara (oder
ben Samaron) in der Hand, den die Samaritaner zu ihrem Könige aus-
riefen. Den Herd der Empörung bildeten, wie schon unter Zeno,
Neapolis und Caesarea. Der militärische Befehlshaber (dux) von Pa-
lästina, Theodor, meldete dem Kaiser, daß die Aufständischen Kir-
chen einäscherten und die Christen niedermetzelten. Darauf kam aus
Konstantinopel der Befehl, den Aufruhr schonungslos zu unter-
drücken. Als das kaiserliche Heer an Neapolis herankam, suchte sich
der „Tyrann“ Julian durch Flucht zu retten, doch wurde er ergrif-
fen und mit dem Tode bestraft; sein mit der Königskrone geschmück-
tes Haupt schickte man als Siegestrophäe dem Kaiser Justinian.
Die Haufen der Aufrührer wurden zerstreut und viele Tausende von
Samaritanern büßten den Aufstand mit ihrem Leben. Der winzige
Stamm erlitt einen Schlag, von dem er sich nie mehr erholen konnte.
Es wird noch berichtet, daß die nach Persien geflüchteten Samari-
taner den König Chosroi-Anoscharvan, einen geschworenen Feind der
Byzantiner, zu einem Kriege gegen Justinian zu bewegen suchten,
wobei sie sich selbst mit Gut und Blut für die Sache einzusetzen bereit
waren. Doch kam der persische Kriegszug nach Palästina nicht zu-
stande. Die Kirchenchronik fügt noch hinzu, viele der niedergeworfe-
nen Samaritaner hätten sich darauf zum christlichen Glauben bekehrt;
indessen waren diese unfreiwilligen Täuflinge in ihrem neuen Glau-
ben durchaus nicht unbeirrbar.
Was die Juden anlangt, so bewahrten sie vorerst, zu Beginn der
Regierung des Justinian, völlige Ruhe, und dennoch erfüllte ihre feste
geistige Organisation sowie der hartnäckige Widerstand, den sie der
Kirche auf ihrem siegreichen Zuge leisteten, die byzantinischen Ge-
waltherrscher mit nicht geringerer Sorge als die Aufstände der Sa-
maritaner. Die Regierung stieß nämlich in allen Provinzen des Rei-
ches, wo sie um jene Zeit die letzten Überreste hellenischen Heiden-
tums und die ketzerischen Sekten innerhalb der Kirche selbst zu ver-
tilgen suchte, immer wieder auf die Juden als auf diejenigen, die
durch moralischen Zuspruch den antikirchlichen Parteien das Rück-
grat stärkten. So galt es denn, dieses Volk zu erniedrigen und durch
die Tatsache seiner Zurücksetzung im staatsbürgerlichen Leben den
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
Beweis zu erbringen, daß es von Gott selbst verstoßen sei. Darauf
eben zielte die Gesetzgebung des Justinian ab, als sie die gegen die
Juden seit der Zeit Konstantins bis zu der Theodosius II. erlassenen
Rechtsbeschränkungen in ihrer Gesamtheit wieder erneuerte. Dabei
ließen sich die Regierungsstellen die Gelegenheit nicht entgehen, in
der Motivierung der Gesetze selbst die ganze Schädlichkeit des Juden-
tums darzutun. Obwohl Justinian alle Staatsämter den Juden unzu-
gänglich machte, verlangte er dennoch, daß die wohlhabenden unter
ihnen sich nach wie vor an den städtischen Räten beteiligen und alle
damit verbundenen Lasten zugunsten der Städte tragen sollten. In
dem darauf bezüglichen Dekret vom Jahre 537 (Novelle 45) erklärt
der Kaiser mit unverhohlener Bosheit: „Mögen diese Leute die
ganze Last der städtischen Verwaltung tragen und unter deren Bürde
stöhnen, nur dürfen sie hierbei keinerlei Ehren genießen. Sie sollen
in der gleichen elenden Lage verbleiben, in der sie ihre Seele belas-
sen (sint in turpitudine fortunae in qua et animam volunt esse)“.
In dem Bestreben, die Kirche vor dem Einfluß der Synagoge zu
sichern, scheute sich Justinian nicht, auch in das religiöse Leben der
Juden einzugreifen. Das Konzil von Nicäa hatte schon früher den
Christen untersagt, ihr Osterfest gleichzeitig mit den Juden zu be-
gehen; desungeachtet gab es christliche Sektierer, die auch jetzt noch
das Passahfest dem biblischen Gebote gemäß am i4- Nissan begin-
nen ließen (quartodecimani). Dies bewog nun Justinian, das Verbot
des Konzils von Nicäa durch eine neue, gegen die Juden gerichtete
Repressivmaßregel zu ergänzen, indem er ihnen untersagte, in den
Fällen, wo das Passahfest den christlichen Ostern vorangehen sollte,
es durch feierlichen Gottesdienst und durch den Genuß der „Maz-
zoth“ besonders kenntlich zu machen (546). Die Juden dürften sich
wohl kaum dieser rücksichtslosen Anordnung gefügt haben, doch
mochte sie an manchen Orten der Feierlichkeit der Passahwoche in
den Synagogen nicht wenig Abbruch getan haben.
Sich als „Glaubenslehrer und Kirchenhaupt“ fühlend, wagte
es der byzantinische Kaiser, seine Hand sogar auf die Ordnung des
Gottesdienstes in den Synagogen zu legen. In manchen Gemeinden
der Diaspora war es nämlich zu einem Zwiespalt gekommen, weil
ein Teil der Gemeindemitglieder die Forderung aufgestellt hatte, daß
die öffentliche Vorlesung des hebräischen Bibeltextes von dem Ver-
lesen der dem ganzen Volke verständlichen griechischen Übersetzung
262
§ 38. Die Zeit Justinians
begleitet oder gar durch diese ersetzt werden solle. In diese Streitig-
keiten glaubte siöh nun der Kaiser einmischen zu müssen. Er ließ
den provinziellen Behörden einen langatmigen Befehl zugehen, dem
die Juden bei strengster Strafe unbedingten Gehorsam zu leisten hat-
ten. Jene Juden, — heißt es in diesem Befehl (Novelle i46, vom
Jahre 553) — die ihre heiligen Schriften in den Synagogen in der
griechischen oder in irgendeiner anderen Muttersprache, beispielsweise
in der italienischen, zu lesen wünschen, dürfen dies unbehindert tun,
damit die öffentliche Vorlesung allen Anwesenden verständlich sei.
Überdies, belehrt das Dekret des weiteren, tue es not, daß die Juden
den Sinn der Heiligen Schrift nicht in oberflächlicher Weise auf fas-
sen, sondern sich auch die darin verborgenen Prophezeiungen zu eigen
machen, was sie Christus unweigerlich näherbringen werde. Dies der
Grund, warum die Bibel in den Synagogen in der griechischen Über-
tragung der „Siebzig44 (Hebdomekonta, Septuaginta) als der zutref-
fendsten und vom kirchlichen Standpunkt am meisten nutzbringenden
vorgelesen werden müsse, doch sei auch der Gebrauch der Überset-
zung des Akylas zulässig. Zugleich verbietet der Kaiser strengstens,
den Gottesdienst durch die „Deuterosis44, d. L die talmudische Aus-
deutung des Bibeltextes, zu ergänzen: „Die sogenannte Deuterosis
(zweite Lehre) verbieten wir ganz, da sie weder in den heiligen Bü-
chern enthalten noch durch die Propheten von oben vermittelt und
nichts als die Erfindung von Menschen ist, die vom Irdischen faseln
und dem Göttlichen fremd bleiben. Obwohl sie (die Juden), die Rol-
len (der Thora) entfaltend, heilige Worte aussprechen und das darin
Enthaltene nicht verheimlichen, fügen sie dem von außen her ent-
lehntes, in keinem Buch stehendes Geschwätz hinzu, das zum Verder-
ben einfältiger Menschen ausgeheckt worden ist . . . Die von ihnen
,Archiferekiten41), ,Presbyter4 oder Lehrer genannten Personen dür-
fen diesen (kaiserlichen Befehl) durch keinerlei Machenschaften oder
Bannflüche durchkreuzen; sonst werden wir, das Allerbeste und das
Gottgefälligste anstrebend, genötigt sein, über sie die Leibesstrafe zu
verhängen und sie überdies mit der Einziehung ihres Besitzes zu be-
strafen44. Die Verdammung der „Deuterosis44 und der „in keinem
1) „Archiferekitai“ ist die wörtliche Übersetzung der hebräischen Bezeichnung
„Resche-ferka“ (Schulhäupter), des Titels der Rektoren der Akademien in Tiberias
und in anderen Städten Palästinas. Daraus ist zu ersehen, daß das Dekret sich
nicht nur auf die Diaspora, sondern auch auf Palästina bezog.
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
Buche stellenden“ Lehre richtete sich zweifellos sowohl gegen die
synagogalen Predigten (Midrasch), in denen die Untaten „Edoms“ ge-
geißelt wurden, wie auch gegen das Talmudstudium in den Schulen,
die gewöhnlich mit den Synagogen verbunden waren. Der Mangel
jeglicher auf diese tragische Epoche bezüglicher jüdischer Zeugnisse
macht es uns unmöglich, in die Folgen, die dieser eigenartige „Hir-
tenbrief“ des Justinian für die geistige Verfassung Palästinas und der
byzantinischen Diaspora zeitigen mochte, irgendeinen Einblick zu ge-
winnen. Jedenfalls mußten solche polizeiliche Eingriffe in das gei-
stige Leben der Nation den Niedergang des Hegemoniezentrums, der
seit der Abschaffung des Patriarchats unter Theodosius II. einsetzte,
nur noch beschleunigen.
Neben diesen Exkursen in das Gebiet der Reglementierung des
religiösen Lebens fuhr die Regierung Justinians fort, die von den
vorhergehenden Regierungen eingeleitete Entrechtung der Juden auch
weiterhin zu betreiben. Ein§ Reihe der von ihr erlassenen „Novellen“
(das Verbot, neue Synagogen zu bauen, in der Nähe der christlichen
Kirchen gelegene Grundstücke zu erwerben u. dgl. m.) sind nur eine
Weiterführung des unter Theodosius I. und II. in Angriff genom-
menen gesetzgeberischen Werkes1). So haben denn die Rechtsgelehr-
ten, die im Aufträge Justinians den monumentalen Gesetzeskodex
(Corpus juris civilis) auf gebaut haben, zugleich mit dem römischen
Rechte auch die byzantinischen Normen jüdischer Rechtlosigkeit ver-
ewigt. Die in die beiden Teile dieses römischen Talmud („Kodex des
Justinian“ und „Novellen“) aufgenommenen, auf die Juden sich be-
ziehenden Gesetze fanden späterhin zusammen mit den allgemeinen
1) Auf dem Wege der Kodifikation haben die aus älterer Zeit stammenden
Gesetzesnormen im „Kodex des Justinian“ nicht selten eine für die Juden nach-
teilige Änderung erfahren. Die Artikel aus dem ein Jahrhundert früher veröffent-
lichten „Kodex des Theodosius“ wurden nämlich von dem neuen Kodex in um-
gearbeiteter Form, und zwar unter Verschärfung der repressiven Tendenz über-
nommen. So kennt z. B. der Kodex des Theodosius in dem bekannten, aus dem
Jahre 398 stammenden, die Einschränkung der jüdischen Gerichtsbarkeit betref-
fenden Gesetz die Klausel, daß die Einschränkung sich nicht auf religiöse An-
gelegenheiten beziehe, während im Kodex des Justinian dieser Vorbehalt fehlt
(I, 9, 8; entsprechende Stelle im God. Theod. II, 1, 10). An einer anderen
Stelle wird betont, daß Streitfälle zwischen Juden und Christen vor den allge-
meinen Gerichtsinstanzen, „nicht aber vor den jüdischen Ältesten“, verhandelt
werden müssen, während dieser letztere Satz im Kod. des Theod. fehlte (XVI,
8, 22, vgl. God. Just. I, 9, i5).
§ 38. Die Zeit Justinians
Normen des römischen Rechts in den Gesetzbüchern aller christlichen
Staaten Europas Aufnahme. So wurde hier die Grundlage für jene
Reglementierung des jüdischen Lebens geschaffen, die dann das ganze
Mittelalter beherrschte.
Resonders rege wurde der Missionseifer der Byzantiner nach der
durch ihren Heerführer Beiisar erfolgten Eroberung Nordafrikas, in
dem es der Ketzer und Juden nur allzuviel gab. Zu dem religiösen
Momente gesellte sich nunmehr auch noch das politische: die afrika-
nischen Juden dürften die Herrschaft der Vandalen der byzantini-
schen sicherlich vor gezogen haben. Vielleicht leisteten sie dem ein-
gedrungenen Heere des Beiisar hie und da auch aktiven Widerstand.
Dies erklärt wohl die gegen eine jüdische Gemeinde in Mauretanien
von den Eroberern verübten Gewalttaten. Die Juden der Stadt Boreion
wurden nämlich zur Taufe gezwungen, wobei ihre uralte Synagoge
in eine Kirche verwandelt wurde (534). Die Verwandlung von Syna-
gogen in Kirchen war übrigens dem Statthalter der neuen Provinz,
dem Proprätor Salomo, von Justinian selbst nahegelegt worden. So
erhoben denn diejenigen, die Afrika den Vandalen genommen hatten,
den Vandalismus zu Ehren Gottes zum Gesetz ihres eigenen Handelns.
Die Chronisten wollen noch wissen, daß nach der Einnahme Kartha-
gos durch Beiisar die Weihegeräte des Jerusalemer Tempels, die Titus
einst nach Rom verschleppt hatte und die der Vandalenkönig Hense-
rich dann, nach der Plünderung Roms im Jahre 455, nach Karthago
mitnahm, jetzt von dort nach Konstantinopel gebracht worden seien.
Irgendein Jude soll indessen vor der Aufbewahrung der judäischen
Geräte in der Hauptstadt von Byzanz mit dem Hinweis darauf gewarnt
haben, daß sie dieser ebenso wie Rom und Karthago nur LTnheil
bringen würden1). Darauf soll der abergläubische Justinian Befehl
gegeben haben, die Geräte nach Jerusalem zu schaffen, wo sie denn
auch in einer der Kirchen verwahrt wurden.
Gegen Ende der Regierung des Justinian rief der byzantinische
Despotismus abermals eine Empörung unter den Samaritanern her-
vor. Um jene Zeit gab es unter ihnen nicht wenige falsche Christen,
die entweder gewaltsam bekehrt worden waren oder aus freien
Stücken im Schoße der Kirche Zuflucht vor den Verfolgungen suchten.
*) Diese von dem zeitgenössischen byzantinischen Chronisten Prokop (Bell,
vandal. II, 9) wiedergegebene Sage scheint unter den Christen weit verbreitet ge-
wesen zu sein.
265
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
Es war nur natürlich, daß diese Neubekehrten sich stets mit Rache-
plänen trugen, so daß es bei jeder politischen Komplikation, wie z. B.
bei dem Auftauchen von Gerüchten über eine persische Invasion, unter
ihnen sofort zum Aufruhr kam. Auch im Jahre 556 kam es zu einer
solchen Erhebung. Während eines Zirkuswettkampfes in Caesarea
überfielen die Samaritaner die Christen, wobei die Aufständischen bei
der jüdischen Jugend Unterstützung fanden. Die Schlägerei nahm für
die Christen ein trauriges Ende: es wurden einige Kirchen verbrannt
und der palästinensische Statthalter Stephanus fand dabei den Tod.
Die Gattin des Ermordeten säumte nicht, nach Konstantinopel zu eilen,
um über das Vorgefallene Bericht zu erstatten. Der Kaiser gab nun
dem Statthalter von Syrien Amantius den Befehl, zur Niederwerfung
des Aufstandes Truppen aus Antiochia zu beordern. Der Befehl wurde
mit der ganzen dem damaligen Regime eigenen Grausamkeit zur Aus-
führung gebracht: die Rebellen wurden haufenweise enthauptet, ge-
henkt oder verstümmelt.
Unter den auf Justinian folgenden Herrschern (Justin II., Tiberius
und Mauritius) hat die religiöse Bedrückung infolge der wachsenden
politischen Wirren, die das byzantinische Reich mit völligem Zusam-
menbruch bedrohten, etwas nachgelassen. Die religiösen Verfolgungen
erneuerten sich erst unter dem blutrünstigen Kaiser Phokas (602 bis
610), der sich nach Ermordung seines Vorgängers Mauritius des
Thrones bemächtigte. Eine unklare, von der syrischen Chronik ver-
mittelte Notiz berichtet, Phokas hätte Befehl gegeben, alle Juden im
byzantinischen Reiche gewaltsam zur Taufe zu veranlassen, worauf
die Juden in Palästina angeblich in der Tat zwangsweise getauft wur-
den. Die Nachricht scheint wenig glaubwürdig zu sein, doch ist es
nicht ausgeschlossen, daß hie und da tatsächlich Versuche in dieser
Richtung unternommen worden sind, die dann eine blutige Abwehr
zeitigten. So entbrannten denn in Antiochia, wo schon von jeher der
Kampf zwischen Kirche und Synagoge wütete, die Leidenschaften
jetzt von neuem. Im Jahre 608 gerieten hier die Juden in Aufruhr;
sich ihre Übermacht zunutze machend, schlugen sie viele Christen nie-
der und sollen auch die Leiche des von ihnen ermordeten Patriarchen
Anastasius durch die Straßen geschleift haben. Das gegen die Auf-
rührer ausgesandte Heer vermochte ihnen zunächst nicht beizukom-
men, so daß erst das Eingreifen von Hilfstruppen sie zur Waffen-
§ 39. Der Aufstand unter Heraklius
Streckung zwang. Hinrichtungen, Verbannung und Vermögenskonfis-
kation waren das unausbleibliche Ende dieses wahnwitzigen Versuches
der Unterdrückten, an ihren Unterjochern Rache zu nehmen.
§ 39. Die Perser in Palästina und der Aufstand unter Heraklius
Bei all den Aufständen und vereinzelten Zusammenstößen in der
Zeit des Justinian scheint das jüdische Galiläa mit seinem geistigen
Hauptzentrum Tiberias eine nur geringe Rolle gespielt zu haben. Diese
Provinz war nach den Erhebungen der vorhergegangenen Epoche an-
scheinend wieder zur Ruhe gekommen. Die Juden Galiläas kamen da-
mals mit den christlichen Wallfahrerscharen, die an den Ufern des
Jordan und des Genezarethsees, in der Nähe von Nazareth und an-
deren für die Christen heiligen Stätten umherzogen, häufig in Be-
rührung. Einer dieser gottesfürchtigen Pilger, der Palästina gegen
Ende des VI. Jahrhunderts besuchte (der heilige Antoninus), erwähnt
in seinem „Reiseführer“ ausdrücklich seine Begegnungen mit den
Galiläern. In Nazareth, so erzählt er, hätten sich namentlich die jüdi-
schen Frauen gegen die christlichen Wallfahrer freundlich und auf-
nahmebereit gezeigt. Die Jüdinnen von Nazareth sollen als die schön-
sten Frauen Palästinas gegolten haben. Ihre Anmut hätten sie, wie
der Erzähler in naiver Weise hinzufügt, der heiligen Jungfrau Maria
zu verdanken. Dagegen sollen die Juden an anderen Orten, z. B.
in dem mehr an Samaria sich anlehnenden Skythopolis, gegen die
Christen eher Feindseligkeit an den Tag gelegt haben; sie hätten
im Handelsverkehr nicht einmal das Geld direkt aus den Händen der
Christen entgegennehmen wollen, so daß diese die Münzen ins Wasser
werfen mußten, aus dem die Juden sie dann hervorzogen. Infolge der
dogmatischen Streitigkeiten tat sich zwischen den Anhängern der bei-
den, aus gemeinsamer Wurzel stammenden Religionen eine tiefe Kluft
auf, und die kirchliche Politik sorgte dafür, daß sie unüberbrückbar
werde. Indessen konnten hier offene Zusammenstöße vorerst noch
vermieden werden. Erst zu Beginn des VII. Jahrhunderts, kurz vor
dem Sturze der byzantinischen Herrschaft, wurde auch Galiläa in den
Kampf gegen den Staat, der in so unsanfter Weise im Heiligen Lande
den Triumph der Kirche über die Synagoge vor Augen führte, mit
hineingezogen.
Gegen Ende der Regierung des Phokas brach nämlich für Byzanz
267
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
eine unheilvolle Zeit an. Sein Erzfeind Persien drang in die byzan-
tinischen Provinzen Asiens ein. Der persische König Chosroi II. nahm
sich vor, dem Usurpator Phokas den von ihm an dem Verbündeten
und Freunde der Perser, dem Kaiser Mauritius, verübten Mord zu
vergelten. Der begonnene Feldzug wurde indessen auch nach dem
Tode des Phokas, als bereits Heraklius den Thron bestiegen hatte*
(6 io), nicht auf gegeben. Im Verlauf weniger Jahre besetzten die
persischen Truppen Kleinasien und Syrien. Aus dem eroberten Da-
maskus wandten sich die Perser unter Anführung des Scharpars ge-
gen Galiläa. Die jüdische Bevölkerung geriet in Erregung. Dem un-
terjochten Volke winkte die Hoffnung, von seinen Unterjochern, den
Byzantinern, frei zu werden und sich in seiner Heimat die ehemalige
Autonomie unter persischer Oberhoheit von neuem zu sichern. Das
ganze jüdische Palästina ergriff Partei für die Perser, die Befreier
von der byzantinischen Gewaltherrschaft. Der Herd des Aufstandes
lag, wie es scheint, in Tiberias. Überall in Galiläa begannen sich zahl-
reiche jüdische Kriegerscharen zu bilden. Für die Ausrüstung und
Bewaffnung seiner Volksgenossen stellte ein gewisser Benjamin von
Tiberias, ein Mann von Ansehen und von großem Vermögen, seine
Mittel uneingeschränkt zur Verfügung.
Im Jahre 614 rückten nun die Perser, von jüdischen Hilfstruppen
begleitet, gegen Jerusalem heran. Ein weihevoller geschichtlicher Au-
genblick war gekommen. Die Nachkommen der Zeloten standen vor
den Mauern ihrer ehemaligen, den Juden zuerst durch die Waffen-
gewalt des heidnischen und dann durch den Fanatismus des christ-
lichen Rom entrissenen Hauptstadt, die zunächst in ein Aelia Capi-
tolina und später in die Stadt des „Grabes des Herrn“ verwandelt
worden war, wohin die jüdischen Pilger sich nur einmal im Jahre
begeben durften, um über den heißgeliebten Trümmern Tränen zu
vergießen. Nunmehr standen jüdische Krieger neben den Persern,
zum Sturmangriff auf diese Stadt bereit. Im Juli war Jerusalem be-
zwungen. Die Sieger richteten unter den Christen ein Blutbad an (die
kirchliche Überlieferung nennt die übertriebene Zahl von neunzigtau-
send Umgekommenen); die Kirchen, darunter auch die des Grabes
Christi, wurden in Asche gelegt. Die Perser bemächtigten sich der hei-
ligen christlichen Reliquie, des sogenannten „Schaftes des lebenspen-
denden Kreuzes Christi“, und brachten ihn als Siegestrophäe nach
ihrer Hauptstadt Ktesiphon. In der Bedrängung der Christen standen
268
§ 39. Der Aufstand unter Heraklius
die Juden den Persern um nichts nach1). Die seit Jahrhunderten nie-
dergehaltene Empörung der unterjochten Nation machte sich in den
wildesten Greueltaten Luft Die jüdischen Kriegerscharen mordeten
oder vertrieben die Mönche und zerstörten Kirchen und Klöster in
Jerusalem und anderen Städten in ebenso zügelloser Weise, wie der
byzantinische Mob ehedem die Synagogen zu demolieren pflegte. Eine
dieser Scharen zog gegen Tyrus in der Absicht, die Christen in der
Osternacht zu überfallen, doch ergriffen die Tyrer die unter ihnen
lebenden Juden und drohten, sie alle niederzumachen, falls der Feind
den Versuch machen sollte, in die Stadt einzudringen. Darauf began-
nen die jüdischen Soldaten in der Umgegend von Tyrus die Kirchen
zu zerstören. Die Christen in Tyrus vergalten dies damit, daß sie für
jede zerstörte Kirche je hundert der von ihnen festgehaltenen Juden
niedermetzelten und die Köpfe der Ermordeten vor die Stadtmauer
warfen. Dies bewog die jüdischen Krieger, die Belagerung aufzuheben
und sich zu entfernen. An vielen anderen Orten gerieten jedoch die
Christen angesichts des siegreichen Ansturms der Juden in so große
Verwirrung, daß viele an ihrem Glauben irre wurden. Die Wiederher-
stellung eines jüdischen Jerusalem schien der Anfang vom Ende des
Christentums zu sein, denn dadurch wurden die Argumente der Kir-
chenväter Lügen gestraft, die den Glauben an die Messianität Christi
mit der Behauptung zu begründen suchten, daß die heilige Stadt nie
wieder in den Besitz der Juden kommen werde. Von den eingetretenen
Ereignissen überwältigt, begannen nun die Christen, Laien wie Prie-
ster, zum jüdischen Glauben überzutreten. So kam der damals weit-
berühmte „Sinai-Einsiedler“, ein christlicher Mönch, der viele Jahre
in einem Kloster auf dem Berge Sinai zugebracht hatte, eigens nach
!) Die hier folgende Schilderung beruht auf einer kritischen Analyse der
einander widersprechenden und meist tendenziösen Berichte der kirchlichen Chro-
nisten, der Byzantiner Eutychius und Theophanus -und des Syrers Abul-Faradsch
(Bar Hehraeus). Der letztere berichtet, daß die Mehrzahl der Christen durch die
Perser ums Leben gekommen seien und nur wenige durch die Juden. Nach
einer anderen Version sollen die Juden die als Sklaven verkauften Christen los-
gekauft und sie so vor dem Tode errettet haben. In dieser in den Quellen herr-
schenden Verwirrung vermochte am besten Graetz Ordnung zu stiften, dem es
gelungen ist, auf Grund der dunklen chronographischen Fragmente ein den wirk-
lichen Ereignissen mehr oder weniger entsprechendes Bild erstehen zu lassen
(Gesch. Band V, Note 8). Die Quellenkritik von Graetz fand neuerdings in der
Monographie von Krauß: „Studien zur Byzantinisch-jüdischen Geschichte“
(S. 2 4—35, Wien, 1914) manche Berichtigung und Ergänzung. Vgl. Bibliographie
zu diesem Paragraphen.
269
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
Tiberias, um den Übertritt zur jüdischen Religion zu vollziehen, wor-
auf er einer ihrer eifrigsten Bekenner wurde. Seine Bekehrung er-
klärte er damit, daß die verklärten Gestalten Moses’ und der Prophe-
ten ihm im Traume erschienen wären und ihn auf den rechten Weg
gewiesen hätten.
Vierzehn Jahre lang waren die Perser in Palästina uneingeschränkte
Herrscher, bis schließlich der Kaiser Heraklius, seiner politischen Sor-
gen in Europa (des Krieges mit den Avaren) ledig geworden, sich
mit aller Energie der Verteidigung seines asiatischen Besitzstandes
zuwandte. Da dem Kaiser die den Persern in Palästina von den
Juden gewährte Unterstützung äußerst ungelegen war, suchte er sie
durch die Ankündigung von allerlei Begünstigungen auf seine Seite
zu ziehen. Der Versuch wurde gerade in einem Moment gemacht, da
sich die Juden in ihren auf die Anlehnung an die Perser gesetzten Er-
wartungen bereits getäuscht sahen. Die von den Juden gehegte Hoff-
nung, daß die Perser ihnen Jerusalem zurückerstatten und ihre Selbst-
verwaltung wiederherstellen werden, schlug nämlich fehl. Die Er-
oberer kümmerten sich nicht im geringsten um die Interessen der
alteingesessenen Landeseinwohner. Die persischen Befehlshaber, weit
davon entfernt, ihren Verbündeten Jerusalem zurückzugeben, behan-
delten sie vielmehr als ein unterworfenes Volk: sie bürdeten ihnen
allerlei Steuern auf und scheuten sich nicht, die Unzufriedenen mas-
senhaft nach Persien zu verbannen. Der Unwille der in ihren Er-
wartungen getäuschten jüdischen Patrioten steigerte sich inzwischen
so sehr, daß sie sich entschlossen, den Annäherungsversuchen des
Heraklius, der ihnen nach der Vertreibung des Feindes uneinge-
schränkte Amnestie und Besserung ihrer staatsbürgerlichen Stellung
zu gewähren verhieß, in jeder Weise entgegenzukommen. So zog denn
die jüdische Bevölkerung von Tiberias und Nazareth dem Kaiser mit
Ehrengaben entgegen. Auch Benjamin von Tiberias schlug sich auf
die Seite des Heraklius und war, solange dieser in Tiberias weilte, sein
Gastherr. Als Heraklius Benjamin fragte, warum er denn früher die
Gewaltmaßnahmen gegen die Christen begünstigt habe, erwiderte der
jüdische Patriot in aller Offenheit: „Weil sie die Feinde meines Glau-
bens waren“.
Unterdessen gestaltete sich die Lage für die Byzantiner immer
günstiger. Heraklius errang über die Perser einen Sieg nach dem an-
deren und zwang sie, Palästina ganz aufzugeben. Von neuem sah sich
270
§ 39. Der Aufstand unter Heraklius
das Land unter der Gewalt von Byzanz, und im Herbst des Jahres
629 hielt Heraklius seinen feierlichen Einzug in Jerusalem. Nun soll-
ten sich aber die Verheißungen der Byzantiner noch trügerischer als
die auf die Perser gesetzten Hoffnungen erweisen. Kaum war der
Kaiser in Jerusalem eingezogen, um an die Wiederherstellung der
christlichen Heiligtümer zu gehen, als er schon ganz in die Gewalt
der Kirchenfanatiker geraten war. Der dortige christliche Patriarch
Modest sowie die anderen Mönche verlangten vom Kaiser, daß er die
palästinensischen Juden wegen ihres Einverständnisses mit dem Feinde
und der Überfälle auf die Christen ohne jede Nachsicht bestrafe. Als
Heraklius sich darauf berief, daß er den Juden Straffreiheit zuge-
sichert hätte, erklärten die aufgebrachten Mönche, es gäbe kein gott-
gefälligeres Werk als die Ausrottung der Feinde der Kirche, um
derentwillen man auch ein unbedachterweise gegebenes Versprechen
brechen dürfe. Die Kirchenhirten fanden einen ehrenvollen Ausweg
aus der schwierigen Lage: sie entbanden den Kaiser seines Gelübdes,
zur Abbüßung der Sünde des Treubruches ordneten sie aber eine be-
sondere Buße an, die darin bestand, daß man in der ersten Woche
der großen Fasten nicht nur dem Genüsse des Fleisches, sondern auch
dem von Fisch und Eiern zu entsagen hatte1). Nachdem der Treu-
bruch so seine religiöse Weihe erhalten hatte, fand Heraklius seine
Seelenruhe wieder und stellte es den Christen anheim, mit den Juden
nach Gutdünken zu verfahren. Vor allem bestätigte aber der Kaiser
von neuem das Gesetz, das den Juden den Aufenthalt in Jerusalem
untersagte, wo damals das von den Persern zurückgegebene Palladium
der Kirche, das „lebenspendende Kreuz“, gerade wieder „aufge-
pflanzt“ wurde; darauf setzte in Palästina ein Judengemetzel ein, das
an manchen Orten von gewaltsamer Taufe begleitet wurde. Es kamen
anscheinend auch Fälle von durch Verzweiflung verursachter Abtrün-
nigkeit vor; so wird berichtet, daß während dieser grausamen Verfol-
gungen unter anderen der ehemalige Förderer der Auf Standsbewegung,
Benjamin von Tiberias, zum Christentum übergetreten sei.
Die ganze palästinensische Judenheit war von Verzweiflung er-
griffen. Die letzte Hoffnung auf die Befreiung Jerusalems und die
Wiederherstellung der national-religiösen Autonomie in dem Heimat-
1) Dieses „Fasten des Heraklius“ wurde in den christlichen Gemeinden des
Orients eine Zeitlang auch wirklich gehalten, während es sich bei den ägyptischen
Kopten sogar bis zum X. Jahrhundert erhalten hat.
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
lande war geschwunden. Das Leben in der Stickluft des kirchlichen
Fanatismus wurde noch unerträglicher. Viele flüchteten nach dem
ägyptischen Alexandrien und in die anderen Gemeinden der afrikani-
schen Diaspora.
Doch war auch dem Jubel der Byzantiner nur eine kurze Frist
gegönnt. Vom Osten her kamen besorgniserregende Nachrichten.
Schon war in Vorderasien die Donnerpredigt des Mohammed zu ver-
nehmen, und die siegreichen Kriegerscharen der Araber zogen immer
näher an das Heilige Land heran. Der Kaiser Heraklius hatte eine
Vorahnung des nahenden Gewitters. Die Überlieferung berichtet,
Astrologen hätten Heraklius vorausgesagt, daß Byzanz von einem
Volk von Beschnittenen erobert werden würde. Eine Gefahr von seiten
der Juden witternd, ging er an ihre Ausrottung in seinem eigenen
Reiche und überredete überdies noch seinen Freund Dagobert, den
König der Franken, die Juden auch in Frankreich taufen zu lassen
oder sie von dort zu vertreiben. Gar bald fiel in der Tat ein Volk
von Beschnittenen über Byzanz her, doch waren es nicht die Juden,
sondern die Streiter des Islam. Zehn Jahre nach der Restauration des
christlichen Palästina wurde das Land von dem Heere des arabischen
Kalifen Omar besetzt (638) und die muselmanische Herrschaft faßte
hier für lange Zeit festen Fuß.
§ 40. Das geistige Leben und der Abschluß des palästinensischen
Talmud
Seit der Zeit, da Palästina unter die christliche Herrschaft geraten
war, zunächst unter die des christlichen Rom und dann unter die sei-
ner östlichen Hälfte, Byzanz, war zugleich mit der jüdischen Selbst-
verwaltung auch das geistige Leben im Schwinden begriffen. Das
Land der evangelischen Heiligtümer, da6 sich nach und nach mit Kir-
chen und Klöstern, mit Wallfahrern und Mönchen füllte, vermochte
nicht länger ein Schauplatz der Wirksamkeit der Patriarchen und Ge-
setzeslehrer, das geistige „jüdische Reich“ zu bleiben: es ward zum
Mittelpunkt der herrschenden Kirche. In erster Linie wurde dies für
das Los des Patriarchats verhängnisvoll, das unter Theodosius II. end-
gültig erlosch (§ 36). Doch ginge man in der Annahme fehl, als hätte
sich mit der Abschaffung des Patriarchats auch die gesamte Organi-
sation der jüdischen Gemeinden aufgelöst. Der offiziellen Sanktion
272
§ UO. Der Abschluß des palästinensischen Talmud
ging nur der persönliche Repräsentant der jüdischen Zentralgewalt
verlustig, dessen Würde sich von Vater auf Sohn vererbte; erloschen
war nur die Patriarchendynastie, gegen die die Kirchenväter, die in
ihr einen Überrest des „Zepters Judas“, die Rivalin der Alleinherr-
scha‘ft Christi, erblickten, mit aller Kraft angekämpft hatten. Noch
bestanden aber in Tiberias sowohl das Synhedrion wie die gesetzgeben-
den Akademien, und auch in allen jüdischen Gemeinden konnte sich
die Hierarchie der lokalen Behörden erhalten, deren Hauptvertreter
vom Zentrum aus ernannt wurden. In jenem kaiserlichen Dekret vom
Jahre 429, das das Patriarchat endgültig abschaffte, werden zugleich
gewisse fiskalische Funktionen den „judäischen Primaten, die in
beiden Teilen Palästinas von den Synhedrien ernannt werden (ju-
daeorum primates qui in utriusque Palaestinae synedriis nominan-
tur)“, ausdrücklich zugewiesen. Diese „Primaten“ oder Kleinpatriar-
chen, die weltlichen Vertreter der Gemeinden, treten uns unter den
Titeln von „Ältesten“ (seniores unter Justinian) oder „Archonten“ in
den Urkunden und Inschriften der folgenden Jahrhunderte neben den
Repräsentanten der geistlichen Gewalt, den „Archisynagogen“, ent-
gegen. Der oben in einer Novelle von Justinian erwähnte
„Achiferekit“ oder Akademievorsteher scheint in Tiberias die Rolle
eines stellvertretenden Patriarchen gespielt zu haben. In dieser Epoche
versehen die Gesetzeslehrer der Akademie von Tiberias gleichzeitig
geistliche und weltliche Funktionen. Patriarchat und Synhedrion ver-
schmelzen so mit der Akademie. In dieser letzten Zufluchtsstätte der
geistigen Kultur Palästinas wurde nun die doppelte Arbeit der Ergän-
zung der Mischna sowie ihrer Auslegung durch die „Amoräer“ weiter
fortgeführt, wenn auch nicht mehr mit jener Tatkraft wie ehedem.
Doch nimmt im Laufe des IV. und V. Jahrhunderts dieses Doppel-
werk die Kräfte der galiläischen Gesetzeslehrer noch immer ganz in
Anspruch und hinterläßt seine Spuren in Form bedeutsamer Schrift-
denkmäler.
Um diese Zeit eben gelangte unter dem Titel „Tosephta“ eine um-
fangreiche Sammlung von Mischnaergänzungen zum Abschluß (§ 22).
Nach der Mischna stellt diese Sammlung das hervorragendste Werk
des palästinensischen Schrifttums dar. Gleich jener in reinhebräischer
Sprache, ohne Beimischung aramäischer Worte abgefaßt, ist indessen
der Text der „Tosephta“ frei von jenem übertriebenen Lakonismus,
der die Artikel der Mischna ohne Kommentar ebenso unklar erschei-
18 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
2?3
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
nen läßt, wie viele Artikel der römischen Kodices des Theodosius und
Justinian. In der „Tosephta“ wird hingegen jeder Artikel mit viel
größerer Ausführlichkeit dargelegt, durch Beispiele erläutert und häu-
fig auch von dem täglichen Leben entlehnten oder geschichtlichen
Erzählungen begleitet. Ihrem Inhalte nach unterscheidet sich die „To-
sephta“ sehr erheblich von der Mischna und könnte sogar eine selb-
ständige, parallele Mischna genannt werden. Nur die Reihenfolge der
einzelnen Teile und Traktate ist hier, mit wenigen Abweichungen, die
gleiche geblieben. In der Mischna heißt es z. B.: „Wenn drei zu-
sammen gegessen haben, sollen sie gemeinsam das Tischgebet spre-
chen“ („Simun“: Berachoth VII, i). In der „Tosephta“ lautet die
entsprechende Stelle: „Das Tischgebet ist noch in der Thora vorge-
sehen, denn es heißt da: Wenn du gegessen und dich gesättigt hast,
so sollst du deinen Gott preisen“ — worauf eine Deutung des Bibel-
textes (Deuter. 8, io) in didaktischem Sinne folgt. Überhaupt wech-
seln hier Halacha und Haggada, Gesetz und Moral, juristische Thesen
und geschichtliche Überlieferungen oder dem Alltag entnommene Bei-
spiele in regelmäßiger Folge einander ab, ganz so wie in der späteren
„Gemara“. Es mögen hier zwei kurze Bruchstücke aus der „Tosephta“
folgen, die als charakteristische Proben ihres Stils gelten können (aus
dem Traktat „Sukkoth“, 1—2):
„Eine über 20 Ellen hohe Laubhütte (für das Sukkothfest) ist als unbrauch-
bar zu erachten (denn sie gleicht zu sehr einem Wohnhaus); Rabbi Jehuda meint
aber, sie sei wohl brauchbar. R. Jehuda führte aus: es kam einmal vor, daß die
Laubhütte der Helena (der zum Judentum übergetretenen Königin von Adiabene)
die Höhe von 20 Ellen überstieg, und doch statteten die Ältesten ihr Besuche ab
und machten ihr keinerlei Vorhaltungen. Darauf wurde ihm erwidert: dies hatte
seinen Grund darin, daß sie eine Frau war, die Frauen sind aber von der Ver-
pflichtung, in der Laubhütte zu verweilen, frei. Er entgegnete ihnen (seinen Op-
ponenten) jedoch: Weilten doch auch ihre sieben Kinder, alles gelehrte Männer,
in dieser Laubhütte, in der sie auch übernachteten . . .**
„Die in einer gottgefälligen Sache Ausgesandten sind der Verpflichtung, in
der Laubhütte zu weilen, enthoben, wiewohl man aus diesem Anlaß auch gesagt
hat, es sei nicht lobenswert, wenn ein Mensch sein Haus für die Feiertage im
Stiche läßt. Einst begab sich R. Hai (in irgendeiner Angelegenheit) zu R. Elieser
nach Lydda und dieser fragte ihn: Pflegst du denn nicht, Ilai, am Feiertag der
Ruhe? Heißt es doch, daß es nicht lobenswert sei, sein Haus am Feiertage im
Stiche zu lassen, denn es steht geschrieben (Deuter. i4, 26): Sei fröhlich samt
deinem Hause (Familie)“.
In diesem mischnaitischen Schrifttum geht der Verfasser gewöhn-
lich von einer bestimmten mündlichen Tradition oder Halacha aus,
274
§ 40. Der Abschluß des palästinensischen Talmud
um sodann in der Thora eine Begründung für sie ausfindig zu ma-
chen. Es fehlte jedoch auch nicht an Versuchen in entgegengesetzter
Richtung: manchmal wurde nämlich eine Thorastelle zum Ausgangs-
punkt genommen, aus der dann durch Interpretation ergänzende
Gesetzesbestimmungen gefolgert wurden. So entstand eine Reihe
von Sammelwerken, in denen der Stoff der mündlichen Lehre
in der Form eines Kommentars zum Pentateuch dargelegt war. Diese
Bücher pflegt man heute „halachische Midraschim“ (Midrasche ha-
lacha) zu nennen, da in ihnen, im Gegensatz zu den rein haggadisti-
schen Predigten, in denen die „schöne Literatur“ den Ausschlag gibt
(s. unten, § l\i), das juristische Element vorherrschend ist. Von die-
sem Schrifttum sind uns drei Sammelwerke pseudepigraphischer Art
(da sie nämlich der Verfasserschaft der ältesten Tannaiten zugeschrie-
ben werden) erhaltengeblieben, und zwar: i. die Mechilta, ein Kom-
mentar zum zweiten Buche des Pentateuch, der den Tannaiten des
II. Jahrhunderts, R. Ismael und Simon ben Jochai, zugeschrieben
wird; 2. Siphra oder „Thorath kohanim“ (Priesterkodex) — eine
exegetische Bearbeitung des dritten Buches des Pentateuch, die der
Überlieferung zufolge auf den Tannaiten Juda ben Hai oder auf die
Schule des babylonischen Gesetzeslehrers Rab zurückgeht; 3. Siphre
— ein in verschiedenen Lesarten erhaltengebliebener Kommentar zu den
zwei letzten Büchern des Pentateuch. Indem die Überlieferung die in
diesen Werken vorkommenden anonymen Meinungsäußerungen (seta-
moth) dem einen oder anderen der eben erwähnten Gelehrten in den
Mund legt, glaubt sie diese auch zu Urhebern der entsprechenden
Werke machen zu dürfen. Es mag sein, daß die ältesten Teile dieser
drei Sammlungen in der Tat von den Gelehrten des II. und III. Jahr-
hunderts herrühren, doch waren diese sicherlich nicht die Urheber
der Sammelwerke, die auch nach dem Abschluß der Mischna noch
lange unabgeschlossen blieben und durch die Lehrsätze späterer, mit
Namen genannter Gelehrten fortwährend ergänzt wurden. Die palä-
stinensischen und babylonischen Amoräer benutzten solche Kompen-
dien in ihren Schulen und arbeiteten ihrerseits an der Vervollständi-
gung und Rezensierung ihres Textes. Es war dies also eine Frucht
kollektiver Arbeit, die im Laufe mehrerer Jahrhunderte vor sich ge-
gangen war. Nach dem Stil dieser Bücher zu urteilen, lagen ihnen in
den Schulen gehaltene Vorlesungen zugrunde, in denen die Bibel in
Anlehnung an die Auslegung der Halachisten, zum Teil aber auch der
18*
275
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
Haggadisten, erläutert zu werden pflegte. Die biblischen Gebote und
Gesetze (so z. B. der Abschnitt „Mischpatim“ im zweiten Buche des
Pentateuch, die Kapitel über den Tempelkultus im dritten Buche, über
die bürgerliche Verfassung in den letzten beiden Büchern) werden
hier auf Grund der Lehrsätze der Tannaiten, der Schöpfer der
Mischna, die von den Verfassern nicht selten mit Namen genannt
werden, in halachischem Geiste gedeutet. Dagegen sind die erzäh-
lenden und didaktischen Teile des biblischen Textes (so die Geschichte
vom Auszug aus Ägypten und von der Wüstenwanderung, die morali-
schen Belehrungen des Deuteronomiums u. dgl. m.) im Geiste der
Haggada bearbeitet, jedoch unter Bevorzugung des didaktischen und
Hintansetzung des legendären Elements. Die folgenden Auszüge sind
für die Darlegungsweise der „halachischen Midraschim“ in ihren mit
der Ethik des Judaismus sich berührenden Partien überaus bezeichnend:
„Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, so soll er sechs Jahre lang die-
nen; im siebenten Jahre aber soll er unentgeltlich freigelassen werden (Ex. 21, 2).
Nun könnte der Ausdruck ,er soll dienen* mich zu der Meinung verleiten, daß
man ihm jede Arbeit aufbürden dürfe, indessen warnt davor eine andere Stelle,
wo es heißt: ,Du sollst ihn nicht Sklavendienst tun lassen* (Lev. 25, 39^). Dar-
aus zogen sie (die Gelehrten) den Schluß, daß ein hebräischer Sklave nicht ver-
pflichtet sei, seinem Herrn die Füße zu waschen, ihm die Schuhe anzuziehen,
hinter ihm her seine Sachen in das Badehaus zu tragen oder ihn gar in den
Hüften zu stützen, wenn er Stufen hinauf steigt; auch braucht er ihn nicht im
,Phoreion* (ein griechisches Wort, das soviel wie ,tragbarer Sessel* bedeutet) zu
tragen oder im Handwagen zu fahren, wie es die Sklaven zu tun pflegen“
(Mechilta, Abschn. Mischpatim, Kap. 1).
„(Unter Bezugnahme auf das Gebot in Ex. 22, 21—22: ,Eine Witwe oder
Waise sollt ihr niemals bedrücken. Denn wenn du ihn bedrückst und er schreit
zu mir, so würde ich gewiß ‘sein Schreien hören*.) Hiermit wird jede Bedrückung,
wie gering sie auch sei, verdammt . . . Als R. Ismael und R. Simon zum Richt-
platz geführt wurden (unter Hadrian), sprach R. Simon zu R. Ismael: Meister,
es ist mir weh ums Herz, denn ich weiß nicht, um welcher Sünde willen ich
der Todesstrafe entgegengehe. Und es fragte R. Ismael den R. Simon: Ist es
nie geschehen, daß zu dir jemand in einer Gerichtssache oder mit sonst irgend-
einer Frage gekommen wäre, du ihn aber warten ließest, bis du deinen Becher
geleert, deine Sandalen angezogen oder dich in deinen Mantel gehüllt hast? Hat
doch die Thora jede Bedrückung, und wenn sie auch noch so gering sei, ver-
dammt. Darauf versetzte R. Simon: Du hast mich getröstet!** (ibid. Kap. 18).
„Und es nahm Moses die Gebeine Josephs mit sich (Ex. i3, 19): Hierin
kommt sowohl die Weisheit als die Rechtschaffenheit Moses’ zum Ausdruck, denn
zur selben Zeit, als ganz Israel sich der Plünderung hingab (das „Borgen** der
Geräte bei den Ägyptern), war Moses auf die Erfüllung seiner Pflicht bedacht,
indem er die Gebeine Josephs mit sich nahm“ (ibid. Einleitung zum Abschn.
Be’schalach).
„Da sprach Gott: Wohlan, ich will euch Brot vom Himmel regnen lassen
§ 40. Der Abschluß des palästinensischen Talmud
(die Erzählung vom Manna: Ex. 16, 4)* Darauf Bezug nehmend, sagte R. Simon
ben Gamaliel: Seht nur, wie lieb die Israeliten Gott sind, daß er um ihretwillen
die Weltordnung änderte, indem er das Untere zu oberst tat und das Obere zu
unterst. Ehedem schoß das Getreide aus der Erde empor, der Tau fiel aber vom
Himmel herab, jetzt fiel dagegen Getreide (Manna) vom Himmel, während der
Tau von der Erde emporstieg, wie es denn heißt: Ich will euch Brot vom Him-
mel regnen lassen und sodann: Und der tauende Nebel stieg auf“ (ibid. Be’scha-
lach, Kap. 2).
„Ich bin Jahve dein Gott,' der dich aus Ägypten weggeführt hat (der An-
fangsvers der zehn Gebote: Ex. 20, 2). — Warum sind denn die zehn Gebote
nicht an die Spitze der Thora gestellt? Aus diesem Anlaß erzählten sie (die Ge-
lehrten) eine Parabel. Gott tat es einem Menschen gleich, der in ein Land kam
und sagte: Ich will euer König sein; da fragte man ihn: Was hast du denn für
uns getan, daß du über uns herrschen sollst? Nun errichtete er für sie einen
Festungswall, leitete Wasser in die Stadt, führte ihr Heer im Kriege an und
sprach dann von neuem: Jetzt will ich euer König sein. Da ertönte der Ruf: Ja,
gewiß! Ebenso handelte auch Gott: er führte die Israeliten aus Ägypten weg,
ließ sie durch die festgewordenen Meereswogen ziehen, sandte ihnen das himmr
lische Manna hernieder, tat ihnen einen Wasser quell in der Wüste auf, trieb die
Wachteln für sie zusammen, führte sie an im Kriegszuge gegen Amalek, — und
als er nach alledem gesprochen hat: Ich bin euer König! — riefen sie im Chor:
Ja, gewiß!“ (ibid. Abschn. Jethro, Kap. 5).
„Du sollst dich vor ihnen (den jGötzen) nicht niederwerfen und sie nicht ver-
ehren, denn ich, Jahve, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott (Ex. 20, 5). Es
fragte nun einmal ein Philosoph den Rabbi Gamaliel: In eurer Thora heißt es,
daß euer Gott eifersüchtig sei, besitzen denn aber die Götzen irgendeine Kraft,
auf die man eifersüchtig sein oder die man beneiden könnte? Ein Held beneidet
einen anderen Helden, der Weise den Weisen, der Reiche den Reichen, doch
was für eine Kraft steckt in den Götzen? Gamaliel erwiderte: Denke dir nur,
jemand wollte seinen Hund nach seinem Vater benennen und seinem Hunde zu
Ehren sogar ein Gelübde tun, auf wen sollte nun der Vater seines Sohnes wegen
eifersüchtig sein, wenn nicht auf den Hund?“ (ibid. Kap. 6).
„Israel ließ sich aber in Sittim nieder (Num. 2 5, 1) . . . Von hier aus
führten sie Krieg gegen die Könige Sichon und Og, unterwarfen sie und nahmen
ihnen ihr ganzes Land weg. Unser (heutiges) Reich I), das auf seine Machtfülle
so stolz ist, besitzt nur vier Provinzen, die würdig wären, selbständige Reiche
zu sein, nämlich Asien (Kleinasien), Alexandrien, Karthago und Antiochia, wäh-
rend jene (Sichon und Og) sechzig Städte beherrschten, deren jede ein Reich
für sich sein könnte, und doch kam Israel und nahm ihnen alles weg“ (Siphre,
Abschn. Balak, Nr. i3i).
„Du sollst Gott lieben von ganzer Seele und mit deinem ganzen Vermögen
(Deuter. 6, 5). Rabbi Elieser ben Jakob fragte nun: Wenn es bereits gesagt ist ,von
ganzer Seele*, warum heißt es noch außerdem ,mit deinem ganzen Vermögen*?
Der Grund ist aber der: es gibt Menschen, denen das Leben über das Geld geht,
denen ist gesagt: ,von ganzer Seele*; es gibt jedoch auch solche, denen ihr Geld
mehr wert ist als ihr Leben, denen ist gesagt: ,mit ganzem Vermögen*'** (ibid.,
Wa’etchanan, Nr. 32).
1) Dies bezieht sich offenbar auf das oströmische Reich oder Byzanz, dessen
morgenländischer Besitz sich in der Tat aus den weiter aufgezählten Provinzen
zusammensetzte: aus Kleinasien, Syrien, Ägypten und Nordafrika.
277
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
Alle diese Gesetzesauslegungen, Parabeln und Belehrungen, die von
Schule zu Schule, von Synagoge zu Synagoge wanderten, wurden all-
mählich zum Gemeingut des Volkes und pflegten auch in den späteren
Werken des talmudischen Schrifttums, sowohl in Palästina als in
Babylonien, zitiert zu werden. In den halachischen Midraschim des
IV. und V. Jahrhunderts kommt schon deutlich die Tendenz zum
Ausdruck, dem haggadischen Element vor dem halachischen den Vor-
rang einzuräumen, wie denn überhaupt in dieser Epoche ein un-
zweideutiger Rückschritt auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Ha-
lacha und der strengen Rechtskunde nicht zu verkennen ist. Die all-
mähliche Einengung der Bürgerrechte der Juden und die Schmäle-
rung ihrer nationalen Autonomie wirken auch auf die akademische
Wissenschaft zurück, die mit der Praxis der Selbstverwaltung stets
in engstem Zusammenhänge stand. Die Wirksamkeit der talmudischen
Schulen schrumpft unter dem Drucke der byzantinischen Herrschaft
in Palästina immer mehr zusammen. Die Amoräer weisen der Wissen-
schaft keine neuen Ziele mehr und beschränken sich allein auf die
Fortsetzung des Werkes ihrer Vorgänger, indem sie die Mischna kom-
mentieren und auf dem Gebiete der Gesetzeskunde sich streng an die
Vermächtnisse altehrwürdiger Autoritäten halten. Es fehlt ihnen der
kühne Gedankenflug, der in das Schaffen der damaligen babyloni-
schen Akademien soviel Leben hineinbrachte, wiewohl sie sich freilich
auch von der waghalsigen Kasuistik der babylonischen Amoräer
durchaus freizuhalten wissen. Manche der palästinensischen Gelehr-
ten haben denn auch die Auswüchse dieser kasuistischen Art ausdrück-
lich getadelt. So pflegte einer der in Tiberias wirkenden Amoräer der
ersten Hälfte des IV. Jahrhunderts, R. Jeremia, der Babylonien von
Jugend auf aus eigener Anschauung kannte, zu sagen: „Die Baby-
lonier (deren Gelehrte) leben in einem dunklen Lande und geben
auch eine dunkle Lehre zum besten“. Als Rechtsgelehrter suchte sich
Jeremia stets an den unmittelbaren Sinn der Mischna zu halten.
Akademievorsteher in Tiberias und zugleich Oberhaupt der dortigen
Gemeinde, konnte er, wie es nur natürlich war, die Interessen der
gesetzgeberischen Praxis den schulmäßigen Grübeleien nicht zum
Opfer bringen. Sein Nachfolger Rabbi Jona mußte die Wirren unter
Kaiser Constantius und das durch den Aufstand in Zippora hervor-
gerufene Unheil miterleben (35i—52). Er war es, der sich ange-
sichts der Forderungen der römischen Hauptleute genötigt sah, den
§ 40. Der Abschluß des palästinensischen Talmud
Juden das Brotbacken an den Sabbattagen für den Bedarf des römi-
schen Heeres zu gestatten. Sein Mitarbeiter in der Verwaltung der
Akademie, R. Jose, beschäftigte sich vornehmlich mit der Sammlung
und Sichtung des wissenschaftlichen, von den älteren Amoräer-
geschlechtem zusammengetragenen Stoffes.
Das Zusammenschrumpfen der akademischen Tätigkeit veranlaß te
die palästinensischen Amoräer, für die Erhaltung der mündlichen
Deutungen und Erläuterungen des Mischnatextes, die seit der Zeit des
Jochanan ben Napacha ausgearbeitet worden waren, rechtzeitig Vor-
sorge zu treffen. Die Reihen der Eiferer der Wissenschaft, der Hü-
ter der mündlichen Gelehrsamkeit, lichteten sich zusehends und es
stand zu befürchten, daß mit den Weisen die Weisheit selbst er-
löschen, daß die Kette der talmudischen Tradition jäh abbrechen
werde. So mußten denn die Priester der Wissenschaft auf ihr Vor-
recht, die einzigen Besitzer des Schlüssels zum Gesetz zu sein, ver-
zichten (ganz so, wie der Patriarch Hillel II. auf die Wahrung des
Kalendergeheimnisses verzichtet hatte) und dafür Sorge tragen, daß
die angehäuften Wissensschätze geordnet und in Schriftdenkmälern
niedergelegt würden. Seit der Mitte des IV. Jahrhunderts wurde an
dieser Zusammenstellung auch in der Tat in kraftvollster Weise ge-
arbeitet. Wer mochte es inun ge wesen sein, der den ganzen Stoff der
auf die Mischna folgenden mündlichen Lehre, die Frucht eines zwei
Jahrhunderte lang dauernden Schaffens der palästinensischen Amoräer,
in ein einheitliches System brachte? Es ist zu vermuten, daß wir es
hier mit einer von den Amoräern der letzten Generationen, die zwischen
35ound 4oo gewirkt haben, kollektiv verrichteten Arbeit zu tun haben.
Der oben erwähnte Jose aus Tiberias, sein Jünger R. Mane, dann R. Abun
und dessen Sohn Jose ben Abun galten als die Hauptvertreter dieser
Generationen. Die Gesamtheit der Deutungen und Erläuterungen des
Mischnatextes, die man den Amoräern, von Jochanan bar Napacha bis
zu den eben erwähnten Gelehrten zu verdanken hatte, wurde Gemara
genannt (das Wort bedeutete sowohl Lehre als wissenschaftliche Zu-
sätze). Diese Gemara schrieben nun die Sammler nieder und teilten
sie entsprechend der Reihenfolge der einzelnen Mischnateile ein, in-
dem sie auf jeden Mischnaartikel die dazu gehörenden Erläuterungen
oder die von den verschiedenen Gelehrten mit Bezugnahme darauf
geführten Schuldebatten, soweit sie diese in Erinnerung hatten, fol-
gen ließen. Diese Vereinigung der Mischna mit der Gemara, des Tex-
2 79
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
tes und seiner Ausdeutungen, ergab den palästinensischen Talmud, der
auch der „Jerusalemische“ oder, im Gegensatz zum östlichen oder
babylonischen Talmud, der Talmud der Westländer (Talmud di’bne
maaraba, Talmud Jeruschalmi) genannt wurde. Vom palästinensischen
Talmud sind uns nur die vier ersten Teile erhaltengeblieben; dagegen
ist die Gemara zu den zwei letzten Mischnateilen teils nie zusammen-
gefaßt worden, teils später abhanden gekommen. Aber auch in dem
erhaltengebliebenen Teile fällt das Fehlen einer letzten systematisch
durchgeführten Redaktion auf: die Darlegungsweise ist allzu frag-
mentarisch und ermangelt nicht selten der logischen Konsequenz.
Was die Sprache der palästinensischen Gemara betrifft, so wird in
ihr das Hebräische von der aramäisch-syrischen Mundart ganz in den
Hintergrund gedrängt.
Einen weiten Raum nimmt im palästinensischen Talmud die Hag-
gada ein, mit der sich die palästinensischen Amoräer neben der Ha-
lacha überhaupt sehr viel zu beschäftigen pflegten. Die religiös-ethi-
schen Interpretationen der Bibel und geschichtliche Legenden brin-
gen in den spröden Halachatext, in all jene überfeinen, kasuistischen
Gedankengänge, die die umstrittenen, nur den Fachgelehrten zugäng-
lichen Fragen der Gesetzeskunde zum Gegenstände haben, eine er-
frischende Abwechslung. Die Kompilatoren des palästinensischen Tal-
mud waren sich bereits selbst dessen bewußt, daß allein die Haggada,
nicht aber die Halacha, Volkstümlichkeit erlangen könne. So konnte
denn der Sohn des erwähnten Talmudverfassers, R. Samuel bar Jose,
den Halachisten mit dem steinreichen Besitzer von Goldbarren ver-
gleichen, während er den Haggadisten mit dem armen Mann, der nur
kleine Tauschmünzen sein eigen nennt, verglich: kommt nun der
Reiche mit seinen schweren Barren in die Stadt, so kann er da nichts
erstehen, weil das Gold nur schwer eingewechselt werden kann; der
Arme hingegen vermag sein Kleingeld ohne weiteres in den Verkehr
zu bringen und so seine eigenen Bedürfnisse wie auch die der ande-
ren leicht zu befriedigen1).
§ Ul. Die „Midraschim‘-Literatur und die Werke der Kirchenväter
Mit dem Niedergang der wissenschaftlichen Akademien konzen-
trierte sich das geistige Leben Palästinas immer mehr in den Syna-
J) Horajoth, Kap. III in fine (zitiert nach der Krotoschiner Ausgabe des
Jerusalemer Talmud vom Jahre 1866: Fol. 48 des letzten Teiles).
280
§ 41. „Midraschim“ und Kirchenväter
gogen, die in der Regel zugleich auch Lehrhäuser und „Häuser der
Predigt“ (Beth hamidrasch) waren. Der predigende Moralist drängt
nach und nach den gesetzeskundigen Dialektiker zurück. Volkstüm-
lichkeit erwerben sich jene Vortragenden, die die Bibelinterpretation
durch Legenden, Parabeln und didaktische Schlußfolgerungen auszu-
schmücken verstehen. Solche an biblische Texte sich anlehnende Vor-
lesungen (Deraschoth), wie sie namentlich an Sabbat- und Feiertagen
gehalten zu werden pflegten, lockten Zuhörer aus dem Volke in Mas-
sen herbei. Der heilige Hieronymus, der selbst in Palästina lebte, be-
richtet darüber folgendes (um 420): „Sie (die Juden) rufen ein-
ander zu: Wollen wir doch hingehen und diesen oder jenen Prediger
mitanhören, der über eine wunderbare Rednergabe verfügt; dann
klatschen sie ihm Beifall, toben und fuchteln mit den Händen herum“.
Auch die Prediger selbst sollen manchmal theatralische Kunstgriffe
nicht verschmäht haben, wie Johannes Chrysostomus zu erzählen weiß,
der das Leben der jüdischen Gemeinde in Antiochia aus eigener An-
schauung beobachten konnte („Sie spielen, als wären sie auf der
Bühne“). Wenn diese Beobachtungen der Kirchenväter, in deren Dar-
stellung die polemische Spitze nicht zu verkennen ist, auch kaum als
absolut wahrheitsgetreu angesprochen werden können, so zeugen sie
jedenfalls von der außerordentlichen Volkstümlichkeit der synagoga-
len Lektoren oder Prediger. Hieronymus nennt sie im Gegensatz zu
den gesetzeskundigen Halachisten, die er Gelehrte (sophoi) nennt,
„Deuteroten“ (deuterotai), und macht sie in seinen Büchern oft zur
Zielscheibe seiner Polemik, während hundert Jahre später der Kaiser
Justinian gegen die „Deuterosis“ sogar mit strengen Dekreten vor-
geht (§ 38). Sowohl der Kirche als auch der in ihrer Botmäßigkeit
stehenden Staatsgewalt schienen die redegewandten Prediger der Syna-
goge, die gegen die Ideologen des Christentums eifrig polemisierten,
nicht ungefährlich zu sein. Der Aufschwung der christlichen Theo-
logie, die ihre Beweismittel der Bibel zu entnehmen pflegte, veran-
laßte nämlich die jüdischen Gelehrten, ihren eigenen theologischen
Standpunkt ihrerseits durch Deutung derselben biblischen Stellen im
judaistischen Geist zu erhärten. Gegen die kirchlichen Predigten, die
die „Irrlehre des Judentums“ zunichte zu machen suchten, mußte die
synagogale „Derascha“ ins Feld geführt werden, die die nationalen
und ethischen Ideale des Judaismus betonte. Von der jüdischen Kan-
zel herab ertönte zugleich aber auch der Protest gegen das kirchlich-
281
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
politische Joch. So vernehmen wir denn in der Tat diesen Protest in
den damaligen Predigten, die in der Form von bitteren Klagen über
das Joch Edoms (Roms)x) und Jawans (des griechischen Staates, d. i.
Byzanz’) gehalten zu werden pflegten.
Die synagogalen Vorlesungen wurden entweder von den Vortragen-
den selbst oder aber von Schriftkundigen aus der Zuhörerschaft nie-
dergeschrieben, um den alten, in vielfachen Abschriften aufbewahrten
„Deraschoth“ angereiht zu werden* 2). Je höher sich dieser homile-
tische Stoff türmte, desto mehr sahen sich die Schriftkundigen zu
seiner Sichtung veranlaßt, und so stellten sie ihn in systematischer
Form in „Midraschim“ genannten Predigtensammlungen zusammen.
Gewöhnlich wurde der Stoff in der Reihenfolge der an den Sabbat-
tagen in den Synagogen gelesenen Thoraabschnitte („Paraschoth“) an-
geordnet, da die Predigt stets im Anschluß an den am betreffenden
Sabbat verlesenen Abschnitt gehalten wurde. Die Predigten lehnten
sich aber auch an die Texte der fünf „Megilloth“ an, jener kurzen
biblischen Hagiographen, die an den Feiertagen und sonstigen denk-
würdigen Tagen gelesen zu werden pflegten (Hohelied, Ruth, Kohe-
let, Klagelieder, Esther). Im Zusammenhang mit den einzelnen Text-
stellen führte man zunächst die einschlägigen Aussprüche der alten
Gesetzeslehrer, der Tannaiten und Amoräer, an, und darauf die Be^
lehrungen der Prediger aus jüngerer Zeit. Als sich auf diese Weise
eine feste Grundlage für die Predigtenliteratur herausgebildet hatte,
wurden in diese Grundschicht auch Auszüge aus den synagogalen Vor-
lesungen der aller jüngsten Zeit, die bis zum Ausgang der byzantini-
schen Epoche reichte, nach und nach eingefügt.
Somit ist auch die Literatur der „Midraschim“ die Frucht einer
durch mehrere Jahrhunderte sich hinziehenden Arbeit, das Ergebnis
einer allmählichen Aufeinanderschiohtung homiletischer Textlagen.
Die Grundschichten dieser Literatur bildeten sich schon im V. und
1) Das Geheimnis dieses Pseudonyms („Edom“ statt „Rom“), das um jene
Zeit aus politischer Vorsicht von den Juden in Rede und Schrift gebraucht zu
werden pflegte, blieb Hieronymus nicht verborgen. So erwähnt er in seinem
Kommentar zum Buche Jesaja (21, 11) ausdrücklich das Bestreben der Juden,
die biblischen, auf Edom bezüglichen Prophezeiungen gegen Rom anzuwenden (in
Idumaeae nomine Romanos existimant demonstrari).
2) Schon im IV. Jahrhundert wird im Talmud (Babyl.) der „Bücher der Hag-
gada, die man lieh oder für Entgelt zu lesen gab“ (Baba bathra, Ö2a) Erwähnung
getan. Wenn solche Bücherabschriften sogar in Babylonien bekannt waren, so mußten
sie um so eher in Palästina Verbreitung gefunden haben.
282
§ Ul. „Midraschim“ und Kirchenväter
VI. Jahrhundert und tragen den Stempel der Epoche der byzantini-
schen Herrschaft; die Arbeit der folgenden Jahrhunderte hatte auf
diesem Fundament nur noch den Überbau zu errichten1).
Zu der Literatur der „Midraschim“, die in der hier behandelten
Epoche ihren Anfang nahm, gehört vor allem die umfangreiche
Sammlung, die unter dem Namen „Midrasch rabba“ (großer Midrasch)
bekannt ist. Als die ältesten Bestandteile dieser Sammlung gelten die
„Midraschim“ zum Buche der Genesis (Bereschith rabba), sowie zu
einigen Kapiteln des Buches Leviticus, der Klagelieder und des Hohe-
liedes. Als aus späterer Zeit stammend werden die „Midraschim“ zu den
übrigen Teilen des Pentateuch und den anderen Megilloth angesehen.
Die Darstellungsweise ist in den verschiedenen Teilen des Midrasch
rabba ganz verschieden: in manchen der Bücher (so in Bereschith
rabba) haben wir einen haggadischen Kommentar zur Bibel vor uns,
während in anderen die Predigten über biblische Texte, die soge-
nannten „Homilien“, vorherrschen. Zu der homiletischen Art gehören
die zwei Midraschimsammlungen: „Midrasch Tanchuma“ (in drei ver-
schiedenen Rezensionen, deren eine „Jelamdenu“ heißt) und „Pesik-
ta“, die gleichfalls in zwei verschiedenen Rezensionen vorliegt („Pe-
sikta rabbathi“ und „Pesikta de’rab Kahana“). Bemerkenswert ist es,
daß viele Predigten im „Midrasch Tanchuma“ mit einer halachischen
Frage beginnen, die dem Lektor von irgendeinem seiner Zuhörer mit
der Anrede: „Jelamdenu rabbenu“ (Möge unser Lehrer uns belehren)
vorgelegt wird, worauf die das Gesetz erläuternde Antwort des Mei-
sters folgt, und erst an diese sich anschließend die erbauliche hag-
gadische Predigt. Was die Entstehungszeit dieser homiletischen
Sammlung anlangt, so gehen auch hierbei die Meinungen weit aus-
einander und schwanken zwischen dem VI. und IX. Jahrhundert.
Daß diese Werke in Palästina und der angrenzenden byzantinischen
Diaspora entstanden sind, ergibt sich aus der tadellosen, im Mischna-
Stile gehaltenen hebräischen Sprache, in der aber vielfach griechische
und zum Teil auch lateinische Wörter Vorkommen. In allen drei
Sammlungen der Midraschim — Rabba, Tanchuma, Pesikta —- keh-
D Seit Zunz (Gottesdienstliche Vorträge, i832) mühen sich die Forscher
unablässig um die Feststellung der Entstehungszeit des einen oder anderen „Mi-
drasch“, wobei sie einander widersprechen und nicht selten auch zu den eigenen
ursprünglichen Mutmaßungen in Widerspruch geraten. Solange sicherere Anhalts-
punkte fehlen, scheint die Theorie der Textschichtungen, die für jedes alte kollek-
tive Schrifttum maßgebend ist, den einzigen Ausweg aus diesem Wirrsal zu bieten.
283
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
ren nicht selten dieselben Aussprüche und Parabeln wieder, die die
Sammler entweder einer gemeinsamen älteren Quelle oder einer dem
anderen entlehnt haben mochten.
Die folgenden kurzen Proben vermögen uns eine gewisse Vorstel-
lung von den im damaligen Judentum herrschenden religiösen und
politischen Stimmungen zu geben:
„Und der Geist (der Wind: „Ruach“) Gottes schwebte über dem Gewässer
(Gen. i, 2). — Dies ist in demselben Sinne zu verstehen wie der Bibelvers (Gen.
8, 1): ,Und Gott ließ Wind über die Erde wehen'“1) (Bereschith rabba, II, 4).
„Und die Erde war wüst usw. (Gen. 1, 2). — R. Simon ben Lakisch wandte
diesen Vers auf die Reiche (die über die Juden herrschten) an: ,Die Erde war:
wüst* — eine Anspielung auf das babylonische Reich; ,und leer' — auf das medi-
sche Reich (Persien); ,und Finsternis' — auf das griechische Reich (Malchuth
jawan), das durch seine Verfolgungen das Augenlicht Israels verdunkelte, denn
es gebot: Schreibet auf einem Ochsenhorn, daß ihr kein Erbteil habet am Gotte
Israels (Verleugnung der Religion); ,auf dem Abgrund' — dies ist das (heutige)
Frevlerreich, dessen Freveltaten ebenso maßlos sind, wie die Tiefen des Abgrunds“
(ibid. II, 5)2).
„Köstliches Salböl ist dein Name (Hohel. 1, 3) . . . Ebenso wie Öl durch
Schütteln an Güte gewinnt, so wendet sich auch Israel nur nach schweren Er-
schütterungen zu Gott wieder hin. Wie das Öl sich nicht mit anderen Flüssig-
keiten vermengt, so vermengt sich auch Israel mit den anderen Völkern nicht . . .
Wie das Öl in jeder Flüssigkeit obenauf schwimmt, so erhebt sich auch Israel
über die anderen Völker“ (Schir ha!schirim rabba, I, 21).
„Das Volk Israel sprach zu Gott: Oh, Herr der Welt, früher pflegtest du mir
zwischen einer Nacht und der anderen einen lichten Zwischenraum zu gönnen:
so zwischen der Nacht von Ägypten und von Babylonien, zwischen der von Baby-
lonien und von Medien (das Persien der Achämenidenzeit), zwischen der Nacht
von Medien und der von Griechenland (Epoche der Seleuciden), zwischen der
von Griechenland und von Edom (römische Herrschaft), jetzt folgt aber eine
Nacht unmittelbar auf die andere“ (ibid., III, 1).
„Ein Geschlecht geht dahin und das andere kommt, und die Erde bleibt
ewig stehen (Kohel. 1, 4)* — Es sagte nun R. Isaak: Ein Reich kommt und
ein Reich geht dahin, Israel bleibt aber ewig stehen“ (Koheleth rabbathi, I, 9).
*) Hierdurch wird in äußerst vorsichtiger Form eine rationalistische Deutung
dieses Verses zum Ausdruck gebracht: es wird nämlich empfohlen, das Wort
„Ruach“ einfach im Sinne von „Wind“ zu verstehen, was übrigens mit dem
hebräischen Text durchaus im Einklang steht (vgl. Bab. Talm. Chagiga, 12a).
2) Unter dem „griechischen Reiche“ ist wohl die ehemalige Seleucidenherr-
schaft zur Zeit des Antiochus Epiphanes gemeint, während das „Frevlerreich“
(Malchuth ha’reschaa) anscheinend das zeitgenössische byzantinische Reich be-
zeichnet, das der Verfasser aus begreiflichen politischen Gründen nicht bei sei-
nem Namen nennen will. Von diesen „Reichen“ oder Perioden der jüdischen
Geschichte ist auch in anderen Midraschim häufig die Rede. So z. B. Mich.
Tanchuma, Ahschn. Toledoth, 10 sowie Abschn. Ghukath, 27. An dieser Stelle
wird das letzte Reich unter seinem eigentlichen Namen „Edom“, c?. i. Rom (das
westliche wie das östliche) genannt. Vgl. noch Pesikta rabbathi, Kap. i4-
„Midraschim“ und Kirchenväter
„Gleichwie ein Dornengebüsch, an dem das Gewand hängen bleibt, so daß
du kaum Zeit hast, den einen Zipfel loszulösen, und schon mit dem anderen'
hängen bleibst, ist auch das Reich Esaus (Rom): es erhebt die ,Arnona‘ (eine
Naturalleistung), doch kaum hat es diese Abgabe eingesammelt und schon for-
dert es ,Gulgoleth‘ (Kopfsteuer), während diese aber noch erhoben wird, kommt
schon die Reihe an eine neue Steuer“ (Pesikta rabbathi, io).
Der letzte der hier zitierten Midraschim („Die große Pesikta“) ist
überhaupt ganz von nationaler Trauer durchdrungen. Er wurde zu
einer an Verfolgungen überreichen Zeit abgefaßt, und so entsprechen
die hier auf genommenen Predigten der Stimmung der Unterjochten,
die voll Leidenschaft den Messias herbeisehnten. An manchen Stellen
schwingt sich der Stil der Predigten zu hohem dichterischen Pathos
empor (besonders Kap. 26 und die folgenden, die in der „Pesikta“
dem Zusammenbruch und der Wiedergeburt der Nation gewidmet
sind). Doch spiegelt sich die Weltanschauung des Volkes in viel um-
fassenderer Weise in jenem Bücherzyklus wieder, aus dem sich der
„Midrasch rabba“, diese Enzyklopädie des haggadischen Schrifttums,
zusammensetzt. Hier haben sich auch Überreste jener Polemik gegen
die christologischen Bibeldeutungen erhalten, die seit den ersten Jahr-
hunderten des Christentums geführt worden und schon in der ältesten
Haggada zum Ausdruck gekommen ist (oben, § 2 3).
Die Kirchenväter hatten, wie bereits erwähnt, für die Wirksam-
keit der synagogalen Prediger und der Sammler der Midraschim ein
wachsames Auge. In dieser eigenartigen Bearbeitung der biblischen
Texte glaubten die christlichen Theologen eine gefährliche Waffe in
den Händen der Juden erblicken zu müssen, die diesen in ihrem
Kampfe gegen die Christologie und die Auslegung des „Alten Testa-
ments“ in evangelischem Geiste wertvolle Dienste leisten könne. So
entschlossen sich denn die Eiferer der Kirche, diese Waffe ihren eige-
nen Zwecken dienstbar zu machen. Die hervorragendsten kirchlichen
Prediger und Schriftsteller machten sich ihre Kenntnis der hebräi-
schen Sprache zunutze und eigneten sich ganz dieselben Methoden der
Bibelauslegung an, indem sie sie in den Dienst der Apologie des Chri-
stentums stellten. Solche Stützen der Kirche, wie Ephraem Syrus,
Johannes Chrysostomus, der heilige Augustin und namentlich der
hervorragende Kenner des jüdischen Schrifttums, Hieronymus, ver-
legten sich darauf, in ihren Predigten und Schriften die Bibel ganz,
nach Art der talmudischen Haggada zu kommentieren, wobei
sie jedoch gegen die Urheber dieser Haggada scharf polemisier-
285
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
ten. Sie gingen dabei von der Grundüberzeugung aus, daß „das Neue
Testament in latenter Form in dem Alten enthalten sei, das Alte
Testament aber erst im Neuen ganz offenbar werde“ (Novum Te-
stamen tum in Veteri latet, Vetus in Novo paret), und suchten nun
mit Hilfe des Schlüssels der hebräischen Sprache den inneren Zu-
sammenhang der beiden „Testamente“ klar vor Augen zu führen.
Schon der Kirchengeschichtsschreiber Eusebius von Caesarea (gest.
um 35o), der Verfasser der antijüdischen Schrift „Die Bekräftigung
des Evangeliums“, spricht von den jüdischen Interpreten oder Tan-
naiten (deuterotai) als von Männern, „die mit außerordentlicher Ver-
standeskraft ausgerüstet sind und in das Innerste der Aussprüche der
Heiligen Schrift einzudringen vermögen“. In recht ausgiebiger Weise
benutzte die Auslegungsmethoden der Haggadisten der erbitterte Feind
des Judentums, der Kirchenvater Ephraem Syrus (um 4oo). Aus
dem syrischen Edessa, der Hochburg christlicher Mönche an der
Grenze des römischen und persischen Landbesitzes, gebürtig, wähnte
sich Ephraem gleichsam zwischen zwei Feuern, als die ihm die bei-
den geistigen jüdischen Zentren in Palästina und Babylonien galten.
Die für das christliche Rom ungünstig verlaufenden römisch-persi-
schen Kriege jener Zeit flößten ihm Angst vor einem möglichen Zu-
sammenschluß dieser beiden Zentren ein. Gleich seinem Landsmann
Johannes Chrysostomus war er durch den Versuch einer Restauration
des jüdischen Jerusalem unter Julian Apostata tief erschüttert und
verfaßte nach dem Fehlschlagen dieses Unternehmens in syrischer
Sprache eine Reihe von Hymnen gegen Julian, die Ketzer und die
Juden. Über die den noch vor kurzem „um das neue goldene Kalb
(Julian) fröhlich herum tanzenden“ Juden beschiedene Enttäuschung
frohlockend, läßt er sich folgendermaßen vernehmen: „Jerusalem hat
die verdammten Kreuziger bloßgestellt, die die Wiederherstellung
ihrer Ruinen, die Folge ihrer Sünden, anzukündigen wagten. Ein
Feuer schlug empor und zerstreute die Gelehrten, die ja im Buche
Daniel selbst gelesen haben, daß die Verwüstung (von Jerusalem)
ewig dauern werde. Sehet nur zu, ihr Christen, daß ihr in Frieden
lebet, fern von den Besessenen, ohne Berührung mit den Dienern des
Teufels“. Auch in seinen Kommentaren zur Bibel polemisiert Ephraem
häufig gegen die Juden, indem er sie durch den Hinweis darauf zu
verspotten sucht, daß sich die ihnen günstigen Prophezeiungen nicht
erfüllt hätten, die bösen hingegen in Erfüllung gegangen seien: „Da
286
§ Ul. „Midraschim“ und Kirchenväter
doch das Zepter Juda entwunden und die Stimme der Propheten ver-
stummt ist, sollten sich die Juden ob ihrer Verstocktheit schämen“.
Die Synagoge und die Kirche glichen den zwei Müttern im Salo-
monischen Gericht: umsonst ist alles Schreien der Synagoge, ihr Kind
wäre am Leben, umsonst erwarte sie ihren Messias; die Kirche allein
sei die wahre Mutter des lebenden Kindes. Und doch kann Ephraem
seine Angst vor dem „Leichnam“ nicht verhehlen: es ist ihm bange
vor den Erfolgen der jüdischen Propaganda unter den Heiden, die die
jüdischen Missionare „von der Gemeinde Christi weg in die Synagoge
des Satans“ lacken. Ungeachtet seines Hasses gegen die Juden ver-
schmäht es Ephraem nicht, ihr neues haggadisches Schrifttum aus-
zubeuten, so daß seine Bibelexegese manchmal mit der von den ihm
so mißliebigen Rabbinen überlieferten fast wörtlich übereinstimmt1).
Eine offenkundige Nachahmung der Methoden der Midraschim-Pre-
diger tritt uns auch in den zahlreichen Schriften des Johannes Ghry-
sostomus entgegen (Predigten über Texte aus dem Matthäus-Evange-
lium und sonst).
Am meisten hatte aber der Haggada und dem Midrasch der heilige
Hieronymus zu verdanken, der mit den palästinensischen Amoräem
und Predigern persönlich verkehrte (§ 34). In seinen zahlreichen
Kommentaren zur Bibel erklärt er ausdrücklich, daß die eine oder
andere Auffassung von den jüdischen Gelehrten herrühre, wobei er
manche dieser Deutungen billigt, andere hingegen als allzu gezwun-
gen oder ausgeklügelt (fabulae) verwirft; doch gibt er nicht selten
auch die gewagtesten Ausdeutungen der Midrasch-Autoren wieder,
ohne freilich seine Gewährsmänner irgendwie zu erwähnen* 2). Jeden-
D So behauptet z. B. auch Ephraem, ganz in Übereinstimmung mit der er-
wähnten, vom Midrasch gegebenen Erklärung, daß unter „Ruach Elohim“ am An-
fang des Genesisbuches nicht der „Geist Gottes“, sondern „der über dem Wasser
schwebende Wind“ zu verstehen sei. Auch kommt er auf die jüdische Haggada
von der Identität der Namen Jiska und Sara zurück (in seinem Kommentar zu
der Bibelstelle Gen. n, 29: „Ihrer Schönheit wegen wurde Sara Jiska genannt“;
die gleiche Meinung, die in derselben Weise begründet wird, findet sich im Tal-
mud: Megilla, i4 und Sanhedrin, 69) sowie darauf, daß unserer Welt eine Le-
bensdauer von sechstausend Jahren beschieden sei (vgl. Kommentar Ephraems zu
II. Kön. 4, 35 und Sanhedrin, 97).
2) Um nur eines der vielen Beispiele anzuführen, sei hier auf die folgende
Übereinstimmung hingewiesen. Im Midrasch rabba (Bereschith, 4, 8) wird die
Frage aufgeworfen, aus welchem Grunde in der biblischen Erzählung vom zwei-
ten Schöpfungstage das sonst - wiederkehrende „und Gott sah, daß es gut war“
fehlen mag. Darauf wird die Antwort gegeben, daß, da am zweiten Tage die
287
Palästina unter byzantinischer Herrschaft
falls bleibt aber ihre Methode der Bibelauslegung für Hieronymus bei
der Verfolgung seiner theologischen Ziele durchaus maßgebend. So
macht denn der Bibelkommentar des Hieronymus zuweilen den Ein-
druck, als wäre er ein ins Lateinische übertragener Midrasch.
Besonders schien den Kirchenvätern die haggadische Auslegungs-
methode für die Verankerung der Christologie und der kirchlichen
Dogmatik geeignet zu sein. Ebenso wie die Talmudisten in dem Buch-
staben des biblischen Textes einerseits einen Stützpunkt für ihre ge-
setzgeberischen Novellen und andererseits für ihre national-religiöse
Ideologie suchten, ganz so bemühten sich auch die christlichen Theo-
logen, durch die erkünstelte Auslegung desselben Textes für ihre eigene
Dogmatik eine Grundlage zu schaffen. So stießen die Väter der Kirche
und die Väter der Synagoge, mit biblischen Texten, Zitaten und
Deutungen gewappnet, hart aufeinander, nur war die Kirche dabei
nicht allein mit dem geistigen Schwerte sondern zugleich auch
mit dem der Staatsgewalt ausgerüstet. Der Kaiser Justinian, der den
Streitern der Kirche die Übermacht verteilten wollte, untersagte denn
auch in den Synagogen die „Deuterosis“, was eigentlich mit einem an
die jüdischen Lektoren und Prediger ergangenen Befehl, ihre Waffen
zu strecken und das Feld vor ihren Widersachern zu räumen, gleich-
bedeutend war. Indessen haben die Dekrete des christlichen Kaisers
keinen durchschlagenderen Erfolg gehabt als die Dekrete seines heid-
nischen Vorgängers Hadrian. Das Judentum war zum Auf geben sei-
ner geistigen Positionen nicht zu bewegen: es verlegte sie nur im
geographischen Raume. So geschah es denn, daß mit dem Nieder-
gange des nationalen Zentrums im heimatlichen Palästina die Hege-
monie nach und nach auf jenes autonome jüdische Zentrum über-
ging, das sich inzwischen im Laufe der Jahrhunderte in Babylonien
herauszubilden vermochte.
Sonderung der Elemente vollzogen wurde, Gott das Sinnbild der Entzweiung nicht
noch durch seinen Lobspruch bekräftigen wollte. Die gleiche Erklärung gibt auch
Hieronymus (Comment. in Agg. I, i: Neque enim poterat secunda dies, . . .
qui ab unione dividit, quod bonus esset. Dei sententia comprobari).
288
Drittes Kapitel
Das autonome Zentrum in Babylonien
bis zum Ende der persischen Herrschaft
§ 42. Die politische Lage unter den Sassaniden
Es wäre übertrieben zu sagen, daß die Lage der Juden im per-
sischen Babylonien in bürgerlicher und politischer Hinsicht völlig
normal gewesen wäre. Auch hier war die jüdische Bevölkerung von
dem allgemeinbürgerlichen Leben abgesondert, auch hier kam es
manchmal zu Verfolgungen, bald aus religiösen, bald aus politischen
Motiven Der Unterschied gegenüber Palästina lag jedoch darin, daß
in Babylonien das innere Leben der jüdischen Gemeinden nicht unter
so strenger Aufsicht stand wie im christlichen Palästina und daß sich
keine ausgesprochene Tendenz bemerkbar machte, ihre Selbstverwal-
tung um des Ruhmes der Staatsreligion willen einzuschränken. Über-
dies kamen Judenverfolgungen in Persien nur vereinzelt vor und wa-
ren stets nur die Folge zufälliger Ausbrüche des religiösen Fanatis-
mus oder der in einer Zeit der Wirren hereinbrechenden Anarchie,
während die Bedrückung der Andersgläubigen in den christlichen
Staaten gleichsam ein System war, das in der Epoche des Justinian
sogar eine festgefügte Form annahm. Wie in der späteren Türkei,
genossen die Juden auch in Persien, trotz des allgemeinstaatlichen
despotischen Regimes, innere Freiheit; und diese Freiheit konnte hier
gerade infolge der orientalischen Willkür und des Fehlens jener stren-
gen Lebensreglementierung, wie sie durch die römisch-byzantinische
Gesetzgebung geschaffen worden war, um so besser gedeihen.
Die lange Regierungszeit des persischen Königs Schabur II.
(809—379, die Jahre der Regentschaft mitinbegriffen) war für die
babylonischen Juden im allgemeinen ziemlich günstig. Die Königin-
Mutter Ifra-Hormizd, die bis zur Volljährigkeit Schaburs Regentin
19 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
289
Babylonien unter der persischen Herrschaft
war, konnte zwar mit den Fanatikern des Parsismus, den Magiern,
nicht immer fertig werden, doch hegte sie selbst überaus freund-
schaftliche Gefühle für die Juden. So wird im Talmud erzählt, daß
die Königin die jüdischen Gesetzeslehrer von Purnbadita und Machusa
reich zu beschenken pflegte. Als Schabur dann selbst die Zügel der
Regierung ergriff, wehte im Orient bereits das Banner des Kreuzes,
das von den zwei ersten Kaisern des christlichen Rom, von Konstantin
und Constantius, entfaltet worden war. Es begann nun der fünfund-
zwanzigjährige römisch-persische Krieg (338—363) um die Grenz-
länder, um Armenien und die Festung Nisibis am Tigris. Jetzt regten
sich auch die in Persien verstreuten Christenx): sie fühlten sich von
dem triumphierenden christlichen Rom mächtig angezogen und mach-
ten aus ihren politischen Sympathien häufig kein Hehl, wofür sie
grausame Verfolgungen von seiten der persischen Regierung und
Geistlichkeit zu erdulden hatten. So werden nicht wenige christliche
Märtyrer aus der Zeit Schaburs II. in den kirchlichen „Lebensbeschrei-
bungen der Heiligen“ verherrlicht. Im Gegensatz zu den Christen blie-
ben die babylonischen Juden Persien treu, ja viele träumten sogar
von einer Zeit, da das babylonische Judäa sich mit dem palästinensi-
schen unter dem Zepter der Sassaniden vereinigen werde. Diese Treue
wurde nicht einmal in jener kurzen Zeitspanne erschüttert, da der
römische Kaiser Julian Apostata den Juden neue Hoffnung auf eine
Wiederherstellung Jerusalems machte. Für die babylonischen Juden
war das römische Heer des Julian, das im Jahre 363 in Ktesiphon
eindrang, wobei es auch das der Hauptstadt benachbarte jüdische
Machusa zerstörte, trotz allen Verheißungen eine feindliche Heeres-
macht. Wenn somit die endgültige Niederlage der Römer, die sie zu
einem demütigenden Frieden mit den Persern zwang (die Abtretung
von Nisibis und Armenien), die persischen Christen in große Trauer
versetzen mußte, so konnte sie hingegen den babylonischen Juden, die
allen Grund hatten, die Gewalt „Edoms“ zu fürchten, nur Freude be-
reiten. Dieser lokale Patriotismus der babylonischen Juden macht es
1) Vor dem Kriege schrieb Konstantin der Große an Schabur II.: „Mich
freut die Nachricht, daß auch in Persien die wichtigsten Städte durch die An-
wesenheit von Christen geschmückt sind“. In der persischen Hauptstadt Ktesiphon
selbst befand sich die Residenz des christlichen Bischofs und in dem in ihrer
Nähe gelegenen Seleucia am Tigris fand im Jahre 344 sogar ein Kirchenkonzil
statt. Einen unmittelbaren Einfluß auf die persischen Christen übte die auto-
nome christliche Kolonie im angrenzenden Edessa aus.
200
*
§ 42. Die politische Lage unter den Sassaniden
erklärlich, daß sie in jener sturmerfüllten Epoche der nationalen und
religiösen Kämpfe von Verfolgungen, wie sie ihre christlichen Mit-
bürger zu erdulden hatten, verschont blieben. Andererseits machte aber
diese Verschiedenheit der politischen Orientierung den in Persien zwi-
schen den Juden und Christen klaffenden Abgrund nur noch unüber-
brückbarer. So polemisiert denn in der Mitte des IV. Jahrhunderts
der berühmte, den Kirchenvätern zugezählte, syrisch-persische Bischof
Aphraates in seinen Predigten mit aller Leidenschaft gegen die Ju-
den: er klagt über den gefährlichen Einfluß der jüdischen Lehren,
von denen sich „sogar christliche Mönche bezaubern lassen“; er ver-
sucht, die antichristlichen Argumente der Juden, die sie in ihren Pre-
digten und religiösen Disputationen mit den Christen geltend zu ma-
chen pflegten, zu widerlegen, sieht sich indessen genötigt, seine Me-
thoden der Bibeldeutung, gleich den anderen Kirchenvätern, gerade
der von ihm bekämpften jüdischen Haggada zu entlehnen1).
Im IV. Jahrhundert setzte im Orient eine zwiefache Emigrations-
bewegung ein: Gruppen von verfolgten Christen übersiedelten aus Per-
sien nach dem römischen Syrien und anderen Orten, wo das Chri-
stentum vorherrschend war, während viele der in Palästina und Syrien
bedrückten Juden vor den Eiferern der Kirche nach Persien und be-
sonders nach Babylonien zu ihren vor religiösen Verfolgungen besser
geschützten Brüdern flüchteten. Dieser Zustrom jüdischer Emigran-
ten nach Babylonien mochte wohl zu Beginn des V. Jahrhunderts,
als in Palästina der kirchentreue Kaiser Theodosius II., in Babylonien
dagegen der tolerante König Jesdegerd L (399—420) herrschte, be-
1) In zwei seiner „Homilien“ (17 u. 18) tritt Aphraates den Argumenten der
Juden gegen die Christen direkt entgegen; in anderen (16 u. 19) will er be-
weisen, daß Gott den wahren Glauben den Heiden, nicht den Juden offenbart
hätte, und daß die auf die nationale Wiedergeburt gerichteten messianischen Hoff-
nungen des jüdischen Volkes nie in Erfüllung gehen würden. In den übrigen
den Juden gewidmeten „Homilien“ (11—13 u. i5) verdammt er die jüdischen
Bräuche der Beschneidung, der Sabbat- und Passahheiligung und die Gesetze über
die „Unterscheidung der Speisen“. Die Beweisführung des Aphraates gegen das
Judentum erinnert lebhaft an die Gedankengänge Justins des Märtyrers, des Vaters
der christlichen Apologetik (so z. B. das Argument, daß Adam, Noah und die
Erzväter viele der Gesetze Moses’ nicht befolgt hätten, was vielleicht zu der im
babylonischen Talmud enthaltenen naiven Entgegnung eines zeitgenössischen Amo-
räers Anlaß gab, Abraham hätte nicht nur alle Gebote der Thora, sondern sogar
die Talmudvorschriften befolgt). Daß Aphraates, gleich Ephraem Syrus und Hi-
eronymus, vieles der talmudischen Haggada entlehnt hat, ist aus einer ganzen
Reihe seiner Interpretationen der biblischen Texte zu ersehen. Gleichwie Ephraem
Syrus, hat auch Aphraates seine Werke in syrischer Sprache verfaßt.
19*
291
Babylonien unter der persischen Herrschaft
deutend zugenommen haben. Der persische König wußte sich näm-
lich von dem Einfluß der Fanatiker der Zarathustrareligion frei zu
halten (wofür er freilich von den Magiern den Beinamen „Sünder“
erhielt), und brachte nicht nur den Juden, sondern auch den Christen
die größte Duldsamkeit entgegen. Bei feierlichen Anlässen erschienen
an seinem Hofe die Exilarchen und die Häupter der jüdischen Aka-
demien. Es wird erzählt, daß der König einst mit eigener Hand dem
Exilarchen Huna bar Nathan den Gürtel zurechtrückte, indem er da-
bei bemerkte, man müsse sich gegen die Nachkommen eines Volkes,
von dem in der Bibel gesagt ist: „Ihr werdet ein Priestervolk und ein
heiliger Stamm sein“, stets dienstbereit zeigen. Die von Jesdegerd I.
den Juden erwiesene Gunst führt die persische Überlieferung darauf
zurück, daß der König angeblich eine Exilarchentochter zur Frau
hatte.
Um die Mitte des V. Jahrhunderts setzte indessen eine schroffe
Reaktion ein. Die Zwistigkeiten zwischen den religiösen Kulten und
Sekten verschärften sich in Persien zusehends. Weite Verbreitung
fand der Manichäismus, ein Gemisch von persischem religiösem Dua-
lismus mit christlichen Glauhensformen. Den Repräsentanten der
herrschenden Religion schien diese durch die Propaganda des Judais-
mus, des Christentums und des Manichäismus ernstlich gefährdet zu
sein. Immer häufiger kam es zu religiösen Disputationen, die indessen
die Zwistigkeiten nur noch schärfer werden ließen. Auf die Einflüste-
rung der persischen Geistlichkeit hin begann nun der König Jesde-
gerd II. (438—457) Christen wie Juden hart zu bedrängen. Er tat
den Christen von Armenien kund: „Die Religion eures Herrn (des
Königs) muß auch die eure sein, denn wir haben für euch vor Gott
Rechenschaft abzulegen“. Darin kam in primitiver Form das in viel
späterer Zeit vorherrschend gewordene Prinzip zum Ausdruck: „Cu-
jus regio, ejus religio“. Im Bewußtsein, die volle Wahrheit zu be-
sitzen, verkündete Jesdegerd: „Töricht sind die, die da behaupten,
Gott hätte auch den Tod erschaffen, Gutes und Böses rührten glei-
cherweise von Gott her“. Solche „Torheiten“ sollten nun im Namen
des Gesetzes geahndet werden. Die Verfolgungen der Juden bestanden,
iiach den unklaren Berichten der Chroniken zu urteilen, darin, daß
man ihnen das öffentliche Sprechen des Hauptgebetes „Schma“, die-
ser Verkündigung der absoluten Einheit Gottes, sowie die Befolgung
der Sabbatbräuche untersagte, unter denen namentlich die festliche
292
§ 42. Die politische Lage unter den Sassaniden
Beleuchtung der jüdischen Häuser in der Nacht vom Freitag zum
Sabbat den feueranbetenden Persern ein Ärgernis war. Die Juden ver-
standen es freilich, diese Verbote geschickt zu umgehen.
Die Verfolgungen wurden besonders hart, als der König Peroz
(45g—486) den Thron bestieg, den die Juden schlechtweg „Böse-
wicht“ (Peroz raschia) nannten und der auch dem persischen Chroni-
sten als der „unheilbringende Herrscher, der den Unstern seines Volkes
verschuldete“, galt. Ganz im Banne der Magier stehend, trieb er das
System der religiösen Verfolgungen auf die Spitze. Dies führte zu
Zusammenstößen zwischen den Magiern und den Juden. Bei einem
dieser Zusammenstöße in der Stadt Ispahan kamen zwei Magier ums
Leben. Peroz gab daraufhin Befehl, die Hälfte der jüdischen Bevöl-
kerung von Ispahan niederzumetzeln und die jüdischen Kinder den
persischen Tempeln zu übergeben, in denen sie zum Feuerkultus er-
zogen werden sollten. Dem Schreckensregiment fielen auch die Re-
präsentanten der jüdischen Selbstverwaltung, der Exilarch Huna-Mari
sowie einige Gesetzeslehrer zum Opfer: sie wurden in den Kerker ge-
worfen und dann hingerichtet (um 470). Es waren dies die ersten
religiösen Märtyrer auf babylonischem Boden. Auf Befehl des Peroz
wurden außerdem die jüdischen Schulen geschlossen, die öffentlichen
akademischen Versammlungen verboten, die jüdische Gerichtsbarkeit
abgeschafft, die jüdischen Kinder sollten aber in gewaltsamer Weise
der Magierreligion zugeführt werden. Viele Juden übersiedelten um
jene Zeit aus Babylonien nach Arabien und Indien.
Während die einen so durch Flucht der zügellosen Willkür der
Regierung zu entrinnen suchten, ließen sich andere zu einem Auf-
stande hinreißen. Wir besitzen darüber eine dunkle, in einer jüdischen
Chronik (Seder olam sutta) erhaltengebliebene Nachricht. Ein junger
Mann namens Mar-Sutra, der Sohn eines Exilarchen Huna (wohl je-
nes Huna-Mari, der auf Befehl des Königs Peroz hingerichtet wurde),
stellte sich nämlich, vielleicht von dem Wunsche getrieben, für den
Tod des Exilsfürsten und der edlen Gesetzeslehrer Rache zu nehmen,
an die Spitze einer jüdischen bewaffneten Schar, vertrieb die per-
sische Garnison aus einer Stadt (Machusa?) und wurde so zum unab-
hängigen Herrscher eines kleinen, vornehmlich von Juden bewohnten
Bezirkes. Dies mochte in der unruhvollen Regierungszeit des Peroz
und des darauffolgenden Interregnums, als verschiedene Satrapen die
Obergewalt in den Provinzen an sich rissen, nichts Unmögliches ge-
293
Babylonien unter der persischen Herrschaft
weseri sein. Sieben Jahre lang soll Mar-Sutra über die Macht eines
selbständigen Satrapen verfügt haben, doch vermochte er schließlich
den Nachstellungen der persischen Regierung nicht zu entgehen. Der
Meuterer wurde hingerichtet und sein Leichnam an der Brücke von
Machusa auf gehängt. Einigen Familienangehörigen des Exilarchen ge-
lang es, sich durch Flucht zu retten. Sein Sohn, Mar-Sutra der Jün-
gere, entkam später nach Palästina, wo er die Würde des Vorstehers
eines Gelehrtenkollegiums, „Resch-pirka“, erlangte1).
Inzwischen brach in Persien infolge einer eigenartigen sozialen
Umwälzung ein Bürgerkrieg aus. Unter König Kavad (Kobad, 490
bis 531) trat nämlich ein Reformator des Parsismus namens Mazdak
hervor, der die Lehre verkündete, der Triumph des Lichtgottes Or-
muzd über den finsteren Ahriman verlange die Stiftung völliger
Gleichheit unter den Menschen; der Weg dazu führe aber über die
Aufhebung jedes Privateigentums und über die Einführung einer
sogar die Frauen mitumfassenden Gütergemeinschaft. Es bildete
sich die zahlreiche kommunistische Sekte der „Zendiken“, der sich
auch der König Kavad anschloß, da er auf diese Weise die Macht
!) Im Zusammenhang mit dieser dunklen, auch chronologisch nicht feststehen-
den Episode wurden verschiedene Hypothesen aufgestellt (so von Graetz, Isaak
Halevi, Funk u. a.). Unsere Darstellung (die der Hypothese von Funk: Die Juden
in Babylonien, II, 119—121, i43—i45, am nächsten kommt) gründet sich auf die
Kollationierung zweier Quellen: des „Sendschreibens des Gaon Scherira“, in dem
die auf Befehl des Peroz erfolgte Ermordung des Exilarchen Huna-Mari und der
Gesetzeslehrer flüchtig erwähnt wird, mit dem „Seder olam sutta“, wo in sagen-
hafter Form die Geschichte der nach irgendeiner Familientragödie ausgebrochenen
Erhebung des Mar-Sutra, des Sohnes des Exilarchen Huna, wiedergegeben wird. Es
drängt sich von selbst der Gedanke von der Identität der in beiden Erzählungen mit
demselben Namen benannten Exilarchen auf (die Reihenfolge der Exilarchen er-
scheint in den fragmentarischen jüdischen Chroniken überaus undurchsichtig) sowie
von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen der Ermordung des Huna und der
Erhebung des Mar-Sutra, der wohl als Sohn dieses Opfers der Willkürherrschaft des
Peroz zu betrachten ist. Hingegen sind alle sonstigen, im „Seder olam“ im Zu-
sammenhänge damit wiedergegebenen Einzelheiten (so über den Konflikt des Huna
mit seinem Schwiegervater R. Ghanina, über den durch Gottes Hand herbeigeführ-
ten Tod des Huna sowie über die Geburt des Mar-Sutra) nur als Anachronismen
zu betrachten, da sie zum Teil in der auf eine spätere Zeit sich beziehenden Sage
von der Tragödie in der Familie des Exilarchen Bostanai (s. unten, § 55) wieder-
kehren. Was aber die Tatsache der Erhebung selbst und die Bildung einer unab-
hängigen Satrapie durch Mar-Sutra betrifft, so ist sie vielleicht schon aus dem
Grunde nicht als unglaubwürdig zu betrachten, weil die Geschichte der baby-
lonischen Juden einen solchen Präzedenzfall schon unter den Parthern aufzu-
weisen hat, nämlich den im I. Jahrhundert der christlichen Ära von den Brüdern
Asinai und Anilai begründeten Freistaat (s. Band II, $ 96).
294
§ 42. Die politische Lage unter den Sassaniden
der feudalen Aristokratie und des Priestertums zu brechen hoffte. Als
Kavad deshalb gestürzt wurde, rief er die barbarischen Hunnen zu
Hilfe und gelangte mit deren Beistand von neuem zur Macht. Yon
diesem sozial-ökonomischen Zwist wurden auch die Juden stark in
Mitleidenschaft gezogen. Sowohl ihr Besitz als auch die Ehre ihrer
Frauen und Töchter wurden durch die zügellosen, kommunistisch ge-
sinnten Anhänger des Mazdak gar oft unmittelbar bedroht.
Nach langjährigen Wirren kam Persien in der Regierungszeit des
Chosroi I. Anoscharvan (531—579) endlich zur Ruhe und erlangte
von neuem seine Machtstellung nach außen. Die feindlichen Nachbar-
länder Byzanz und Arabien mußten sich vor dem Reiche der Sassa-
niden beugen. Die jüdischen Gemeinden in Babylonien vermochten
sich nach den Wirren der vorangegangenen Epoche wieder zu erholen
und ihre Selbstverwaltung wiederherzustellen. Durch die aus An-
tiochia dorthin gebrachten kriegsgefangenen Volksgenossen, die Chos-
roi nach der Einnahme dieser Stadt im Jahre 54o im Bezirke von
Ktesiphon ansiedelte, erfuhren sie sogar einen Zuwachs. Es hatte sich
dort nämlich die Kolonie Neu-Antiochia gebildet, die mit der jüdi-
schen Gemeinde von Machusa in engstem Zusammenhang stand
(§ 37). Die Gemeinden von Machusa, Sura und Pumbadita nehmen
um diese Zeit einen großen Aufschwung.
Doch war die Zeit Ghosrois I. die letzte ruhige Epoche in der
Geschichte des sassanidischen Persien. Mit seinem Tode setzen über
ein halbes Jahrhundert sich hinziehende Wirren ein, die erst mit der
Eroberung des Landes durch die muselmanischen Araber ein Ende
nehmen. Besonders groß war das Unheil unter der despotischen Re-
gierung Hormizd IV. (579—589), wie dies durch den Chronisten
der babylonischen Akademien (den Gaon Scherira) bezeugt ist. Die
großen jüdischen Akademien von Sura und Pumbadita wurden ge-
schlossen und die Gesetzeslehrer mußten heimatlos umherirren. Die
von Unwillen ergriffenen Juden schlossen sich dem gegen den despo-
tischen König von seinem Feldherrn Bahram angezettelten Aufstande
an. Sie unterstützten ihn mit Geld und Truppen und verhalfen ihm
schließlich auch zum Throne (589). Doch war Bahram keine lange
Regierung beschieden: dem gesetzlichen Thronerben Chosroi II. (591
bis 628) gelang es bald mit dem Beistände seines Verbündeten, des
Kaisers Mauritius, den Usurpator zu stürzen. Die Juden mußten für
ihre dem Bahram bezeugten Sympathien schwer büßen: das Heer
295
Babylonien unter der persischen Herrschaft
des Chosroi ließ seine Wut an der jüdischen Kolonie in Neu-Anti-
ochia sowie in Machusa aus (5go). Sobald jedoch die Ordnung in
Persien wiederhergestellt war, hörten auch die Verfolgungen auf.
Chosroi II., ein Mann von ausgesprochenem Gerechtigkeitssinn, gönnte
nunmehr den Juden völlige Ruhe. Während seines Feldzuges nach
Palästina gegen Heraklius erwiesen denn auch die dortigen Juden,
wie bereits erwähnt (§ 39), den Persern bei der Eroberung des Lan-
des überaus wichtige Dienste, in der Hoffnung, die persische Herr-
schaft werde viel leichter als die byzantinische zu ertragen sein. Um so
schwerer war der Rückschlag, als im Verlaufe der byzantinisch-per-
sischen Kriege die Truppen des Heraklius bis nach Mesopotamien
vorstießen und auch an den dortigen Juden für die Demütigung der
Kirche in Jerusalem Rache nahmen. — Das letzte Jahrzehnt des
Sassanidenreiches (62 8—638) war ganz von Kriegslärm und dyna-
stischen Wirren ausgefüllt, denen erst das Eindringen der Streiter
des Islam ein Ziel setzte.
§ 43. Die Wirksamkeit der babylonischen Akademien
im IV. Jahrhundert
In der Zeit Schaburs II., der Epoche des mächtigen Aufschwungs
des sassanidischen Persien, gelangte auch das autonome jüdische Zen-
trum m Rabylonien zu hoher kultureller Rlüte. Aus dem nunmehr
zum Kampfplatz des streitbaren Christentums gewordenen Palästina
und Syrien zogen jüdische Auswanderer in Massen an die Ufer des
Euphrat Je mehr die talmudischen Akademien in Galiläa in Verfall
gerieten, um so mehr wurden von diesem Auswandererstrom auch
die Männer der Wissenschaft mitgerissen, die der Ruhm der talmudi-
schen Schulen von Nehardea, Sura, Machusa und Pumbadita unwider-
stehlich anzog. Die Gesetzeslehrer, die Vorsteher der babylonischen
Akademien (Rosche metibta) stehen jetzt neben den Exilarchen
(Rosche gola) im Mittelpunkt des jüdischen Lebens. Sie verfügten
über eine weitgehende Gewalt sowohl auf religiös-rituellem Gebiete
als auch auf dem der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit, denn gar
oft konnten sie die in den Akademien ausgearbeiteten gesetzlichen
Normen unmittelbar auf die Praxis anwenden. Diese Möglichkeit, das
Volksleben in allen seinen Äußerungen zu regeln, erhielt die Wirk-
samkeit der babylonischen Akademien in Schwung, wiewohl auch hier,
wie es so häufig geschieht, das Mittel unversehens zum Selbstzweck
296
§ 43. Die babylonischen Akademien im IV. Jahrhundert
wurde: der Prozeß der Ausarbeitung der religiösen und sozialen Nor-
men vermittels der akademischen Diskussionen und der Auslegungen
der früheren Gesetze verwandelte sich nämlich in eine um ihrer selbst
willen betriebene Sache. So gewinnt denn die theoretische Arbeit der
Schulen auf Kosten der praktischen immer mehr an Ausdehnung, und
zwar in der schon gegen Ende des III. Jahrhunderts von den scharf-
sinnigen Geistern von Pumbadita, den Repräsentanten des „zweiten
Amoräergeschlechtes“, vorgezeichneten Richtung (§ 29).
Die Wirksamkeit des „dritten Amoräergeschlechts“ (um 015 bis
370) gelangte vornehmlich in den zwei akademischen Zentren Pum-
badita und Machusa zur Entfaltung. Das Amt eines gewählten Rek-
tors der Schule von Pumbadita bekleidete in den ersten Jahrzehnten
des IV. Jahrhunderts Rabba (Rab-Abba) bar Nachmeni, der wegen
seiner berüchtigten Dialektik den Beinamen eines „Bergeversetzers“
(Oker harim) erhielt. Bei der Rektoratswahl traten viele für die Kan-
didatur eines anderen Gelehrten, des Joseph bar Chija, ein, der
sich durch eine ungewöhnliche Kenntnis des Mischnaschrifttums aus-
zeichnete und auch alle mündlichen Halachoth treu im Gedächtnis
bewahrte. Lange wurde darüber gestritten, wem der Vorrang gebühre,
ob dem scharfsinnigen Dialektiker oder dem Manne der unerschöpf-
lichen Gelehrsamkeit. Um den Streit zu schlichten, ging man nun
die palästinensischen Gelehrten an, die die Sache zugunsten des R.
Joseph entschieden, weil die palästinensischen Amoräer sich mit den
Auswüchsen der in Babylonien überhandnehmenden kasuistischen Me-
thode grundsätzlich nicht befreunden konnten. Doch sah sich Joseph
genötigt, den ihm angebotenen Ehrenposten auszuschlagen, da, wie
die Volkssage berichtet, irgendein chaldäischer Weissager ihm pro-
phezeit hatte, es wäre ihm auf diesem Posten nur ein kurzes Leben
beschieden. In Wirklichkeit wird aber Joseph sich wohl selbst gesagt
haben, daß sein Freund Rabba für das Rektorenamt in der Schule
von Pumbadita, der eine feingeschliffene Kasuistik über alles ging,
viel eher geeignet sei. Und in der Tat war der Hörsaal des Rabba
stets überfüllt, da er wie kein anderer die Hörer durch glänzende
geistige Fechtkunst und durch die Entwirrung der schier unlösbar
scheinenden wissenschaftlichen Kontroversen hinzureißen vermochte.
Um den Geist seiner Zuhörer nicht zu übermüden, unterhielt er sie
zuweilen während seiner Vorlesungen mit interessanten Anekdoten,
Legenden und im haggadischen Geiste gehaltenen sittlichen Belehrun-
297
Babylonien unter der persischen Herrschaft
gen. Pumbadita erreichte den Gipfel des Ruhmes. Am Ende des Som-
mer- und Wintersemesters, vor den großen Jahresfeiertagen, wurden
dort populäre Vorlesungen für das Volk gehalten, die gegen 12000
Zuhörer aus verschiedenen Orten herbeilockten. Es kam so weit, daß
die persischen Behörden gegen diese oft wiederkehrenden Volks Wan-
derungen einzuschreiten begannen, da dadurch der regelmäßige Steuer-
zufluß ins Stocken geriet. Denn gar viele ließen ihr Tageswerk und
Gewerbe im Stich, lebten auf Kosten der gelehrten Mäzene und ver-
mochten schließlich ihren Steuerpflichten nicht nachzukommen. Man
denunzierte Rabba als den Veranstalter dieser Volksversammlungen,
worauf der König Schabur II. ihn zu verhaften befahl. Fluchtartig
verließ Rabba Pumbadita, um sich vor den ihm nachstellenden könig-
lichen Schergen in einer sumpfigen Gegend verborgen zu halten; bei
diesem Umherirren fand er schließlich den Tod.
Nunmehr trat in der Akademie von Pumbadita sein ehemali-
ger Rivale, Rabbi Joseph bar Chija, an seine Stelle. Doch wurde
R. Joseph bald von einem harten Schlag getroffen: infolge einer
schweren Krankheit büßte er nämlich sein außerordentliches Gedächt-
nis ein, durch das er so berühmt war. Seine Jünger mußten ihm oft
die eine oder andere der vergessenen Halachoth in Erinnerung rufen,
was dem Greise großen Kummer bereitete. Durch die ihm von seinen
Freunden und Jüngern, denen er nunmehr als ein „gesprungenes Ge-
fäß“ galt, bekundete Geringschätzung tief gekränkt, sagte er einmal
voll Bitternis: „In der alten heiligen Lade wurden nicht nur die gan-
zen Gesetzestafeln, sondern auch die Bruchstücke der zerbrochenen
aufbewahrt. Darum sollt ihr auch einen Gelehrten, der um seine Wis-
senschaft gekommen ist, nicht demütigen!“ Es scheint, daß sich
schon damals die Nachteile einer nur mündlichen Tradition jener Un-
menge von Mischnaausdeutungen, die sich in den verschiedenen Schu-
len von Palästina und Babylonien angehäuft hatten und in einem
schriftlichen Denkmal noch nicht fixiert waren, in überaus unange-
nehmer Weise bemerkbar machten.
Äußerste Zuspitzung erfuhr die kasuistische Methode unter den
Amoräern Abaji und Raba, von denen der erste an der Spitze der Aka-
demie von Pumbadita, der andere an der von Machusa stand. Die
hebräische Bezeichnung für diese Methode („Pilpul“) hat fast den-
selben Wortklang wie das für „Pfeffer“, scharfes Gewürz, gebrauchte
Wort. Dem verwöhnten Geschmack der Gelehrten mundeten näm-
298
§ 45. Die babylonischen Akademien im IV. Jahrhundert
lieh diese scharfen Spezereien in Form von unentwirrbaren und
schwerfaßlichen scholastischen Auseinandersetzungen nur zu sehr.
„Besser ein Körnchen beißenden Pfeffers — pflegten sie zu sa-
gen — denn ein Korb voll süßlichen Gemüses“. So kam es bei den
neuen Rektoratswahlen in der Akademie von Pumbadita zu einem
harten Wettkampf der Geister, den Abaji gegen noch drei Anwärter
auszukämpfen hatte; in diesem Wettbewerb blieb Abaji Sieger. Er
und Raba sind die prominentesten Vertreter dieser eigenartigen Schul-
richtung, von der sich später die rabbinische Scholastik des Mittel-
alters abzweigen sollte. Mit der gleichen Leidenschaft pflegte man in
ihren Schulen über die verwickeltesten Fälle aus dem Zivil- und ins-
besondere aus dem Familienrecht, über die unzähligen Fragen der
religiösen Riten, aber auch über die geringfügigsten Einzelheiten des
längst nicht mehr bestehenden Tempelkultes und Opferdienstes zu
streiten. Ein ständiger Mitarbeiter und Opponent des Abaji war Raba,
und so boten denn ihre „überfeinen Wortkämpfe“ (Hawaioth) der
Schuljugend unerschöpflichen Stoff für ihre geistigen Übungen.
Nach dem Ableben des Abaji zogen viele seiner Jünger aus Pum-
badita zu Raba nach Machusa. Der Andrang der Zuhörer war hier
namentlich vor den Frühjahrs- und Herbstfeiertagen, als die öffent-
lichen Vorlesungen abgehalten zu werden pflegten, so groß, daß sich
Raba einst genötigt sah, die Zuhörerschaft zu bitten, während dieser
für den Ackerbau wichtigen Monate die Vorlesungen zu meiden:
„Sonst“, sagte er, „werdet ihr euch nur schwer das ganze Jahr hindurch
ernähren können“. Die Zuhörer aus dem Volke mochte dieser Ge-
setzeslehrer durch seine volkstümlichen Predigten angezogen haben,
da er auch die Haggada durchaus nicht verschmähte. Die von ihm
erhaltengebliebenen Sinnsprüche zeugen von seinem tiefgründigen
Idealismus. „In der Schrift heißt es, die Thora befände sich nicht im
Himmel: dies will sagen, daß sie nicht in den Herzen jener wohnt,
die sich so hoch wie den Himmel wähnen (nicht in den Herzen der
Hochmütigen)“. „Der Gesetzeslehrer muß der Bundeslade gleich sein,
die sowohl von außen wie von innen mit Gold beschlagen war; einer,
der im Inneren nicht so ausgestattet ist wie von außen, ist des Rufes
als Gelehrter nicht würdig“. In der unruhevollen Zeit der römisch-
persischen Kriege, als das in der Nähe der Hauptstadt gelegene Ma-
chusa den vorbeiziehenden Truppen als Standquartier diente, kam
Raba häufig mit den persischen Behörden in Berührung. Da er über
299
Babylonien unter der persischen Herrschaft
große Mittel verfügte, sandte er nicht selten reiche Gaben an die kö-
niglichen Beamten und an Schabur II. selbst, um so dieses oder jenes
den jüdischen Gemeinden drohende Unheil abzuwenden. Das Ende
dieser Kriege und die Zerstörung seiner Residenz Machusa durch das
Heer des Julian Apostata (363) scheint Raba nicht mehr erlebt zu haben.
In der zweiten Hälfte des IV. Jahrhunderts ist es wieder Pum-
badita, dem die Vorrangstellung zufällt. An der Spitze der Akademie
steht hier eine ganze Reihe von Gelehrten, die das Werk ihrer Vor-
gänger erfolgreich weiterführen. Einer unter ihnen, R. Nachmann II.
(bar Isaak), erdachte mnemotechnische Kunstgriffe (Simanim), mit
deren Hilfe man die zahlreichen mündlichen Halachoth in ihren ver-
schiedensten Kombinationen leicht behalten konnte. Es war dies eine
um so wichtigere Erfindung, als sich die Gelehrten oft in der Riesen-
menge des mündlichen Lehrstoffs nicht mehr zurechtzufinden ver-
mochten. Der Rektor der Schule von Naressa (bei Sura), Papa bar
Chanan, pflegte hier die scholastische Art seines Meisters Raba, je-
doch mit viel geringerem Erfolge als dieser. Nicht selten verlor er
selbst bei den von ihm geleiteten komplizierten wissenschaftlichen De-
batten den Faden und mußte sich die Verspottungen der scharfsinni-
geren Kollegen gefallen lassen, die ihn durch schwierige Fragen gern
in die Enge trieben.
Die ehemalige Wechselwirkung von Schule und Leben wurde
durch das wachsende Überhandnehmen der Schule empfindlich ge-
stört. Die Gelehrtenklasse erlangte einen allzu großen Einfluß auf die
Gesellschaftsordnung, die sich in eine „Pedantokratie“, in eine Herr-
schaft weltfremder Männer zu verwandeln drohte. Während das Volk
den Gelehrten große Achtung entgegenbrachte, wußten diese ihre Ge-
ringschätzung dem unwissenden „Am-ha’arez“ gegenüber nicht im-
mer zu verhehlen, was Mißfallen und Murren hervorrief. Es ließen
sich im Volke nicht selten Bemerkungen vernehmen, wie: „Was sollen
uns die Gelehrten? Sie lesen und studieren zu ihrem eigenen Ver-
gnügen!“
§ 44. Die Sammlung und der Abschluß des Talmud
(V.—VI. Jahrhundert)
Nachdem lange Zeit das Losungswort: „Wissenschaft um der Wis-
senschaft willen“ uneingeschränkt geherrscht hatte, sah man sich
schließlich genötigt, das ursprüngliche Ziel der akademischen Tätig-
3oo
§ 44. Die Sammlung und der Abschluß des Talmud
keit von neuem ins Auge zu fassen und sich darauf zu besinnen, daß
die Wissenschaft im Dienste des Lebens stehen müsse. In den Gei-
stern der edelsten intellektuellen Führer reifte der Gedanke heran,
daß nun die Zeit gekommen sei, die ganze riesige Menge der von meh-
reren Amoräergenerationen ausgearbeiteten Gesetzesvorschriften und
Deutungen zu sammeln und zu sichten. Auch das umfassendste Ge-
dächtnis vermochte die überwältigende Menge von mündlichen Tra-
ditionen auf dem Gebiete der Religion, des Kultes, der Moral, des
Rechts und der rituellen Vorschriften nicht mehr zu umspannen. In
Babylonien war nunmehr das gleiche Bedürfnis wach geworden, das
zwei Jahrhunderte früher in Palästina zur Sammlung und sodann
auch zum Abschluß der Mischna geführt hatte. Es galt nun, auf dem
Wege der Mischnaexegese innezuhalten und die ganze angehäufte
Masse der von den Amoräern herrührenden Ausdeutungen — die so-
genannte Gemara — wenn nicht zu kodifizieren, so doch wenigstens
in ein System zu bringen. Es bedeutete dies ein Riesenwerk, eine Ar-
beit, die viel schwieriger war als die Abfassung der Mischna, da die
Gemara diese an Umfang sehr erheblich übertraf. Dieses Werk der
Vereinigung von Mischna und Gemara zu dem System des babyloni-
schen Talmud nimmt von nun ab die Kräfte der Gelehrten ein ganzes
Jahrhundert lang voll in Anspruch.
Den Grundstein zu diesem Werke legte der geniale Gesetzeslehrer
Rab Aschi (352—42 7), der Hauptrepräsentant des „vierten Ge-
schlechtes der babylonischen Amoräer“. R. Aschi war das Haupt der
Schule von Sura, die seinerzeit von dem Vater des babylonischen Tal-
mudismus Rab gegründet worden war und später ihre Vorrangstel-
lung an die Akademien von Pumbadita und Machusa verloren hatte.
Er erbaute in dem Vorort von Sura, Mata-Mechasija, ein neues Schul-
gebäude mit einer sich daran anschließenden Synagoge, und bald be-
gannen sich dort alle jene wissensdurstigen Männer zu sammeln, die
die Scholastik der anderen talmudischen Schulen unbefriedigt ließ.
Zu Beginn des V. Jahrhunderts fiel der Akademie von Sura in Baby-
lonien wieder die führende Rolle zu, und ihr Rektor galt als der erste
unter allen zeitgenössischen Amoräern. Gleich dem Patriarchen Jehuda
ha’Nassi, vereinigte auch R. Aschi in seiner Person „Gelehrsamkeit
und Würde“ (Thora u’gedula), denn er war wohlhabend und ein-
flußreich. Auch am Hofe des persischen judenfreundlichen Königs
Jesdegerd I. stand er in hohem Ansehen. Vor der Autorität des
3oi
Babylonien unter der persischen Herrschaft
„Resch-metibta“ von Sura mußten sich sogar die hochmütigen
„Resch-galuta“ beugen. Zu den Herbstfeiertagen pflegte der Exil-
fürst in eigener Person nach Sura zu kommen. Bei dieser Gelegen-
heit wurde einer der Sabbattage der traditionellen „Huldigungsfeier
zu Ehren des Exilarchen“ (Schabbata de’rigla deresch galuta) ge-
widmet, aus welchem Anlaß sich in Sura Abordnungen aller baby-
lonischen Gemeinden einzufinden pflegten. An solchen Tagen bot die
Stadt em so glänzendes Bild, daß sogar die Heiden, wie R. Aschi
sagte, sich zu den jüdischen Bräuchen hingezogen fühlten. Zweimal
im Jahre, am Sommer- und Winterausgang (in den Monaten Elul
und Adar), öffneten hier die Volksuniversitäten (Kalla) ihre Pforten.
In diesen Volkshochschulen lauschten sowohl Männer aus dem Volke
wie die Hörer der verschiedenen Akademien den Vorlesungen der be-
rühmten Gesetzeslehrer.
Rab Aschi selbst stellte seinen Vorlesungszyklus ganz auf die von
ihm ins Auge gefaßte Aufgabe ein, durch Vereinigung von Mischna
und Gemara einen einheitlichen Kodex zu schaffen. Er pflegte die
halachischen Partien der Mischna im Zusammenhang mit den ein-
schlägigen Erläuterungen und Deutungen der babylonischen Amo-
räer vorzutragen, und so begannen bald in diesem Reiche des Chaos
die ersten Ansätze einer Systematik zu keimen. Es wurde nunmehr
möglich, die drei Entwicklungsstadien, durch die viele Gesetze hin-
durch gegangen waren: das Bibel-, Mischna- und Gemarastadium, aus-
einanderzuhalten und in ihrem Zusammenhang zu begreifen. Sicher-
lich hat R. Aschi dieses System des Talmud nur unter Mitwirkung
eines ganzen Kollegiums von den beiden Akademien von Sura und
Pumbadita angehörenden Gelehrten ausarbeiten können, da ein so
großes und verantwortungsvolles Werk nicht gut die Sanktion einer
maßgebenden Körperschaft entbehren konnte. In den Quellen fehlt
ein Hinweis darauf, ob schon R. Aschi selbst an die schriftliche Fixie-
rung des Sammelwerkes herangetreten war, oder ob er sich nur auf
eine Systematisierung in mündlicher Form beschränkte. Indessen ist
zu vermuten, daß ein beträchtlicher Teil des talmudischen Stoffes
schon zu seinen Lebzeiten niedergeschrieben wurde, denn es ist un-
wahrscheinlich, daß ein derart kompliziertes Sammelwerk nur im
Gedächtnis allein, ohne schriftliche Unterlagen, hätte aufbewahrt wer-
den können. Jedenfalls war es R. Aschi, der für den Riesenbau des
freilich erst siebzig Jahre nach seinem Tode zum Abschluß gelang-
302
§ 44. Die Sammlung und der Abschluß des Talmud
ten „Babylonischen Talmud“ die feste Grundlage geschaffen hat. So
wurde denn das Verdienst des R. Aschi sowohl von der Mit- als auch
von der Nachwelt voll gewürdigt. Man stellte ihn in eine Reihe mit
dem großen Sammler der Mischna, Rabbi Jehuda ha’Nassi: hat die-
ser über der Thora ein zweites Stockwerk, die Mischna, aufgeführt,
so hat R. Aschi darüber hinaus ein drittes Stockwerk erbaut, die Ge-
mara, die nun mit der Mischna zusammen den „Babylonischen Tal-
mud“ ergab.
Die letzten Jahrzehnte der Wirksamkeit des R. Aschi fallen in die
Regierungszeit Jesdegerds I. Wie bereits erwähnt, brachte dieser
Herrscher den jüdischen Exilarchen und Gelehrten große Hochach-
tung entgegen, und so mochte auch der volkstümliche Rektor der
Akademie von Sura einer der Gesetzeslehrer gewesen sein, die bei
Hofe gern gesehen waren. Den Nachfolgern des R. Aschi waren solch
günstige Arbeitsbedingungen nicht mehr vergönnt. Die unheilvolle
Zeit Jesdegerds II. und namentlich die des „Frevlers“ Peroz, als
Selbstverwaltung und Schule, Exilarchen und Gesetzeslehrer gleicher-
weise unter den Verfolgungen litten, war für die Ausbildung großer
Persönlichkeiten auf dem Gebiete der Wissenschaft nicht gerade gün-
stig. So standen der Sohn des R. Aschi, Mar oder Tabioma, wie auch
die anderen zeitgenössischen Amoräer, die die Leitung der Akade-
mien von Sura und Pumbadita innehatten („fünftes Amoräerge-
schlecht“, 43o—47o), in der Tat ihren Vorgängern an wissenschaft-
licher Bedeutsamkeit erheblich nach. Doch arbeiteten auch sie an dem
einmal begonnenen Werke der Talmudsammlung unentwegt fort, in
der Einsicht, daß es ein Gebot gerade dieser unheilvollen Zeit sei,
das geistige Erbe der Vergangenheit vor der Vergessenheit zu be-
wahren.
Diese Arbeit zu Ende zu führen, war indessen erst den Amo-
räern der sechsten und letzten Generation beschieden (470—500).
Ihre Wirksamkeit fällt in die bösen Jahre, da auf die Regierung des
Peroz zunächst das Interregnum und dann die Anarchie in der Zeit
des Kavad folgte. Die zeitweilig geschlossenen Akademien von Sura
und Pumbadita nahmen allerdings ihre Tätigkeit wieder auf, doch
galt es, die ein Jahrhundert währende Sammlerarbeit nun so schnell
wie möglich zu Ende zu führen. So stellte sich denn der Rektor der
Akademie von Sura, Rabina bar Huna, an die Spitze der letzten
Amoräer, um mit deren Beistand den Abschluß des Talmud in die
3o3
Babylonien unter der persischen Herrschaft
Wege zu leiten. Unter seiner Oberleitung gelang es dem Gelehrten-
kollegium, nach dem System von Rab Aschi die Sichtung des gan-
zen Stoffes der mündlichen Lehre zu vollenden, worauf es nunmehr
die in schriftlicher Form fixierte Rezension für „abgeschlossen“, d. h.
für einen Text erklärte, der in Zukunft durch keinerlei Zusätze oder
wesentliche Abänderungen modifiziert werden durfte. Die babyloni-
sche Gemara wurde dabei den entsprechenden Teilen der Mischna
zugeordnet und bildete zusammen mit dieser ein einziges riesiges
Schriftdenkmal: den „Babylonischen Talmud“ (Talmud Babli). Die
folgenden Gelehrtengenerationen mußten allerdings an der endgül-
tigen Redaktion des Talmudtextes noch Weiterarbeiten, doch be-
schränkte sich ihr Werk ausschließlich auf diese redaktionellen Ver-
besserungen, und so ehrte man diese Gelehrten auch nicht mehr mit
dem Amoräertitel. Als letzter Amoräer gilt Rabina, dessen Todesjahr
zugleich als das Jahr des Talmudabschlusses angesehen wird (499
oder 5oo).
Ganz in Übereinstimmung mit der Einteilung der Mischna besteht
auch der babylonische Talmud aus sechs in dreiundsechzig Traktate
zerfallenden Hauptteilen. Den knapp gehaltenen Mischnaartikeln, von
denen jeder gewöhnlich nur wenige Zeilen beansprucht, folgen die
eingehenden Auseinandersetzungen der Gemara, die in der Regel
einen Raum von mehreren Seiten ausfüllen. Indessen sind im ganzen
nur siebenunddreißig Mischnatraktate von den Erörterungen der Ge-
mara begleitet, während die Mehrzahl der in den speziellen Teilen
„Seraim“ und „Taharoth“ zusammengefaßten Traktate, die die außer
Kraft getretenen, auf die palästinensische Agrarverfassung, die Tem-
pelweihgaben und rituellen Reinigungen bezüglichen Gesetze enthal-
ten, des Gemarakommentars entbehren. Immerhin wurde das ge-
samte geltende Recht, das sakrale sowie das bürgerliche und nament-
lich das Familienrecht, ja sogar ein Teil des ehemaligen Priesterko-
dex im Talmud in allseitig durchgebildeter Form zu einer Einheit
zusammengefaßt. Dank seiner Vollständigkeit und der leidlich syste-
matischen Darstellungsweise drängte der babylonische Talmud den
weniger vollständigen und fragmentarischen palästinensischen Talmud
(§ 4o) ganz in den Hintergrund. So brachte man diesem letzteren nur
ein rein geschichtliches Interesse entgegen, während der babylonische
Talmud sowohl als Unterrichtsbuch für die Schulen, wie auch als
eine Quelle der Gesetzeskunde und der praktischen Gesetzgebung in
§ 44. Die Sammlung und der Abschluß des Talmud
allgemeinem Gebrauch blieb. Die Sprache des babylonischen Talmud
ist die hebräisch-aramäische, wobei die aramäischen Formen beson-
ders in den volkstümlicheren haggadischen Partien zur Geltung kom-
men, die sich anscheinend einer der damaligen Umgangssprache der
babylonischen Juden sehr nahe kommenden Mundart bedienten.
Nach dem Abschluß des Talmud geriet der originale geistige
Schaffensprozeß zeitweilig ins Stocken. Ein selbständiges Auslegen
der Mischna galt als nicht mehr zulässig, da man der Ansicht war,
daß die Gemara alle erdenklichen Fälle des Mischnarechts bereits zur
Entscheidung gebracht hätte, wodurch auch das Werk der Amoräer
oder der „Interpreten“ als definitiv abgeschlossen gelten mußte. So
blieb nur noch die Erläuterung des Talmudtextes und dessen endgül-
tige stilistische Bearbeitung übrig. Damit befaßten sich denn auch
im VI. Jahrhundert die Epigonen der Amoräer, die man Saboräer
(Rabbanan saborai), d. i. die Erklärenden, die Erwägenden nannte.
Die Saboräer standen zum Talmud in dem gleichen Verhältnis, in dem
nach Esra die Schriftgelehrten oder „Soferim“ zur Bibel standen:
sie kollationierten die Texte, sammelten die Lesarten und fügten in
den Grundtext nur hie und da ihre Bemerkungen ein. So führten
die Saboräer das Werk der Verewigung der mündlichen Lehre in
einem schriftlichen Denkmal zum endgültigen Abschluß und berei-
teten den Boden für die talmudistische Schule der Zukunft vor.
Über die einzelnen Saboräer und ihre Wirksamkeit bieten uns die
Urkunden nur sehr dürftigen Stoff. Sie begannen ihre Tätigkeit zu
einer Zeit, als die unter Kavad im Zusammenhang mit der Mazda-
kitenbewegung ausgebrochenen Wirren noch nicht zu Ende waren,
und konnten sie dann in der ruhigeren Regierungszeit des Chosroi
Anoscharvan weiterführen, um ihr Werk um die Mitte des VI. Jahr-
hunderts ganz zum Abschluß zu bringen. Je nach der Gestaltung der
politischen Lage wurden die Akademien von Sura und Pumbadita bald
geschlossen, bald wieder eröffnet. Die Rektoren und die akademi-
schen Kollegien beschäftigten sich, wie bereits erwähnt, vornehmlich
mit der Kollationierung der verschiedenen Talmudtexte und mit der
Feststellung der maßgebendsten Lesarten. Als die hervorragendsten
Saboräer der ersten Hälfte des VI. Jahrhunderts weiß die Überlie-
ferung zu nennen: den Rektor der Akademie von Pumbadita, Rab
Jose, der zusammen mit dem letzten Amoräer Rabina noch an dem
Abschluß des Talmud teilgenommen hatte, sodann R. Aina in Sura
20 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
3o5
Babylonien unter der persischen Herrschaft
und R. Simona in Pumbadita. Während der dann eingetretenen un-
ruhevollen Regierungszeit Ormizds IV. wurden beide Akademien wie-
der einmal geschlossen, so daß die Gesetzeslehrer von Ort zu Ort um-
herirren mußten. In diese Zeit fällt die Gründung einer provisori-
schen Talmudschule in der unweit von Nehardea gelegenen Stadt Pe-
roz-Schabur. Erst nach der Befriedung des Landes konnte der Unter-
richt in den Hauptschulen von Sura und Pumbadita wieder auf ge-
nommen werden, doch scheint das Werk der Saboräer, soweit es sich
um die Redaktion des Talmudtextes handelt, um diese Zeit bereits ab-
geschlossen gewesen zu sein. Der weitere Geschichtsverlauf in diesem
Zeitabschnitt ist in völliges Dunkel gehüllt. Die Wirksamkeit der Ge-
lehrten, die in den letzten Jahrzehnten der persischen Herrschaft leb-
ten, mündet unmittelbar in die jener neuen geistigen Führer, die zu
Beginn der Epoche der arabischen Herrschaft unter dem Titel „Gao-
nen“ in den Vordergrund traten. Im Nebel der Übergangszeit tau-
chen unklare Silhouetten auf, die Umrisse der Personen und der
Ereignisse verschwimmen und fließen ineinander, bis sich aus die-
sem geschichtlichen Chaos eine neue, durchsichtigere Zeitperiode her-
auszukristallisieren beginnt.
§ 45. Die geschichtliche Bedeutung des Talmud
Der Talmud stellt eine Riesenenzyklopädie des nachbiblischen Ju-
daismus dar, die seine religiösen Bräuche und Rechtsnormen, seine
Theologie und seine Ethik in gleicher Weise umspannt. Vieles von
dem, was dem urwüchsigen jüdischen Geist in den ersten fünf Jahr-
hunderten der christlichen Ära entsprossen ist, liegt hier in kon-
zentrierter Form vor. Es wäre deshalb falsch, den Talmud einen
„Gesetzeskodex“ im üblichen Sinne zu nennen, denn neben den Ge-
setzen und ihrer Auslegung enthält er noch eine Fülle von gesetzge-
berischen Vorschlägen sowie darüber hinaus eine Unmenge von Wis-
sensstoff aus den Gebieten der Rechtslehre, der Medizin und Hy-
giene, der Agronomie und aus vielen anderen verwandten und an-
grenzenden Gebieten; auch die religiös-sittliche Belehrung nimmt den
ihr gebührenden Raum ein. Aber selbst die Parteien mit gesetzgeberi-
schem oder halachischem Inhalt sind in der Gemara nicht in
Form von Entscheidungen oder präzisen Schlußfolgerungen enthal-
ten, sondern in der von Erörterungen oder lebhaften Auseinander-
3o6
§ 45. Die geschichtliche Bedeutung des Talmud
Setzungen zwischen den einzelnen Gesetzeslehrem. So haben sich im
Talmud nicht nur die Ergebnisse des geistigen Schaffens einer ganzen
Reihe von Generationen erhalten, sondern zugleich auch dieser Schaf-
fensprozeß selbst, der sich in der Wiedergabe der Diskussionen, zum
Teil in protokollartiger Form, aufs getreueste spiegelt. War doch
der Talmud, wie schon aus seiner Bezeichnung erhellt („Studium“,
„Wissenschaft“) von Anfang an weniger als ein Kodex für den prak-
tischen Gebrauch gedacht, sondern eher als ein Kompendium für die
Schule, das ferner auch jedem Juden als Nachschlagewerk bei sei-
nen Studien dienen sollte, in dem er alles Wissenswerte leicht
finden konnte. Er war, mit anderen Worten, eine Universitas literarum
des Judaismus, der Inbegriff des ganzen speziell-jüdischen und all-
gemein-menschlichen Wissens, das der Gesichtskreis der Juden je-
ner Zeit zu umspannen vermochte.
Der Talmudtext, der auch nach seiner letzten Redaktion noch als
ein recht buntes Gemisch erscheint, stellt vor allem die Vereinigung
von zwei sehr verschiedenartigen Elementen dar: der Halacha, der
Frucht der Tätigkeit der Gesetzeskundigen, und der Hag gada, des
Schaffensproduktes der Theologen, Philosophen und Dichter. Das
eine wie das andere Element stützt sich freilich auf dieselbe Autori-
tät der Heiligen Schrift und der altehrwürdigen Überlieferungen,
beide suchen durch die Ausdeutung der maßgebenden Textstellen die
erwünschten Schlußfolgerungen zu gewinnen, und doch verfolgt ein
jedes von ihnen seine eigenen Zwecke. Während die Halachisten auf
dem Wege scharfsinniger und nicht selten allzu waghalsiger Erör-
terungen alle im Laufe eines Jahrtausends angehäuften Rechtsnor-
men und Kultgesetze in eine lückenlose logische Kette zu verbinden
bestrebt sind, gehen die Haggadisten bei der Bibelauslegung auf Be-
lehrung und die Erweckung religiös-sittlicher Gefühle aus. Der Hala-
chist beackert das Feld des Gesetzes, der Haggadist das des Glaubens,
der religiösen und nationalen Gefühle. Die talmudische Haggada tritt
uns in Form von weisen Sinnsprüchen, Allegorien, bildhaften Gleich-
nissen, verklärenden Sagen, von phantastischen und häufig auch recht
naiven Märchen entgegen; sie vertieft sich in den ethischen und na-
tionalen Sinn des Judaismus; zu didaktischen Zwecken vermählt sie
das Geschichtliche mit dem Sagenhaften. So spiegeln sich in ihr die
Sehnsucht des Volkes und seine Hoffnungen, sein Alltag, seine Sit-
ten und seine Glaubensformen wieder.
307
20*
Babylonien unter der persischen Herrschaft
Neben das biblische Schrifttum tritt somit von nun ab ein neues
Schrifttum: die im babylonischen Talmud vereinigte Mischna und
Gemara. Infolge seiner hier gekennzeichneten Besonderheiten konnte
dem Talmud die folgende dreifache Aufgabe zugewiesen werden: er
sollte erstens als religiöses und bürgerliches Gesetzbuch dienen, so-
dann ein zu Lehr- und Erziehungszwecken verwendbares Buch sein,
außerdem aber auch zu einer Quelle der Belehrung und des Wissens
für die Volksmassen werden. Bei der Erfüllung jeder dieser drei
Aufgaben, in deren Diensten der Talmud im Laufe der folgenden
Periode der jüdischen Geschichte stand, zeitigte er überaus wichtige
Ergebnisse, die zum Teil positiv, zum Teil aber negativ zu werten
sind.
Als ein religiöser Kodex (oder richtiger, als die Grundlage zu
einem solchen Kodex) verwirklichte der Talmud das Vermächtnis der
ersten Schöpfer der mündlichen Lehre: er errichtete einen festgefügten
„Zaun um die Thora“ oder vielmehr ein ganzes System von Umfrie-
dungen, den „Zaun um den Zaun“, wie es die talmudische Wendung
so treffend zum Ausdruck bringt. Waren die biblischen Gesetze schon
in der Mischna durch eine Fülle von diese Normen schützenden Vor-
schriften umgeben, so hat die Gemara für die Mischnagesetze noch
weitere Sicherheitsvorschriften aufgestellt Dadurch wurden die Gren-
zen des Gesetzes und der Lebensregeln so weit gezogen, daß sie die
gesamte private und öffentliche Lebenssphäre des Juden restlos um-
faßten. Die Gesamtheit all dieser Gesetze und Bräuche sollte in der
Lebensordnung der Angehörigen der jüdischen Nation strenge Gleich-
förmigkeit schaffen, sollte sie durch die verbindlichen Formen der
Lebensführung, der Bräuche und Sitten überall zu Teilen eines und
desselben Ganzen machen. Dieses nationale Ziel hat der Talmud denn
auch voll erreicht: durch die strenge Zucht der Lebensführung för-
derte er die Einheit des zerstreuten Volkes und trug zur Erhaltung
des Judaismus bei, er bewahrte das Judentum vor der Auflösung
unter den anderen Völkern, wappnete es gegen die Einwirkung frem-
der Religionen, fremder Kulturen und Sitten. Indem jedoch der Tal-
mud das Judentum zu einer Einheit verband, schlug er zugleich auch
das Leben des einzelnen Juden in Banden, umstrickte ihn mit einem
dichten Netz von Vorschriften, Regeln und Riten, bürdete ihm eine
allzu schwer lastende Disziplin auf, so daß der einzelne jeden seiner
Schritte, sogar seine physiologischen Funktionen, den Vorschriften
3o8
§ 45. Die geschichtliche Bedeutung des Talmud
des Gesetzes anzupassen hatte. Freilich wurde damit auch ein ethi-
sches Ziel verfolgt: die Heiligung oder die Vergeistigung aller natur-
bedingten und alltäglichen Handlungen; doch mußten die Mittel zu
diesem Zwecke, in der Form von unzähligen Riten, in der Praxis
gleichsam als Selbstzwecke erscheinen, und so drückten sie nicht sel-
ten das religiöse Bewußtsein auf das Niveau kleinlicher Werkheilig-
keit und formalistischer Frömmigkeit herab. Jeder der biblischen
Hauptriten verzweigte sich im Talmud zu einer Fülle von Bräuchen,
die auf das minutiöseste umschrieben waren; so mündete z. B. das
biblische Gebot der Sabbatruhe im Talmud in Vorschriften wie das
Verbot, am Sabbat auch nur ein Gräschen auszuraufen, gewisse Ge-
brauchsgegenstände zu berühren („Mukza“) oder sogar das leich-
teste Ding am heiligen Tage bei sich zu tragen; gleichen Charakters
waren auch die unzähligen, von den Talmudisten eingeführten Speise-
gesetze und die alle anderen Seiten des privaten und häuslichen Le-
bens betreffenden Vorschriften 1). Abgesehen davon, daß solche Vor-
schriften die persönliche Freiheit auf Schritt und Tritt einengten,
zeitigten sie in der Religion, indem sie diese zu einer Kontrollinstanz
für alltägliche, ihr ganz und gar gleichgültige Dinge degradierten,
einen bis ins Extreme gehenden Formalismus.
Als ein für Erziehungs- und Lehrzwecke bestimmtes Buch hatte
der Talmud gleichfalls seine guten wie seine schlechten Seiten. Nach-
dem die talmudische Halacha im Mittelalter zum Haupt-, ja beinahe
zum einzigen Unterrichtsfach in den Schulen geworden war, begün-
stigte sie durch ihre scharfe Dialektik in höchstem Maße die Ver-
feinerung des Verstandes und die Entwicklung der Begabung für
logische Analyse; sie erhielt den Geist fortwährend in Spannung,
belebte ihn und trieb ihn zur Tätigkeit an. Indem jedoch die Ha-
lacha zugleich die gesamten geistigen Kräfte der Lehrenden wie der
Lernenden absorbierte, bildete sie den Verstand in allzu einseitiger
Weise aus und gewöhnte ihn an eine kleinliche, kasuistische Art der
Untersuchung, die, statt auf das Wesen der untersuchten Probleme
einzugehen, nur ihrer formalen Seite Rechnung trug, nur auf die ge-
1) Schon im IV. Jahrhundert konnte der heilige Hieronymus in folgender
Weise über die Juden schreiben (In Gal. 3, Patr. lat. XXVI, 35o): „Seht nur
diese unglückseligen Juden, mit welcher abergläubischen Angst und mit welch
strengem Eifer in der Befolgung ihrer Bräuche sie unter den Völkern leben, indem
sie immerzu einander zurufen: Dies berühre nicht, davon koste nicht, jenes taste
nicht an“.
3og
Babylonien unter der persischen Herrschaft
künstelte Schlichtung entgegengesetzter Ansichten oder auf die Er-
findung neuer Fragen ausging, mit dem alleinigen Zwecke, sie durch
eine scharfsinnige Beantwortung wieder aus der Welt zu schaffen.
Diese ausgeklügelte, scholastische Wissenschaft um der Wissenschaft
willen, die zu einer Art geistigen Sports wurde, lenkte den Verstand
von dem lebendigen realen Wissen ab und entfremdete ihn zugleich
allem konkreten Denken überhaupt1).
Was endlich die wichtigste Funktion betrifft, die Versorgung des
Volkes mit geistiger, nicht ausschließlich für das Gehirn bestimm-
!) Es sei hier eine Probe von der im babylonischen Talmud erfolgten Ver-
einigung von Mischna und Gemara angeführt, die zugleich als Musterbeispiel des
talmudischen Stiles sowie der Methode der kasuistischen Auslegung dienen kann.
Die Stelle handelt von dem Brauch des „Erub tabschilin“, jener eigenartigen
„juristischen“ Fiktion, derzufolge an einem Feiertage für den Bedarf des darauf-
folgenden Sabbattages, an dem man weder Feuer anzünden noch kochen darf, die
Zubereitung der Speisen gestattet ist (am Feiertage darf man nämlich nur für den
Bedarf dieses Tages selbst kochen). Die Fiktion besteht nun darin, daß man am
Vorabend des Feiertages eine einzige, für den Sabbat bestimmte Speise kocht,
während alles sonst am Feiertage selbst gekocht wird, damit man es am darauf-
folgenden Sabbattage so, als ob dies nur Überreste der noch am Vorabend des
Feiertages zubereiteten Mahlzeit gewesen wären, genießen könne: „Mischna. Fällt
der Feiertag auf einen Freitag, so darf man eigens für den Sabbatbedarf am
Feiertag nicht kochen, doch darf man wohl für den Bedarf des Feiertages kochen
und den Rest am Sabbat verzehren. Hierfür muß man am Vorabend des Feiertages
irgendeine gekochte Speise als Grundlage für die Sabbatmahlzeit vorbereiten. —
Gemara. Worauf gründet sich dies nun? Samuel sagt: In der Schrift heißt es:
,Denke daran, den Sabbattag heilig zu halten£ — dies will sagen: Lege dir irgend-
ein Andenken zurück in den Fällen, wo man daran vergessen könnte (nämlich, wie
in diesem Falle, wenn der Sabbat mit dem Feiertag zusammenfällt). Wozu aber
dies? Raba meinte: um einen entsprechenden Teil für den Sabbat und einen ent-
sprechenden Teil für den Feiertag zurückzustellen. R. Aschi meinte, weil man an
einem Feiertage für den Sabbatbedarf kein Brot backen dürfe, geschweige denn
am Feiertage für den Bedarf des Wochentags. Nun heißt es in der Mischna: ,Man
muß am Vorabend des Feiertags irgendeine gekochte Speise als Grundlage für die
Sabbatmahlzeit vorbereiten*; vom Standpunkte des R. Aschi ist dies wohl begreif-
lich: am Feiertage darf man für den Sabbatbedarf nicht zubereiten, d. h. am Feier-
tage selbst darf man es nicht tun, wohl aber am Vorabend. Vom Standpunkte des
Raba aber (Zurückstellen der Teile), wozu am Vorabend (abteilen), da man ja dies
auch am Feiertage selbst machen kann? Doch kann dies aus der Besorgnis heraus
bestimmt worden sein, daß man (an die Vorräte für den Sabbat) vergessen könnte.
Was aber den Tannaiten betrifft (den Urheber dieser Mischna), so leitet er diese
Vorschrift von dem in der Schrift Gesagten (Ex. 16, 2 3) ab: ,Was ihr backen
wollt und was ihr kochen wollt, kocht (am Vorabend des Sabbat)'; hieraus entnahm
R. Elieser: Backen darf man nur als Zugabe zu dem, was schon gebacken ist, und
kochen nur als Zugabe zu dem, was schon gekocht ist. Vermittels dieser Schluß-
folgerung begründeten die Gesetzeslehrer den Brauch des ,Erub-tabschilin durch
eine Vorschrift der Thora“ (Trakt. Beza, Kap. II, Fol. i4b).
3io
§ 45. Die geschichtliche Bedeutung des Talmud
ter Nahrung, so fiel sie dem moralisch-philosophischen und poeti-
schen Teil des Talmud zu, der Haggada. Dieser Aufgabe vermochte
die Haggada in der Tat vollauf gerecht zu werden: sie vermittelte
dem Volke erhabene sittliche Maximen, unterwies es in den Regeln
der Lebensweisheit, tröstete es in seinem Mißgeschick mit der Hoff-
nung auf ein besseres Los in dieser oder in der künftigen Welt,
bot ihm Unterhaltungsstoff durch die von ihr wiedergegebenen ge-
schichtlichen oder poetischen Sagen, vermittelte ihm mit einem
Worte eine bestimmte Weltanschauung. Indessen war auch diese
von erhabener Sehnsucht nach sittlicher Wahrheit durchdrungene
Weltanschauung überaus einseitig eingestellt. Israel stellt darin den
Mittelpunkt des Weltalls dar, um den sich alles dreht. Es ist dies
gleichsam ein judäozentrisches System der Geschichtsphilosophie, das
lebhaft an das alte geozentrische System der Kosmologie erinnert.
„Die ganze Welt ist nur um Israels willen erschaffen“ — so lautet
das Losungswort dieses Ultranationalismus. Israel muß in sich ab-
geschlossen leben, in stolzer Einsamkeit, um durch die Berührung
mit der Umwelt nicht entweiht zu werden. Von einem Bestreben, Pro-
selyten in den Umkreis des erwählten Volkes einzubeziehen, ist längst
keine Spur mehr übrig: „Die Neubekehrten sind für Israel uner-
träglich wie der Aussatz“. Nur Gott allein vermag am Ende der
Zeiten die ganze Menschheit auf den rechten Weg zu führen. Die
Sehnsucht darnach bildete den Inhalt besonderer Gebete, wie z. B.
des von dem Vater des babylonischen Talmudismus Rab verfaßten
Hymnus „Alenu“ (oben, § 28). Der prophetische Universalismus
wurde so als ein fernes Ideal bis in die Zeit der messianischen Wun-
der hinausgeschoben. Bis dahin galt es aber, in einsamer Abgeschie-
denheit hinter der Umfriedung der strengen, wachsamen Gesetze aus-
zuharren.
Allerdings war auch hierbei eine geschichtliche Notwendigkeit
maßgebend. Dieser engbegrenzte Ideenkreis stimmte mit der mittel-
alterlichen Lebensordnung und der ihr eigenen konfessionellen Un-
duldsamkeit sowie mit ihrem Kastengeist aufs beste zusammen. Es
war dies die Abgeschlossenheit der Verfolgten, die, vom Feinde um-
zingelt, in ihrer geistigen Zitadelle Zuflucht gefunden hatten. So
wurde denn der Talmud alles in allem eine Schutz wehr gegen die Ge-
fahren, die der Nation sowohl von seiten des heidnischen als auch
des christlichen Staates drohten.
Babylonien unter der persischen Herrschaft
Ein halbes Jahrhundert vor dem Abschluß des Talmud trat in
Byzanz der „Kodex des Theodosius“ (Codex Theodosianus, 438) in
Kraft, und einige Jahrzehnte nach dem Abschluß des Talmud wurde
auch der „Kodex des Justinian“, durch „Novellen“ dieses Kaisers
ergänzt, der Öffentlichkeit übergeben (529—556). Diese beiden, Recht
und Gesetzgebung des heidnischen und christlichen Rom zu einer
Einheit verbindenden Gesetzbücher, all diese Institutionen, Digesten,
Novellen stellten ein Gegenstück zu den entsprechenden Partien des
Talmud dar. Und was finden wir nun in diesem griechisch-römischen
Talmud, was zeigen uns namentlich die christlichen Schichtungen sei-
ner von der Zeit Konstantins des Großen bis zu der Justinians rei-
chenden Gesetzgebung? — Eine ganze Reihe von demütigenden
Rechtsbeschränkungen, die sich auf Juden wie auf alle Andersgläu-
bigen und „Ketzer“ überhaupt erstrecken und obendrein von einer
tiefverletzenden Motivierung dieser Rechtsverweigerung begleitet sind.
Die Gesetze haben für die Juden Bezeichnungen von der Art wie
inferiores, infames, turpes (Minderwertige, Ruchlose, Garstige), ihre
Andachtsversammlungen werden „Zusammenrottungen von Gotteslä-
sterern“ (sacrilegi coetus) genannt, die Ehe eines Juden mit einer
Christin ein „schamloses Zusammenleben^ (consortium turpitudinis).
Das Bestreben, die Juden als eine minderwertige Rasse hinzustellen,
um so ihre Entrechtung rechtfertigen zu können, zieht sich wie ein
roter Faden sowohl durch die „Halacha“ des Corpus juris civilis als
auch durch die „Haggada“ des damaligen patristischen Schrifttums.
Wir hatten schon Gelegenheit, die Stellungnahme der maßgebendsten
Kirchenväter zum Judentum kennenzulernen. In ihren Predigten
und Schriften brandmarken sie die Juden als einen verworfenen
Stamm, der wegen seiner Verleugnung Christi zu ewigen Qualen ver-
dammt sei, während sie die jüdische Religion als eine verderbliche,
vom Satan selbst eingegebene Irrlehre zu entlarven suchen. Gegen
dieses Übermaß des von der Umwelt bekundeten Hasses konnte nun
der Talmud als Hort und Schutzwehr dienen. Der Redensart von der
„Verstoßenheit Israels“ setzte er die übertrieben betonte Idee der
„Auserwähltheit“ entgegen; er flößte dem Volke eine stolze Verach-
tung für die es Verachtenden ein und jenes übermäßige Selbstgefühl,
das geeignet ist, in den Verfolgten, Verkannten und Mißverstandenen
den Mut nicht sinken zu lassen.
Dies ist die wahre geschichtliche Bedeutung, die dem Talmud zu-
§ 45. Die geschichtliche Bedeutung des Talmud
erkannt werden muß. Ungeachtet aller ihm anhaftenden Mängel trug
er zur Aufrechterhaltung der autonomen nationalen Organisation des
Judentums in höchstem Maße bei. In den düsteren Jahrhunderten
des Überganges von der Antike zum christlichen Mittelalter vermochte
er dem gesamten jüdischen Leben den scharf ausgeprägten Charakter
der Geistigkeit zu verleihen: der Talmud ist es, der den Prozeß der
Umwandlung des Judentums in eine vornehmlich „geistige Nation“,
d. i. in eine solche, deren Mitglieder durch die Gemeinsamkeit des
idealen Strebens vereinigt sind, seiner Vollendung entgegenführte.
Durch die beispiellose religiöse Zucht stählte er den Geist der Nation
und verlieh ihr die Kraft, solchen Erschütterungen zu widerstehen,
die andere Völker das Leben kosteten. Der Talmud erhielt die Ein-
heit des jüdischen Volkes aufrecht und konservierte, wenn auch unter
allzu harter Rinde, den Judaismus; indessen, wie hätte sich dieser
Kern des Judaismus unversehrt erhalten können, wenn er diese un-
durchdringliche Schale hätte entbehren müssen? In dem weiteren Ver-
lauf unserer Darstellung der Geschicke des Judentums wird uns diese
gewaltige geschichtliche Macht, wird uns der „talmudische Judais-
mus“ nunmehr auf Schritt und Tritt entgegentreten.
3i3
Viertes Kapitel
Lebensführung und Sitten in der Periode
der palästinensisch-babylonischen Hege-
monie nach talmudischen Quellen
§ 46. Wirtschaftliche Verhältnisse
Das talmudische Schrifttum, das die jüdische Gesetzgebung und
Lebensführung während der ersten sechs Jahrhunderte der christ-
lichen Aera treu widerspiegelt, zeugt von einer großen Mannigfaltig-
keit der wirtschaftlichen Betätigungsarten in den beiden jüdischen
Hauptzentren, Palästina und Babylonien. Beide Provinzen, die eine
im römisch-byzantinischen, die andere im parthisch-persischen Reiche
gelegen, gehörten zu den kulturell höchststehenden Gebieten Vorder-
asiens. Wie schon in uralter Zeit, zählten die palästinensische Mittel-
meerküste und die weitausgedehnte Ebene längs des Euphrat noch
immer zu den wichtigsten Wirtschaftsgebieten des Morgenlandes und
blieben nach wie vor die Länder des blühenden Ackerbaues sowie des
Ausfuhr- und Durchfuhrhandels. In beiden Ländern lag den Juden
jene einseitige wirtschaftliche Betätigung, zu der sie das spätere mit-
telalterliche Ghetto verdammte, noch durchaus fern. Mit gleichem
Eifer treiben sie Ackerbau, Handel und Gewerbe und üben allerlei
freie Berufe aus. Alle Glieder des wirtschaftlichen Organismus funk-
tionieren in völlig normaler Weise, auch jenes nicht ausgenommen,
welches das soziale Leben mit dem der Natur aufs innigste verbindet.
Daher wohl die um jene Zeit allgemein verbreitete Vorstellung von
dem Wohlstände der jüdischen Volksmassen. Der heilige Hieronymus,
der gleich den anderen Kirchenvätern die Wahrheit des Christentums
aus der elenden Lage der Juden herzuleiten suchte, vermochte denn
auch nur auf ihre politische, nicht aber auf ihre ökonomische Zu-
rücksetzung hinzuweisen. Voll Bitterkeit beklagt er sich darüber, daß
3i4
§ 46. Wirtschaftliche Verhältnisse
die Juden in Palästina ohne materielle Sorgen leben, und daß keiner
von den jüdischen Gesetzeslehrern mit dem Beispiel einer Gering-
schätzung des Reichtums und einer Bevorzugung der Armut, wie dies
vom Standpunkte eines christlichen Mönches empfehlenswert er-
scheint, vorangehe1). Daß auch die Gesetzeslehrer Babyloniens die
Armut nicht als Tugend ansahen, ist daraus zu ersehen, daß viele
Akademievorsteher wohlhabende Männer und zwar vornehmlich
Grundbesitzer waren (so Rab, R. Huna, R. Ghisda, R. Nachman
b. Jakob, Raba, R. Aschi u. a.).
Es ist aller Grund zu der Annahme vorhanden, daß der Ackerbau
überhaupt einen Grundpfeiler des jüdischen Wirtschaftslebens jener
Zeit in beiden Zentren, in Palästina wie in Babylonien, bildete. Spu-
ren einer reich entfalteten landwirtschaftlichen Kultur finden sich
nicht nur in der Agrargesetzgebung des Talmud sondern auch in je-
nen zahlreichen haggadischen Aussprüchen, die den Beruf des Land-
mannes preisen: „Willst du satt sein, so diene der Erde“; „Es wird
eine Zeit kommen, da man aus allen Zünften zum Ackerbau über-
gehen wird“; „Ein Mensch, der nicht eine Erdscholle sein eigen
nennt, kann seinem Menschenberufe nicht voll genügen“; „Es heißt:
,Der König ist dem Felde dienstbar* (Kohel. 5, 8) — dies will sagen,
daß sogar der von einem Ende der Welt bis zum anderen herrschende
König vom Felde abhängig ist, denn er muß immer wieder über den
Bodenertrag Erkundigungen einziehen“2). Die klimatischen Verhält-
nisse Palästinas waren für den Landbau überaus günstig; die Regen-
zeit, die mit kurzen Unterbrechungen vom Oktober bis zum Februar
anhielt (Jemoth ha’geschamim), sicherte die Getreideernte im Früh-
jahr, und nur an manchen Orten war man genötigt, sich der künst-
lichen Bewässerung zu bedienen. Dagegen hing der Bodenertrag in
Babylonien, wo die Niederschläge nur spärlich waren, hauptsächlich
von der Überschwemmung des Landes durch die Fluß- und Kanal-
gewässer ab oder aber von der künstlichen Bewässerung. Durch seine
üppige Vegetation war in Palästina das Gebiet um den Genezarethsee
besonders berühmt wie auch das ganze übrige Galiläa, das seit dem
II. Jahrhundert dementsprechend eine viel dichtere jüdische Bevölke-
rung als Judäa aufzuweisen hatte. Die drei Hauptzweige der Agri-
kultur: der Acker-, Garten- und Weinbau standen übrigens nicht nur
!) Hieronymus, Comment. in Isaiam, 3, 3. Patr. lat. XXIV, 62.
2) Sanhedrin, 58 b, Jebamoth, 63 a, Kohelet rabba, 5, 6.
3i5
Lebensführung und Sitten
in Galiläa, sondern auch in Judäa in hoher Blüte. Ein talmudischer
Spruch empfiehlt dem Grundbesitzer die folgende harmonische Ver-
einigung der drei Zweige der Landwirtschaft: „Möge dein Land-
besitz in drei Teile eingeteilt sein: ein Drittel fürs Getreide, ein Drit-
tel für Oliven und ein Drittel für den Wein“1). Von den Getreide-
pflanzen gediehen auf dem palästinensischen Boden besonders gut
der Weizen und die Gerste, in Babylonien dagegen eher die Gerste.
Das Olivenöl Palästinas ersetzte in Babylonien ein Öl, das aus den
Körnern des Sesam (Sumsamin) erzeugt wurde, einer Pflanze, die
dort reichlich anzutreffen war. Was den Weinbau betrifft, so blühte
er eher in Palästina, dessen Bergabhänge nicht selten mit Weingär-
ten ganz bedeckt waren. Aus Datteln und Feigen gewann man Honig;
die Dattelpalme gedieh namentlich in Babylonien. Zurückgeblieben
war die Milchwirtschaft, da die Juden für die Viehzucht gar keine
Neigung bekundeten. Die Palästinenser blickten auf die Hirten und
das Viehweiden sogar mit Verachtung herab, vielleicht, weil dies die
mit Raub verbundene Hauptbeschäftigung der nomadisierenden Ara-
ber der Grenzgebiete war. So konnten denn auch die palästinensi-
schen Gesetzeslehrer das Züchten von Kleinvieh in für den Acker-
bau sich eignenden Landschaften ausdrücklich verbieten; indessen
hatte dieses Verbot in Babylonien keine Geltung* 2).
Felder, Olivenhaine und Weingärten umgaben nicht nur die Dör-
fer, sondern reichten mitunter bis in die Vororte der Städte. In Ba-
bylonien stellten übrigens die Städte gewöhnlich nichts als große Dör-
fer dar, so daß der Städter, ohne die Stadt verlassen zu müssen, dem
Landmannsberuf nachgehen konnte. Zur Bebauung größerer Grund-
stücke wurden entweder Lohnarbeiter (Poalim) oder Sklaven (Abo-
dim) herangezogen. Die talmudische Gesetzgebung regelt bis ins ein-
zelne die Arbeitsbedingungen der Lohnarbeiter in der Landwirtschaft
sowie das zwischen diesen und ihren Lohnherren bestehende Ver-
tragsverhältnis. Hierbei werden die Interessen beider Parteien in glei-
chem Maße berücksichtigt: der für die Verrichtung einer bestimm-
ten Arbeit gedungene Arbeiter durfte ohne seine Einwilligung für kei-
nen anderen Zweck verwendet werden, geschweige denn für irgend-
eine gesundheitsschädigende Arbeit; während des Tagewerks trat nur
D Baba mezia, 107 a.
2) Baba kamma, 79b f. (Mischna und die daraufbezügliche Gemara); vgl.
Chullin, 84 b.
3i6
§ 46. Wirtschaftliche Verhältnisse
eine kurze Mittags- und Ruhepause ein; die Zeit, die der Gang zur
Arbeitsstätte in Anspruch nahm, war in die Arbeitszeit miteinbegrif-
fen, jedoch nicht die vom Arbeiter für die Heimkehr verwendete Zeit;
der Arbeitslohn gelangte täglich zur Auszahlung1).
Viel schlimmer war freilich der Sklave gestellt. Allerdings war
ein jüdischer Sklave in einem jüdischen Hause eine große Selten-
heit, denn nur in äußerstem Notfälle pflegte sich ein Jude aus freien
Stücken als Sklave zu verkaufen. Gewöhnlich verfiel er der Sklaverei
nur infolge eines Unglücks, sei es als zahlungsunfähiger Schuldner
oder als Kriegsgefangener; im letzteren Falle pflegten ihn jedoch
seine Volksgenossen loszukaufen und freizulassen. In den Fällen, wo
ein Jude dennoch in die Sklaverei zu einem Volksgenossen geriet, war
sein Sklavendienst (gemäß dem biblischen Gesetze) auf sechs Jahre
beschränkt, aber auch während dieser Dienstzeit genoß er alle Vor-
rechte eines freien Arbeiters und galt gleichsam als Familienangehöri-
ger. So kam denn das Sprichwort in Umlauf: „Wer einen jüdischen
Sklaven kauft, kauft einen Herrn über sich“1 2). Unbemittelte Leute
pflegten allerdings zuweilen ihre Töchter den Volksgenossen als Skla-
vinnen zu verkaufen, doch kam dies in der Praxis einer Verheiratung
mit dem Herrn oder mit einem seiner Familienangehörigen gleich,
was dann von Gesetzes wegen die Sklavinnen aus ihrem Sklavenstande
erlöste.
So konnte ein Jude meistens nur einen Fremdstämmigen als Skla-
ven besitzen, der der biblischen Tradition zufolge nach wie vor „ka-
naanitischer Sklave“ (Ebed kenaani) genannt wurde. Solche Sklaven
oder Sklavinnen wurden auf den Märkten der palästinensischen Kü-
stenstädte: Tyrus, Gaza, Akko u. a. feilgeboten; am meisten waren
unter ihnen die Syrer und die schwarzhäutigen Äthiopier (Kuschim)
vertreten. Der Sklavenkauf wurde nicht selten durch einen besonderen
Kaufbrief bekräftigt. Auf den großen Landgütern sowie in den Häu-
sern der Reichen war die Zahl der heidnischen Sklaven ziemlich be-
trächtlich, und ihre Arbeit unterschied sich in keiner Weise von dem
schweren Frondienst eines Leibeigenen. Den Talmudgesetzen zufolge3)
gilt der Sklave, ebenso wie im römischen Recht, als Eigentum seines
Herrn, und kann demnach selbst weder über Eigentum noch über
1) Baba mezia, Kap. IX.
2) Kidduschin, 22a; ibid. 16—17; Mechilta, Abschn. Mischpatim.
3) Kidduschin, 22b u. £.; Gittin, 37 f.; Nasir, 62b; Jebamoth, 48 b u. a. sonst.
3i7
Lebensführung und Sitten
sonstigen Besitz verfügen: „Alles vom Sklaven Erworbene gehört sei-
nem Herrn“1). Sogar die Kinder des Sklaven oder der Sklavin sind
Eigentum des Herrn, wenn sie in seinem Hause zur Welt gekommen
sind. Nach dem Tode eines Sklaven ist die gewöhnliche Ausdrucks-
form des Beileids: Möge Gott den von dir erlittenen Schaden wieder
gutmachen! In den talmudischen Aussprüchen ist dauernd von der
Lockerheit der Sitten der Sklaven und Sklavinnen, von ihrer Neigung
zur Lüge, zur Trägheit, Dieberei, Trunkenheit und Unkeuschheit die
Rede. Daher auch die Rechtfertigung der Prügelstrafe für den Skla-
ven, des Rechts auf „Stock und Peitsche“. Indessen war eine über-
mäßige Härte der Bestrafung untersagt, so daß ein von einem Herrn
verstümmelter Sklave von Rechts wegen freigelassen werden mußte.
Die heidnischen Sklaven mußten in einem jüdischen Hausstande von
Gesetzes wegen gewisse religiöse Bräuche des Judentums beobachten,
in Grenzen, die nach Ort und Zeit verschieden festgesetzt waren;
hatte sich der Sklave der Beschneidung unterzogen und die Sklavin
der Reinigung durch das Tauchbad, so waren sie fortan zur Befol-
gung der wichtigsten jüdischen Riten verpflichtet. In Palästina und
in der Diaspora des christlichen Rom kam dies jedoch seit dem IV.
Jahrhundert, nachdem den Juden durch die Gesetze des Konstantin
1) Im Zusammenhänge mit diesem Rechtsprinzip wird in einem Midrasch die
folgende witzige Geschichte erzählt. Es begab sich einst ein Kaufmann aus Palä-
stina in Begleitung seines Sklaven auf eine weite Reise. Unterwegs erkrankte er
und fühlte das Herannahen des Todes. Er wollte sein Testament aufsetzen, doch
es fiel ihm ein: „Vermache ich mein ganzes Geld meinem in Palästina zurück-
gebliebenen Sohne, so wird sich der Sklave damit aus dem Staube machen, und
mein Sohn wird ganz leer ausgehen“. Er rief nun den Sklaven herbei, ließ einen
Schreiber holen und diktierte diesem das Folgende als seinen letzten Willen: „Mein
ganzes Vermögen vermache ich meinem Sklaven, meinem Sohne aber lasse ich das
Recht, aus diesem Vermögen nur einen einzigen Gegenstand für sich auszusuchen“.
Nach dem Tode seines Herrn kehrt nun der Sklave überglücklich nach Hause
zurück. Der Sohn des Verstorbenen fragt: „Wo ist mein Erbe?“ Da erwidert der
Sklave: „Hier ist das Testament, alles gehört mir, „du aber darfst dir nur eine
einzige Sache heraussuchen“. Voll Verzweiflung ging darauf der unglückselige
Erbe einen Gesetzeslehrer um Rat an. Dieser sagte ihm nun: „Wie weise war doch
dein Vater; erscheine morgen mit dem Sklaven vor Gericht; dort wird das Testa-
ment verlesen werden, wonach alles dem Sklaven gehört, dir aber nur eine einzige1
Sache nach deiner eigenen Wahl; da sollst du nicht säumen, deine Hand auf die
Schulter des Sklaven zu legen und kurz und bündig zu erklären: Dieses ist es,
wofür ich mich entscheide. So wird der Sklave dein sein mitsamt seinem Gelde,
denn es heißt ja, daß alles vom Sklaven Erworbene seinem Herrn gehöre“ (Jalkut-
Schimoni, Kohelet).
3i8
§ 46. Wirtschaftliche Verhältnisse
und Constantius aufs strengste untersagt worden war, heidnische Skla-
ven zu ihrem Glauben zu bekehren und zum Christentum überge-
tretene Sklaven in ihren Diensten zu behalten, überhaupt nicht mehr
in Betracht. Dies versetzte der jüdischen Wirtschaft und namentlich
der Landwirtschaft, die die Fronarbeit damals nicht gut entbehren
konnte, einen schweren Schlag.
Seine Freiheit konnte der Sklave entweder durch Loskauf oder als
Belohnung für besondere dem Herrn erwiesene Dienste erlangen.
Dort, wo die erwähnten christlichen Gesetze dem nicht im Wege
standen, verpflichtete sich der Freigelassene, vorbehaltlos zum Juden-
tum überzutreten und wurde darauf als ein nahezu gleichberechtig-
tes Mitglied in die jüdische Gemeinde auf genommen. An manchen
Orten war die Freilassung unter der Bedingung üblich, daß die Skla-
ven fortan der Synagoge zur Verrichtung gewisser mit dem Gottes-
dienst zusammenhängender Obliegenheiten geweiht blieben (manu-
missio ad proseucham); dieser Brauch war besonders in der grie-
chisch-römischen Diaspora (unter anderem in der fernen Kolonie von
Tauris im Bosporusreiche) verbreitet, wo er von den Hellenen, die
ihre Freigelassenen dem Tempelkulte der einen oder der andern Gott-
heit (Hierodulen) zu weihen pflegten, übernommen worden war.
Neben den Grundbesitzern gab es noch eine zahlreiche Klasse von
Landpächtern verschiedenster Art, die auch verschieden benannt zu
werden pflegten. Je nach den Pachtbedingungen hießen sie bald Päch-
ter (Chokerim), bald Unternehmer (Mekablim), bald wieder Über-
nehmer (Arissim). Es waren dies gewöhnlich landlose oder nur wenig
Land besitzende Dorfbewohner, die bei dem Gutsbesitzer ein Stück
Land oder einen Weinberg zum Bebauen pachteten, um dann den Er-
trag mit dem Eigentümer zu teilen. Der Pächter oder Übernehmer
pflegte dem Gutsbesitzer entweder den verabredeten Ernteteil in na-
tura abzuliefern oder aber einen bestimmten Teil des nach dem Ver-
kauf des Ertrages erzielten Gewinnes zu erstatten. Zumeist bean-
spruchte der Eigentümer die Hälfte des Ertrages als Naturalleistung.
Im Talmud hat sich der Text einer für jene Zeit typischen Pachtver-
tragsurkunde in aramäischer Sprache erhalten: „Ich (der Pächter)
werde das Feld bestellen, werde ackern, säen, jäten, ernten, Garben
binden und dreschen; du aber wirst dann kommen und die Hälfte
(der Ernte) nehmen, während ich für meine Mühe und meine Un-
319
Lebensführung und Sitten
kosten die andere Hälfte nehmen werde“1). Doch waren die Pacht-
bedingungen nicht immer so günstig, so daß der notleidende Päch-
ter oft nur ein Knecht des Gutsbesitzers war. In Babylonien hatte der
Landmann häufig unter der mangelhaften Bewässerung zu leiden,
namentlich in den Fällen, wo der mächtigere und reichere Nachbar
das Wasser aus dem anliegenden Kanal rücksichtslos in seine Felder
ableitete. Ein kleiner Landanteil warf dem Ackersmann nur so viel ab,
daß er zur Not „von unreifem Getreide sich ernähren und auf dem
Boden schlafen konnte“, wie die talmudische Wendung lautet. Über-
dies lastete auf dem Landmann eine schwere Grundsteuer, da er an
die persische Regierung manchmal fast ein Drittel seines gesamten
Ertrages abzuführen hatte1 2).
Neben dem Ackerbau wurde unter den Juden nicht minder hoch
das Handwerk (Melacha, Amanuth) geschätzt. Der Handwerker
brauchte dem städtischen Leben nicht zu entsagen und stand daher
in kultureller Beziehung höher als der Ackerbauer. Auch die Gesetzes-
lehrer pflegten den Beruf des Handwerkers zu loben und zu preisen.
Viele Gelehrte bestritten selbst ihren Lebensunterhalt durch irgendein
Handwerk, um nicht aus ihrer Wissenschaft Kapital schlagen zu
müssen. Manche Beinamen der Amoräer weisen auf das von dem be-
treffenden Gelehrten ausgeübte Handwerk hin: R. Jochanan San-
dalar (Schuster), R. Isaak Napacha (Schmied) usf. Deshalb sind wohl
talmudische Aussprüche wie die folgenden durchaus ernst gemeint:
„Wer seinen Sohn nicht ein Handwerk lehrt, legt ihm das Räuber-
handwerk nahe“; „Das Handwerk ist eine große Sache, die demjeni-
gen, der ihr nachgeht, zu Ehren gereicht“; „Wer sich durch seiner
Hände Arbeit ernährt, ist dem Frommen voraus“; „Gelehrsamkeit
ohne Handwerk steht auf schwachen Füßen und verleitet zur Sünde“;
„Die ihrer Arbeit nachgehenden Handwerker brauchen sich vor den
Gelehrten nicht zu erheben4*3). Nur ganz wenige Handwerksarten gal-
ten als mit den Regeln strenger Sittlichkeit unvereinbar, und zwar
das Handwerk des Schmuckkünstlers, des Friseurs, des Parfümeurs,
des Webers und des Färbers von Frauenkleiderstoffen, da alle,diese
1) Baba mezia, Kap. IX. Zur Agrargesetzgebung vgl. noch Mischna, Haupt-
teil „Seraim44 sowie Tosephta.
2) Baba mezia, io3af. (das ganze VIII. Kap.; vgl. ibid. 78a und 77 b).
Über die Steuern: Nöldeke, Gesch. d. Perser nach Tabari, 2^1.
3) Kidduschin, 29a, 3ob; Berachoth, 8 a; Aboth, I, 9 und II, 2; Nidda, 49 b:
Chullin, 54 b und passim.
320
§ 46. Wirtschaftliche Verhältnisse
Leute es fortwährend mit prunksüchtigen Weibern zu tun hatten und
sich so an einen lockeren Verkehr mit Frauen gewöhnen mußten. Als
roh galt der Beruf der Esel- und Kameltreiber, der Schiffsknechte,
der Bademeister und der Hirten. Wenig verlockend erschien das un-
saubere Handwerk der Gerber und der Töpfer, doch waren diese Be-
ruf sarten unter den Juden weit verbreitet, so daß ein Gesetzeslehrer
einst wehmütig ausrufen mußte: „Es ist nun einmal so, daß man we-
der die Produktion von wohlriechenden Stoffen noch das Gerben von
Leder entbehren kann, doch wohl dem, der die Parfümerie betreibt
und wehe dem, der sich mit dem Gerben von Leder abgeben muß“.
Außer den Gerbern (Burski, vom griechischen „burseos“) werden
im Talmud häufig noch Schuster, Zimmerleute oder Tischler (Nagar),
Töpfer oder Tonbildner (Jozer) und Schmiede erwähnt. Es ist wohl
möglich, daß die Bearbeitung von Leder, Holz, Ton und Metall nicht
nur im häuslichen Kleinbetrieb vor sich ging, sondern zum Teil auch
fabrikmäßig betrieben wurde, da diese Gewerbearten zugleich die
Hauptzweige der Großindustrie jener Zeit bildeten1).
Daß auch der Handel im Palästina und Babylonien jener Epoche
in hoher Blüte stand, ist aus der weitverzweigten, die Handelsbe-
ziehungen regelnden, talmudischen Gesetzgebung zu ersehen. Die Aus-
fuhr der landwirtschaftlichen Produkte und der Gewerbeerzeugnisse
aus den beiden Ländern und die Wareneinfuhr aus anderen Gebieten
des römisch-byzantinischen und persischen Reiches, ferner der Han-
delsverkehr zwischen den Märkten Palästinas und Babyloniens und
außerdem der Binnenhandel — all dies bot der Tatkraft unterneh-
mungslustiger Menschen ein weites Betätigungsfeld. Die uralten Han-
delswege, der Seeweg längs der palästinensisch-syrischen Küste und
die Land- oder Karawanenstraßen zwischen Palästina, Syrien und Ba-
bylonien, verbanden alle diese Länder mit Ägypten als dem einen und
mit Indien als dem anderen Endpunkt. In Babylonien dienten dem
Verkehr überdies die Wasserstraßen, der Euphrat und der Königs-
kanal (Nehar-malka), an denen gerade die Hauptzentren der jüdischen
Bevölkerung gelegen waren. Die innige Verflechtung des Handels
mit der Landwirtschaft, die Verbindung des Dorfes mit dem Markte
kommt in vielen Gesetzesvorschriften und Sentenzen des Talmud tref-
fend zum Ausdruck. Neben der Lobpreisung des Ackerbaues kam
auch die Apologie des Handels nicht zu kurz. Beim Anblick eines auf-
1) Kidduschin, 82 a—b (Mischna und Gemara).
21 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
32 1
Lebensführung und Sitten
gepflügten Feldes rief einst ein Gesetzeslehrer aus: „Wie weit und
wie breit du auch aufgeackert sein magst, es ist noch immer besser,
Handel zu treiben, als sich mit dir abzuplagen 1“, während ein anderer
beim Anblick eines wogenden Ährenfeldes demselben Gedanken fol-
genden Ausdruck gab: „Wie hoch ihr auch emporschießen möget,
immer ist es noch besser Handel zu treiben, als euch zu pflegen“.
Das Haupt der Akademie von Machusa, Rab, pflegte zu sagen:
„Hundert Sus (Silbermünze) im Handel werfen alltäglich Fleisch und
Wein ab, hundert Sus im Boden aber nur Salz und Gemüse, und
auch dabei muß man noch auf der Erde schlafen“ 1). Kapitalkräf-
tigen Leuten empfiehlt der Talmud, ihr Vermögen in folgender
Weise einzuteilen: ein Drittel in der Landwirtschaft zu investieren,
ein Drittel im Handel (Prakmatia, das griechische „pragmateia“) und
den Rest in bar stets bei der Hand zu haben1 2). Allerdings entgingen den
Talmudisten auch die Schattenseiten des Handels, die mit ihm ver-
bundene Neigung zur Habsucht und Übervorteilung (vgl. die iro-
nische Wendung: „Ke’derech ha’tagarim“ — nach Krämerart), in kei-
ner Weise und sie suchten darum den Interessen der Konsumenten
den Schutz des Gesetzes angedeihen zu lassen. So war z. B. der ein
Sechstel des Preises übersteigende Gewinn beim Verkauf von Ge-
genständen des täglichen Bedarfs rechtswidrig; hatte der Verkäufer
dennoch einen größeren Gewinn erzielt, so galt das Geschäft als
gegen die guten Sitten verstoßend (Onaa) und der Käufer konnte
die Differenz einklagen. Als anstößig galt es auch, Getreide zu Spe-
kulationszwecken in den Scheunen zurückzuhalten3).
Besonders lebhaft war der Handel in den Städten an den ein-
oder zweimal wöchentlich (am Freitag oder aber am Montag und Don-
nerstag) stattfindenden „Markttagen“ (Jome de’schuka), an denen die
Landleute aus den Dörfern in die Stadt kamen, um Besorgungen
zu machen sowie Gerichtssachen und andere Geschäfte zu erledigen.
In manchen palästinensischen und babylonischen Großstädten wur-
den überdies Jahrmärkte (Jaridim) veranstaltet, zu denen Verkäu-
1) Jebamoth, 63 a — auf derselben Seite, wo die oben angeführten Lob-
preisungen des Ackerbaues zu finden sind; es scheint eben eine umstrittene Frage
gewesen zu sein, welche der beiden Beschäftigungsarten vorzuziehen sei.
2) Baba mezia, 42 a.
3) Baba bathra, 9of.; Baba mezia, 4ob, 6o f. Beide Traktate enthalten eine
ins einzelne gehende Reglementierung des Handels, so besonders B. mezia, Kap. IV
bis V und B. bathra, Kap. V—VI.
322
§ 46. Wirtschaftliche Verhältnisse
fer wie Käufer aus den fernsten Gegenden herbeiströmten. Durch
die Steppen zogen dann Handelskarawanen dorthin und auf den Was-
serstraßen mit Waren schwer beladene Schiffe. Solche Messen wur-
den häufig in Städten mit überwiegend heidnischer Bevölkerung an-
läßlich der lokalen Tempelfeier zu Ehren der einen oder anderen
Gottheit abgehalten. In solchen Fällen legte das jüdische Gesetz dem
Besuch der Messen große Hindernisse in den Weg, um das Volk
von einer auch nur indirekten Unterstützung des fremden Kultes
(Aboda-sara) fernzuhalten. Aus diesem Grunde vermieden es die ge-
setzestreuen Juden in Palästina, die großen Messen in den Städten
Askalon, Gaza, Akko und Skythopolis zu besuchen; die Verhältnisse
zwangen jedoch zu Kompromissen, so daß man das Handelsverbot
nur auf die dem Kultus der betreffenden Gottheit dienenden Ge-
genstände beschränkte. In Babylonien wurden besonders gern die
Jahrmärkte besucht, auf denen die Araber (taja) aus der angren-
zenden Steppe hergebrachten Weizen und andere für die Bevölkerung
wichtige Produkte feilzubieten pflegten1).
Zur Beaufsichtigung des Handels bestand in den jüdischen Ge-
meinden die Institution der „Agoranomen*1 oder Handelskontrol-
leure, die richtiges Maß und Gewicht, die Güte der Waren sowie
das Einhalten der festgesetzten Marktpreise zu überwachen hatten.
In Babylonien waren solche Amtspersonen unmittelbar dem Exil-
archen unterstellt (so z. B. Rab, oben, § 28). Dort, auf den Märk-
ten von Nehardea, Sura, Pumbadita und Machusa, lag der Handel
fast ausschließlich in jüdischen Händen und wurde auch von jü-
dischen Beamten beaufsichtigt.
Infolge des Aufschwungs des Handels mußte auch der Kredit-
verkehr mit seiner unausbleiblichen Begleiterscheinung, dem Wu-
cher (Ribbit), an Ausdehnung erheblich gewinnen. Doch stand dem
Kreditgeschäft das strenge biblische Verbot im Wege, demzufolge
Geld auf Zinsen überhaupt nicht ausgeliehen werden durfte. Die tal-
mudische Gesetzgebung erweiterte noch dieses Verbot, indem sie es
nicht nur auf das Zinsdarlehen bezog, sondern auch auf den Gewinn
aus Handelsunternehmungen, an denen der Geldbesitzer, ohne sich
persönlich zu betätigen, nur mit seinem Kapital beteiligt war. Den
Anforderungen des Lebens Rechnung tragend, gestattete indessen das
Gesetz im letzten Falle unter gewissen Bedingungen den Kapitalzins
!) Aboda-sara, Kap. I.
21*
323
Lebensführung und Sitten
zu erheben, und zwar unter der Voraussetzung, daß der Gesellschaf ts-
vertrag den Teilhaber, der sich nur mit seinem Kapital an der Han-
delsgesellschaft beteiligte, auch für die aus dem Unternehmen etwa
entstehenden Verluste haftbar machte und zugleich dem seine Ar-
beit zur Verfügung stellenden Gesellschafter einen überschüssigen Ge-
winnanteil für seine Mühe zubilligte. Die Praxis des Lebens scheint
auch reine Gelddarlehen zu mäßigen Zinsen allmählich legalisiert zu
haben. Eine gewisse Handhabe bot hierfür das biblische Gesetz, das
bekanntlich Zinsen bei Andersgläubigen zu nehmen gestattete. Die
Talmudisten verlangten freilich auch in diesem Falle, daß der Gläu-
biger sich mit einem bescheidenen Prozentsatz begnüge, der nur zur
Bestreitung des Lebensunterhaltes, nicht aber zu übermäßiger Berei-
cherung und zu üppigem Leben verwendet werden sollte. Mit diesem
biblischen Gesetz trieben nun viele Mißbrauch, indem sie, zugleich
auch das talmudische Gesetz umgehend, einem Andersgläubigen Dar-
lehen zur Weitergabe an einen Juden, und zwar zu hohen Zinsen,
zu gewähren pflegten. Der Talmud verdammte allerdings eine der-
artige Umgehung des Gesetzes aufs strengste, wie denn überhaupt der
Wuchererberuf damals als überaus verwerflich galt. Davon legen viele
Aussprüche der Gelehrten Zeugnis ab: „Der Wucher wirkt ganz so
wie ein Schlangenbiß, der erst zu fühlen ist, nachdem die gebissene
Stelle angeschwollen ist: auch der Wucher macht sich erst dann
fühlbar, wenn er bereits angeschwollen und in die Höhe geschnellt
ist“ (eine Anspielung auf das biblische Wort „Neschech“ — Biß zur
Bezeichnung des Wucherzinses); „Die gleiche Sünde begeht, wer
Geld auf Zinsen gibt und wer es entgegennimmt“; „Besser, daß du
deine Tochter als Sklavin verkaufst, als daß du dir Geld auf Zinsen
borgst“; „Man soll sogar einem Andersgläubigen kein Geld auf Zin-
sen geben“; „Spieler und Wucherer dürfen kein Zeugnis vor Gericht
ablegen“; „Seht nur, wie verblendet die Wucherer sind: nennt jemand
seinen Nächsten ehrlos, so wird ihn der Beleidigte in jeder Weise ver-
folgen, hier aber (beim Aufsetzen des Schuldbriefes) zieht man Zeu-
gen und einen Schreiber heran, holt Feder und Tinte, schreibt und
unterzeichnet: Der und der verleugnet den Gott Israels“1).
In den talmudischen Quellen sind die Nachrichten über eine Be-
teiligung der Juden an industriellen Großbetrieben sowie über ihre
D Baba mezia, Kap. V bis zu Ende (besonders Fol. 61, 69, 71, 75). San-
hedrin, 24 b; Midrasch rabba, Schemoth, 3i, 6 f.
3a4
§ 46. Wirtschaftliche Verhältnisse
Anstellung im Staatsdienst nur sehr spärlich. Aus dem Kodex des
Theodosius wissen wir jedoch von einer Genossenschaft jüdischer
Reeder oder „Navicularier“ im IV. Jahrhundert, und es ist wohl an-
zunehmen, daß nur wenige von ihnen so schlechte Geschäfte machten
wie jener, von dem Synesius einmal erzählt (oben, § 37). Außer-
dem gab es auch jüdische Advokaten, die an den römischen Gerichten
tätig waren, bis das Gesetz vom Jahre 4^5 ihnen die Praxis als
einen halbamtlichen Beruf untersagte. Noch früher wurden die Ju-
den durch ein von den Kirchenvätern inspiriertes Gesetz vom Militär-
dienst ausgeschlossen1). Von den halboffiziellen Berufen scheint den
Juden nur noch der Beruf der staatlichen Steuerpächter offengestan-
den zu haben. Im Talmud wird solcher Steuerpächter („Mochessim“)
und Steuereinnehmer („Gabaim“) nicht selten Erwähnung getan. Sie
waren übrigens überaus berüchtigt, da sie oft ungerechte Steuerver-
anlagungen Vornahmen und die Armen in jeder Weise bedrängten. Sie
zählten von Gesetzes wegen zu jenen, die wegen ihres üblen Leumunds
vor Gericht nicht als Zeugen auf treten durften, und waren in dieser
Beziehung den Wucherern, den Berufsspielern und den Räubern
gleichgestellt2). In Rom, Byzanz und Persien lasteten die Staats-
steuern überhaupt sehr schwer auf der unbemittelten Bevölkerung.
Von den durch die römisch-byzantinische Regierung in Palästina ge-
forderten Abgaben waren besonders drückend: die alljährlichen Na-
turalabgaben von den landwirtschaftlichen Erzeugnissen (Amona oder
Annona), die Geldsteuer (Demosia), die Kopfsteuer (Gulgoleth) und
die Arbeitspflicht (Angareia): die auf jeder Familie lastende Ver-
pflichtung, menschliche Arbeitskräfte und Vieh für öffentliche Ar-
beiten zu stellen. Byzanz belastete die Bevölkerung obendrein noch
mit einer Gewerbesteuer (chrysargyron). In Persien wurde die Kopf-
steuer (Keraga) und die Grundsteuer (Taska) erhoben, und überdies
zuweilen eine Naturalsteuer für den Unterhalt des Heeres, die auch
*) Cod. Theod. XVI, 8, 16 (4o4); vgl. God. Justin. I, 4, i5 und I, 5, 12
(527). Hinsichtlich des Rechtsanwaltsberufes sind Schwankungen der gesetzlichen
Regelung zu verzeichnen: im Dekret vom Jahre 4i8 (C. Theod. XVI, 8, 2 4) wird
die freie Ausübung des Advokatenberufes durch die Juden noch nicht angetastet
(exercendae advocationis libertas) und nur das Gesetz vom Jahre 42 5 (ibid. Const.
Sirmond. 6) erklärt in. nicht mißzuverstehender Weise: „Den Juden und den Hei-
den entziehen wir die Genehmigung, in Gerichtssachen zu plaidieren und Staats»-
ämter zu bekleiden, da wir nicht willens sind, im christlichen Gesetz lebende Men-
schen ihneR untergeordnet zu sehen.*) **
2) Sanhedrin, 2 4—2 0.
3a5
Lebensführung und Sitten
durch Stellung von Arbeitskräften geleistet werden konnte. Darüber
hinaus belegten beide Länder die auf dem Land- und Wasserwege
eingeführten Waren mit Zoll. Die unmittelbar mit den Zahlern in
Berührung kommenden Zoll- und Steuerpächter, die, um die dem
Staate geleisteten Pachtsummen mit Wucherzinsen wieder einzubrin-
gen, den Zahlungspflichtigen mit dem Beistand der lokalen Behörden
hart zusetzten, waren, wie es wohl nicht anders sein konnte, bei den
ärmeren Klassen der Bevölkerung ganz besonders verhaßt1).
Trotz der Mannigfaltigkeit der den Juden offenstehenden Berufs-
arten gab es jedoch eine Bevölkerungsschicht, die gar keinen Er-
werb hatte. Diese Verelendung war die Folge der Landknappheit
und der drückenden Steuerlasten und wurde manchmal durch
politische Krisen und durch Kriegswirren, während deren das Land
der Verwüstung anheimfiel und ein Teil der Bevölkerung aus seinem
wirtschaftlichen Geleise herausgeschleudert wurde, noch verschärft.
So war denn die Zahl der Armen und Bettler, die ihren Rundgang
durch die Stadt machten (Anni ha’mechaser al ha’petachim) nicht un-
beträchtlich; für ihren Unterhalt sorgte freilich die jüdische Ge-
meinde als solche wie auch jedes einzelne ihrer Mitglieder (s. unten,
§49).
§ 47. Das Familienleben
Die Begriffe „Haus“ und „Familie“ verschmolzen in der hebrä-
ischen Sprache von altersher in dem Worte „Baith“ (Beth-ab = Ge-
schlecht). Der Talmud verknüpfte diese Begriffe noch enger mitein-
ander, indem er in allen Tonarten wiederholte: „Das Haus des Men-
schen ist sein Weib“; „Ein Mann ohne Weib kann nicht Mensch
heißen, denn es steht geschrieben: Gott schuf sie (die ersten Men-
schen) als Mann und Weib und nannte sie (zusammen) Adam
(Mensch)“. Als Heiratsalter galt für den Mann das vollendete acht-
zehnte Lebensjahr: „Ein Jüngling von achtzehn Jahren gehört unter
den Trauhimmel“ (bei der Trauungszeremonie); „Wer sich nicht mit
zwanzig Jahren verheiratet hat, verbringt all seine Tage in sündhaftem
Begehren“. Um nun mannbar gewordene Jünglinge vor solchen An-
fechtungen zu bewahren, pflegte man sie auch schon in viel jüngeren
Jahren, mit sechzehn, ja sogar mit vierzehn Jahren zu verheiraten.
!) Midrasch rabba, Wajikra, 23, 5; Echa, 3, 7; Baba bathra, 8 a; San-
hedrin, 26 a; Baba mezia, 3g b, 69 a, 73 a, 78 b, 108 b und sonst.
326
§ 47. Das Familienleben
Der babylonische Gesetzeslehrer R. Chisda erzählt, er selbst hätte sich
mit sechzehn Jahren verheiratet, doch wären ihm die „Versuchungen
des Satans“ ganz erspart geblieben, wenn er es noch zwei Jahre früher
getan hätte. Als das früheste Heiratsalter galt für Knaben dreizehn
und für Mädchen zwölf Jahre, insofern mit diesem Alter die Puber-
tät bereits erreicht war. In dieser Hinsicht stimmte das jüdische Ge-
setz mit dem römischen völlig überein, das das gleiche Mindestalter
für die Ehe festsetzte. Ein lange nach Erreichung dieses Alters noch
ledig gebliebenes Mädchen galt als vollreif (Bogereth) und sollte zur
Vermeidung übler Folgen um jeden Preis in den Ehestand gebracht
werden. „Wenn deine Tochter vollreif ist, so laß deinen Sklaven frei
und gib sie ihm zur Frau“ — so lautet der dem Vater erteilte Rat.
Die Ehe, als das Mittel zur Fortpflanzung (Piria we’ribia), stand in
so hohen Ehren, daß die Haggada bei den Eheschließungen eine be-
sondere göttliche Vorsehung walten läßt: „Vierzig Tage vor der Emp-
fängnis ertönt eine Stimme im Himmel (Bath-kol): die Tochter jenes
dort ist diesem hier vorausbestimmt“. Diese Vorstellung von dem „Be-
scherten“ kommt auch noch in dem folgenden Ausspruch zum Aus-
druck: „Die Eheverbindungen werden von Gott im Himmel gestiftet“.
Einer der Gelehrten fand dies schon in einem Salomonischen Spruch
(19, i4) bestätigt: „Hausstand und Reichtum erbt man von den Vä-
tern, eine verständige Frau aber ist eine Gabe Gottes“1).
Und doch verschmähte man es keineswegs, dem Schicksal durch
Heiratsvermittlung nachzuhelfen. Der Vater pflegte selbst für seine
minderjährige Tochter den Bräutigam auszuwählen, dagegen durfte
der reifere Jüngling seine Braut selbständig wählen. Doch war in
beiden Fällen eine der Verlobung vorhergehende Zusammenkunft der
Brautleute unerläßliche Vorbedingung: „Ein Mann soll sich mit einem
Weibe nicht verloben, ehe er sie selbst gesehen hat“; „Der Vater darf
seine minderjährige Tochter nicht verloben, bis sie ein Alter erreicht
hat, da sie sagen kann: Diesen da will ich (als Bräutigam) haben“.
Bei der Ehestiftung wurde viel Wert auf Herkunft und gleiche soziale
Stellung gelegt. Geldheiraten galten bei den Edelgesinnten stets als
tadelnswert, aber auch eine Ehe mit einem „unpassenden Weibe“,
d. h. mit einem Mädchen niedriger Abstammung, fand durchaus kei-
nen Beifall. Der Talmud warnt besonders vor einem ungebildeten
1) Joma, 2a, Jebamoth, 63a; Aboth, V, 26; Kidduschin, 29 f.; Pessachim,
n3a; Sota, 2 a; Bereschith rabba, 68, 3—4; Moed katan, 18 b.
327
Lebensführung und Sitten
Bräutigam aus dem gemeinen Volke, dem sogenannten „Am-ha’arez“,
sowie vor der einer ungebildeten Familie entstammenden Braut.
Wärmstens wird ein gelehrter Bräutigam und die Tochter eines Ge-
lehrten, eines „Talmid chacham“, als Braut empfohlen: „Mache alles,
was du hast, zu Geld und verschaffe deinem Sohne die Tochter eines
Gelehrten oder deiner Tochter einen Gelehrten als Gatten“. Als an-
stößig galt es, sich mit einer „in üblem Ruf stehenden Familie“
(Mischpacha pessula) zu verschwägern, d. i. mit einer solchen, die
jemanden, der sich gegen die Sittlichkeit vergangen hatte, unter ihre
Angehörigen zählte. Es kam vor, daß ein junger Mann, der ein „un-
anständiges“ Mädchen heimführte, durch einen besonderen, „Kezaza“
(Abhauung) genannten öffentlichen Akt aus der Familie ausgestoßen
wurde. In Palästina pflegte man diesen Akt auf folgende Weise zu
vollziehen: die Angehörigen dessen, der gegen die Familientraditionen
verstoßen hatte, stellten mitten auf dem Marktplatz eine Tonne voll
Nüsse und getrockneter Kürbiskörner auf, schlugen die Tonne auf
der Stelle entzwei und überließen das Naschwerk den in Scharen her-
beieilenden Kindern. Darauf pflegten die Angehörigen an die Ver-
sammelten folgende Ansprache zu halten: „Vernehmet, ihr Brüder
aus dem Hause Israel! unser Bruder hat eine für ihn unpassende
Frau geehelicht und wir befürchten nun, daß sein Same sich mit
dem unsrigen vermischen könnte. Möge dies nun als abschreckendes
Beispiel dienen, damit es zu einer solchen Vermischung nie komme“.
Dabei riefen die die Nüsse und Körner auflesenden Kinder laut im
Chor: „Der da ist von seinem Stamme abgehauen!“ Ein solcher Bann-
fluch veranlaßte nicht selten den Geächteten zur Ehescheidung, wor-
auf dieselbe Zeremonie in umgekehrter Reihenfolge vollzogen wurde,
und auch der Refrain lautete nunmehr: „Der da ist in den Schoß sei-
ner Familie zurückgekehrt!“ Auch Ehen mit großem Altersunter-
schied zwischen den Ehegenossen wurden scheel angesehen1).
Bei der Eheschließung unterschied man die folgenden zwei Haupt-
momente: die Verlobung (Erussin) und die Vermählung (Nissuin)
oder die Trauung (Ghuppa). Die Verlobung wurde gewöhnlich durch
die Zeremonie der „Kidduschin“ besiegelt, d. i. durch die Übergabe
eines Ringes oder eines anderen kostbaren Geschenkes seitens des
Bräutigams an die Braut; doch pflegte man diesen Akt an manchen
1) Kidduschin, 4ia, 70a; Pessachim, 49 b; Ketuboth, 28 b (vgl. Jer. Talm,
Kidduschin, Kap. I); Sanhedrin, 76 b.
328
§ 47. Das Familienleben
Orten mit der Trauung zusammenfallen zu lassen. Vor der Verlobung
schlossen die Eltern oder die Vormünder der sich Vermählenden einen
Vertrag in schriftlicher Form ab (Schetar erussin; in Palästina nannte
man ihn zuweilen mit dem griechischen Wort „Symphon“, Überein-
kommen), in dem die Höhe der Mitgift und sonstige Bedingungen (in
späterer Zeit: „Tenaim“) vereinbart zu werden pflegten. Die Zere-
monie der Verlobung wurde durch ein fröhliches Gastmahl beschlos-
sen. Zwischen der Verlobung und der Vermählung war es üblich,
einen mehr oder weniger langen Zeitraum verstreichen zu lassen. Ein
Jahr galt als normale Wartezeit für die reife (d. i. über zwölf Jahre
alte) Braut; da jedoch nicht selten noch ganz kleine Kinder verlobt
zu werden pflegten, so mußte in diesen Fällen die Vermählung auf
einige Jahre, bis zum Eintritt der Pubertät, hinausgeschoben werden.
Die Hochzeit wurde durch frohe Feste, durch üppige Gastmähler und
durch Straßenumzüge unter klingendem Spiel und Gesang gefeiert; die
Hochzeitsfeierlichkeiten zogen sich gewöhnlich eine volle Woche hin.
Die Neuvermählte wurde mit allem Prunk geputzt, nur einer der weib-
lichen Hauptreize, das Haar, mußte verdeckt bleiben, da es für eine ver-
heiratete Frau als unpassend galt, sich vor aller Welt mit bloßem Haupte
zu zeigen; im eigenen Heim brauchte man dagegen das Haar nicht zu
verdecken. Für den Ausgang setzte die Frau eine zierliche Haube auf,
die manchmal goldgewirkte Verzierungen in Kranzform zeigte1).
Die Putzsucht war überhaupt eine der größten Leidenschaften der
Frauen, und sogar die gestrengen Gesetzeslehrer brachten dieser weib-
lichen Schwäche ein gewisses Verständnis entgegen. Aus den talmudi-
schen Erörterungen und Erzählungen ist zu ersehen, daß man sich
damals auch auf die Verschönerungskunst wohl verstand: weiße und
rote Schminke gehörten zu den unentbehrlichsten Gegenständen auf
dem Putztisch der Frau. Manche Modedamen gingen so weit, daß sie
zur Erhaltung ihrer schlanken Figur verschiedene Mittel gegen die
Empfängnis anwandten; so trank man z. B. zu diesem Zwecke eine
bestimmte Tinktur, die „Becher der Unfruchtbaren“ (Kos akorin)
genannt wurde. Indessen wurden solche Kunstgriffe nur selten prak-
tiziert, da sie von der Öffentlichkeit scharf verurteilt und auch als
ein Grund für die Ehescheidung angesehen wurden. Das eheliche Le-
D Ketuboth und Kidduschin passim (namentlich Ketub. 2 a, 7 f., 16 £., 59 b,
102 a; Kidd. 9 b). Jer. Ketuboth, I und Kidd. III. Berachoth, 59 b, Moed katan,
18b, Nedarim, 3ob.
329
Lebensführung und Sitten
ben wurde überhaupt durch zahlreiche hygienische und rituelle Vor-
schriften geregelt, die eine Hebung und Läuterung des Geschlechts-
lebens zum Zwecke hatten. Es galt eben, das leidenschaftliche Tempe-
rament von Bewohnern der subtropischen Länder durch die eiserne
Zucht des Gesetzes im Zaume zu halten. War doch die Prostitution
um jene Zeit sowohl in Palästina wie in Babylonien nur allzu ver-
breitet. „Hurenmärkte“ (Schuke de’sonoth) gab es sogar in Gali-
läa; es war dies anscheinend eine griechisch-römische Institution,
doch verstrickten sich in die Netze des Lasters auch jüdische Opfer,
sowohl Männer wie Frauen. Junge Frauen mußten daher vor dem
Einfluß der Straße aufs sorgsamste bewahrt werden, und trotz allem
kamen dennochFälle ehelicher Untreue vor. Aus den offenen Bekennt-
nissen vieler Gelehrten im Talmud ist zu ersehen, daß die Versu-
chung sehr groß war und daß die „Überwindung der Leidenschaf-
ten“ auch den besten und weisesten Männern sehr schwer fiel. Zu-
gleich wird aber ständig darauf hingewiesen, daß die Sitten der Ju-
den unvergleichlich reiner sind als die der sie umgebenden Völker, die
ganz „im Laster versumpfen“ (Schetufim be’sima)1).
Zur normalen Form der Ehe wurde immer mehr die Monogamie,
so daß die Vielweiberei nur noch eine Ausnahme bildete. Das Gesetz
untersagte zwar dem Manne nicht, zwei und mehr Frauen zu ha-
ben, doch wurde die Polygamie durch die Sitte und das praktische
Leben mehr und mehr eingeschränkt. Vor allem bedurfte man zum
Unterhalte einer großen Familie auch sehr großer Mittel, und über-
dies machte die Rivalität der Frauen (Zoroth) und der ständige Zank
zwischen ihnen und zwischen den Halbgeschwistern das Familienleben
zur Hölle. Eine zweite Frau wurde nur im Falle der Kinderlosigkeit
der ersten genommen, aber auch dann meist erst nach der Schei-
dung von dieser, da dem Brauche zufolge eine Ehe nach zehnjähriger
Kinderlosigkeit ohnehin aufgelöst werden mußte. In Palästina scheint
sich übrigens die Monogamie mehr eingebürgert zu haben als in Ba-
bylonien* 2). — Kam es im Familienleben zu einem Zerwürfnis, so
war die Folge die Auflösung der Ehe, die Ehescheidung. Hierbei ging
*) Sabbat, 33 b, 78 a, 80 b, 109— 110; Tosephta Jebamoth, 8, 4 (Kos akorin);
Bereschith rabba III, 3; Nidda, passim; Ketuboth, i3b, 64—65; Menachoth, 44;
Tosephta Ketuboth, I, 6 („en epitropos la’arajoth“); Sukka, Ö2a.
2) Vielleicht übte dabei in Palästina das römische Gesetz vom Jahre 3g3
einen gewissen Einfluß aus, das das Verbot der Vielweiberei auch auf die Juden
ausdehnte (Cod. Just. I, 9, 7).
§ 47. Das Familienleben
der Antrieb häufiger von dem Gatten als von der Gattin aus. Dem
Ehemanne stand nämlich das Recht zu, seine Ehefrau nicht nur we-
gen einer „schmählichen Tat“ oder wegen schlechten Betragens, son-
dern auch anläßlich jedes Familienzwistes zu verstoßen. Manche Ge-
setzeslehrer waren der Meinung, daß schon eine angebrannte Speise
bei der Mahlzeit oder gar die Leidenschaft des Gatten für ein schö-
neres Weib einen zureichenden Scheidungsgrund darstelle. Doch wur-
den dem möglichen Mißbrauche des Ehescheidungsrechts von seiten
des Mannes gewisse Schranken gesetzt. So mußte vor allem der Ehe-
mann der Frau bei der Ehescheidung die „Ketuba“ auszahlen, d. i.
jenen mehr oder minder hohen Betrag, der in dem Ehevertrag der
Frau zur Sicherstellung für den Fall einer Ehescheidung oder des
Witwentums zugesichert zu werden pflegte. Überdies war die Ehe-
scheidungszeremonie selbst sowie die Aushändigung der Eheschei-
dungsurkunde („Get“) mit diese Akte überaus erschwerenden For-
malitäten verbunden. Die Scheidung der Eheleute lag nämlich dem
jüdischen Gemeindegerichte ob, wobei die Richter verpflichtet waren,
die Verhandlung mit einer Aufforderung der Parteien zur Versöh-
nung zu beginnen. Doch wurden diese Formalitäten von den entzwei-
ten Eheleuten nicht immer beobachtet, so daß in der Praxis auch
solche Scheidebriefe als vollgültig angesehen werden mußten, die
der Gatte seiner Frau durch einen Bevollmächtigten übersandte, falls
ihr nur der Brief, sei es auch auf hinterlistige Weise und gegen ihren
Willen, überreicht worden war. Wie schon erwähnt, ging die Initia-
tive zur Ehescheidung gewöhnlich vom Manne aus: er „entließ“ seine
Frau (buchstäblich „verstieß“ — „gorasch“ nach dem biblischen Aus-
druck) und sie hieß dann die „Verstoßene“ (Geruscha). Nur in we-
nigen Fällen hatte auch die Gattin Anspruch auf Scheidung der Ehe:
wenn nämlich der Mann des ehelichen Zusammenlebens nicht fähig
war oder seine ehelichen Pflichten vernachlässigte, wenn er ferner
von einem abscheuerregenden Aussatz befallen oder mit einem un-
erträglichen Geruch, der Folge seines Handwerks (des Gerbens usw.)
behaftet war. Ein besonders tragischer Anlaß zur Ehescheidung war
für beide Teile die Kinderlosigkeit, die Unfruchtbarkeit der Ehe und
somit ihre Zwecklosigkeit1).
*) Der ganze Traktat Gittin, insbesondere Fol. 90a—b; Ketuboth, 61b, 63,
71a—b; Nedarim, 20b; Jebamoth 64—65 (Ehescheidung im Falle der Unfrucht-
barkeit).
331
Lebensführung und Sitten
Ebenso wie ein Haus ohne Frau nicht als ein normaler Haus-
stand galt, so erschien auch ein Haus ohne Kinder als ganz und gar
abnorm. „Wer keine Kinder hat, gleicht einem Toten“. Der bibli-
sche Segensspruch: „Seid fruchtbar und mehret euch“ galt als ein
Grundgebot der Religion. Der Gedanke, daß der Sinn der Fortpflan-
zung in der Erhaltung des Menschengeschlechts und somit in der
Rechtfertigung der Weltschöpfung liege, wird in folgenden Aussprü-
chen zum Ausdruck gebracht: „Die Welt ist nur zur Fortpflanzung
des Menschengeschlechts geschaffen“; „Wer auf die Fortpflanzung
seines Geschlechts verzichtet, begeht einen Mord (d. h. er tötet gleich-
sam seine Nachkommenschaft) und beeinträchtigt das Bild Gottes auf
Erden, denn es steht geschrieben, daß Gott den Menschen nach sei-
nem Bilde schuf“. Ein Sohn wurde höher geschätzt als eine Toch-
ter, was auch aus der landläufigen Redensart ersichtlich ist: „Wohl
dem, der Knaben und wehe dem, der Mädchen seine Kinder nennt“.
Noch in einem anderen Ausspruch tritt die gleiche Ansicht deutlich
hervor: „Drei Dinge sind dem Menschen unerwünscht: das Stroh
der Ähren, die Säure im Wein und ein Mädchen zum Kinde, und
doch sind sie alle um der Menschheit willen geschaffen“1).
Unter den Urhebern der zahlreichen talmudischen Aussprüche über
die Frau lassen sich zwei Richtungen unterscheiden, die den Charakter
der Frau und ihre Stellung in der Gesellschaft in verschiedener Weise
beurteilen. Die den beiden Parteien gemeinsame Meinung geht dahin,
daß die Frauen „ein ganz besonderes Volk“ seien, dann gehen aber
die Ansichten auseinander: die einen heben die Vorzüge, die anderen
hingegen die Fehler dieser „weiblichen Nation“ hervor. Als Gott den
Gedanken faßte — so heißt es an einer Stelle — das erste Weib aus
einem Körperglied Adams zu erschaffen, dachte er bei sich selbst:
Ich will sie weder aus dem Kopfe Adams erschaffen, damit sie nicht
allzu hochmütig werde, noch aus seinem Auge oder Ohr, auf daß sie
nicht allzu neugierig sei, noch aus seinem Mund, damit sie nicht zu
geschwätzig, noch aus dem Herzen, damit sie nicht zu eifersüchtig
werde, noch aus seiner Hand, damit sie nicht ihre Hand überall hin-
einstecke, noch aus seinem Fuß, damit sie nicht zuviel herumlaufe,
sondern ich will sie aus der Seite (der Rippe) Adams, aus der ver-
borgensten Stelle erschaffen. Und trotz alledem — so schließt die i)
i) Bereschith rabba, 45, 3; Jebamoth, 63b; Edujoth, I, i3; Baba bathra,
i6b; Midrasch Tanchuma, Abschn. Chaje-Sara.
332
§ 47. Das Familienleben
Parabel voll Wehmut — haben sich all diese Fehler in dem Weibe ver-
körpert. Daneben findet sich noch der folgende Ausspruch: „Warum
sucht der Mann ein Weib, und nicht umgekehrt? Weil derjenige su-
chen muß, der verloren hat“ (eine Anspielung darauf, daß Adam im
Schlaf eine Rippe zur Erschaffung Evas genommen wurde). Auch in
anderen Sprüchen wird einer ganzen Reihe weitverbreiteter weibli-
cher Fehler Erwähnung getan: „Zehn Maß Reden sind für die ganze
Welt ausgeworfen worden und neun Maß davon haben sich die Frauen
angeeignet“; „Auch die beste unter den Frauen ist zur Hexerei ge-
neigt“; „Mehr Frauen, mehr Hexerei“; „Die Frauen sind leichtsin-
nig“ (oder „in ihren Überzeugungen unbeständig“ — daatan kala);
„Die Putzsucht ist die stärkste Triebfeder des Weibes; auch noch am
Rande des Grabes hat sie den Putz im Sinne“. Die ritterlichen Ver-
teidiger der Frau lassen sich hingegen folgendermaßen vernehmen:
„Gott hat das Weib mit der Vernunft (der praktischen: ,Bina‘) in
höherem Maße als den Mann bedacht“; „Die jüdischen Mädchen sind
bescheiden; sie sprechen nicht laut, sie trampeln nicht mit den Fü-
ßen, sie lachen nicht in ausgelassener Weise“; „Eine bescheidene Frau
im Hause ist gleich einem Altar im Tempel, denn sie nimmt alle
Sünden der Familie auf sich“; „Eine Frau ist nicht gewohnt, die
Hände müßig in den Schoß zu legen“; „Die Frauen sind für das
Mitleid besonders empfänglich“. Diese doppelte Charakterisierung des
Weibes im Talmud geht übrigens auf eine ähnliche Beurteilung in der
Bibel zurück, wo gleichfalls die zwei sich gegenseitig ausschließenden
Aussprüche zu finden sind: „Wer ein Weib gefunden hat, hat et-
was Köstliches gefunden“; und „Ich finde, daß die Frau bitterer ist
als der Tod“ (Spr. 18, 22 und Kohel. 7, 26). Daher pflegte man auch
in Palästina einen Neuvermählten zu fragen: Hast du gefunden (eine
Anspielung auf den ersten Vers) oder findest du (eine Anspielung auf
den zweiten Vers). Im großen und ganzen kommt aber die Teilnahme
für das weibliche Los eher zum Ausdruck als der Tadel der Frau.
So stößt die Ehescheidung, die der Frau nur Leid bereitet, vielfach
auf Mißbilligung. Es ist uns eine rührende Geschichte erhaltengeblie-
ben von einem Manne, der sich kraft der bekannten Bestimmung ge-
zwungen sah, sich nach zehnjähriger kinderloser Ehe von seinem ge-
liebten Weibe scheiden zu lassen. Die Ehegatten taten ihren Beschluß
dem Gesetzeslehrer Simon ben Jochai kund und dieser sprach zu
ihnen: Wie ihr euer gemeinsames Leben beim Hochzeitsmahle begon-
333
Lebensführung und Sitten
nen habt, so sollt ihr auch bei einem festlichen Mahle voneinander
Abschied nehmen. Die Gattin bereitete darauf ihrem Manne ein präch-
tiges Mahl, und nun sagte der durch den Wein erheiterte Gatte zu ihr:
Bei deiner Rückkehr in dein Vaterhaus nimm dir das Beste aus mei-
nem Hause als Andenken mit. Als der Mann dann eingeschlafen war,
ließ ihn die Frau auf einer Tragbahre in das Haus ihres Vaters brin-
gen. Nach seinem Erwachen fragte der Mann: Wo bin ich? — Im
Hause meines Vaters — war die Antwort. — Was habe ich denn mit
dem Hause deines Vaters gemein? — fragte er wieder. Die Frau aber
versetzte: Du batest mich ja selbst, das Beste aus deinem Hause mit
mir zu nehmen — nun, so habe ich denn dich selbst mitgenommen.
Darauf beschlossen die liebenden Gatten, auf die Ehescheidung zu ver-
zichten. Die Legende fügt noch hinzu, daß der heilige Mann Simon
ben Jochai für sie betete und daß sie bald darauf Kinder bekamen1).
Die rechtliche Lage der Frau nach dem Talmud war, wie es wohl
kaum anders sein konnte, von dem Prinzip der Gleichberechtigung
der Geschlechter sehr weit entfernt. Sowohl als Tochter wie auch
als Gattin galt sie als eine rechtlich unselbständige Person und wurde
in mancher Beziehung dem unter Vormundschaft stehenden Minder-
jährigen (Katan) gleichgestellt. In der Erbfolge hatte der Sohn stets
den Vorzug vor der Tochter: diese konnte nur ein bescheidenes,
zum Lebensunterhalte notwendiges Erbteil für sich beanspruchen.
Über das Eigentum der Frau und über ihre Einkünfte konnte der
Mann als Eigentümer oder aber (hinsichtlich gewisser Arten einge-
brachter Güter) als Vormund frei verfügen; im Falle seines Todes
mußte der Lebensunterhalt der verwitweten Gattin von den Erben
bestritten werden, insofern die Witwe auf die Auszahlung der in
dem Ehevertrag („Ketuba“) festgesetzten Summe keinen Anspruch
erhob. Die „Ketuba“ wurde der Witwe beim Eingehen einer neuen
Ehe und in der Regel der Frau bei der Ehescheidung ausgezahlt. Ab-
gesehen von diesen vermögensrechtlichen Bestimmungen erfreute sich
jedoch die jüdische Frau einer viel ehrenvolleren Stellung in der
Familie, als es bei den anderen Völkern jener Zeit der Fall war.
Schon das Grundgebot von der den Eltern geschuldeten Ehrfurcht
1) Sabbat, 33b, 62a; Bereschith rabba, 18, 3; Jebamoth, 64 a; Kidduschin,
49 b; Nidda, 3i b, 45 a; Pessachim, 100 b; Aboth II, 8; Moed katan, 9 b;
Midrasch Tanchuma, Abschn. Wa’jischlach; Jerus. ' Ketuboth, V; Megilla, i4b;
Berachoth; 8 a; Schir ha’schirim rabba.
§ 48. Schule, Gelehrsamkeit, Schrifttum
machte den Kindern ein gleiches Verhalten Vater und Mutter gegen-
über zur Pflicht. Im Talmud wird die Frage aufgeworfen: warum
ist in der einen biblischen Formel dieses Gesetzes („Ehre Vater und
Mutter“, Ex. 20, 12) der Vater vor der Mutter genannt, während in
der anderen („Ein jeglicher soll seine Mutter und seinen Vater fürch-
ten“, Lev. 19, 3) die Mutter zuerst erwähnt wird? Darum eben, lau-
tet die Antwort, weil die Kinder gewöhnlich die Mutter mehr „ehren“
(d. h. sie hängen mehr an ihr) und den Vater mehr „fürchten“ oder
ihm eher gehorchen; um nun die Eltern gleichzustellen, ist in dem
Gebot über die geschuldete Achtung der Vater in den Vordergrund
gerückt, in dem über das „Fürchten“ oder das Gehorchen hingegen
die Mutter1). So fand die Frau in der sittlichen Atmosphäre der Fa-
milie gleichsam eine Entschädigung für alle Nachteile ihrer zivilrecht-
lichen Lage.
§ 48. Schule, Gelehrsamkeit, Schrifttum
Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß in einem Zeitalter, für
welches die ältere Historiographie sogar die Bezeichnung von der wis-
senschaftlichen Tätigkeit herleitete („Epoche des Talmud“), im Mit-
telpunkte des jüdischen Lebens die Schule stand. Schon zur Zeit des
Josephus Flavius pflegten die Juden, wie dies von ihm bezeugt wird,
ihren Kindern bereits im zartesten Alter Unterricht zuteil werden zu
lassen, da sie die Unterweisung in den Thoragesetzen als eine heilige
Pflicht erachteten (Gegen Apion, I, 12 und II, 18, 26). Ein Zeit-
genosse des Josephus war jener Hohepriester Josua ben Gamala, von
dem die Überlieferung folgendes zu berichten weiß: „In früheren
Zeiten lernte jeder, der einen Vater hatte, bei diesem die Thora, der-
jenige aber, der keinen Vater hatte (eine Waise), lernte nichts, denn
das Gebot: Lehrt eure Kinder (Ex. 11, 19) wurde in dem Sinne auf-
gefaßt, als sei nur der Vater zur Unterweisung seines Sohnes ver-
pflichtet Später begann man indessen in jeder größeren Stadt Leh-
rer einzusetzen (Schulen zu bauen), doch schickte man die Kinder
erst nach Vollendung des fünfzehnten oder sechzehnten Lebensjahres
in die Schule, so daß die Schüler, wenn sie von dem Lehrer eine
Rüge bekamen, nicht selten (als Halberwachsene) in Empörung gerie-
ten und der Schule den Rücken zuwandten. Schließlich kam Josua
*) Gittin, 77b und passim; Kidduschin, 3o— 3i.
335
Lebensführung und Sitten
ben Gamala und verordnete, daß Lehrer in allen Bezirken und Städ-
ten angestellt und die Kinder schon im sechsten oder siebenten Le-
bensjahr in die Schule geschickt werden sollten“1). Alle diese Schwan-
kungen im Unterrichtssystem scheinen in den folgenden Jahrhunder-
ten, als in Palästina die akademischen Zentren Jabne und Tiberias er-
blühten und zugleich in Babylonien neue, eine große Zahl von Leh-
rern ausbildende Pflanzstätten der Wissenschaft entstanden, endgültig
überwunden worden zu sein. Es bürgerte sich nämlich ein vielfach
abgestuftes Unterrichtssystem ein, das mit dem väterlichen ABC da-
heim anhob und in der Talmudhochschule seine Spitze erreichte.
Den häuslichen Unterricht genossen die Kinder seit ihrem frühe-
sten Alter: „Sobald das Kind zu sprechen beginnt, muß der Vater
ihm die heilige Sprache beibringen und es in der Thora unterwei-
sen“. Bekanntlich war die Umgangssprache der Juden jener Zeit so-
wohl in Palästina als in Babylonien die aramäische Mundart, die in
Palästina mehr der syrischen (sursi) nahekam. In beiden Ländern ver-
suchte man die Sprachenfrage folgendermaßen zu formulieren: Wo-
zu aramäisch sprechen, wenn man aus nationalen Gründen eigentlich
nur hebräisch sprechen sollte, als Umgangssprache aber nur die Amts-
sprache, d, i. die griechische in Palästina und die persische in Baby-
lonien, in Betracht kommt?. Dies war eben die Auffassung, die zu
Beginn des III. Jahrhunderts der Patriarch Jehuda ha’Nassi und hun-
dert Jahre später der babylonische Amoräer R. Joseph vertrat1 2). In-
dessen ging man dabei über rein theoretische Erwägungen nicht hin-
aus. Bildete doch die aramäische Sprache von jeher die die gesamte
Nation verbindende, lebende Sprache, während das Hebräische nur
die Sprache der Synagoge und zum Teil der Literatur war; sich von
der aramäischen Muttersprache um der griechischen, lateinischen oder
persischen willen lossagen, hieß darum so viel wie eines der festesten
nationalen Bindeglieder zerstören und den Assimilierungstendenzen
Vorschub leisten. Um so mehr war die Schule eine unbestrittene Do-
mäne des Hebräischen. Wie aus dem eben angeführten Ausspruch zu
ersehen ist, pflegten viele Väter ihre Kinder schon im häuslichen
Kreise durch Konversation in der alten nationalen Sprache für die
Schule vorzubereiten. Bei alledem hatte man freilich nur die Knaben
im Auge. Eine Verpflichtung, auch die Mädchen zu unterrichten, be-
1) Baba bathra, 21a.
2) Siphre, Abschn. Ekeb; Sota, 49b, Baba kamma, 82—83.
336
§ US. Schule, Gelehrsamkeit, Schrifttum
stand eigentlich nicht. Allerdings war dies eine umstrittene Frage;
während die einen der Meinung waren, daß der Vater auch seine
Tochter in der Thora zu unterweisen habe, glaubten die anderen,
daß „jeder, der seine Tochter in der Thora unterweist, ihr nur Un-
nützes beibringt“, wohl aus dem Grunde, weil die Frau die Wissen-
schaft in ein Spiel, in ein Werkzeug ihrer Gefallsucht verwandeln
könnte. Es ist jedoch anzunehmen, daß die Anforderungen der reli-
giös-rituellen Lebensführung die Väter veranlaßten, auch die Töch-
ter die wichtigsten hebräischen Gebete zu lehren und sie im Penta-
teuch, zumindest in der aramäischen Übersetzung, zu unterweisen.
Die Frauenbildung fand, wie es scheint, auf dieser Stufe des häus-
lichen Unterrichts bereits ihren Abschluß, da der Mädchenschulen im
Talmud nirgends Erwähnung getan wird (nur als seltene Ausnahmen
werden manche Gelehrtengattinnen genannt, die sich auch selbst durch
reiches Wissen auszeichneten, so z. B. die Gattin des R. Meir, Be-
ruria, und die des R. Nachman, Jalta). Was hingegen die Knaben
betrifft, so bedeutete für sie der Elementarunterricht zu Hause, wie
bereits erwähnt, nur eine Vorstufe für die systematische Ausbildung
in der Gemeindeschule1).
Der Schulzwang begann für die Knaben mit dem fünften oder
sechsten Lebensjahr. Neben den Gemeindeschulen gab es auch Pri-
vatschulen. Die Gemeindeschule war an die Synagoge angeschlossen;
die Grund- sowie die höhere Schule hieß „Beth sefer“ (Haus des
Buches, der Fibel), während die Hochschule „Beth ha’midrasch“ oder
„Beth-talmud“ (Haus der Vorlesungen oder des Studiums) genannt
wurde. Im Laufe der Zeit bürgerte sich jedoch der Name Beth
ha’midrasch als eine gemeinsame Bezeichnung für die gewöhnlich im
selben Gebäude untergebrachte Schule und Synagoge ein (die Sy-
nagoge für sich hieß „Beth ha’knesseth“: Versammlungs- oder Ge-
meindehaus). Die Privatschule, die sich im Hause des Schulmeisters
befand, trug den aramäischen Namen „Be-rab“ (Schulmeisterhaus).
Die Rangordnung der für die verschiedenen Altersstufen der Schüler
bestimmten Schulen entsprach der Reihenfolge der durchzunehmenden
Fächer: in der Elementarschule herrschte der Bibelunterricht vor
(Mikra, was sowohl „Lesen“ als auch „Schrift-Text“ bedeutete), in
der höheren die Unterweisung in der Mischna und in der Hochschule
das Studium der Gemara oder des Talmud. Einer der palästinensi-
*) Sukka, 42 a, Ketuboth, 5oa, Sota, 20 a.
22 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
337
Lebensführung und Sitten
sehen Gelehrten ordnete den Unterrichtsstoff auf folgende Weise den
einzelnen Altersstufen zu: mit fünf Jahren — die Mikra, mit zehn —
die Mischna, mit fünfzehn — die Gemara. Das Studium des Penta-
teuch ließ man an manchen Orten nicht mit dem ersten, dem ge-
schichtlichen Buche beginnen, sondern mit dem dritten, dem „Prie-
sterkodex“, d. i. mit dem gesetzgebenden Teil. Dieselbe sonderbar an-
mutende pädagogische Methode fand auch bei dem Talmudunterricht
Anwendung: zunächst lehrte man die Halacha und erst dann die Hag-
gada. Das Hauptinteresse galt eben allem Anscheine nach der Praxis
des Lebens, der Unterweisung in den Gesetzen und Bräuchen. In den
Elementarschulen Babyloniens kam ein Lehrer auf je fünfundzwanzig
Schüler; stieg die Schülerzahl in derselben Gruppe auf vierzig, so
pflegte man dem Lehrmeister einen Gehilfen (Resch duchana) zur
Seite zu stellen, während eine fünfzig Schüler starke Gruppe unter
der Obhut zweier ordentlicher Lehrer stand. Grundsätzlich durfte der
Lehrer kein Lehrgeld von den Schülern erhalten, da eine Entschädi-
gung für den zur religiösen Pflicht gemachten Thoraunterricht als
anstößig galt. In der Praxis konnten jedoch die über keine anderen
Einkünfte verfügenden Lehrer auf das Schulgeld nicht verzichten, und
so suchte man für diese Honorierung irgendeinen Rechtfertigungs-
grund ausfindig zu machen. Die einen meinten, der Lehrer werde
nicht für die Unterweisung in der Thora, sondern nur für die den
Kindern beigebrachte Fertigkeit im Lesen entlohnt; die anderen wie-
der nahmen an, daß der Lehrer nur für die von ihm übernommene
Sorge um die Kinder bezahlt werde, während noch andere der Mei-
nung waren, daß der Lohn allein für die „Arbeitslosigkeit“ (Sechar
batala) bezogen werde, d. i. für den von dem Lehrer geleisteten Ver-
zicht auf jede andere Verdienstquelle. Gerade diese letzte Erwägung
wurde in späterer Zeit für die Rechtfertigung des Unterrichtshono-
rars ausschlaggebend1).
Das Prinzip der allgemeinen Schulpflicht kommt im Talmud in
einer ganzen Reihe von erhabenen Aussprüchen zum Ausdruck: „Die
ganze Welt lebt von dem Odem der Schulkinder (Tinokoth schel
beth-rabban)“; „Eine Stadt, die keine Schulkinder aufzuweisen hat,
kann leicht zugrunde gehen: Jerusalem ist nur in dem Augenblick
der Zerstörung anheimgefallen, als die Kleinen nicht mehr in die
*) Aboth, V, 26; Ketuboth, 5oa; Wa’jikra rabba, VII, 3; Baba bathra,
21a; Bechoroth, 29a.
338
§ 48. Schule, Gelehrsamkeit, Schrifttum
Schule gingen“; „In der Schrift heißt es: die Stimme Jakobs und
die Arme Esaus — solange in den Synagogen und Schulen noch die
Stimme Jakobs zu vernehmen ist, bleiben die Arme Esaus kraftlos“.
Auf die von den Judenhassern aufgeworfene Frage, ob das jüdische
Volk überhaupt überwindbar sei, sollen zwei heidnische „Philosophen“
geantwortet haben: „Macht nur den Rundgang durch ihre Synagogen
und Schulen; vernehmt ihr dort die klingenden Stimmchen ihrer
Kleinen, so gebt den Gedanken an die Überwindung dieses Volkes auf“.
„Tagtäglich sendet Gott seinen Engel aus, um die Welt zu zerstören,
doch ein einziger Blick Gottes auf die Schulkinder und die Gelehrten
genügt, um seinen Zorn in Erbarmen zu verwandeln“1). Die „Schul-
kinder“ sind gleichsam der Gegenstand der allnationalen Verehrung,
die Gewähr der geistigen Macht der Nation. Oben war bereits er-
wähnt, wie groß das Erstaunen der Sendboten des palästinensischen
Patriarchen war, als sie in einer der Städte keine Lehrer, die sie mit
dem Ehrennamen „Stadtwächter“ bezeichneten, vorfanden (§ 22).
Ein Knabe, der dreizehn Jahre alt geworden war, galt als geistig
reif und für sein religiöses Verhalten voll verantwortlich (Bar mizwa),
folglich mußte er bis dahin das ganze System des Gesetzes in seiner
allmählichen Entwicklung sich mit klarem Bewußtsein bereits an-
geeignet haben. Zugleich erfolgte dann der Übergang von der ele-
mentaren und der höheren Schule zu der Hoch-, zu der Talmudschule.
Nicht allen war es freilich beschieden, die Stufe der Hochschulbildung
zu erklimmen: „Gewöhnlich ist es so, daß von tausend die Bibel Stu-
dierenden nur hundert zur Mischna kommen, während von diesen nur
zehn zum Talmud fortschreiten“. Nicht alle Schüler kamen somit aus
der Elementarschule in die höhere, um dann auch in die Hochschule
zu gelangen, und dennoch war die Zuhörerzahl in den Talmudaka-
demien sowohl in Palästina wie in Babylonien überaus beträchtlich.
Hier lernte man, teils mit Hilfe von Büchern, teils mündlich, die ganze
im Laufe der Jahrhunderte angehäufte Unmenge von „Halachoth“,
von Gesetzesbestimmungen, Deutungen und verschiedenen Schul-
ansichten, die dabei der eingehendsten Analyse unterzogen wurden,
und debattierte in leidenschaftlichster Weise über, die umstrittenen
Fragen, indem man nicht selten bei alledem nur die „Schärfung des
Geistes der Studierenden“ (le’chaded eth ha’talmidim) im Auge hatte.
Die Methoden, die in den Schulen zur Anwendung kamen, waren sehr
1) Sabbat, 119 b; Bereschith rabba, 65, 16; Kalla rabbathi, II.
22*
339
Lebensführung und Sitten
verschieden: während man in den einen Schulen vornehmlich die Dia-
lektik (Pilpul) pflegte, ging man in den anderen eher auf die Verall-
gemeinerung und Systematisierung des Halachastoffes aus. Im palä-
stinensischen Talmud herrscht die Meinung vor, daß die Systemati-
sierung über der ins einzelne sich verlierenden Analyse stehe (Sadron
ködern le’palplon): es gelte, „das Wissen in allgemeinen Grundsätzen
anzulegen, um es dann nach und nach verausgaben zu können“, eben-
so wie man Kapital in hochwertigen Münzen anlege, um sie dann nach
Bedarf einzuwechseln, wodurch die ständige Belastung durch das be-
schwerliche Kleingeld vermieden werde. Diese Ansicht fand jedoch in
der Mehrzahl der babylonischen Schulen keine Zustimmung, und so
schoß denn dort, wie bereits erwähnt, der „Pilpul“ üppig empor. Am
meisten wurde in den Talmudschulen das Gedächtnis geübt, da der
größte Teil des durchzunehmenden Stoffes vor der endgültigen
schriftlichen Fixierung des Talmud nur von Mund zu Mund tradiert
zu werden pflegte. Hierbei bediente man sich allerhand mnemotech-
nischer Kunstgriffe (Simanin, das griechische „semeion“: Zeichen).
Ein „Gelehrter, der seine Wissenschaft vergessen hatte“, mußte schon
aus dem Grunde als einer der Bemitleidenswertesten erscheinen, weil
in den Schriftwerken nur ein kleiner Bruchteil der Riesenschätze der
mündlichen Lehre wiederzufinden war. Daher das unausgesetzte Stu-
dieren in den Schulen ganze Tage und Nächte hindurch, das Einprä-
gen der „Halachoth“ durch „hunderteinmaliges“ Repetieren1).
In den vorhergehenden Kapiteln war bereits ausführlich von den
Ergebnissen die Rede, die diese angestrengte, in Babylonien in den
Akademien von Sura, Nehardea, Pumbadita und Machusa gepflegte
geistige Arbeit gezeitigt hatte. Neben den talmudischen Hochschulen,
den „Jeschiboth“, und in Anlehnung an diese bestanden auch noch
Volksuniversitäten, etwa von der Art der modernen „University exten-
sion“. Um auch die Familienväter und die sonst durch ihr Tagewerk
in Anspruch Genommenen, die die Hochschulen als ordentliche Hörer
nicht besuchen konnten, vom Studium nicht ganz auszuschließen,
pflegte man nämlich zweimal jährlich, in den Monaten Adar und
Elul, d. i. am Ausgang der Winter- und der Sommerzeit, große, unter
dem Namen „Kalla“ (allgemeine Versammlungen, Universitäten) be-
kannte Schülertagungen zu veranstalten. In diesen Versammlungen, an
!) Aboth, V, 26; Erubin, 54b; Taanith, 7a. Jerus. Horaioth, III; Kohelet
rabba, VII in fine; Siphre, Abschn. Ha’asinu; Chagiga, 9b.
34o
§ 48. Schule, Gelehrsamkeit, Schrifttum
denen sich neben den Gasthörern auch die ständigen Hörer der Hoch-
schulen beteiligten, repetierte man in gedrängter Form noch einmal
alles im abgelaufenen Semester Durchgenommene. Diese zweimal im
Jahre für die Studierenden veranstalteten Repetitionen waren zu-
gleich mit öffentlichen Vorlesungen für alle wissensdurstigen Bürger
verbunden. Die letzte Woche jedes dieser Repetitionsmonate, die den
großen Frühjahrs- und Herbstfeiertagen unmittelbar vorausgingen,
wurde ausschließlich den populären Vorträgen gewidmet. Der An-
drang der Zuhörer aus den verschiedensten Gegenden Babyloniens war
dabei so groß, daß z. B. in Sura für die Zugereisten die Unterkunfts-
gelegenheiten nicht ausreichten, so daß die Mehrzahl der Gäste unter
freiem Himmel, an den Ufern des Surasees, übernachten mußte1).
In der Mischna begegnen uns sorgfältig herausgearbeitete Charak-
teristiken verschiedener Kategorien von Lehrenden und Lernenden.
„Der*Jähzornige taugt nicht zum Lehrer, der Schüchterne nicht zum
Schüler“ (jenen wagt man nicht um eine Erklärung anzugehen, wäh-
rend dieser selbst nicht zu fragen wagt); „Vier Charaktere gibt es
unter den Schülern: einer faßt schnell und vergißt schnell, da geht
der Vorteil im Nachteil auf; einer faßt schwer und vergißt schwer,
da geht der Nachteil im Vorteil auf; der dritte faßt schnell und ver-
gißt schwer — das ist der beste Teil; der vierte faßt schwer und ver-
gißt schnell — das ist der schlechteste Teil“. „Vier Charaktere gibt es
unter den Jüngern, die da sitzen vor dem Gelehrten (unter den Stu-
dierenden): der eine gleicht dem Schwamm, der alles einsaugt; der
andere dem Trichter — bei dem geht es da hinein und dort hinaus;
der dritte ist wie der Seiher: er läßt den Wein durch und behält die
Hefe; der vierte endlich ist wie das Sieb, das den Mehlstaub durch-
läßt und das gereinigte Mehl zurückhält“* 2). Überall, wo von der Wis-
senschaft (Thora, Talmud) die Rede ist, wird in erster Linie die Ha-
lacha gemeint. Die Sagen und Belehrungen der Haggada kommen für
das Schulsystem erst an zweiter Stelle in Betracht. Die Bedeutung der
Haggada für die sittliche Erziehung wird jedoch allseitig anerkannt:
„Derjenige, der den Midrasch (Haggada) kennt, mit der Halacha aber
nicht vertraut ist, steht der Wissenschaft fern; wer hingegen die Ha-
lacha kennt und mit dem Midrasch nicht vertraut ist, steht der Furcht
*) Berachoth, 57 a, Baba bathra, 22 a (Rosch kalla). S. Iggereth R. Sche-
rira und Aruch haschalem von Kohut, s. v. Kalla.
2) Aboth, II, 5; V, 12, 18.
34i
Lebensführung und Sitten
vor der Sünde (der Tugend) fern. Der erstere ist ein Held (des Gei-
stes), doch entwaffnet (der Waffe der Dialektik ermangelnd), der
zweite ist hingegen kraftlos, aber voll ausgerüstet; nur wer das eine
mit dem anderen vereinigt, ist ein Held in voller Ausrüstung“1).
Der Bibelunterricht in der Elementarschule machte den Schüler
zugleich mit der altnationalen Sprache, mit der nationalen Geschichte
und Religion vertraut; im Verein damit wurde ihm die Kunst des Le-
sens und Schreibens beigebracht. Alle sonstige Wissenschaft: Mathe-
matik, Naturkunde, Geographie, allgemeine Geschichte, fremde Spra-
chen, war jedoch aus der damaligen Schule verbannt. Manche der
Talmudgelehrten verfügten zwar über große Kenntnisse auch auf die-
sen Gebieten und stützten sich darauf in ihren Untersuchungen und
Erwägungen (so auf die Geometrie in den die Agrar- und die Sabbat-
gesetze behandelnden Traktaten, auf die Anatomie bei der Erörterung
der Vorschriften über das Viehschlachten, auf geschichtliche und*geo-
graphische Kenntnisse in den haggadischen Partien), doch pflegte
man sich diese „abseitsliegenden Kenntnisse“ außerhalb der Schule
anzueignen. Grundsätzlich galten aber die weltlichen Wissenschaften,
die unter der allgemeinen Bezeichnung „griechische Weisheit“
(Chachmath jewanith) zusammengefaßt wurden, als mit der natio-
nalen Wissenschaft unvereinbar. Die Frage, ob man die „griechische
Weisheit“ erlernen dürfe, entschied einst R. Ismael in folgender
Weise: „Es steht geschrieben (Jos. i, 8), daß man über die Thora
Tag und Nacht nachsinnen solle, also darfst du dich nur in jener
Mußestunde, die weder Tag noch Nacht ist, mit der griechischen
Weisheit befassen“. Daß den Familienangehörigen des palästinensi-
schen Patriarchen, die mit den römischen Behörden in Berührung
kommen mußten, griechische Bildung zu genießen gestattet war,
wurde bereits oben erwähnt. Manche ließen noch aus dem Grunde
ihre Töchter das Griechische erlernen, weil dies „dem Mädchen zur
Zierde gereiche“, ihnen sozusagen einen gesellschaftlichen Schliff
verleihe. Der Hauptgrund zur Verbannung der „griechischen Wissen-
schaft“ aus der Schule war die Befürchtung, daß die Jugend sich
von der heidnischen Philosophie, die auch außerhalb der Schule in
keiner Weise geduldet wurde, bezaubern lassen könnte* 2).
So war denn die Wissenschaft ganz in den nationalen Schranken
1) Aboth de’Rabbi Nathan, Kap. 29.
2) Menachoth, 99b; Baba kamma, 83; Jerus. Pea, I.
342
§ 48. Schule, Gelehrsamkeit, Schrifttum
eingeschlossen, innerhalb dieser wurde aber der Kult der Wissen-
schaft so weit getrieben wie bei keinem anderen Volke der alten Welt.
Der Gelehrtenstand bildete die im Judentum am höchsten stehende
Aristokratie, gegen die weder der Geburts- noch der Finanzadel auf-
zukommen vermochte. Das Verhalten des Jüngers dem Meister (Rab)
gegenüber grenzte an Anbetung. Im Talmud wird die Frage aufge-
worfen, wem man größere Hochachtung schulde, dem Vater oder dem
Lehrer, und man stand nicht an, in einigen Fällen die Frage zugun-
sten des Lehrers zu entscheiden. Traf man z. B. den Vater und den
Lehrer unter einer Last gebeugt, so mußte man zuerst dem Lehrer
zu Hilfe eilen und erst dann dem Vater. Sogar aus der Gefangenschaft
mußte man zuerst den Lehrer befreien, es sei denn, daß der Vater
selbst dem Gelehrtenstande angehörte. Diese grenzenlose Verehrung
des Lehrers wird folgendermaßen begründet: „Der Vater führt den
Menschen nur in das irdische Leben ein, während der Lehrer ihn in
die künftige Welt einführt“, indem er ihm den Segen des geistigen
Lebens zuteil werden läßt. Einer der ältesten „Sprüche der Väter“
macht es sogar zur Pflicht, die „Ehrfurcht vor dem Lehrer der Ehr-
furcht vor Gott gleich sein“ zu lassen1). Gleich dem Meister in der
Schule, wurde der Gelehrte in der Gemeinde verehrt. Unter der Be-
zeichnung „Gelehrter“ (Chacham oder Talmid-Chacham) versteht der
Talmud nicht nur einen geistig hochbegabten, sondern auch einen sitt-
lich vollkommenen und gebildeten Menschen von geistiger Vornehm-
heit. Die Vorzüge eines solchen Menschen werden in den „Sprüchen
der Väter“ wie folgt geschildert: „Der Gelehrte (Chacham, hier viel-
leicht einfach als der „Gescheite“ aufzufassen) spricht nicht vor dem,
der ihm überlegen ist an Weisheit und Bedeutung, fällt keinem ins
Wort, antwortet nicht voreilig, fragt, was zur Sache gehört, und ant-
wortet vernünftig, indem er von dem, was das erste ist, zuerst spricht,
von dem aber, was das letzte ist, zuletzt; von dem, was er nicht weiß,
sagt er: Ich weiß es nicht, und (wenn er sich geirrt hat) gibt er die
Wahrheit ohne weiteres zu“. Im Traktat über die Weltgewandtheit
(„Derech erez“) wird der Gelehrte oder der Gebildete als ein „Mann
von guten Manieren“ geschildert: er ißt nicht in Eile, ohne Platz ge-
nommen zu haben, leckt nicht die Finger ab, spuckt nicht in Gegen-
wart anderer aus, spricht wenig, lacht selten, sagt nicht leichtfertig:
Ja, ja oder Nein, nein (d. h. er wägt seine Worte ab). „Der-
1) Baba mezia, 33 a (Mischna); Aboth, IV, i3.
343
Lebensführung und Sitten
jenige, dessen innerer Gehalt seinem äußeren Verhalten nicht ent-
spricht (en tocho ke’baro, d. h. der im Inneren nicht das ist, was er
scheinen will), ist des Rufes als Gelehrter nicht würdig“. Indessen
blieben auch die Schattenseiten der Gelehrten nicht unbeachtet: so
das übermäßige Selbstgefühl, die Heftigkeit, die Unnachgiebigkeit,
das Grollen — Gharakterzüge, die rückhaltlos getadelt werden. Eine
feine psychologische Beobachtung fällt in der folgenden Gegenüber-
stellung auf: „Bei dem gemeinen Manne wird der Verstand im Alter
verwirrt, während er bei dem Denker mit fortschreitendem Alter im-
mer zuverlässiger wird“1).
Die schroffe Gegenüberstellung des gemeinen Mannes und des Ge-
lehrten, wie sie hierbei zum Ausdruck kommt, war die Folge des be-
sonders gepflegten geistigen Aristokratismus. Unter einem „gemeinen
Manne“ oder dem „Manne vom Lande“ (Am-ha’arez) verstand man
nicht einen Mann mit grobem Handwerk oder einen Schwarzarbeiter
(lebten doch auch viele Gelehrte von ihrer Hände Werk und sogar
von der Feldarbeit), ja nicht einmal den wenig Gebildeten, sondern
vielmehr einen Menschen von roher Gesinnung, der seine religiösen
und sittlichen Pflichten in jeder Weise vernachlässigte. Im einzelnen
faßte man den Begriff „Am-ha’arez“ in sehr verschiedener Weise auf.
„Wer kann als Am-ha’arez gelten?“, wird im Talmud gefragt, und
nun kommen die verschiedenen Antworten: „Derjenige, der nicht
morgens und abends das Schma-Gebet spricht; wer die Tefillin
(Gebetkapseln) nicht anlegt; wer keine Zizith (Schaufäden) an seinem
Gewände trägt; wer auf seinen Türpfosten keine Mesusa (Pergament-
rolle, auf der das Hauptgebet geschrieben steht) hat; wer seine Kin-
der nicht für das Thorastudium erzieht“. Andere gehen noch viel
weiter und halten für einen Am-ha’arez jeden, der, obwohl im Besitze
der Thora- und Mischnakenntnis, nicht unter der Anleitung der Ge-
lehrten seine Studien gemacht hat. Die letztere Ansicht, die extremste
Konsequenz der Zunftgelehrsamkeit, fand jedoch keine Billigung bei
der Mehrzahl der Gebildeten, so daß als Hauptmerkmal der Unbil-
dung die „Unkenntnis der Bibel, der Mischna und der Regeln des
Anstandes (Derech erez)“ galt, da dies gewöhnlich von der Mißach-
tung alles Wissens überhaupt sowie seiner Träger unzertrennlich war.
Die solchen Menschen seitens der Gebildeten bekundete Geringschät-
!) Aboth, V, 7; Derech-erez sutta, V; Joma, 23a, 72b; Taanith, 4 a; Sota,
5a; Sabbat, iÖ2a; Kinnim, III (in fine).
344
§ 48. Schule, Gelehrsamkeit, Schrifttum
zung wurde von jenen mit den gleichen wenig freundschaftlichen Ge-
fühlen vergolten, und so sind denn im Talmud Spuren eines schar-
fen Kampfes zwischen den Aristokraten und den Plebejern des Geistes
unverkennbar. Die Aristokraten behaupteten, daß der „Am-ha’arez“
ein gefährlicher und schädlicher Mensch sei, der „den Gelehrten noch
mehr haßt, als ein Andersgläubiger einen Juden“. Es fehlte sogar
nicht an Versuchen, den „Am-ha’arez“ auch rechtlich zurückzusetzen:
man sollte sich mit ihm nicht verschwägern (als Grund wurde dabei
angegeben, daß der gemeine Mann seine Frau schlägt und sie über-
haupt roh behandelt), sein Zeugnis vor Gericht galt als nicht beweis-
kräftig, die Verwaltung der Gemeindekasse sowie die Vormundschaft
über Waisen durfte ihm nicht anvertraut werden. Man glaubte sogar,
daß es nicht ungefährlich sei, mit einem solchen Menschen zu zweit
unterwegs zu sein. So erklären sich manche Aussprüche des Talmud,
die den „Am-ha’arez“ als den Erzfeind erscheinen lassen („man kann
ihn wie einen Fisch zerreißen“ u. dgl.), harte Worte, die nur in der
Hitze des Gefechtes fallen konnten. Doch wird in einer ganzen Reihe
anderer Aussprüche ein versöhnlicherer Ton angeschlagen: „Die Ge-
lehrten von Jabne pflegten zu sagen: Ich bin eine Kreatur Gottes
und mein Nächster (der gemeine Mann) ist ebenso eine göttliche
Kreatur. Ich verrichte mein Werk in der Stadt, er aber im Felde;
ich stehe früh auf um meiner Arbeit willen (der geistigen), er um
der seinigen willen. Vielleicht ist mein Werk dem seinigen überlegen,
doch heißt es: viel oder wenig, wenn nur das Herz Gott zugetan ist“.
Es wurde die Meinung laut, daß zur Erfüllung des zum Thorastudium
verpflichtenden Gebotes das Lesen eines einzigen Kapitels am Mor-
gen und eines am Abend oder gar das Sprechen des Morgen- und des
Abendgebetes genüge. Eine so nachsichtige Beurteilung des Am-ha’arez
mochte die Gegensätze mildern, konnte jedoch den Antagonismus zwi-
schen der gebildeten und der ungebildeten Schicht nicht aus der Welt
schaffen. Der Unwillen gegen die Vorherrschaft der geistigen Aristo-
kratie blieb noch lange die Grundstimmung in den niedrigeren Schich-
ten des Volkes1).
War die Hochschulbildung somit nur einem kleinen Teil der Be-
völkerung zugänglich, so war hingegen die Elementarbildung ein Ge-
meingut des ganzen Volkes, wenigstens seiner männlichen Hälfte, für
1) Pessachim, 49b; Berachoth, 17a und 47 b; Baba mezia, 33b; Mena-
choth, 99b.
Lebensführung und Sitten
die der Schulzwang galt. Wie erwähnt, wurde in den Elementarschu-
len der Unterricht im Lesen und Schreiben in den beiden verwandten
Sprachen, der hebräischen und der aramäischen, in der Sprache der
Bibel und der Synagoge einerseits und in der Umgangssprache an-
dererseits erteilt. Angesichts der großen Nachfrage nach den Büchern
der Heiligen Schrift erlernte man die Schreibkunst nicht nur zu Bil-
dungszwecken, sondern auch als Handwerk. Der Beruf der Bücher-
kopisten (Soferim) und der Libellaren (vom lateinischen „libellarius“),
d. L der Schreiber an den verschiedenen VerwaltungSr- und Gerichts-
stellen, war besonders in Palästina verbreitet. Der heilige Hieronymus
berichtet, daß in jüdischen Häusern Schränke voll Bücher standen
und daß in den Synagogen große „Archive“ verwahrt wurden. Diese
Büchereien bestanden wohl aus verschiedenen Abschriften der bibli-
schen, vielleicht auch der apokryphischen Bücher, sowie aus den
Mischnatraktaten und den Ergänzungen dazu. Die Kunstfertigkeit der
jüdischen Schreiber, die die biblischen Bücher für ein bestimmtes
Entgelt abzuschreiben pflegten, nahmen auch die Christen nicht selten
in Anspruch, um so mehr als es unter den Kopisten Kenner des Grie-
chischen gab, die mit der Septuaginta, der Übersetzung des Akylas,
der apokryphischen Literatur und dem Neuen Testamente wohl ver-
traut waren. Den Schreiberberuf übten gar häufig sogar hervorra-
gende Gelehrte aus: ein Libellar, der sich seinen Unterhalt durch Ab-
schreiben der Heiligen Schrift verdiente, war z. B. der große R. Meir;
denselben Beruf hatten auch manche andere Gesetzeslehrer, wie dies
aus ihrem Beinamen Safra zu ersehen ist. Zu den Schreibern, die den
religiösen Bedürfnissen entgegenkamen, zählten auch die Abschreiber
jener Bibelstellen, die, auf Pergamentröllchen übertragen, in die
„Mesusoth“ und „Tefillin“ eingesetzt zu werden pflegten. Andere
Schreiber wählten als besonderes Fach die Abfassung von allerhand
Rechtsurkunden, von Verträgen und Schuldverschreibungen, Kauf-
und Scheidebriefen, von letztwilligen Verfügungen u. dgl. m.1)
Was die Schreibutensilien betrifft, so waren sie überaus mannig-
faltig. Gewöhnlich schrieb man auf aus Tierhäuten verfertigtem Per-
gament (Kelaf, Gewil) oder auf Papier (Nejar), eine Art Papyrus;
doch waren nach wie vor auch noch viel primitivere Schreibmateria-
lien im Gebrauch: Stein, Holz (mit Wachs bedeckte Tafeln), sowie
!) Trakt. Soferim, passim; Erubin, i3a; Pessachim, 5ob (die letztere Stelle
bezeugt, daß die Schreiber eine nur notdürftige Existenz zu führen vermochten).
§ 49. Die Gemeindeverfassung
Tonscherben. Für Bücher verwendete man vornehmlich Pergament,
für Briefe, Rechnungen und sonstige Urkunden meistens Papier. Zwei
zusammengeheftete, mit Wachs bestrichene Täfelchen, etwa von der
Art des heutigen Schreibheftes, dienten zur Eintragung geschäftlicher
Notizen (der „Pinkas“ oder „Pinax“ des Krämers). Den auf den Per-
gamentbogen geschriebenen Büchertext pflegte man in schmale Spal-
ten einzuteilen; darauf wurden die einzelnen Bogen zu einem fort-
laufenden Streifen zusammengenäht, dieser wurde dann um eine läng-
liche Holzwalze gewickelt und ergab so die Rolle oder das Buch (Me-
gilla, Sefer). Zum Schreiben benutzte man aus Ruß verfertigte Tinte
oder schwarze Tusche (Dejo). Zur Verwendung kamen aber auch an-
dere Farbstoffe, darunter namentlich die Goldfarbe (Chrysographie).
Als Schreibwerkzeug diente der „Stil“ oder der Schreibgriffel, noch
häufiger aber Schreibfedern aus Schilfrohr, die mit dem in die he-
bräische Sprache übergegangenen griechischen Wort „kalamos“ be-
zeichnet zu werden pflegten.
Urkunden und Geschäftsdokumente wurden gewöhnlich in der
aramäischen Sprache, der Umgangssprache der gesamten orientali-
schen Judenheit, abgefaßt. Es war dies eigentlich eine gemischte he-
bräisch-aramäische Mundart, die von der syrischen Sprache, deren
sich manche morgenländische Kirchenväter jener Zeit in ihren Schrif-
ten bedienten, sehr erheblich abwich. Diese Mundart zerfiel wiederum
in zwei verschiedene Dialekte, den palästinensischen und babyloni-
schen, wie dies namentlich aus der verschiedenen Stilisierung der bei-
den Talmude erhellt. Zur Literatursprache wird diese aramäische
Mundart erst in der Gemara der beiden im Laufe des V. und
VI. Jahrhunderts abgefaßten Talmude, während das Schrifttum bis
dahin ganz von der hebräischen Mischnasprache beherrscht war. Ihre
besondere nationale Prägung erhielt hierbei die aramäische Schrift-
sprache noch durch die Verwendung *des hebräischen Alphabets, sowie
der Quadratschrift, die gegen die in der „Peschita“ (syrische Bibelüber-
setzung) und in den Werken der Kirchenväter, z. B. in denen des
Aphraates und Ephraem Syrus, gebrauchte syrische Schriftart schroff
abstach.
§ 49. Die Gemeindeverfassung
In jeder Stadt mit einer mehr oder minder beträchtlichen jüdi-
schen Bevölkerung bestand eine wohlorganisierte autonome Gemeinde,
347
Lebensführung und Sitten
die im Talmud bald schlechtweg „Stadt“, bald „Stadtverband“ (Ghe-
ber ir), bald „Gemeinschaft“, bald wieder „Versammlung“ (Zibbur,
Knesseth) genannt wird. Die Zugehörigkeit zur Gemeinde war für
die ständigen Stadtbewohner obligatorisch, ebenso wie die Teilnahme
an der Gemeindeverwaltung für die dazu Erwählten. Viele der Aus-
sprüche der palästinensischen und babylonischen Gesetzeslehrer su-
chen dieses Pflichtbewußtsein gegenüber der Gemeinschaft dem Volke
nachdrücklich einzuschärfen: „Sondere dich von der Gemeinschaft
nicht ab“; „Nie und nimmer soll der Mensch sich vom Ganzen (dein
Kollektiv) lostrennen“; „Die Abtrünnigen, die Denunzianten und die
die Gemeindeordnung Verletzenden sind zu ewigen Qualen in der
Hölle verdammt“; „Ein Weltzerstörer (ein Zerstörer der sittlichen
Weltordnung) ist der, der da sagt: Wozu all diese sozialen Lasten,
wozu die Gerichtssitzungen, wozu all diese Zucht und Ordnung, wenn
ich auch ohne dies in meinem Privatleben unbehelligt bleibe?“1)
An der Spitze der Gemeinde stand ein Rat, der sich aus mindestens
drei Mitgliedern mit dem Ehrentitel „Parnassim“, Vormünder, zu-
sammensetzte. Gewöhnlich zählte er in mittelgroßen Gemeinden sie-
ben Mitglieder, die man die „sieben Erlesensten der Stadt“ (Schebaa
tube ha’ir) zu nennen pflegte; es gab indessen auch zwölfgliedrige
Stadträte. In Palästina sowie in der römischen Diaspora überhaupt
wurde der jüdische Gemeinderat, ebenso wie der allgemeine Munizi-
palrat, mit dem griechischen Namen „boule“ bezeichnet, während
seine Mitglieder „bouletai“ und seine Leiter „Archonten“ oder „Archi-
synagogen“ hießen. Bei den Gemeinderatswahlen kamen in erster Linie
die Gelehrten, sodann die ältesten und angesehensten Männer über-
haupt als Amtsanwärter in Betracht. In Palästina waren nach dem Be-
richt des heiligen Hieronymus die Gemeinderepräsentanten (praepo-
siti) gewöhnlich Gelehrte, die sich einer Vorprüfung in der religiösen
Gesetzeskunde unterzogen hatteif. Doch werden diese Vertreter der
Geistlichkeit wohl nur einen Teil des Gemeinderates gebildet haben,
der sicherlich auch Laien zu seinen Mitgliedern zählte. Aus den Pre-
digten des Johannes Chrysostomus ist zu ersehen, daß in Antiochia
die jüdischen „Archonten“ alljährlich im September, d. i. im Monat
des jüdischen Neujahrs, gewählt zu werden pflegten. Der Talmud
kommt oft auf die für einen Gemeindeführer oder „Parnass“ (Par-
!) Aboth, II, 4; Berachoth, 49b; Rosch ha’schana, 17a; Tanchuma, Abschn.
Mischpatim.
34S
§ 49. Die Gemeindeverfassung
nass al ha’zibbur) unentbehrlichen Eigenschaften, sowie auf dessen
Stellung innerhalb des Gemeinwesens zu sprechen. Er müsse sich
nämlich vor allem mit dem Gedanken vertraut machen, daß „jeder,
der zum Haupt der Gemeinde ernannt wird, in Wirklichkeit ihr Die-
ner wird“, daß ferner „der sich mit den Gemeindeangelegenheiten
Befassende gar oft nicht einmal Zeit zum Schlafen hat“, wobei er
nicht selten auch noch den Verunglimpfungen und Beschimpfungen
von seiten der Menge ausgesetzt sei. Sprichwörtlich wurde die Redens-
art, daß „die Herrschaft ihren Träger zu Grabe trägt“, daß also das
öffentliche Wirken das Leben verkürzt. In schärfster Weise wird die
Machtgier und erst recht die Jagd nach für Geld zu kaufenden Ehren-
ämtern getadelt, doch nicht minder trifft, wie schon erwähnt, der
Tadel diejenigen, die sich den beschwerlichen Pflichten gegenüber
der Gesamtheit zu entziehen suchen. Der „Parnass“ müsse in un-
eigennütziger, rechtschaffener Weise im Dienste der Gemeinde ste-
hen, ohne irgendwie der Herrschsucht zu verfallen: „Über einen sich
überhebenden Parnass vergießt Gott selber Tränen“. Verdammt wird
auch ein „Parnass, der der Gemeinde unnützerweise, nicht um der
Sache Gottes willen, Schrecken einjagt (der seine Gewalt mißbraucht)“.
Vorwürfe wegen Ehrgeiz und Herrschsucht bleiben nicht selten auch
den höchsten Repräsentanten der Selbstverwaltung, den Patriarchen
und Exilarchen, nicht erspart. Bekannt ist der von den Gelehrten mit
dem Patriarchen Jehuda II. geführte Streit über die Tragweite der
Verantwortung der Obrigkeit einerseits und der Gesamtheit anderer-
seits; während die einen behaupteten: „Wie der Parnass, so die Ge-
meinde“, meinten die anderen: „Wie die Gemeinde, so der Parnass“.
Doch behielt, wie es scheint, die erste Meinung die Oberhand,
und so wurden nicht selten gegen die Volksführer verblümte Vor-
würfe in der Art der folgenden laut: „Dem Kopfe nach reckt
sich auch der Rumpf, dem verirrten Hirten folgt die verirrte
Herde“1).
Welche Vorstellungen man mit dem Begriff einer wohlorgani-
sierten Gemeinde verband, ist aus dem folgenden Rate zu ersehen:
„Ein Mann von Bildung (Talmid chacham) soll sich in einer Stadt,
wo die folgenden zehn Dinge fehlen, nicht aufhalten: nämlich, wo
kein Gericht und keine Strafgewalt da ist, keine Wohlfahrtskasse, keine
!) Baba bathra, i43a (sonstige Stellen über die „boule“ s. Aruch s. v. Bul.);
Berachoth, 55 a; Rosch-ha’schana, 17 a; Chagiga, 5 b; Horajoth, 10; Erachin, 17 a.
349
Lebensführung und Sitten
Synagoge, kein Badehaus, keine Bedürfnisanstalten, kein Arzt, kein
Feldscher (der zur Ader läßt), kein Schreiber und kein Lehrer für
den Anfangsunterricht44. Indirekt werden hier also die Hauptfunk-
tionen der Gemeindeverwaltung umschrieben: die Pflege der äußeren
Ordnung und die Gesundheitspflege, die Sorge für die Synagoge, das
Gerichtswesen, die Wohltätigkeitseinrichtungen und die Volksschulen.
Darüber hinaus finden sich in beiden Talmuden Angaben über die
rein munizipalen und polizeilichen Funktionen, die den jüdischen Ge-
meinden in den ausschließlich oder zum größten Teil von Juden be-
wohnten Städten gewöhnlich oblagen. Der Gemeinderat pflegte hier
die Nahrungsmittelpreise zu normieren, kontrollierte mit Hilfe der
„Agoranomen4 4 oder Handelskontrolleure die Einhaltung der Höchst-
preise sowie richtiges Maß und Gewicht, trug Sorge für die Reinhal-
tung der Straßen, für die Wasserversorgung und die Volksbäder wie
auch für die Bewachung der Stadt oder des jüdischen Viertels durch
besondere Wächter. Noch unter den byzantinischen Kaisern standen
den jüdischen Gemeinden Palästinas sowie der angrenzenden Diaspora
besondere Märkte zur Verfügung, und ein kaiserliches Dekret vom
Jahre 396 untersagt den nicht jüdischen Beamten ausdrücklich, sich
in die Beaufsichtigung dieser Märkte und in die Regulierung der
Preise einzumischen1).
Die Hauptfunktion der autonomen Gemeinde bestand indessen in
der Organisierung der gerichtlichen Gewalt, die bei den damaligen Le-
bensverhältnissen mit der vollziehenden Gewalt fast unlösbar verbun-
den war. Die Richter (Dajanim) wurden in den Hauptgemeinden Pa-
lästinas vom Patriarchen ernannt, während sie in Babylonien der Exil-
arch zu ernennen hatte; doch pflegten in der Praxis die Gemeinden
selbst ihre Richter zu wählen (so besonders in Palästina, namentlich
nach Beseitigung des Patriarchats). Dem jüdischen Gerichte stand
in beiden Ländern nicht nur die Entscheidung in zivilrechtlichen Sa-
chen sondern auch die Urteilsfällung in strafrechtlichen zu; zur Voll-
streckung eines härteren Urteils in einer Kriminalsache pflegte man
jedoch den Verurteilten den Staatsbehörden auszuliefern. Die Gesetze
des christlichen Rom und Byzanz schmälerten allerdings in emp-
findlicher Weise die Gerichtshoheit der jüdischen Gemeinden in Pa-
lästina (Gesetz vom Jahre 398, s. oben, § 36), so daß schon der hei-
lige Hieronymus voll Befriedigung darauf hinweisen konnte, daß die
■*■) Sanhedrin, 17b. Cod. Theod. XVI, 8, 10.
35o
§ 49. Die Gemeindeverfassung
jüdischen Richter den römischen Behörden unterstellt seien; doch hat
sich desungeachtet die unabhängige jüdische Gerichtsbarkeit, soweit
inner jüdische Angelegenheiten in Betracht kamen, sogar nach dem
Falle des Patriarchats erhalten können, da die Prozeßparteien selbst
es gewöhnlich vermieden, ihre Sache bei einem römischen Gerichte
anhängig zu machen. In Babylonien ging diese Unabhängigkeit noch
viel weiter, da die Exilarchen, deren Macht von der persischen Re-
gierung stets respektiert wurde, zugleich als Oberrichter fungierten.
So pflegte denn hier das jüdische Gericht sogar solche Straf arten
wie die Gefängnis- und die Todesstrafe selbst in Vollzug zu bringen.
Zu Richtern wurden rechtskundige Personen bestellt, wobei die Mit-
glieder des Richterkollegiums (Beth-din) nicht selten aus der Mitte
des akademischen Kollegiums gewählt wurden, ganz so wie ehedem
aus der Mitgliedschaft der lokalen Synhedrien. Die Gerichtsverhand-
lungen wurden an bestimmten Gerichtstagen (Jome de’dina) abgehal-
ten; es geschah dies gewöhnlich am Montag und Donnerstag, wenn
sich das Volk aus der Umgegend in den Synagogen zum Anhören der
Vorlesungen aus der Thora zu versammeln pflegte. Ein altes Gesetz
bestimmte, daß die vermögensrechtlichen Sachen vor einem aus drei
Personen bestehenden Gerichtskollegium oder einem eigens für den
betreffenden Fall von den Prozeßparteien bestellten Schiedsgericht
verhandelt werden sollten, während die strafrechtlichen Sachen vor
einem aus dreiundzwanzig Mitgliedern bestehenden Gericht, dem so-
genannten „kleinen Synhedrion“, verhandelt werden mußten. Doch
erfuhr in der talmudischen Epoche die Gerichtsorganisation eine ge-
wisse Vereinfachung: vermögensrechtliche Streitigkeiten wurden nicht
nur von einem dreigliedrigen Gericht zur Entscheidung gebracht son-
dern manchmal auch nur von dem Gerichtsvorsteher allein; für die
komplizierteren zivil- und strafrechtlichen Sachen war aber ein Ge-
richtskollegium zuständig, das drei bis zehn Mitglieder umfaßte. Im
allgemeinen galt jedoch die von einer einzigen Person ausgeübte Recht-
sprechung als der Norm nicht ganz entsprechend, und so war das
dreigliedrige Kollegium die übliche Form des „Beth-din“. „Richte
nicht allein — so lautet das Vermächtnis der Väter der Synagoge —
denn es gibt nur Einen (Gott), der da richtet allein“. Dem fügt ein
anderer Gelehrter noch hinzu: „Nicht einmal Gott richtet allein, denn
es heißt (in der Erzählung von der Entscheidung des Loses des Kö-
nigs von Israel, I. Kön. 22, 19), daß die himmlischen Heerscharen
35i
Lebensführung und Sitten
Gott zur Rechten und zur Linken standen, d. h. daß die einen auf
Freisprechung, die anderen auf Verurteilung plädierten“1).
Die Rechtsprechung galt als eine überaus weihevolle Handlung.
Das Richteramt war ein Ehrenamt und mußte grundsätzlich ohne
jede von seiten der Gemeinde oder der Prozeßparteien gewährte Ent-
lohnung versehen werden. Nicht einmal bei einer schiedsgerichtlichen
Verhandlung durfte sich der Richter für seine Mühewaltung von den
Parteien bezahlen lassen; nur in ganz bestimmten Fällen war es dem
Richter gestattet, für den ihm durch die Unterbrechung seiner ge-
wöhnlichen Berufsarbeit verursachten Verlust eine Entschädigung an-
zunehmen. Es ist indessen zu vermuten, daß Berufsrichter, die über
keine sonstigen Einnahmequellen verfügten, von der Gemeinde den-
noch ein Gehalt bezogen1 2). Die Garantien einer unparteiischen Rechts-
pflege waren aufs peinlichste ausgebaut. Nicht nur die Bestechung
des Richters durch Geld war streng untersagt, sondern ebenso auch
die „Bestechung durch Worte“ oder irgendwelche Dienstleistungen.
Im Talmud wird von Richtern erzählt, deren Gewissenhaftigkeit so
weit ging, daß sie, wenn sie einer der Parteien zufällig etwas zu ver-
danken hatten, sich selbst für befangen erklärten. Dem berühmten
Gesetzeslehrer von Nehardea, dem Richter Samuel, war einst ein Un-
bekannter beim Übersetzen über einen Fluß dadurch behilflich, daß
er ihm die Hand reichte und ihn ans Ufer zog. „Wer bist du?“ —
fragte ihn Samuel. „Meine Sache ist in eurem Gerichte anhängig“ —
gab der Passant zur Antwort. „Dann“, meinte Samuel, „kann ich in
dieser Sache nicht mehr Richter sein“. Es galt grundsätzlich: „Richte
nicht in einer Sache, an der dein Freund oder dein Feind beteiligt
ist, denn in der Sache des Freundes wird dem Richter ein Grund für
die Verurteilung und in der des Feindes ein Grund für die Frei-
sprechung entgehen“. Streng untersagt war es dem Richter, in die
Vernehmung einer der Parteien einzutreten, ehe die Gegenpartei er-
schienen war, und auch den Parteien selbst war es verboten, ihre
Sache in Abwesenheit des Gegners und außerhalb der Gerichtssitzung
dem Richter vorzutragen. Dem Richter war es zur Pflicht ge-
macht, die Streitenden durchaus in gleicher Weise zu behandeln: so
1) Sanhedrin, passim (besonders Kap. I u. III). Aboth, IV, 8; Jer. San-
hedrin, I.
2) Dies war jedenfalls während der folgenden arabischen Epoche in Babylonien
die Regel.
§ 49. Die Gemeindeverfassung
pflegte man in Streitsachen, in denen ein „Am-ha’arez“ gegen einen
Gelehrten auf trat, auch jenen zum Platznehmen aufzufordern, wenn
man aus Hochachtung für die Gelehrten würde seinem Widersacher
den Platz zu behalten gestattete1).
Das talmudische Ideal der Rechtspflege vermittelt zugleich einen
Begriff von den im praktischen Leben nicht seltenen Abweichungen
von diesem Idealbild. „Unsere alten Weisen sagten, die Welt beruhe
auf drei Dingen, auf der Wahrheit, der Gerechtigkeit und dem
Frieden: diese drei sind aber nur Eines, denn wo Gerechtigkeit ist,
dort ist auch Wahrheit und Frieden; wird dagegen an der Ge-
rechtigkeit gerüttelt, so kommt auch die Welt, deren eine Grund-
feste sie ist, ins Wanken“. „Siehst du ein Geschlecht, über das viel
Unheil gekommen ist, so halte nur recht gut Umschau unter den Rich-
tern, denn wegen der (unehrlichen) jüdischen Richter kommt alles
Unheil über die Erde“. In einem der Aussprüche tritt die Empörung
über jene Richter hervor, die „in den Händen der Chasanim (der
synagogalen Beamten) als Stock dienen“, sowie über die mit den Rich-
tern verschwägerten Rechtsgelehrten, die es jenen ermöglichen, durch
ausgeklügelte Deutungen das Recht nach Belieben zu beugen. Vor-
würfe treffen vielfach auch das „Patriarchenhaus“ (Be-nessia), das
manchmal ungerechte Richter einsetzte (oben, § 21). Der palästinen-
sische Amoräer R. Simlai sagte einmal: „Die Richter erniedrigen die
göttlichen Vorschriften in den Augen des einfachen Volkes: der Ge-
lehrte (Richter) predigt, daß man Geld nicht auf Zinsen ausleihen
dürfe, tut es aber selbst; daß man nicht ausbeuten dürfe, beutet aber
selbst aus; daß man nicht stehlen dürfe, ist aber selbst ein Dieb“.
Freilich bildeten solche Richter nur eine seltene Ausnahme. Aus den
vielen Erzählungen, in denen die Personen mit Namen genannt sind,
ist zu ersehen, daß die jüdischen Richter im allgemeinen ihren Pflich-
ten durchaus gewissenhaft nachkamen. Das Recht war für sie von
seiner Grundlage, der Sittlichkeit, unzertrennlich. Ihr Ideal war das
Richten nach dem Gewissen, das Friedensgericht: sie suchten nach
Möglichkeit, die Streitenden zu versöhnen, sie zu einem Vergleich
(Peschara) zu veranlassen. „Kommt das Gesetz in all seiner Strenge
(Mischpat, jus strictum) zur Anwendung, so bleibt weder für den
Frieden noch für die volle Gerechtigkeit Raum übrig; nur bei einem
Vergleich kann man das Gesetz mit dem Frieden und der Gerechtig-
1) Ketuboth, ioöb, Bechoroth, 89 a, Schebuoth, 3o a—b.
23 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
353
Lebensführung und Sitten
keit in Einklang bringen“. Das alte Vermächtnis: „Handle über die
Gesetzesnorm hinaus (li’fnim mi’schurath ha’din)“, d. i. tue noch
mehr als das Gesetz verlangt, wird von dem folgenden Ausspruch des
R. Jochanan treffend beleuchtet: „Nur aus dem Grunde verfiel Jerusa-
lem der Zerstörung, weil man dort allein nach dem strengen Thora-
gesetze urteilte und nicht über die Gesetzesnormen hinaus handelte“.
Für die Milderung des Gesetzes um der Gebote der Sittlichkeit willen
wurde das folgende Beispiel angeführt: Lastträger zerschlugen einst
bei einem Weinhändler ein Faß Wein, und so nahm ihnen denn der
Lohnherr als Entschädigung ihre Kleider. Die Lastträger beschwerten
sich bei dem Richter Rab, und dieser befahl dem Arbeitgeber, die
Kleider zurückzugeben. „Entspricht denn das dem Gesetze?“ fragte
der Weinhändler. „Gewiß, lautete die Antwort, denn es steht geschrie-
ben: Damit du den Weg der Guten wandelst“. Darauf erklärten die
armen Lastträger Rab, nun hätten sie sich den ganzen Tag abgemüht
und, um ihren Arbeitslohn gekommen, hätten sie jetzt nichts zu essen.
Rab zögerte nicht, ihnen auch den Lohn zuzubilligen. „Ist denn das die
gesetzliche Vorschrift?“ fragte wiederum der Arbeitgeber. „Gewiß, ant-
wortete Rab, denn es steht geschrieben: Wandle den Weg der From-
men“. Soweit die Gesetzesformel dem sittlichen Bewußtsein nicht mehr
genügte, galt es eben, „über die Gesetzesnorm hinaus“ zu handeln1).
Zu den wichtigsten Obliegenheiten der Gemeindeverwaltung ge-
hörte ferner die soziale Fürsorge, die Sorge um die notleidenden und
hilfsbedürftigen Mitglieder der Gemeinde. Der Not der Armen wurde
in den allerverschiedensten Formen gesteuert. Jedermann war
verpflichtet, den von Haus zu Haus ziehenden Bettlern das Almosen
nicht vorzuenthalten. So pflegten denn die Bettler in den Häusern der
Wohlhabenden nicht um Hilfe zu flehen, sondern vielmehr ihren
Teil als das ihnen aus Gerechtigkeitsgründen Geschuldete zu fordern.
(Bezeichnend ist es, daß das hebräische Wort „zedaka“ zugleich
Wohltätigkeit und Gerechtigkeit bedeutet, im Gegensatz zu der auch
im Deutschen heimisch gewordenen Bezeichnung „Elemosyne“, die
vor allem das Erbarmen, den Gnadenerweis, zum Ausdruck bringt.)
Eine viel entscheidendere Bedeutung hatte indessen die wohlorgani-
sierte soziale Hilfe, die den Mittellosen, den Waisen und Siechen zu-
teil zu werden pflegte. Der Gemeinde stand eine „Wohlfahrtskasse“
!) Debarim rabba, II, 12 u. V, 1; Sabbat, 189 a; Sanhedrin, 6—8, 32 b;
Baba mezia, 3o b, 83 a (gegen Ende des Kap. VI).
354
§ 49. Die Gemeindeverfassung
(Kuppa schel zedaka) zur Verfügung, aus der die Notleidenden so-
wohl in bar als in natura Unterstützungen erhielten. Diese wurden ge-
wöhnlich einmal wöchentlich, am Freitag, und außerdem am Vor-
abend der Feiertage ausgeteilt. Eine Notstandsküche (Tamchuj:
Schüssel, Kessel) speiste überdies die ortsansässigen sowie die zuge-
reisten armen Leute. Auch die Versorgung der armen Bräute mit
einer Mitgift, das Schulgeld für arme Waisen, die bei der Pflege
der mittellosen Kranken entstehenden Kosten, sowie das „Loskaufen
der Gefangenen (der Verhafteten)“ fiel der Gemeindekasse zur Last.
Die Spenden zugunsten der Wohlfahrtskasse wurden von den wohl-
habenderen Gemeindemitgliedern aus freien Stücken beigesteuert;
viele besteuerten sich dabei selbst mit einem ständigen Beitrag in der
Höhe eines zehnten Teiles ihres gesamten Einkommens (Maasser, der
Zehnte). Freilich gab es auch Geizige, die die Beiträge für die Wohl-
fahrtskasse zu hinterziehen suchten, so daß man sie durch Pfändung
ihres Besitzes zu der Entrichtung der Spenden zwingen mußte. Das
Einsammeln der milden Gaben und deren Verteilung lag besonderen,
dem Gemeinderat unterstehenden Einnehmern (Gabae zedaka) ob. Zur
besseren Kontrolle wurde grundsätzlich bestimmt, daß man bei die-
sen Kollekten die Runde nur zu zweit machen solle, während bei der
Verteilung des Gesammelten nicht weniger als drei Personen anwe-
send sein mußten. In der Regel verteilte man die Subventionen zuerst
unter die ortsansässigen Armen und erst darauf unter die Fremden,
die Zugereisten. Zur Aufrechterhaltung gutnachbarlicher Beziehungen
(mi’pne darke schalom) galt es als geboten, auch den armen Fremd-
stämmigen, den Nichtjuden (Anije nochrim), Fürsorge angedeihen
zu lassen, und zwar mußte man sie in der Volksküche speisen, ihre
Kranken pflegen und ihre Toten bestatten1).
Die Auffassung der sozialen Fürsorge, die sich im Judentum jener
Epoche eingebürgert hatte, war von großen, weitausholenden Ge-
sichtspunkten bestimmt. Man erblickte darin gleichsam ein Gegenge-
wicht gegen die Mängel der wirtschaftlichen Verfassung, gegen die
Ungleichheit in der Verteilung der Güter. „Es hockt der Arme und
murrt gegen Gott: ,Was bin ich denn schlechter als dieser da? Er
ist Herr in seinem Hause, und ich muß umherwandern; er schläft
zu Hause in seinem Bett, ich aber muß mich hier herumwälzen!4
Hilfst du nun einem solchen Armen, so versöhnst du gleichsam Gott
*) Baba bathra, 8—n; Baba mezia, 71a; Gittin, 61 a.
23*
355
Lebensführung und Sitten
mit ihm selber“ (indem du den Miß ton in der Weltordnung zu be-
seitigen suchst); „Gib Gott einen Teil von dem wieder, was ihm ge-
hört, denn mitsamt allem, was du dein eigen nennst, bist du sein
Eigentum“; „Mehr als der (reiche) Hausherr für den Armen tut, tut
der Arme für den Hausherrn (indem er ihn in seiner Sittlichkeit för-
dert)“. Bei der Darreichung des Almosens wurde besondere Rück-
sichtnahme empfohlen, damit der Arme sich nicht erniedrigt fühle.
In höchsten Ehren stand die nicht öffentlich geleistete Hilfe, die
„Wohltätigkeit im Verborgenen“. Als R. Jannai einst gesehen hatte,
wie einer einem Armen vor aller Welt eine Münze schenkte, sagte
er: „Lieber solltest du gar nichts geben, als durch deine Gabe dem
Armen Schimpf antun“. Bei der Erweisung von Wohltaten durfte
zwischen einem Gelehrten und einem Manne aus dem Volke kein Un-
terschied gemacht werden. Charakteristisch für die damaligen Sitten
ist die bereits wiedergegebene Erzählung, wie Rabbi (Jehuda ha’Nassi),
der nur die notleidenden Gelehrten als der Unterstützung würdig er-
achtete, von Jonathan ben Amram eines Besseren belehrt wurde und
seinen ursprünglichen Standpunkt aufgab (§ 19). — Besonderen Wert
legt der Talmud auf die Form der Hilfeleistung und die Gesinnung
des Hilfeleistenden: „Liebesdienst (Gemiluth chessed)“ geht über
Geldunterstützung. Diese beiden Arten der Hilfeleistung werden auf
folgende Weise in Gegensatz zu einander gebracht: „Das Almosen ist
nur eine Geldgabe, während der Liebesdienst sowohl in der Form
einer Geldgabe wie auch als persönlicher Dienst geleistet werden
kann; jene wird nur den Armen, dieser aber sowohl den Armen als
den Reichen zuteil; im ersten Falle wird nur Lebenden geholfen, im
letzten hingegen sowohl Lebenden als Toten (nämlich bei der Be-
stattung)“. Zu den Liebesdiensten zählen alle Arten von materieller
und moralischer Unterstützung, die dem Nächsten in uneigennütziger
Weise gewährt werden: so das unverzinsliche Darlehen, die Gast-
freundschaft, die Errettung aus Lebensgefahr, das Besuchen von
Kranken, die Tröstung der Trauernden1).
§ 50. Die religiöse Lebensführung und der Volksglaube
Eine besondere Fürsorge ließ der Gemeinderat der Synagoge als
dem Mittelpunkt des religiösen Lebens der Gemeinde angedeihen. In
!) Midrasch Wa’jikra rabba, Kap. 34, 10, 16. Aboth, III, 8. Ghagiga, 5 a;
Baba bathra, 8 a; Sukka, 49 b.
356
§ 50. Religiöse Lebensführung und Volksglaube
den Ländern der römischen Diaspora wurde die jüdische Gemeinde
als solche mit dem griechischen Namen „Synagoge“ (synagoge ton
joudaion) bezeichnet, während das Gebetshaus „proseuche“ genannt
zu werden pflegte; doch übertrug sich im Laufe der Zeit die Bezeich-
nung „Synagoge“ auch auf die Andachtsstätten. In Palästina und
Babylonien hatte man für das Gebetshaus die hebräische Bezeichnung
„Beth ha’knesseth“ oder die aramäische „Be knischta“, das Versamm-
lungshaus. Für die religiösen Angelegenheiten scheint ein besonderer,
aus den Mitgliedern des Gemeinderates gewählter synagogaler Aus-
schuß zuständig gewesen zu sein. Der synagogalen Verwaltung stand das
„Haupt der Synagoge“ (Rosch ha’knesseth) vor, für das die römische
Amtssprache die Bezeichnung Arcisynagogus hatte. Ihm unterstand
als Vollstrecker seiner Verfügungen der „Ghasan“, ein Aufseher, der
auf die Ordnung während des Gottesdienstes aufzupassen hatte. Der
„Chasan“ war zugleich der Kustos der in der synagogalen Lade ver-
wahrten Thorarollen, die er während der öffentlichen Vorlesungen
herbeizuholen hatte; er hatte ferner beim Anbruch des Sabbat und bei
dessen Ausgang sowie an dem „Feste des Hornblasens“, am Rosch-
ha’schana, ins Horn zu stoßen; darüber hinaus versah er manchmal
auch die Obliegenheiten eines Volksschullehrers, der die Kinder im
Lesen der Gebete unterrichtete. Der Kantor der Synagoge, der Vor-
beter, hieß der „Bevollmächtigte der Gemeinde“ (Schaliach zibbur),
d. i. der Mittler zwischen den Betenden und Dem, an Den sich die
Gebete richteten1). Neben dem Schranke mit den Thorarollen (Teba)
stehend, las der Kantor in singendem Tone die Gebete und die Psal-
men vor; die Abschnitte aus der Thora wurden hingegen, wie es
scheint, von einem besonderen, dem Gelehrtenstande angehörenden
Vorleser (Kore) vorgetragen, der von der Kanzel (Bima) herab den
für die betreffende Woche bestimmten Thoraabschnitt zu rezitieren
hatte, falls es nicht die eigens dazu aufgerufenen angesehensten Ge-
meindemitglieder selbst der Reihe nach taten. Das im hebräischen
Urtext Vorgelesene wurde dann von dem Übersetzer, dem „Meturge-
man“, in die aramäische Umgangssprache übertragen, während in
späterer Zeit an die Stelle dieser Verdolmetschung das Vorlesen der
schriftlichen Übertragung, des „Targum Onkelos“, trat. Zur Ab-
1) Später bürgerte sich der Name „Ghasan“ für den Vorbeter ein, während
der Diener der Synagoge „Schamasch“ genannt zu werden pflegte (s. Aruch
ha’schalem, s. v. Ghasan).
357
Lebensführung und Sitten
haltung des öffentlichen Gottesdienstes war von Gesetzes wegen die
Anwesenheit von mindestens zehn erwachsenen Männern erforderlich,
die den „Minjan“, gleichsam das Andachts-Quorum, bildeten1).
Um die synagogale Gottesdienstordnung waren die Gesetzeslehrer
seit der Festsetzung der Liturgie durch das Synhedrion von Jabne
(§ 5) unablässig besorgt. Die drei alltäglichen Gebete an Wochen-
tagen und der feierliche Gottesdienst am Sabbat und an den Feier-
tagen, das periodisch wiederkehrende Vorlesen der Bibel — all dies
wurde strengstens eingehalten, doch gesellten sich jetzt zu den Haupt-
gebeten (Schma und Schmona-essre) wohl auch noch neue Hymnen
von der Art jener, die die Überlieferung der Verfasserschaft des Rab
zuschreibt (§ 28); auch mochte sich die Zahl der in den Gebettext
aufgenommenen biblischen Psalmen vergrößert haben. Die Betenden
pflegten sich überall mit dem Angesicht gen Jerusalem zu wenden.
Am Sabbat schloß sich an das Morgengebet die Vorlesung des für die
betreffende Woche festgesetzten Bibelabschnitts („Parascha“). Wie
schon erwähnt, beteiligten sich daran neben dem beamteten Vorleser,
wie es ja auch heute noch üblich ist, einige Gemeindemitglieder (nicht
weniger als sieben), die von dem Chasan auf gerufen wurden und der
Reihe nach auf der Kanzel ein Stück aus dem betreffenden Abschnitt
vortrugen, um bei diesem Anlaß zugleich eine Benediktion zu Ehren
der Thora zu sprechen. Im Anschluß daran verlas man ein Kapitel
aus den prophetischen Büchern; dieser Vortrag wurde mit dem Namen
„Haftora“ (Abschiedsvortrag) bezeichnet. Auf die Vorlesungen aus dem
hebräischen Urtext und aus der aramäischen Übersetzung folgte die
Predigt eines der gelehrten Gemeindemitglieder über den Text der ver-
nommenen Bibelkapitel, den er dabei vornehmlich in haggadischem,
d. i. in erbaulichem, religiös-nationalem Geiste zu erläutern pflegte.
Seinen Abschluß fand der Gottesdienst mit dem sogenannten „Segen-
sprechen der Kohanim“ (Birchath kohanim): jene Gemeindemitglie-
der, die ihren Stammbaum von den Priestern des Jerusalemer Tempels
herleiteten, segneten nämlich, dem biblischen Gebote (Num. 6, 22—26)
gemäß, das Volk, wozu die Gemeindemitglieder in lautem Chor das
„Amen“ sprachen. — In gleicher Weise wie am Sabbat, nur unter
entsprechenden Modifikationen in den Hymnen und in der Auswahl
der biblischen Texte, vollzog sich der Gottesdienst auch an den Jahres-
!) Die Traktate Berachoth und Megilla in den beiden Talmuden, passim; To-
sephta, dieselben Traktate.
358
§ 50. Religiöse Lebensführung und Volksglaube
feiertagen. Was die Wochentage betrifft, so wurde die Thora an die-
sen in den Synagogen nur zweimal wöchentlich, und zwar am Montag
und Donnerstag, vorgelesen. Dabei las man jedoch aus dem Wochen-
abschnitt der Thora kürzere Stücke vor und auch die Zahl der auf-
gerufenen Gemeindemitglieder war auf drei beschränkt. An den Neu-
mondtagen (Rosch-chodesch) pflegten sich an diesen Vorlesungen vier
Gemeindemitglieder zu beteiligen. Die beiden täglichen Abendandach-
ten, „Mincha“ und „Maarib“, waren viel kürzer als die Morgenandacht
und wurden von keiner Thoraverlesung begleitet1).
Der heilige Hieronymus, der den jüdischen Gottesdienst in Palä-
stina beobachten konnte, hebt hervor, daß die Juden, „übermütig wie
sie sind“, bei der am Tage und am Abend verrichteten Andacht nicht
in die Knie sinken, sondern in feierlicher Weise Psalmen, namentlich
den Zyklus der „Lobpreisungen“ (Hallel: Ps. n4—n8) Vorsingen.
Aus seinen Berichten wissen wir auch, wie schon erwähnt, daß die
Predigt besonders viel Volk in die Synagogen lockte und daß die
Zuhörer die Prediger, denen eine „wunderbare Rednergabe“ zu Gebote
stand, mit lautem Jubel und Händeklatschen zu begrüßen pflegten
(vociferantur et jactant manus). Dasselbe weiß Johannes Ghrysosto-
mus von Antiochia zu berichten. All dies zeugt nicht nur von dem
heißblütigen Temperament der jüdischen Zuhörer, sondern zugleich
auch davon, daß die synagogale Predigt dem Volk mehr als einen
Bestandteil des Gottesdienstes, nämlich einen freien Vortrag, die be-
lehrende Ansprache eines klugen Mannes bedeutete, der nicht selten
seine Zuhörerschaft durch jene Blüten des Gedankens und des Wor-
tes hinzureißen vermochte, die uns auch heute noch bei der Beschäf-
tigung mit der Haggada und dem Midrasch mit Bewunderung erfül-
len. Daneben wurden auch Predigten nüchternen Inhalts gehalten: so
unterwies z. B. der Vortragende vor den Jahresfeiertagen die Ge-
meindeangehörigen in den für den betreffenden Feiertag wichtigen
Gesetzen und Bräuchen, doch blieb auch hierbei nach Verabschiedung
der halachischen Materie die prunkvolle haggadische Apotheose nicht
aus1 2).
In überaus strenger Weise pflegte man die Sabbatruhe zu be-
obachten. Das Verbot, am heiligen Tage irgendeine Arbeit zu verrich-
ten, trieben die Talmudisten so sehr auf die Spitze, daß die Ruhe gar
1) Ibid.; vgl. noch Sabbat, 2 4 a; Pessachim, 117 b, Soferim, Kap. XI—XIV.
2) Vgl. die Bibliographie zu diesem Paragraphen.
359
Lebensführung und Sitten
häufig mit schweren Entbehrungen verbunden war. Weder durfte man
etwas bei sich tragen, noch eine Wegstrecke, die eine bestimmte Ent-
fernung überstieg (Techum sabbat), zurücklegen, noch andere als die
am Vorabend zubereiteten Speisen genießen u. dgl. m. Die durch all
diese Verbote hervorgerufenen Unzuträglichkeiten nötigten die Ge-
lehrten, auf Mittel und Wege zu sinnen, um diese Vorschriften, und
sei es auch auf dem Umwege von Fiktionen (s. oben, § 45), zu mil-
dern. Die Schattenseiten der Sabbatheiligung wurden aber anderer-
seits durch die hohe geistige Stimmung, die sich am Sabbat einzu-
stellen pflegte, reichlich auf gewogen. Die Menschensprache scheint
den Talmudisten nicht genug ausdrucksvoll zu sein, um diese weihe-
volle Stimmung würdig wiedergeben zu können. In Anlehnung an die
biblische Wendung, wonach Gott vermittels des Sabbattages Israel
„geheiligt44 hätte, heißt es: „Gott sprach zu Moses: Ich besitze in
meinem Schatz eine wundervolle Gabe, die ,Sabbat4 heißt — diese habe
ich Israel zugedacht44; „Der Sabbat erhöht die Heiligkeit Israels44;
„Das Gebot der Sabbatheiligung wiegt alle anderen Gebote zusammen-
genommen auf44. Die gottesfürchtigen Leute pflegten am Freitag ihre
Arbeit schon lange vor Eintritt der Dunkelheit zu unterbrechen, da
der Abend selbst bereits zu dem f olgenden Sabbattage gerechnet wurde.
Viele Gesetzeslehrer erachteten es als ihre Pflicht, ihren Frauen am
Freitag bei der Zubereitung des Sabbatmahls behilflich zu sein. Da-
mals schon war es üblich, den Anbruch des Sabbat mit den Worten:
„Ziehe ein, o Braut!44 oder „Lasset uns der Königin Sabbat entgegen-
ziehen!44 zu bewillkommnen. Den auf die jüdische Nation angewandten
Vers des Hoheliedes: „Schwarz bin ich, doch schön44, legte man so
aus: „An allen Wochentagen bin ich schwarz, doch schön am Sabbat44.
Das Anzünden der Kerzen beim Anbruch des Sabbat bildete eine der
heiligsten Pflichten der Frau. Zur Heiligung des Sabbat gehörten
auch die „drei Mahlzeiten44: am Freitag-Abend, am Sabbat-Mittag
und in der Dämmerstunde vor Sabbatausgang. Den seelischen Ge-
halt der Sabbatfeier faßte R. Simon ben Lakisch in folgende
Worte: „Beim Anbruch des Sabbat setzt Gott in den Menschen
eine zweite Seele (Neschama jetera) ein, die er dann am Sab-
batausgang wieder wegnimmt44. Die Heiligkeit der Sabbatruhe durfte
nur um der Errettung eines Menschenlebens (Pikuach nefesch) willen
entweiht werden. Bemerkenswert ist es, daß zur Begründung dieses
Gesetzes einer der Gesetzeslehrer den bekannten Ausspruch getan hat,
36o
§ 50. Religiöse Lebensführung und Volksglaube
der auch im Evangelium wiederkehrt: „Der Sabbat ist euch gegeben,
nicht aber ihr dem Sabbat“1).
Was die talmudische Auffassung von den herbstlichen Feiertagen
Rosch-ha’schana und Jom-kippur betrifft, so wich sie in dem Maße,
als im Volke das Andenken an den Jerusalemer Tempelkultus ver-
blaßte, immer mehr von der biblischen Auffassung ab. Die beiden
Feiertage gewannen in immer ausgesprochenerer Weise die Bedeutung
von „Gerichtstagen“, die das Menschenlos für das ganze kommende
Jahr vorausbestimmen. In der Volksphantasie erschienen diese Neu-
jahrsfeiertage als ein in den himmlischen Hallen sich abspielendes
Jüngstes Gericht, bei dem die bösen und die guten Taten des Men-
schen unter regster Anteilnahme von Anklägern und Verteidigern
(Kategor we’sanegor) aus dem Kreise der Engel abgewogen werden1 2).
„Drei Bücher werden am Rosch-ha’schana aufgeschlagen: in dem
einen sind die wahrhaft Frommen, im anderen die zweifellos Frevel-
haften, während im dritten die Lauen verzeichnet sind; für die Ge-
rechten wird auf der Stelle eine Lebensurkunde, für die Sünder ein
Todesurteil ausgefertigt, während die Lauen vom Rosch-ha’schana
bis Jom-Kippur in der Schwebe bleiben: vermögen sie sich in dieser
Schonfrist reinzuwaschen, so werden sie in das Register der Leben-
den, sonst in das der zum Tode Verurteilten eingetragen“. Das Volk
glaubte auch, daß die in den Synagogen am Rosch-ha’schana ertönen-
den Hornklänge die „Stimme des Satans“, dem bei der himmlischen
Gerichtsverhandlung die Anklägerrolle zugedacht war, durch ihre
Wucht übertönen sollten. Dieser mystische Glauben verwandelte nach
und nach das ehedem fröhliche Fest des Rosch-ha’schana und den
Tempelfasttag Jom-kippur in Tage der Buße und des Wehklagens,
in jene „Schreckenstage“, zu denen sie namentlich im Mittelalter ge-
worden sind3).
Dagegen behielten die drei uralten ländlichen Feste, Passah, Sehe-
buoth und Sukkoth, nach wie vor den Charakter von Freudenfesten.
Beengend waren allerdings während des Passahfestes die strengen
Speisegesetze, die von den Talmudisten aufs äußerste verschärft wor-
1) Sabbat, iob, 2Öb, 117 b, 119 a—b, i32 a; Beza, 16 a.
2) Die gleiche Vorstellung von der himmlischen Buchführung über böse und
gute Taten findet sich im Parsismus. Siehe Scheftelowitz, Die altpersische Reli-
gion und das Judentum, § 95 (Gießen 1920).
3) Jer. Rosch-ha’schana, Kap. I; Bab. Rosch-ha’schana, 16 b; Joma, 85 b;
Taanith, 26 b.
36i
Lebensführung und Sitten
den waren (so die vorgeschriebene Vernichtung jeder Art von ge-
säuertem Brot um der Mazzoth willen), doch kamen in diesen Tagen
die zuversichtliche Frühjahrsstimmung und die an die Sagen vom
Auszug aus Ägypten sich knüpfenden Hoffnungen auf die nationale
Befreiung unaufhaltsam zum Durchbruch. Das Schebuothfest ver-
wandelte sich in ein Fest der Thora, da man mit diesen Tagen die
erhabene Sage von der Sinai-Offenbarung in Zusammenhang brachte.
Am herbstlichen Sukkothfeste endlich hielt man das durch zahlreiche
talmudische Ausführungsbestimmungen ergänzte Gesetz über das sie-
bentägige Verweilen in den Laubhütten aufs peinlichste ein. Bei der
ländlichen Bevölkerung war Sukkoth das beliebteste unter den Freu-
denfesten, da um diese Zeit alle landwirtschaftlichen Arbeiten schon
zu Ende waren: nicht nur das noch im Sommer geschnittene Getreide
war eingebracht, sondern auch der Wein und alle sonstigen Garten-
früchte bereits unter Dach und Fach gebracht1).
In Babylonien pflegte man die Feiertage seit dem IV. Jahrhundert
in viel heiterer Stimmung als in Palästina zu verbringen, wo seit jener
Zeit die christlichen Behörden am Ruder waren. Nur selten ging, der
Überlieferung zufolge, in Tiberias oder Zippora, den beiden Zentren
der galiläischen Judenheit, ein Fest zu Ende, ohne daß der römische
Statthalter oder Garnisonschef mit Forderungen von Geldsteuern oder
Naturalleistungen, wenn nicht gar mit dem Befehl, die öffentlichen
Festlichkeiten zur Vermeidung von Tumulten abzubrechen, auf den
Plan trat. Die damals landesüblich gewordenen Anschläge des christ-
lichen Mobs auf die Synagogen beeinträchtigten gleichfalls nicht wenig
die festliche Stimmung. Anders lagen die Dinge in Babylonien, wo,
abgesehen von einigen unruhigen Zeitperioden, die Juden mit den
persischen Behörden und der sie umgebenden Bevölkerung, die dazu
noch in solchen „jüdischen Städten“ wie Machusa, Pumbadita und
Sura nur in der Minderheit war, durchaus in Frieden und Ein-
tracht lebten. So erzählt denn der Talmud, daß die Frauen in Baby-
lonien an den Feiertagen in bunten Kleidern aus kostbaren Stoffen
einhei stolzierten, während sie in Palästina nur mit Gewändern aus
geplättetem Leinen angetan waren. Der erste Frühjahrsmonat Adar
gilt im Talmud von Gesetzes wegen als Monat der Freude („Mit dem
Anbruch des Adar pflegt der Frohsinn zuzunehmen“). Das in die
!) Die Traktate Pessachim und Sukkoth, passim; vgl. Pessachim, 68b, 109 a;
Beza, 15 b f.
362
§ 50. Religiöse Lebensführung und Volksglaube
Mitte des Adar fallende Halbfest Purim, der „Hamanstag“, wurde so-
gar von sonst überaus ernsten Leuten in ausgelassenster Fröhlichkeit
begangen. Man erzählte, daß die ehrwürdigsten Gesetzeslehrer wäh-
rend des Purimmahles so sehr dem Wein zusprachen, daß sie die
Gebetformeln: „Verflucht sei Haman“ und „Gesegnet sei Mardochai“
nicht mehr auseinanderzuhalten vermochten. In weniger geräuschvoller
Weise wurden die Makkabäertage, das Chanuka-F est, gefeiert, das
sich von den Wochentagen nur dadurch unterschied, daß die Häuser
allabendlich festlich beleuchtet wurden und daß man in die alltäg-
liche Liturgie ein dem feierlichen Anlaß entsprechendes Gebet ein-
schaltete1).
War der religiöse Ritus somit durch die talmudischen Vorschriften
bin ins einzelne geregelt, so entbehrte hingegen die religiöse Dogmatik
jeglicher Reglementierung. Um sie kümmerte sich nicht die streng
abwägende Halacha, sondern die frei dichtende Haggada. Zweifellos
ist es, daß solche entscheidenden religiösen Dogmen, wie die von der
Vergeltung im Jenseits, von der Auferstehung der Toten und von
dem Kommen des Messias in der geschilderten Epoche sich weiter
entwickelt haben und durch neue Momente bereichert wurden. Im
talmudischen Schrifttum ist dieses Anschwellen der bald mystischen,
bald rationalistischen Auffassungen von der kommenden Welt unver-
kennbar, doch machen sich keine Versuche bemerkbar, sie in ein
wohlgefügtes dogmatisches System zu bringen. In ausgesprochener
Weise kommt nur die Tendenz zum Ausdruck, einen scharfen Tren-
nungsstrich zwischen den jüdischen und den christlichen Vorstellun-
gen auf dem Gebiete der Messianologie zu ziehen. Von seltenen Aus-
nahmen abgesehen, wird überall die irdische Herkunft des jüdischen
Messias als des „Davidssohnes44 (Ben David) sowie seine politische
Mission in den Vordergrund gerückt. Dieser Gedanke findet in dem
bereits erwähnten lapidaren Ausspruch Samuels eine zugespitzte For-
mulierung: „Zwischen dieser Welt (der geschichtlichen Zeit) und dem
Zeitalter des Messias besteht ein Unterschied nur in bezug auf die
staatliche Abhängigkeit“ (Berachoth, 34a). Man suchte eben von
dem messianischen Dogma die mit ihm verschmolzenen Vorstellun-
gen vom Jenseits, von der Totenauferstehung, von der persönlichen
Erlösung oder Verdammung zu trennen. Die Sehnsucht nach einem
1) Pessachim, 109a; Taanith, 29 a; Megilla, 7 b.
Lebensführung und Sitten
leibhaften Erlöser der Nation durchdringt die gesamte Haggada1).
Man stellte Berechnungen über das „Ende“ (Ketz), d. i. über den Zeit-
punkt des Erscheinens des Messias an, wobei anfänglich ziemlich
kurze Fristen in Aussicht gestellt wurden; die Erwartungen gingen
jedoch nicht in Erfüllung, so daß die Enttäuschung immer weiter
um sich greifen mußte. Darauf wurde erklärt, daß all die Berech-
nungen und Terminfestsetzungen sündhaft seien: „Zugrunde gehen
mögen die, die die Erfüllungszeit zu erraten suchen, denn das Volk
spricht bei sich selbst: Nun ist die Frist eingetreten und er (der Mes-
sias) ist noch immer nicht da. Also wird er überhaupt nicht erschei-
nen“. „Alle Fristen (die vorausgesagten) sind bereits verstrichen, und
nun liegt es nur noch an der Buße und den guten Taten“. Und den-
noch versuchte man, das messianische Zeitalter wenigstens annähernd
vorauszuberechnen: „Sechstausend Jahre soll die Welt im ganzen be-
stehen: zweitausend Jahre davon entfielen auf das Chaos (die Zeit
vor der Sinai-Offenbarung), zweitausend Jahre auf das Leben unter
dem Gesetz (der Thora), zweitausend entfallen auf das Zeitalter des
Messias, doch ist um unserer Sünden willen ein Teil davon schon ver-
strichen (ohne daß der Messias erschienen wäre)“. Nach der jüdischen
Zeitrechnung (die mit der Weltschöpfung beginnt) brach nämlich das
fünfte Jahrtausend um die Mitte des III. Jahrhunderts der christlichen
Zeitrechnung an, und das nächste Jahrhundert bescherte bereits der
Welt die Vorherrschaft des christlichen Rom, die die Lage der Juden
nur noch verschlimmerte. Wie aus einer unklaren Talmudnotiz zu
ersehen ist, ging um jene Zeit irgendein in den persischen Archiven
*) Die folgende Sage (Berachoth, 3 a) vermittelt uns einen Begriff von dieser
innigen Sehnsucht, von der Gott selbst ergriffen erscheint: „Rabbi Jose erzählte:
Einst, als ich meines Weges ging, betrat ich eines der zerstörten Gebäude Jerusa-
lems, um die Andacht zu verrichten. Da erschien Elias seligen Andenkens (der
Prophet) und stand so lange an der Schwelle, bis ich mit meinem Gebete zu Ende
war . . . Nun fragte er mich: Mein Sohn, was vernahmst du mitten unter diesen
Trümmern? Ich aber antwortete: Ich vernahm den Widerhall eines Stöhnens von
der Art des Girrens einer Taube und auch noch die Worte: ,Wehe den Kindern,,
um deren Sünden willen ich mein Haus (Zion) der Zerstörung preisgab und meinen
Tempel in Asche legte, sie selbst aber unter den Völkern zerstreute!“ Darauf sprach
er (Elias) zu mir: Die Worte, die du eben vernahmst, ertönen jeden Tag dreimal;
jedesmal, da die Juden die Synagogen und die Schulen betreten und ausrufen:
»Gelobt sei dein erhabener Name!‘, schüttelt Gott gleichsam mit dem Haupte und
spricht: ,Wohl dem König, den man in seinem eigenen Hause verherrlicht, doch
wehe dem Vater, der seine Kinder verstoßen hat, und wehe ihnen, die vom Tische
ihres Vaters gewiesen sind!“'
364
§ 50. Religiöse Lebensführung und Volksglaube
Vorgefundenes Schriftstück von Hand zu Hand, in dem vorausgesagt
wurde, daß im Jahre 4291 der Weltschöpfung (53i d. ehr. Ära)
das Weitende herannahen, die Kriege des Gog und Magog dahinbrau-
sen und die messianischen Zeiten anbrechen würden. Doch würde die
endgültige Erneuerung der Welt erst nach Ablauf von siebentausend
Jahren, oder, wie dies einer der Gelehrten berichtigt haben wollte,
nach Ablauf von fünftausend Jahren seit der Weltschöpfung zu ge-
wärtigen sein1).
Der Volksglaube wollte wissen, daß der Messias an dem Stadttor
von Rom mitten unter Siechen und Bettlern hocke und den Augen-
blick abwarte, um sich der Welt offenbaren zu können. Dieser Glaube
war namentlich in den ersten Jahrhunderten nach dem Falle Judäas
verbreitet, als man von Jahr zu Jahr die Restauration erhoffte. Man
glaubte allgemein, daß dem Erscheinen des Messias erschütternde
Weltkatastrophen (Cheble moschiach) vorangehen müßten. Man ver-
suchte verschiedene Anzeichen des vormessianischen Zeitalters anzu-
geben: „Begegnest du einem Geschlechte, über das ein Schwall von
Elend gekommen ist, so erwarte ihn (den Messias)“; „Der Sohn Da-
vids wird entweder einem Geschlechte von lauter Gerechten erschei-
nen oder einem von lauter Sündern“; „Der Sohn Davids wird erst
dann kommen, wenn die ganze Welt der Irrlehre (Minuth = Christen-
tum) beitreten wird“. Diese letzte Ansicht ging davon aus, daß der
jüdische Messias den christlichen nur dann werde verdrängen können,
wenn das Christentum seinen Entwicklungslauf endgültig vollendet
haben wird. Der berühmte R. Abbahu aus Caesarea, der eifrig gegen
die christlichen Theologen polemisierte, entschied einst die von einem
von diesen an ihn gerichtete Frage, wann eigentlich der Messias der
Juden erscheinen würde, in folgender Weise: „Er wird auf gehen, da
ihr in das Dunkel versinken werdet“. Ein anderer Streitredner, R. Sim-
lai, wandte auf einen Christen, dessen Glauben an die „Wiederkunft
des Messias“ und an das „Jüngste Gericht“ er bekämpfte, den Arnos-
Vers (5, 18) an: „Wehe denen, die sich den Tag Jahves (der Wie-
derkunft) herbeiwünschen! Was soll euch doch der Tag Jahves? Er
ist ja (für euch) Finsternis, nicht Licht!“ „Es ist dies, fügte Sim-
lai noch hinzu, mit dem Hahn und der Fledermaus, die den An-
bruch des Morgens erwarteten, zu vergleichen. Der Hahn kann näm-
lich der Fledermaus sagen: Ich wünsche das Licht herbei, denn es
1) Sanhedrin, 97 b.
365
Lebensführung und Sitten
tut mir wohl, doch was willst du bei Licht anfangen?“1) Wohl durf-
ten sich die palästinensischen Amoräer im III. Jahrhundert, ehe das
Christentum als Staatsreligion seinen Triumph feierte, noch in so
kecker Weise auslassen; im folgenden unheilvollen Jahrhundert ebbte
indessen diese kampfesfrohe Stimmung unter dem Druck der streit-
baren Kirche merklich ab. So ruft denn einer der Amoräer jener Zeit,
Hillel, voll Verzweiflung aus: „Fort ist der Messias Israels, denn schon
unter König Hiskia hat man ihn verzehrt“, was wohl heißen sollte,
daß alle biblischen Prophezeiungen von dem Kommen des Messias
sich lediglich auf Hiskia bezogen hätten und folglich schon längst in
Erfüllung gegangen seien; doch wurde der Skeptiker durch den Hin-
weis zurechtgewiesen, daß die sich auf den Messias beziehenden Pro-
phezeiungen des Sacharja aus viel späterer Zeit, nämlich aus der Zeit
des zweiten Tempels, stammten. Indessen konnten die neuen Heim-
suchungen den Glauben an den Messias nur zeitweilig ins Wanken
bringen, bald paßte er sich jedoch von neuem den Zeitumständen an:
sich tief in der Seele der Unterjochten verbergend, ließ er vor ihrem
Auge die lichten Fernen der Zeiten erstehen, da das triumphierende
Edom zu Fall kommen und „Jerusalem für alle Völker zum Leucht-
turm werden wird, in dessen Lichte sie wandeln werden“. Ein römi-
scher „Hegemon“ fragte einst einen jüdischen Gelehrten: „Wer wird
nach uns (den Römern) zur Herrschaft gelangen?“ Ohne ein Wort
zu reden, nahm der Gelehrte einen Papierfetzen und schrieb darauf
den Vers aus der biblischen Erzählung von der Geburt des Esau und
des Jakob: „Danach kam sein Bruder heraus (Jakob), der hielt mit
seiner Hand die Ferse Esaus“. Dies sollte heißen, daß dem Reiche
Esau-Rom (sowohl „Esau“ wie „Edom“ sind bekanntlich im Tal-
mud eine Bezeichnung für Rom) das Reich Jakob-Israel folgen werde.
Im Laufe der Zeit wurde der politisch angehauchte Messiasbegriff
immer mehr durch allerhand phantastische Bilder ausgeschmückt. Es
kommen Legenden von einer überzeitlichen himmlischen Existenz des
die Qualen des jüdischen Volkes miterduldenden Messias auf, dann
von zwei aufeinanderfolgenden Messiassen, dem einen, der nur für
eine Zeitlang erscheinen wird, aus dem Hause Josephs, und dem
1) Aus dem ganzen Kontext dieser Talmudstelle (Sanhedrin, 98—99), die von
der mittelalterlichen christlichen Zensur verstümmelt worden ist, ist klar zu ersehen,
worüber und mit wem dabei gestritten wurde. Die anderen hier angeführten Beleg-
stellen — ibid. 97 f.
366
§ 50. Religiöse Lebensführung und Volksglaube
wirklichen aus dem Hause Davids, ferner von dem Propheten Elias
als dem Vorboten des Messias, vom Jüngsten Gericht im Josaphat-
tale — alles Legenden, in denen der Einfluß der alten jüdisch-christ-
lichen Apokalyptik deutlich zutage tritt1).
In noch undurchdringlicheres mystisches Dunkel gehüllt und noch
widerspruchsvoller waren die das Leben nach dem Tode betreffenden
Lehren. Wohl gaben die Rationalisten offen zu, daß das Geheimnis
des jenseitigen Lebens unerforschlich sei: „Alle Propheten sprachen
nur von dem Zeitalter des Messias, in die kommende Welt (Olam
ha’ba) vermochte jedoch niemand außer Gott einen Einblick zu tun“;
und dennoch suchte die Volksphantasie den geheimnisvollen, die eine
Welt von der anderen trennenden Schleier zu lüften. Allen Vorstel-
lungen vom künftigen Leben lag die Idee der dem einzelnen zuge-
dachten Vergeltung oder die der „Belohnung und der Bestrafung“ als
einer Wiedergutmachung der irdischen Ungerechtigkeit zugrunde.
Nur selten vermochte man sich eben zu der sittlichen Höhe des frei-
denkenden Ben Asai aufzuschwingen, der da gelehrt hat: „Der Lohn
der Tugend ist die Tugend selbst, die Strafe für die Sünde ist die
Sünde selbst“. Vorherrschend war vielmehr die Vorstellung, daß der
Mensch nach seinem Tode über alle seine Taten, die in dem Buche
des himmlischen Gerichts „verzeichnet“ sind, vor Gott Rechenschaft
abzulegen habe: „Laß dich nicht von deinem sündigen Herzenstrieb
bereden, daß das Grab eine Zufluchtsstätte für dich ist, denn wie
du ohne deine Wahl bist geschaffen und geboren, ohne deine Wahl
lebst und stirbst, so wirst du auch ohne deine Wahl Rede und Ant-
wort stehen müssen vor dem König der Könige, dem Heiligen, gelobt
sei er“. Vor dem Gerichte im Jenseits muß die Seele in ihrer kör-
perlichen Hülle erscheinen. Diese glaubensselige Auffassung sucht
eine sinnige Legende dem Verstände näher zu bringen. Der Kaiser
Antoninus soll nämlich einst Rabbi (Jehuda ha’Nassi) die Frage vor-
gelegt haben: „Die Seele und der Körper können sich ja leicht vor
dem Gerichte im Jenseits rein waschen, indem der Körper sprechen
wird: Nicht ich, sondern die Seele hat gesündigt, denn seit sie von
mir gewichen ist, liege ich einem Steine gleich im Grabe, während
die Seele entgegnen könnte: Der Körper ist es, der gesündigt hat,
U Ibid.; vgl. noch Bereschith rabba, 63, i3; Pesikta, 35 f. (Ein farbenreiches
Bild vom Erscheinen des Messias unter besonderer Hervorhebung der Mission des
„gerechten Messias Ephraims“).
367
Lebensführung und Sitten
denn seitdem ich von ihm gewichen bin, schwebe ich wie ein Vogel
frei in den Lüften“. Darauf erwiderte Rabbi: „Ich will dir die Sache
durch eine Parabel klar machen. Es war einst ein König, der besaß
einen herrlichen Garten voll reifer Früchte; nun ließ er ihn durch
zwei Wächter, einen Lahmen und einen Blinden, bewachen. Da sprach
der Lahme zu dem Blinden: Wie herrlich sind die Früchte, die ich
da sehe, komm nur her, ich will mich rittlings auf dich setzen und
so werden wir an die Früchte heranreichen und sie genießen können.
Der Lahme stieg denn auch auf den Blinden herauf, pflückte die
Früchte und beide taten sich daran gütlich. Gar bald erscheint der
Herr des Gartens und fragt: Wo sind denn die schönen Früchte ge-
blieben? Der Blinde aber spricht: Habe ich denn Augen, daß ich
sie erblicken könnte? Und auch der Lahme ist um die Antwort nicht
verlegen: Habe ich denn Beine, um hinzugehen? Was tat nun der
Herr? Er ließ den Lahmen den Blinden besteigen, um sie zusammen
abzuurteilen. Ganz so wird es auch Gott machen: er wird die Seele
wieder in den Körper einsetzen, um sie beide zusammen abzuurtei-
len“. — Über die Strafe, die über die Verdammten verhängt wird,
herrschten überaus verworrene Vorstellungen: „Das Feuer der Ge-
henna“ ist es, wodurch die sündige Seele geläutert wird; „Das Gericht
über die Sünder in der Hölle (Gehenna) nimmt volle zwölf Monate
in Anspruch“, meinte noch R. Akiba. Während dieser Zeit bleibt der
Körper, nach Meinung anderer, in der Hölle, während die Seele bald
in die Hölle hinabsinkt, bald wieder emporsteigt; nach Ablauf der
zwölf Monate verfällt der Körper gänzlich der Vernichtung, die Seele
aber schwingt sich empor, um nie wieder in die Hölle hinabsteigen
zu müssen. Eine andere Art Strafe besteht darin, daß zwei an beiden
Enden der Welt stehende Engel die sündige Seele einander zuschleu-
dern (Kaf ha’kela). Die Seelen der Gerechten aber ruhen zu Füßen des
himmlischen Thrones. Ihnen wird das Paradies, der „Gan-Eden“, der
Garten der Seligkeit, zuteil, doch hat diese Seligkeit mit irdischen Freu-
den nichts gemein: „In der kommenden Welt gibt es weder Speise noch
Trank, sondern die Frommen sitzen mit Kronen auf ihren Häuptern
und ergötzen sich an dem Abglanz der göttlichen Herrlichkeit“1).
U Aboth, II, i; III, i; IV, 2 und 29; Berachoth, 17 a und 34 b; Sabbat, IÖ2 f.
Edujoth, II, 9; Sanhedrin, 91 a—b. Vgl. noch die erhebende Erzählung von der
Todesstunde des R. Jochanan ben Sakkai und dessen Worte von den „zwei ins
Paradies und in die Hölle führenden Wegen“, Berachoth, 28 b.
368
§ 50. Religiöse Lebensführung und Volksglaube
Infolge der Systemlosigkeit der talmudischen Dogmatik wurden
die zwei verschiedenen Glaubenssätze, der Glaube an das messianische
Zeitalter und an das Leben nach dem Tode, nicht genau auseinander-
gehalten, und so bildete sich ein Zyklus ineinanderfließender Vor-
stellungen von der verheißungsvollen Zukunft (leatid la’ba), die sich
gleicherweise auf das irdische messianische Reich und auf das Him-
melreich im Jenseits beziehen. Das Gericht im Jenseits, vor dem sich
der Einzelne zu verantworten hat, verschmilzt nicht selten mit dem
vormessianischen Weltgericht. So vernehmen wir denn einerseits, daß
„es in Zukunft keine Hölle geben, daß aber Gott die Sonne aus
ihrer Umhüllung herausheben wird, wodurch die Gerechten geheilt,
die Sünder hingegen zugrunde gerichtet werden sollen“; andererseits
malt jedoch die Haggada, ungeachtet der vergeistigten Auffassung
vom Paradies, wo es „weder Speise noch Trank gibt“, Bilder des zu-
künftigen „Gastmahls der Gerechten“, für das der Riesenfisch Le-
viathan und ein riesengroßes Rind bereitgestellt sind. Damit scheinen
offenbar Hölle und Paradies des messianischen Zeitalters, also irdi-
sche Wunder, keineswegs aber solche im Jenseitigen gemeint zu sein;
doch ist dies alles in der Haggada zu einem unentwirrbaren Knäuel
verflochten, als läge alledem der Volksglaube zugrunde, daß im mes-
sianischen Zeitalter Himmel und Erde ineinanderfließen würden. Von
ebenso undurchsichtigem Charakter sind die sich auf das uralte
Dogma der Totenauferstehung (Techiath ha’metim) beziehenden An-
schauungen, in denen der Glaube an eine persönliche, die Vergeltung
im Jenseits ermöglichende Auferstehung des Einzelnen mit dem Glau-
ben an eine gemeinschaftliche Auferstehung aller Volksgenerationen
in den Zeiten des Messias verwoben ist. Dabei ist die Ansicht vor-
herrschend, daß die endgültige Auferstehung nur den Gerechten be-
schieden sei. Nach der Wiedergeburt des Landes Israel sollen die
Toten aller Generationen und aus allen Ländern auf unterirdischen
Wegen dorthin gebracht werden, um dann zu neuem Leben zu er-
wachen1). Die äußerste Verschwommenheit aller dieser Glaubens-
formen erschloß der Volksphantasie ein weites Betätigungsfeld. Ihr
Schaffen kommt im späteren Schrifttum voll zur Geltung.
Zu reicher Entfaltung gelangten in dieser Epoche auch die Blüten
des wildwuchernden Volksaberglaubens, der zum größten Teil von
den benachbarten Völkern seine Anregungen erhielt. Dieser Aberglaube
*■) Nedarim 8 b, Baba bathra 74—75; Pessachim 119 b; Sanhedrin 90—91.
24 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
369
Lebensführung und Sitten
war besonders in Babylonien verbreitet, jenem Sitz der alten chaldä-
ischen Zauberkunst, von deren Einfluß sich manchmal sogar die Ver-
treter der Gelehrtenwelt nicht freizuhalten vermochten. Überhaupt
herrschte unter den Gelehrten hinsichtlich der Stellungnahme zum
Volksglauben keine Einigkeit. Während z. B. die einen den Einfluß
der Gestirne auf das menschliche Los in Abrede stellten, waren die
anderen ausgesprochene Anhänger der Astrologie. So suchte einer der
palästinensischen Amoräer, R. Josua ben Levi, den entscheidenden
Einfluß des Geburtstages auf den Charakter des Menschen ent-
sprechend den Besonderheiten der biblischen Schöpfungstage zu be-
stimmen: wer am Sonntag zur Welt kam, meinte er, wird entweder
ein sehr guter oder ein sehr schlechter Mensch, denn an diesem Tage
wurden Licht und Finsternis erschaffen; der am Montag Geborene
wird ein streitsüchtiger Mensch sein, denn an diesem Tage wurden
die Wasser geschieden, usw. Ein anderer Gesetzeslehrer, R. Chanina,
bestritt dies indessen vom Standpunkte der Astrologie: entscheidend
für das Menschenlos sei vielmehr, wie er meinte, sein Horoskop: wer
z. B. im Zeichen der Venus (Nogah) zur Welt gekommen ist, wird
reich, aber auch ausschweifend sein; wer im Zeichen des Mars (Maa-
dim) geboren ist, blutrünstig und seinem Berufe nach ein zur Ader
lassender Arzt, oder ein Räuber, oder aber ein Fleischer, vielleicht
auch ein die Beschneidungsoperation vollziehender „Mohel“; wer im
Zeichen des Merkur (Kochab) das Licht der Welt erblickte, wird ein
Mensch von Verstand und mit vielumfassendem Gedächtnis sein, u.
dgl. m. Diesem Verehrer der Astrologie trat jedoch R. Jochanan ent-
gegen, der die Behauptung aufstellte, daß „Israel überhaupt keinen
Stern (Masal) habe“, d. h. daß das Wahrsagen nach den Sternen im
Judentum unzulässig sei, da dessen Los von dem Schöpfer der Ge-
stirne, nicht aber von seinen Schöpfungen bestimmt werde (dabei
berief er sich auf den Vers Jer. io, 2 von den „Zeichen des Him-
mels“). Ganz der gleichen Ansicht war auch das Haupt der babylo-
nischen Gelehrten, Rab. Die späteren babylonischen Amoräer ließen
sich indessen immer mehr von der Astrologie verführen. Ein so maß-
gebender Talmudgelehrter wie Raba stand nicht an, zu behaupten,
daß „das Leben, der Kindersegen und der Erwerb nicht von den Vor-
zügen des Menschen, sondern von seinem Stern abhängen“. Mochte
in diesem Falle auch nicht die astrologische Prädestination gemeint
gewesen sein, so tritt uns in vielen anderen Fällen unzweifelhaft ein
§ 50. Religiöse Lebensführung und Volksglaube
Fatalismus gerade dieser Art entgegen. Daneben war auch das Be-
fragen der im Lande so häufig anzutreffenden Wahrsager, der „Chal-
däer“, im Volke weit verbreitet, wiewohl manche Gelehrte ernstlich
davor warnten. Großen Wert legte man außerdem auf die Traum-
deutung (Pitron chalomoth). Zwar sagten die nüchtern eingestellten
Leute: „Durch einen Traum kann weder Gutes noch Schlechtes be-
wirkt werden“; „Im Traume erscheint dem Menschen nur das, wor-
über er im Wachen nachdenkt“; doch die mystisch veranlagten Na-
turen waren anderer Meinung: „Der Traum ist zum sechzigsten Teil
prophetisch“; „In drei Fällen geht der Traum in Erfüllung: der
morgendliche Traum, der auf einen Nahestehenden sich beziehende
Traum, sowie die Deutung eines Traumes in einem anderen“; manche
meinten noch — „auch der sich wiederholende Traum“. Es bestand
der Glaube, daß der Traum sich geradeso erfülle, wie ihn der erste in
den Weg Gekommene deute. Darum bürgerte sich auch die Sitte ein,
die Träume stets in günstigem Sinne auszulegen (hatobath chalom):
der die Traumdeutung Wünschende pflegte sein Traumgesicht vor
drei Personen zu erzählen, worauf diese die Beschwörungsformel spra-
chen : „Einen guten Traum hast du gesehen und zum Guten wird er
sich wenden“. Darüber hinaus war ein besonderes, während des den
synagogalen Gottesdienst abschließenden „Segens der Kohanim“ zu
sprechendes Gebet empfohlen, das noch heute in den Synagogen üb-
lich ist. Desungeachtet wandte sich das Volk immer wieder an die be-
rufsmäßigen Traumdeuter, von deren Gaunerstreichen der Talmud
nicht wenig zu berichten weiß1).
Was den Glauben an Dämonen oder „Plagegeister“ (Schedim,
Masikim) betrifft, so war er nicht nur unter dem gemeinen Volke,
sondern auch in den höherstehenden Volksschichten verbreitet. Es galt
als über jeden Zweifel erhaben, daß die bösen Geister von dem ersten
Menschen Adam nach dessen Vertreibung aus dem Paradies gezeugt
wurden und daß ihr Geschlecht sich seitdem in der Welt ständig fort-
pflanzte: „Wenn man die Dämonen mit dem leiblichen Au ge sehen
könnte, so würde keine Kreatur vor ihnen bestehen können“. In un-
zähligen Scharen umbranden sie die Menschenwelt: „Von ihnen kommt
das Gedränge in den Volksversammlungen, von ihnen die Beschwerden
in den Knien, das Reißen in den Beinen; wird das Gewand der Ge-
lehrten schadhaft, so kommt es daher, weil sie (die Dämonen) sich
!) Berachoth, 55—57; Sabbat, i56; Moed katan, 28 a; Sanhedrin, 3o a.
37!
24*
Lebensführung und Sitten
daran reiben“. Wer in Erfahrung bringen will, ob der Teufel (der
Hausgeist) sich des Nachts in sein Haus eingeschlichen habe, möge
nur den Boden an seinem Lager mit durchsiebter Asche bestreuen;
werde er dann des Morgens auf der Asche den Abdruck von Hahnen-
füßen wahrnehmen, so sei die Teufelsspur unverkennbar. Man glaubte,
daß die Kobolde sich in der Nacht zum Mittwoch und zum Sonntag
unter der Anführung der Hexe Agrat als eine vieltausendköpfige Dä-
monenschar umhertreiben, weshalb man es auch vermied, in diesen
Nächten allein durch die Straßen zu gehen. Als waghalsig galt es
auch, ganz allein in einem Hause zu übernachten, denn man lief dabei
Gefahr, von der Dämonenkönigin Lilith hinweggerafft zu werden.
Der Dämon vermag sich als Mensch zu verstellen, darum ist es rat-
sam, sich vor jedem nächtlichen Passanten in acht zu nehmen. Gar
viele Leiden gehen auf eine Berührung durch den Teufel zurück, so
namentlich die Fallsucht, die Epilepsie1).
Im engsten Zusammenhänge mit dem Dämoneriglauben stand der
Glaube an den Todesengel (Malach-ha’maweth). Dieser böse Geist hat
eine schlimme Art, die Seele von dem Körper loszutrennen: „Von
dem Todesengel wird erzählt, daß er ganz aus Augen besteht und in
der Todesstunde des Menschen mit einem gezückten Schwerte zu
Häupten des Sterbenden steht. An der Spitze des Schwertes hängt ein
Tropfen Gift, und sobald der Kranke den Engel erblickt, zuckt er zu-
sammen, macht den Mund dabei auf und der Tropfen gleitet hinein.
Davon stirbt der Kranke, davon gerät seine Leiche in Verwesung, da-
von wird auch sein Antlitz gelb“. Einige Gelehrte versicherten, sie
hätten sich mit dem Todesengel unterhalten und von ihm das Geheim-
nis ihres Endes erfahren. Einem von ihnen gab der Engel den Rat,
den von einem Leichenbegängnis heimkehrenden Weibern nicht in
den Weg zu kommen, da der Todesengel bei solcher Gelegenheit vor
ihnen herzuhüpfen pflegt und so die Vorübergehenden leicht mit sei-
nem Schwerte streifen kann. Zieht man noch in Erwägung, daß man
auch fest daran glaubte, „der Grab wurm verursache dem Toten die-
selben Schmerzen wie eine in den Körper gesteckte Nadel dem Le-
benden“, so kann man sich leicht einen Begriff davon machen, in
!) Berachoth, 6a; Erubin, 18 b;. Kidduschin, 29 b; Sabbat, 191b; Megiila,
3 a. Zur Dämonologie des Parsismus vgl. das oben, S. 361, Anm. 2 zitierte
Werk.
§ 50. Religiöse Lebensführung und Volksglaube
welch düsterer Gemütsatmosphäre sich damals der natürliche Akt des
Sterbens zu vollziehen pflegte1).
Die Furcht vor den schwarzen Mächten war der geeignete
Nährboden für die Schwarzkunst der Zauberei. Trotz des bibli-
schen Verbotes der Schwarzkunst gerieten die jüdischen Volks1-
massen dennoch unter den Einfluß der „chaldäischen Zauberer“.
Besondere Neigung für die Ausübung dieses Berufes zeigten, die
Frauen, wie sie auch den der Zauberkunst Ergebenen Vertrauen ent-
gegenbrachten. „Viel Frauen im Hause, viel Hexerei“, lautet ein alter,
bereits zitierter Ausspruch. Da alle Leiden zu jener Zeit auf die Wir-
kung böser Mächte oder des „bösen Blicks“ (Ajin ha’raa) zurückge-
führt wurden, so fand auch die Zauberheilkunst in Form von Be-
schwörungen und Besprechen sowie die Verwendung von allerlei Amu-
letten weiteste Verbreitung. In Palästina galten eine Zeitlang als er-
fahrene Medizinmänner die Sektierer aus dem Kreise der Judenchri-
sten, die bei ihren Beschwörungen den Namen Jesu Christi als des
wundertätigen Heilkünstlers zu sprechen pflegten, weshalb man hier
auch in besonders scharfer Weise gegen die sich der Zauberformeln
und des „Zuflüsterns“ bedienenden Heilmethoden ankämpfte. In Ba-
bylonien wucherte dagegen die Zauberheilkunst ganz ungehemmt. Eine
ganze Reihe von Zauberrezepten und Beschwörungsformeln, die für
die verschiedensten Leiden, für allerlei Fieberarten, Blutungen, Zahn-
weh, Herzfehler, Aussatz u. dgL m. Heilung bringen sollten, stamm-
ten von keinem geringeren, als gerade von einem der gelehrtesten und
scharfsinnigsten Amoräer des IV. Jahrhunderts, von Abaji, der sich
hierbei auf die ärztliche Autorität seiner Mutter oder gar seiner Wär-
terin berief. Gleiche Verfahrensarten der Volksmedizin fanden im
Talmud auch in den Aussprüchen anderer hochgelehrter Männer ihre
Verewigung. Manche dieser Zauberkunstgriffe wurden freilich von
den Gelehrten als von den Heiden, den „Amoritern“ (Darke ha’emori),
entlehnt aufs entschiedenste verworfen. Die Bekämpfer des xAberglau-
bens verspotteten unter anderem auch die vielen Wahrzeichen, auf
Grund deren man die Zukunft zu entschleiern suchte. Immerhin gab
es Gelehrte, die Wahrzeichen von der Art der folgenden eine Bedeu-
tung nicht absprechen konnten: „Will jemand erfahren, ob er bis
zum Ende des Jahres am Leben bleiben wird, so soll er an einem
der zehn Tage zwischen Rosch-ha’schana und Jom-kippur in einem
1) Aboda sara, 20 b; Moed katan, 28 a; Berachoth, 18 b und 5i a.
378
Lebensführung und Sitten
Hause, wo es nicht zieht, eine Kerze anzünden: wird diese nun, ohne
zu erlöschen, abbrennen, so wird er das Jahresende wohl erleben“;
„Will jemand, der sich auf eine weite Reise begibt, in Erfahrung brin-
gen, ob ihm die Heimkehr beschieden sei, so soll er sich in einem
halbdunklen Raume hinstellen, und wenn er dann den Schatten seines
Schattens erblickt, so ist dies ein günstiges Vorzeichen“; „Wenn die
Hunde heulen, so bedeutet dies, daß der Todesengel in die Stadt bald
einziehen wird“ (d. h. daß eine Seuche ausbrechen wird). Als nicht
ungefährlich galt es, zwei Becher (oder eine andere gerade Zahl von
ihnen: „Sugoth“) hintereinander zu trinken1). Der Aberglaube hatte
sich überhaupt in den niederen Volksschichten tief eingenistet und
griff nicht selten auch auf die Spitzen der Gesellschaft über; und
doch ging er nie über jene Grenze hinaus, hinter der sich die heid-
nische Beseelung oder die Vergötterung der Natur breitmachte, die
dem jüdischen Monotheismus stets wesensfremd blieb.
x) Aboth II, 8; Sabbat, 66—67 und 110; Pessachim, 110—112; Joma, 84 a;
Aboda sara, 27—28. — Die Furcht vor den geraden Zahlen ist wie manch ande-
rer Aberglaube auf den Parsismus zurückzuführen.
374
D ritt e s Buch
Die babylonische Hegemonie zur Zeit des
arabischen Kalifats bis zum Niedergang
der morgenländischen Zentren
(638—1099)
§ 51. Allgemeine Übersicht
Während das Christentum nach Konstantin dem Großen noch
einige Jahrhunderte um die Bezwingung des europäischen Westens
kämpfen mußte, gelang es der neuen Religion der Araber, dem Islam,
den asiatischen Westen schon nach einigen Jahrzehnten für sich zu
gewinnen. Das Schwert Mohammeds erreichte sein Ziel viel rascher
als die Kirchenfahne Konstantins. Für das Judentum war der Sieg der
neuen Religion ebensowenig erfreulich wie der Triumph ihrer älte-
ren Schwester: die Kirche und die Moschee teilten sich in das Erbe
der Synagoge und hielten deren weitere Existenz für völlig unnütz.
Indessen brachte der muselmanische Fanatismus nicht soviel Unheil
über das Judentum wie der christliche, wenn man von dem von Mo-
hammed selbst unter den Juden in Arabien angerichteten Blutbad ab-
sieht. Mochten sich auch die den Andersgläubigen gegenüber feind-
lich eingestellten Sentenzen des Koran und die Artikel des „Vermächt-
nisses des Omar“ grundsätzlich nur wenig von den auf die Juden be-
züglichen Kirchengesetzen unterschieden haben, so wurden sie doch
in der Praxis in den mohammedanischen Staaten nicht mit einer so
unerbittlichen Konsequenz durchgeführt wie das kanonische Recht
in den christlichen Staaten des gleichen Zeitalters.
Schon einige Jahre nach dem Tode Mohammeds trat unter seinen
ersten Nachfolgern, den „Kalifen“, ein Ereignis ein, das sich als ein
Markstein an der Grenze der neuen Epoche erhebt: die Einnahme Je-
rusalems durch die Araber (638). Nach einer Reihe siegreicher Reli-
gionskriege, in denen der jugendlich-stürmische Bekehrungsdrang der
Araber zum Durchbruch kam, faßte im Morgenlande das Kalifat der
Omajaden festen Fuß (660—750). Eine neue Großmacht entstand,
die das ganze ehemalige Persien sowie das Byzanz entrissene Syrien,
Palästina, Ägypten und die anderen byzantinischen Provinzen in Afrika,
also das ganze jüdische Morgenland, als Bestandteile in sich schloß.,
Die ehedem zwischen Persien und Byzanz aufgeteilten, in den ver-
377
Die babylonische Hegemonie
schiedenen Ländern verstreuten jüdischen Gemeinden sammeln sich
unter der Schutzherrschaft des Kalifats und bilden einen mächtigen
nationalen Verband. Die Lebenskraft dieses Verbandes wirkt sich in
vollem Maße in der folgenden Periode aus, als auf das kriegstüchtige
Kalifat der Omajaden das kulturfördernde Kalifat der Abbassiden
(das Kalifat von Bagdad seit dem Jahre 7Öo) folgte. Es setzt nun-
mehr eine friedliche Periode ein, in der sich Industrie, Kunst und
Wissenschaft frei entfalten. An der allgemeinen kulturellen Wieder-
geburt des Morgenlandes regsten Anteil nehmend, pflegen die Juden
zugleich völlig ungehemmt auch ihre eigene nationale Kultur und er-
weitern die Schranken ihrer inneren Autonomie. Schon unter den
Omajaden ist das gegen Ende der persischen Herrschaft zu Boden
gedrückte babylonische Exilarchat, das Symbol der jüdischen Auto-
nomie, wieder in stetem Aufstieg begriffen. Ihm zur Seite stellt sich
das Gaonat, eine neue geistige Institution, die das alte palästinensische
Synhedrion zu ersetzen berufen ist. Die Gaonen, die Akademievor-
steher in Sura und Pumbadita, sind die würdigen Nachfolger der Tan-
naiten und Amoräer; sie stehen an der Spitze eines Gelehrtenkolle-
giums, das in der gesamten Diaspora als die höchste Instanz für die
Entscheidung strittiger Fragen des talmudischen Rechts uneinge-
schränkt anerkannt wird. Die Gaonen sind es, die der talmudischen
Gesetzgebung im praktischen Leben volle Geltung verschaffen. Poli-
tisch durch das Kalifat zu einer Einheit verbunden, war die morgen-
ländische Judenheit durch die Gewalt der babylonischen Exilarchen
und Gaonen auch in ihrem inneren Leben zu einem einheitlichen Gan-
zen zusammengefaßt.
In dieser Epoche konzentriert sich die nationale Hegemonie fast
ausschließlich in Babylonien. Das von den Arabern eroberte Palästina
kommt jetzt als geistiges Zentrum ebensowenig für die Juden wie für
die Christen in Betracht. Noch hielten sich dort vereinzelte jüdische
Gemeinden, noch waren im Lande hier und da Gelehrte anzutreffen,
doch fehlte es an einer zentralen Organisation, die auch nach außen-
hin, jenseits der Grenzen dieses eine winzige Provinz des Kalifats bil-
denden Landes, eine führende Rolle beanspruchen konnte. Das „Zep-
ter Judas“ ging nunmehr ganz an Babylonien verloren. Nicht allein
die morgenländische, sondern auch die abendländische Diaspora, die
europäische, beugte sich unter die geistige Autorität des vom gaonäi-
schen Kollegium gebildeten Synhedrion an den Ufern des Euphrat.
§ 51. Allgemeine Übersicht
Wie gesichert das talmudische Regime auch erscheinen mochte,
so versuchten andere geistige Strömungen dessen Alleinherrschaft den-
noch einzuschränken. Für alle neuen Einwirkungen überaus empfäng-
lich, läßt sich das Judentum sehr bald auch von der arabischen Kul-
tur beeinflussen. Nach außen hin tritt diese Einwirkung vor allem in
der allmählichen Verdrängung der bis dahin unter den Juden Asiens
und Afrikas verbreiteten aramäischen Sprache durch die arabische
zutage, die nunmehr zur Umgangssprache der jüdischen Volksmassen
wird. Aus dem Alltagsleben dringt sie auch in die Literatur ein. Sogar
die Gaonen fassen jetzt ihre Hirtenbriefe und Bücher nicht selten in
arabischer Sprache ab. Zugleich wirken die religiösen Bewegungen in
der Well des Islam auf die Entwicklung des Judaismus zurück. So
kommt zum Teil unter der Einwirkung der Sektenstreitigkeiten bei
den Muselmanen, zum Teil allerdings auch als Folge rein innerer
Verhältnisse in Babylonien in der zweiten Hälfte des VIII. Jahrhun-
derts das Karäertum zur Entstehung. Die Karäer lehnen sich gegen
den Talmud und gegen die Verbindlichkeit der „mündlichen Lehre“
auf und bekennen sich allein zur „schriftlichen Lehre“, zur Bibel.
In der Praxis entlehnen sie jedoch den Talmudisten deren Methode
der mündlichen Lehre und verfassen in der Form von Deutungen
ihre eigenen Ergänzungen zur Bibel. Im ersten Jahrhundert seines
Bestehens, solange das Karäertum noch nicht in den engen Schran-
ken einer Sekte erstarrt war, löste es gerade als Protestbewegung in
den jüdischen Kreisen neue Impulse zur geistigen Arbeit aus. Eine
Zeitlang lenkte es nämlich die Geister von der ausschließlichen Be-
schäftigung mit dem Talmud ab und erschloß ihnen neue Schaffens-
gebiete. Das karäische Losungswort: „Erforschet sorgsamst die Heilige
Schrift“ veranlaßt die Talmudisten, die rationale Durcharbeitung der
Bibel, die ihnen bislang nur als Grundlage für ihre halachischen oder
haggadischen Konstruktionen diente, auch ihrerseits in Angriff zu
nehmen. So wetteiferten denn die beiden Parteien im Studium der
hebräischen Sprachkunde, was wiederum zu einer literarischen Re-
naissance der althebräischen, durch die aramäische Mundart in den
Hintergrund gedrängten Sprache führt und so auch die Erneuerung
der Dichtkunst in die Wege leitet. Zugleich regen die Disputationen
zwischen den Karäern und den Talmudisten das religionsphilosophische
Denken zu neuem Schaffen an. Unter den sich kreuzenden Einwir-
kungen der arabischen Kultur einerseits und der karäischen Protest-
379
Die babylonische Hegemonie
bewegung andererseits verlassen die Talmudisten unmerklich den eng
bemessenen Raum der „vier Ellen der Halacha“ und ihr Gesichtskreis
erweitert sich zusehends. Unter den geistigen Repräsentanten des Vol-
kes erstehen Männer, die sich voll Eifer mit der weltlichen Wissen-
schaft, mit der Sprachkunde, der Dichtkunst und der Philosophie be-
fassen. Der Gaon von Sura, Saadia (892—942), ein hervorragender,
enzyklopädisch veranlagter Geist, vereinigt alle diese geistigen Strö-
mungen in sich und errichtet ein bedeutsames religionsphilosophisches
System, das eine rationale Begründung der Dogmen des Judaismus
und eine Läuterung der religiösen Begriffe bezweckt.
Gegen Ende dieser Epoche beginnt jedoch in der geschichtlichen
Entwicklung der nationalen Hegemonie von neuem eine Krise. Infolge
der nun einsetzenden Auflösung des Kalifats von Bagdad gerät auch
das autonome Zentrum in Babylonien in Verfall. Die rechtliche und
wirtschaftliche Lage erfährt eine Verschlimmerung, die Wirksamkeit
des gaonäischen Kollegiums schrumpft zusammen und auch die Macht
der Exilarchen ist im Schwinden begriffen; die die Diaspora zusam-
menfassende, drei Jahrhunderte alte Organisation fällt auseinander.
Babylonien hört auf, das geistige Hauptzentrum des Judentums zu
sein. Mit dem Ableben des Gaon Saadia nimmt die Wirksamkeit der
Akademie von Sura ein Ende, und hundert Jahre später, mit dem
Tode der letzten allumfassenden Gaonen, Scherira und Hai (io4o),
verschwindet auch die Akademie von Pumbadita vom Schauplatz. Den
Gaonen und Exilarchen von Bagdad kommt in den folgenden Jahr-
hunderten eine nur noch lokale Bedeutung zu. In den vom Bagdader
Kalifat abgefallenen nordafrikanischen Provinzen (Kairuwan), in Ägyp-
ten und Palästina, bilden sich allerdings im X. und XI. Jahrhundert
erneut unabhängige geistige Zentren, doch vermögen sie nicht mehr
die Diaspora des ganzen islamitischen Orients zu einer Einheit zu
verbinden. Mitten in den neu hereinbrechenden politischen Krisen,
der Invasion der Türken und dem Einfall der Kreuzfahrer aus
Europa, vermögen sie kaum sich selbst zu behaupten. Die Einnahme
Jerusalems durch die Kreuzfahrer (1099) bildet den Schlußpunkt
dieser geschichtlichen Epoche. Um diese Zeit konzentrierte sich bereits
der größte Teil des jüdischen Volkes in Westeuropa, und dorthin ver-
schiebt sich nunmehr, seit dem XI. Jahrhundert, auch die nationale
Hegemonie. Sie folgt dabei den Spuren des arabischen Zuges nach
Spanien, befestigt sich zunächst im Kalifat von Cordova, um sodann
38o
§ 51. Allgemeine Übersicht
in den großen jüdischen Zentren Frankreichs und Deutschlands festen
Fuß zu fassen. Damit ist in der jüdischen Geschichte ein Wendepunkt
erreicht. Der jüdische Orient erstarrt und versinkt in tausendjährigen
Schlaf. Die durch jahrhundertelange Kolonisierung sich bildende
europäische Judenheit wird von nun ab zum Kern der Nation, zum
Sammelbecken ihrer kulturellen Schaffensenergie. Die orientalische
Periode der jüdischen Geschichte gelangt zu ihrem Abschluß und
es bricht eine neue, die abendländische Periode an.
Erstes Kapitel
Die Entstehung des Islam und das Kalifat
der Omajaden
(622 — 75o)
§ 52. Die Juden in Arabien bis zum Hervortreten Mohammeds
Zwischen dem persischen Babylonien und dem byzantinischen
Syro-Palästina schob sich keilartig der Nordteil der arabischen Halb-
insel vor. In seinem südwestlichen, an das Rote Meer angrenzenden
Teil von bodenständigen Stämmen bewohnt, war Arabien mit den bei-
den im Norden gelegenen Staaten durch die weite Landbrücke der
syrischen Wüste verbunden, wo von altersher nomadisierende Beduinen
hausten. Einstmals, in den Zeiten der Hasmonäer und der Herodianer,
nahm am Rande dieser Wüste das arabische Nabatäerreich mit der
südlich von Damaskus gelegenen Hauptstadt Petra einen gewissen Auf-
schwung; später trat die nördlich von Damaskus, an der Grenze des
römischen und persischen Hoheitsgebietes gelegene Oase Palmyra-
Tadmor hervor. Sowohl die Römer als auch die Perser hatten stets den
ungestümen Ansturm der nomadisierenden Wüstensöhne gegen das
benachbarte Festland abzuwehren und mußten sich mit der Bildung
halbsouveräner arabischer Reiche an den Grenzgebieten ihrer Besit-
zungen wohl oder übel abfinden. Denn diese winzigen Reiche der bo-
denständig gewordenen Nomaden bildeten gleichsam den Schutzwall,
der die Randgebiete der beiden Großmächte gegen eine Überschwem-
mung durch die aus der endlosen Wüste heranwogenden Fluten der
nomadisierenden Beduinen sichern sollte. So besaßen denn beide
Reiche, das römische wie das persische, ihre eigene arabische
„Ukraine“ (gleich der Kosaken-Ukraine im nachmaligen Polen), d. h.
ein von kriegstüchtigen, die Reichsgrenzen gegen fremde Invasion
schützenden Freischaren besetztes Randgebiet. Im III. Jahrhundert
382
konnte sich auf diese Weise im südlichen Teile Babyloniens, dem so-
genannten Irak, ein kleines arabisches Reich mit der Hauptstadt Hira
und der Dynastie der Lachmiden an seiner Spitze bilden, die zwei
Jahrhunderte lang treue Vasallen Persiens waren. „Hira“ heißt auf
aramäisch soviel wie „Lagerstätte“ oder „Nomadenlager“, was diese
Siedlung arabischer Condottieri auch in Wirklichkeit war. Neben die-
sem entstand zu Beginn des IV. Jahrhunderts im südlichen Syrien
ein von Rom abhängiges arabisches Reich des Stammes Ghassan
(Ghassaniden), dessen Fürsten, mit dem Titel „Phylarchen“ (Stam-
meshäuptlinge) ausgestattet, das Vorgelände des römischen Territorial-
bereichs zu bewachen hatten. Infolge der nächsten Nachbarschaft mit
den Hochburgen des syrischen Christentums (Antiochia, Edessa) nah-
men die Ghassaniden nach und nach die christlichen Glaubensformen
an. Die Christianisierung der Araber machte besonders merkliche
Fortschritte in der Periode der byzantinischen Vorherrschaft im Mor-
genlande, im V. und VI. Jahrhundert. Diese syrischen Araber lagen
mit ihren Stammesgenossen in dem an Persien sich anlehnenden
Reiche Hira in fortwährendem Hader. Der größte Teil der persischen
Araber blieb nämlich nach wie vor heidnisch, während der Rest sich
verschiedene religiöse Anschauungen der persischen Feueranbeter oder
gar der babylonischen Juden zu eigen machte, bei denen die Araber
unter dem Namen „Taiten“ bekannt waren (die im Talmud häufig
vorkommende Bezeichnung „Taja“ ist gleichbedeutend mit „Araber“).
Der Zwist zwischen den beiden arabischen Reichen wurde sowohl
durch das verschiedene Vasallitätsverhältnis als auch durch die Ver-
schiedenheit ihrer religiösen Sympathien hervorgerufen. Beide Reiche
vermochten sich bis zum VII. Jahrhundert zu halten, bis zu der Zeit,
da die Predigt des Islam die Massen aus dem Inneren Arabiens in
Bewegung setzte: diese Bewegung riß zunächst beide Grenzdämme
weg, um sodann auch der persischen wie der byzantinischen Herr-
schaft im Morgenlande ein Ende zu bereiten.
Die beiden genannten, die arabische Halbinsel mit den Zentren der
Weltkultur verbindenden Reiche waren nun jene Kanäle, durch die
in die Mitte der Arabien bewohnenden, patriarchalisch lebenden
Stämme Elemente des Judentums und des Christentums nach und
nach durchzusickern vermochten. Außerdem bestanden aber anschei-
nend in der Urheimat der Araber selbst von jeher jüdische Siedlun-
gen, deren Entstehung auf Grund von noch immer sehr unergiebigen
§ 52, Die Juden in Arabien vor der Zeit Mohammeds
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
Denkmälern schwer zu enträtseln ist. Es ist wohl zu vermuten, daß
die bedeutenden jüdischen Kolonien, die hier schon hundert Jahre
vor dem Aufkommen des Islam bestanden, sich durch Vermi-
schung von Eingeborenen mit jüdischen Einwanderern aus den be-
nachbarten Gebieten Syriens und Mesopotamiens gebildet haben. Un-
ter dem Einfluß der primitiven Lebensverhältnisse der Araber moch-
ten diese Ankömmlinge viele ihrer angestammten Gewohnheiten abge-
legt und sich zugleich mit der arabischen Sprache auch die Sitten
ihrer neuen Umwelt zu eigen gemacht haben. Diese neue Umgebung,
das innere Arabien, bot vor dem Hervortreten Mohammeds das fol-
gende Bild. An einer staatlichen Organisation fehlte es gänzlich, die
Bevölkerung setzte sich aus vereinzelten Geschlechtern oder Stämmen
zusammen, die von Häuptlingen, den Scheichs, angeführt wurden;
der Norden und der Süden des Landes unterschieden sich in ethni-
scher Beziehung erheblich: während im nördlichen Arabien oder dem
Hedschas der nomadisierende Araber, der Viehzüchter, vorherrschte,
war im Süden, im Jemen, die bodenständige, Ackerbau und Handel
treibende Bevölkerung vorherrschend. Unter dem Einfluß der später
unter den Arabern verbreiteten biblischen Legenden führten die Be-
wohner des Nordlandes ihren Stammbaum auf den Krieger der Wüste
Ismael, den Sohn des Erzvaters Abraham, zurück, wohingegen bei der
südlichen Bevölkerung Joktan, der Sohn des Eber, des Stammvaters
der Hebräer, als Stammhaupt galt. Die Tatsache der zwischen Arabern
und Juden als zwei Zweigen der semitischen Rasse bestehenden Ver-
wandtschaft steht freilich auch unabhängig von der Legende durch-
aus fest: davon zeugt schon allein die Verwandtschaft der Sprachen.
Bemerkenswert ist noch, daß sich die Juden in Nordarabien, trotz
der Nähe der mesopotamischen jüdischen Zentren, auch ihrer Lebens-
führung nach von den einheimischen Arabern nur wenig unterschie-
den. Gleich diesen lebten sie in vereinzelten, unter der Führung von
Ältesten stehenden Geschlechtergruppen. Die bedeutendsten unter die-
sen Gruppen waren die Benu-Kainuka, Benu-Nadhir und die Benu-
Kuraisa. Alle diese Gruppen lebten in der Hauptstadt Nordarabiens
Jaihrib (dem nachmaligen Medina), sowie in deren Umgegend, mitten
unter üppigen Palmenpflanzungen, deren Pflege ihre Hauptbeschäfti-
gung war. Eine große jüdische Kolonie befand sich außerdem in der
nördlicher gelegenen Stadt Chaibar. Von hier aus zog sich eine Kette
kleinerer jüdischer Siedlungen bis zu dem nördlichsten Punkte der
§ 52. Die Juden in Arabien vor der Zeit Mohammeds
arabischen Halbinsel, der Stadt Taima, hin. Die jüdischen Siedlungs-
punkte lagen nicht selten hoch in den Bergen und waren gegen die
räuberischen Überfälle der Beduinen durch Festungswälle geschützt.
Sogar in den Städten, so z. B. in Jathrib-Medina, lebten die Juden in
besonderen, stark befestigten Stadtvierteln. Außer mit dem Gartenbau
(der Zucht der Dattelpalmen) beschäftigten sie sich vornehmlich mit
Handwerk und trieben auch Karawanenhandel. Sie zeichneten sich
gleich ihren Nachbarn durch Kriegstüchtigkeit aus, wiewohl ihnen
der arabische Kult des Schwertes und die wilde Kühnheit der Araber
fremd blieben.
Anders war das Bild, das die die Juden umgebende Welt in Zen-
tral- und Südarabien bot Im Süden waren nämlich die Spuren der
alten Kultur des ehemaligen Reiches Saba, der Heimat der biblischen
„Königin von Saba“, der sagenhaften Zeitgenossin des Königs Salomo,
noch nicht verwischt. An der Küste des Roten Meeres gelegen, war
dieses Gebiet durch Handelsbeziehungen mit dem Nachbargebiet an
der gegenüberliegenden Küste, Abessinien oder Äthiopien, sowie mit
Ägypten verbunden; die Meeresstraße verband es andererseits auch mit
Indien. Die alte industrielle Kultur des Reiches Saba eignete sich na-
mentlich das südliche Gebiet Jemen an, das bei den alten Geographen
unter dem Namen „das glückliche Arabien“ bekannt war. Hier faß-
ten die Himjariten (Homeriden) oder küstenbewohnenden Stämme
festen Fuß, die die patriarchalische Geschlechtsverfassung der Araber
des Nordens wohl beibehielten, sich aber von diesen durch ihre ent-
schiedene Neigung zu bodenständiger Lebensführung, zu Ackerbau
und städtischem Markthandel unterschieden. Zwischen dem Norden
und dem Süden erhob sich im Herzen des Landes die heilige Stadt
der Araber, Mekka, in der sich die Jemen, Hedschas, Mesopotamien
und Syrien verbindenden Karawanenstraßen kreuzten. Der nomadi-
sierende Beduine wurde hier zum umherziehenden Kaufmann. Die
großen Jahrmärkte lockten nach Mekka viel Volk aus den verschieden-
sten Gegenden Arabiens herbei, und im Zusammenhang mit diesen
Ansammlungen von Kaufleuten scheint sich auch die Sitte des Pil-
gerns zu der Kaaba eingebürgert zu haben, zu jenem schwarzen Steine,
den die Araber von altersher als den Sitz einer verborgenen Gottheit,
des Vaters aller Götter, des semitischen „Allah“ (das hebräische El,
Elohim) verehrten. In dem zeltartigen, um diesen Stein herum errich-
teten Tempel waren die Götzenbilder der verschiedenen arabischen
25 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
385
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
Stämme aufgestellt und so erstand in Mekka gleichsam ein Pantheon
des arabischen Heidentums. Zugleich rangen hier auch die beiden
monotheistischen Religionen um Einfluß: das Christentum sandte
hierher seine Missionare von Syrien und Äthiopien, während sich der
Judaismus auf dem Wege über die arabischen Grenzstaaten der Ghas-
saniden und die jüdischen Siedlungen in Jathrib von Babylonien (Irak)
her Eingang verschaffte. Dieser Brennpunkt des Arabertums, wo sich
die Einwirkungen der verschiedensten Religionen des Morgenlandes
kreuzten, war nun der geeignete Boden für das spätere Hervortreten
des Stifters einer neuen Religion, des aus Mekka gebürtigen Mo-
hammed.
Im vorislamitischen Nordarabien bildete die Religion das Haupt-
unterscheidungsmerkmal der jüdischen Stämme, die sich der Sprache
und der äußeren Lebensführung nach sonst völlig arabisiert hatten.
Vorliebe für ungebundene Lebensweise, kriegerische Tüchtigkeit, pa-
triarchalische Gastfreiheit, Neigung zur ritterlichen Minnedichtung
waren den Arabern wie den Juden in gleicher Weise eigen. Bei diesen
wie bei jenen kam es nicht selten zu Zwistigkeiten zwischen den ein-
zelnen Geschlechtern; bald lagen die winzigen Stämme in Fehde mit-
einander, bald schlossen sie sich zu Verbänden zusammen. Unter den
Juden taten sich nicht wenig Helden und Dichter hervor, die auch
vom arabischen Volksepos verherrlicht wurden. Von den Dichtern er-
langte in der ersten Hälfte des VI. Jahrhunderts besonders hohen
Ruhm Samuel ihn Adija, der Führer eines kleinen, in der Nähe von
Taima lebenden jüdischen Stammes. Der ritterliche Charakter und die
Rechtschaffenheit Samuels waren sprichwörtlich geworden: „Treu wie
Samuel“, pflegten die Araber zu sagen. In den arabischen Volksliedern
hat sich die folgende Erzählung von ihm erhalten. Von Feinden ver-
folgt, hatte der arabische Dichter, der Prinz Imrulkais, seine Waffen
seinem Freunde und Verbündeten Samuel zur Verwahrung übergeben.
Bald umzingelten jedoch die Feinde des Prinzen die Burg Samuels
und forderten die Herausgabe der Waffenrüstung des Imrulkais. Als
ihnen dies verweigert wurde, drohten sie, falls ihre Forderung nicht
erfüllt würde, den von ihnen ergriffenen Sohn Samuels dem Tode
preiszugeben. „Macht, was ihr wollt,“ war die Antwort Samuels, „ich
werde dennoch nicht wortbrüchig werden, denn der Verrat ist ein
Halsband, das nie rostet“. Die Unmenschen ermordeten denn auch den
Sohn vor den Augen des Vaters, und doch blieb dieser unbeugsam.
386
§ 52. Die Juden in Arabien vor der Zeit Mohammeds
Diese äußerliche Assimilation griff indessen nicht auf das Gebiet
der religiösen Lebensführung über. Die große jüdische Gemeinde von
Jathrib besaß die traditionsgemäßen religiösen Institutionen und auch
ihre eigenen Gesetzeslehrer. Es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, in
welchem Maße sich diese Gesetzeslehrer den von Babylonien aus ver-
kündeten talmudischen Normen fügten, doch wurden jedenfalls die
Grundgesetze des Judaismus auch hier strengstens eingehalten. Der
Sabbat war der Tag der absoluten Ruhe. Oft in Kriege mit den sie
umgebenden Völkerschaften verwickelt, pflegten die arabischen Juden
an den Sabbattagen die kriegerischen Handlungen stets einzustellen.
Heilig hielten sie auch die Feiertage, so namentlich den Fasttag Jom-
Kippur, der bei ihnen „Aschura“ genannt wurde. Bei der Verrichtung
der Andacht wandten sie gleich allen Juden der Diaspora ihr An-
gesicht gen Jerusalem. Unerschütterlich war auch ihr Glaube an das
Erscheinen des Messias aus dem Geschlechte Davids, der das Reich
Juda wieder aufrichten werde. Mit den biblischen Schriften waren die
Juden Arabiens durchaus vertraut, wobei unter ihnen auch viele an
die biblischen Erzählungen anknüpfende mündliche Sagen im Umlauf
waren, die in der talmudischen Haggada ihre Grundlage hatten und
später zum Teil im Koran Aufnahme fanden.
Bei dem regen Verkehr zwischen Juden und Arabern konnten diese
von den jüdischen religiösen Anschauungen nicht unbeeinflußt blei-
ben. Viele heidnische Araber bekundeten denn auch eine Neigung zur
jüdischen Religion, so daß Bekehrungen zum Judentum unter ihnen
durchaus keine Seltenheit waren. Der Übertritt war für die Araber
lim so leichter, als die Beschneidung bei ihnen, noch ehe sie mit den
Juden in Berührung kamen, allgemeiner Brauch war. Zu Beginn des
VI. Jahrhunderts bildete sich in dem südlichen Arabien ein kleines
Reich, in dem die jüdische Religion sogar vorherrschend war. Der
Fürst oder „Tobba“ der Himjariten von Jemen, Abu-Kariba, machte
nämlich auf seinem Feldzug gegen Jathrib die Bekanntschaft der dor-
tigen jüdischen Weisen und entschloß sich, zum Judentum überzu-
treten; seinem Beispiele folgten bald viele seiner Stammesgenossen
(um 5oo). In den arabischen Überlieferungen ist diese Tatsache durch
allerlei poetische Einzelheiten ausgeschmückt. Man erzählte, Abu-
Kariba hätte die Umgegend von Jathrib ganz verheert, die Palmen-
haine in weitem Umkreise ab geholzt, die ihm aus der Stadt mit Frie-
densvorschlägen entgegengekommenen Gaufürsten enthaupten lassen,
25*
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
um sodann an die Belagerung der Stadt zu gehen. Während der Be-
lagerung verfiel er jedoch in Siechtum und dachte nun an einen Waf-
fenstillstand. Diese Gelegenheit nützten zwei jüdische Weisen, Kaab
und Assab, um sich in sein Zelt zu schleichen und ihm die Aufhebung
der Belagerung ans Herz zu legen. Außerdem gelang es ihnen, den
heidnischen Anführer von den Vorzügen der jüdischen Religion zu
überzeugen, so daß er und seine Kriegerschar sich zum Judentum be-
kehrten. Als Abu-Kariba bald darauf starb und die Gewalt über die
Himjariten nach lange anhaltenden Wirren dem Fürsten Jussuf Dhu-
Nowas zufiel, trat auch dieser zum jüdischen Glauben über, wodurch
er sich in die politischen Kämpfe seiner Zeit verwickelte.
Religion und Politik waren nämlich in allen sich in Jemen ab-
spielenden Umwälzungen aufs engste miteinander verflochten. Dies
hatte seinen Grund darin, daß in Jemen um jene Zeit von seiten By-
zanz’ durch die Vermittlung der Herrscher des benachbarten Äthio-
pien eine rege Propaganda für das Christentum entfaltet wurde. Den
christlichen Gebietern Äthiopiens lag eben nicht wenig daran, ihrem
Glauben in Arabien Geltung zu verschaffen, denn dies war ein Pfand
für die Ausdehnung der Gewalt auch über dieses an verschiedenen
Hilfsquellen reiche Land, während die byzantinischen Kaiser ihrer-
seits Wert darauf legten, dort eine Schutzwehr gegen das mächtige
Persien zu errichten. Den Bemühungen der byzantinischen und äthio-
pischen Missionäre gelang es nun, einen bedeutenden Teil der Bevöl-
kerung einzelner in Jemen gelegener Städte (Nedschran, Aden) in der
Tat zum Christentum zu bekehren, und den Missionären folgten die
Bevollmächtigten der äthiopischen Könige auf dem Fuß, um in den
von der Kirche eroberten Gebieten die Gewalt zu übernehmen. Dies
bewog den himjaritischen Fürsten, wohl nicht ohne Zureden der „jü-
dischen Weisen“, dem Christentum das Judentum entgegenzusetzen,
um so der Ausdehnung der fremdländischen Gewalt Einhalt zu gebie-
ten. Wenn man den syrischen und zum Teil auch den arabischen
Chronographen1) Glauben schenken will, verliefen die Ereignisse fol-
gendermaßen: Als Dhu-Nowas von den Bedrückungen der Juden
!) Als Hauptquelle kommt der Brief des syrischen Bischofs Simeon aus Beth-
Arscham in Betracht, der in manchen kirchlichen Chroniken wiedergegeben ist
und seinem Geiste nach der Tendenzliteratur der „Lebensbeschreibungen der hei-
ligen Märtyrer“ verwandt ist. Das Ereignis selbst ohne die kirchlichen Aus-
schmückungen wird indessen auch von einigen arabischen Geschichtsschreibern
(Tabari, Massudi u. a.) bestätigt, doch bleibt die Episode trotzdem nicht ganz klar.
388
§ 52. Die Juden in Arabien vor der Zeit Mohammeds
durch die Regierung und den Klerus im byzantinischen Reiche Kunde
erhielt, soll er sich entschlossen haben, an den in seine Gewalt ge-
langenden Christen dafür Rache zu nehmen. So gab er Befehl, die
durch Jemen reisenden byzantinischen Kaufleute zu ergreifen und zu
töten; die in Schrecken versetzten Byzantiner wagten nmi nicht mehr,
dorthin Reisen zu unternehmen, und der Handel mit Arabien war
lahmgelegt. Dhu-Nowas wurde infolgedessen in eine Fehde mit dem
benachbarten heidnischen Fürsten Aidug verwickelt, dem es ganz un-
geheuerlich erschien, wegen der den Juden in fremden Ländern zu-
gefügten Unbill die Interessen des eigenen Landes preiszugeben. Er
erklärte Dhu-Nowas den Krieg und brachte ihm auch eine Niederlage
bei, doch vermochte sich der Fürst von Jemen bald davon zu er-
holen, worauf er die in Arabien selbst lebenden Christen hart zu be-
drängen begann. So überfiel er die unter der Verwaltung eines äthior
pischen Statthalters stehende Stadt Nedschran, die zum größten Teil
von Christen bewohnt war, und stellte diese vor die Wahl, entweder
zum Judentum überzutreten oder zu sterben; als er auf Widerstand
stieß, gab er Befehl, 34o der angesehensten Bürger niederzumachen.
Auch legte er den in seinem Reiche lebenden Christen drückende
Steuern auf und bedrängte sie auch sonst ganz in derselben Weise,
in der die Juden von den Byzantinern bedrängt wurden. Die Nach-
richten über die Leiden, die die Christen in Jemen zu erdulden hat-
ten, versetzten Byzanz in Erregung. Der christliche Klerus rief zu
einem Kreuzzug gegen den Bedränger des Christentums auf; es wur-
den Stimmen laut, man solle die jüdischen Gesetzeslehrer in Palästina
gefangen setzen und sie so lange als Geiseln zurückbehalten, bis Dhu-
Nowas die Christenverfolgungen in Arabien eingestellt haben werde.
Der byzantinische Kaiser Justin I., damals von einem Kriege gegen
Persien in Anspruch genommen, war indessen nicht in der Lage,
ein Heer nach dem fernliegenden Arabien zu senden, und ging
nun den äthiopischen Negus Elesbaa um Waffenhilfe an. Der christ-
liche Negus säumte denn auch nicht, ein großes Heer zu entsenden,
das über das Rote Meer setzte und an den Küsten Arabiens landete.
Den Äthiopiern schlossen sich auch noch die arabischen Christen an,
und Dhu-Nowas sah sich bald von unzähligen feindlichen Scharen
umgeben, die sich mit raschem Zugriff seiner Residenz Zafar be-
mächtigten. Die unvermeidliche Niederlage voraussehend, stürzte sich
Dhu-Nowas, um nicht den Feinden in die Hände zu fallen, von einem
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
hohen Felsen ins Meer und fand so den Tod (um 52 5). Die Sieger
ließen nunmehr in Jemen ihre Wut an den Juden aus, von denen viele
erschlagen oder haufenweise in die Gefangenschaft abgeführt wur-
den. So wurde das jüdische himjaritische Reich von seinem Schicksal
ereilt, und Jemen geriet unter die äthiopische Herrschaft, die fast
ein halbes Jahrhundert währte. Doch gelang es schließlich einem
Nachkommen des Dhu-Nowas, dem Prinzen Seif, den mächtigen persi-
schen König Chosroi Anoscharvan dazu zu bewegen, den unterdrückten
Einwohnern von Jemen zu Hilfe zu eilen: ein persisches Heer erschien
im Lande, verjagte die äthiopischen Statthalter und unterstellte Jemen
der Obergewalt Persiens. So blieb es bis zum Auftreten Mohammeds.
Inzwischen übersiedelten nach dem Zusammenbruch des jüdischen
himjaritischen Reiches die von den Äthiopiern und den Christen ver-
folgten Juden aus dem südlichen Arabien nach dem nördlichen. Sie
ließen sich zum größten Teil in der Stadt Jathrib und in ihrer Um-
gegend nieder. Allein auch für die Juden von Jathrib brachen bald
unruhvolle Zeiten an. Sie wurden in allerlei die Araberstämme ent-
zweiende Fehden verstrickt, die damals den Hauptlebensinhalt der
Araber des Nordens bildeten. Die in Jathrib vorherrschenden jüdi-
schen Stämme Benu-Kuraisa und Benu-Nadhir waren genötigt, an
die mächtigeren arabischen Stämme der Ausiten und der Chazradschi-
ten ihre Vorrangstellung abzutreten. Diese besetzten das Zentrum der
Stadt und verdrängten die Juden von dort. Doch war bald auch für
die beiden arabischen Stämme der Raum in Jathrib zu eng geworden
und sie gerieten in endlosen Zwist untereinander. An diesem Hader
beteiligten sich manchmal auch die Juden, indem sie bald dem einen,
bald dem anderen Stamme Beistand leisteten. Eine Zeitlang kämpf-
ten z. B. die Stämme Kuraisa und Nadhir an der Seite der Ausiten,
während der jüdische Stamm Benu-Kainuka den Chazradschiten Ge-
folgschaft leistete, so daß Juden gegen ihre eigenen Stammesgenossen
das Schwert erhoben. In einem solchen Zustande der Anarchie fand
Mohammed die Einwohnerschaft von Jathrib vor, als er auf seiner
Flucht aus Mekka dort anlangte und die Stadt, der er den neuen Na-
men Medina gab, zur heiligen Stadt des Islam proklamierte.
§ 53. Mohammed und seine Versuche, die Juden zu gewinnen
In Mekka geboren, konnte sich Mohammed (570—632) mit den
Lehren des Judentums und des Christentums nur in oberflächlicher
§ 53. Mohammed und die Juden
Weise bekannt machen. Mit Bekennern der beiden Religionen hatte
er Gelegenheit, sowohl in seiner am Schnittpunkt der arabischen Han-
delsstraßen gelegenen Heimatstadt als auch auf seinen vielfachen
Reisen durch Hedschas und Syrien zusammenzukommen, die er mit
den Handelskarawanen seines Oheims Abu-Talib oder mit denen sei-
ner ersten Frau Chadidscha zu unternehmen pflegte. Des Lesens nicht
mächtig, lieh der jugendliche Mohammed allerhand mündlichen Wie-
dergaben der biblischen und evangelischen Erzählungen willig sein
Ohr. Diese wurden ihm nicht selten in verzerrter Form übermittelt
und waren mit der jüdischen Haggada und den christlichen „Lebens-
beschreibungen der Heiligen“ entlehnten Volkslegenden reichlich unter-
mischt. In seinem Geiste setzte sich der Gedanke fest: Juden, Hellenen
und Römer, sie alle hatten ihre göttliche Offenbarung, ihre Prophe-
ten, ihre heilige Schrift — nun sei die Reihe an den Arabern, der
Offenbarung des einzigen Gottes teilhaftig zu werden. Waren doch
die Araber gleich den Juden die Nachkommen des biblischen Erz-
vaters Abraham, der als erster den einzigen Gott erkannt hatte: Abra-
ham, der Großvater Jakob-Israels, ist ja zugleich der Vater Ismaels,
des Stammvaters der Araber1). Die Juden hatten ihren Propheten
Moses, die Christen Jesus und nun sei er, Mohammed, dazu berufen,
den wahren Glauben den tief im Heidentum steckenden Arabern zu
verkünden. Stehe ihm doch sein Engel, Gabriel, bei, der ihm in Vi-
sionen die göttlichen Wahrheiten offenbare. Er sei der Sendbote des
Allah (rasul Allah); er sei das letzte Glied in der Kette der Propheten ;
durch ihn werde die Prophetie vollendet, „besiegelt“ (chatam al an-
biya). Moses wie Jesus waren Propheten nur für ihr Zeitalter; da-
gegen konnte „Jesus, der Sohn Marias“, keineswegs ein Sohn Gottes
sein, denn „Allah ist ein einziger Gott, der weder gebiert noch ge-
boren ist und dem niemand gleichkommt“ (Sura 112). Auch für
sich beansprucht Mohammed in keiner Weise eine göttliche Herkunft,
ja nicht einmal die Kraft, Wunder zu wirken, doch ist er fest über-
zeugt, daß das ihm offenbarte göttliche Wort (kuran) alle früheren
Offenbarungen überträfe, denn es sei ihre Vollendung, der Abschluß
aller Prophetie überhaupt.
0 Im Koran erscheint Ismael stets als einer der biblischen Erzväter. Der
biblischen Formel „Abraham, Isaak und Jakob“ entspricht hier entweder die For-
mel „Abraham, Ismael und Isaak“ oder aber „Abraham, Ismael, Isaak und Jakob“
(s. namentlich Sura 2, 127, i3o, i34).
391
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
So reift in der Seele dieses Halbbeduinen die Idee des Monotheis-
mus, die in ihm zu einer glühenden Leidenschaft wird und ihn zu
einem „heiligen Kriege“, für den jedes Mittel gut genug zu sein
scheint, hinreißt. Die Gotteserkenntnis vermählte sich eben im Geiste
des Mohammed in keiner Weise mit jenem erhabenen sittlichen Be-
wußtsein, das den ethischen Monotheismus der biblischen Propheten
und auch die einseitige evangelische Lehre „nicht von dieser Welt“
so anziehend erscheinen läßt. Die Lebensgeschichte Mohammeds zeigt
uns keine bezaubernde Persönlichkeit, keine Verkörperung jenes höch-
sten sittlichen Prinzips, die das gläubige Gemüt noch mehr als die
verkündete abstrakte Idee gefangenzunehmen vermag. Der Lebens-
lauf des „Sendboten des Allah“ wie auch der „Koran“ selbst sind voll
von Beispielen gerade dafür, wie ein Religionsstifter nicht sprechen
und handeln sollte. Hinter der Maske eines Propheten starrt uns hier
nur zu oft der Blick eines Halbwilden an; die Erleuchtung des Sehers
wird von der rohen Leidenschaft des Beduinen überschattet, der im
Kriege rücksichtslos mordet und nicht ansteht, das Weib oder die
Tochter des Gemordeten in seinen Harem zu schleppen. Alle diese
Charakterzüge des Mohammed kommen nun besonders deutlich in
seinem Verhalten gegen die Juden Arabiens zum Ausdruck.
Der Hauptgrund der von Mohammed den Juden gegenüber be-
kundeten Feindseligkeit lag darin, daß er zuerst auf ihre Unter-
stützung bei der Erfüllung seiner religiösen Mission viel zu große
Hoffnungen setzte, die Juden ihm aber nur Enttäuschung bereiteten.
Als Mohammed in seinem heimatlichen Mekka wegen des von ihm
eröffneten Vernichtungskampfes gegen die angestammte nationale
Religion sich den Verfolgungen der heidnischen Kuraischiten aus-
gesetzt sah, erhoffte er alles von der Auswanderung nach Medina1),
wo, wie er glaubte, die einflußreichen jüdischen Stämme dem Pre-
diger des Monotheismus in jeder Weise Beistand leisten würden. Er
glaubte zuversichtlich, daß das „Volk der Schrift“, der älteste Bürge
der göttlichen Wahrheit, durch seine Autorität die Mission des Apo-
stels der Araber unterstützen würde. Aus diesem Grunde eben suchte
er bald nach seiner Flucht aus Mekka nach Medina (622) mit den
!) Unter Mohammed bürgerte sich für Jathrib der Name „al-Medina“ ein,
d. h. schlechtweg „Stadt“, nämlich die „Stadt des Propheten“, der den Eigen-
namen ersetzende Gattungsname, den diese Stadt bis auf den heutigen Tag be-
halten hat.
§ 53. Mohammed und die Juden
dortigen Juden, die damals gerade eine von Stammeszwist erfüllte
unruhvolle Zeit durchzumachen hatten (vgl. § 52), in freundschaft-
liche Beziehungen zu treten. Zu allererst versuchte er unter den sich
befehdenden Bevölkerungsgruppen Medinas auf Grund eines gegen-
seitigen Einvernehmens oder „Vertrages“ Frieden zu stiften. Diesem
Vertrage gemäß wurde die Bevölkerung in „Rechtgläubige“ oder
„Muslimen“ (Muselmanen), Juden und Heiden eingeteilt. Die mit
Mohammed aus Mekka gekommenen sowie die in Medina neubekehr-
ten Rechtgläubigen bildeten eine eigene, unter besonderer Verwaltung
stehende Gemeinde und gelobten, gegen jeden Angriff von außen ein-
ander beizustehen; ebenso selbständig in ihren inneren Angelegenhei-
ten waren auch die Juden, die indessen zur gemeinsamen Kriegfüh-
rung gegen den äußeren Feind in den Stadtverband auf genommen
wurden. Zu diesem Bunde gehörten auch die ortsansässigen Heiden
aus den Stämmen Aus und Chazradsch, und nur den Kuraischiten,
den Feinden des Propheten, war der Schutz des Gesetzes entzogen.
Den Muselmanen wurden jedoch manche Vorrechte eingeräumt: so
sollte der Anschlag auf das Leben eines Muselmanen vom Gerichte
mit besonderer Strenge geahndet werden, bei der Entscheidung der
Fragen über Krieg und Frieden war das Wort des Hauptes der Recht-
gläubigen ausschlaggebend u. dgl. m. Indem Mohammed so die Ju-
den in den allgemeinen bürgerlichen Verband einbezog, suchte er sie
zugleich durch manche Konzessionen auf religiösem Gebiet für sich
zu gewinnen. Bei der Festsetzung der gottesdienstlichen Ordnung in
der ersten von ihm erbauten Moschee bestimmte er z. B., daß die
Betenden ihr Angesicht gen Jerusalem zu richten hätten; diesem die
„Kiblah“ (die Richtung des Angesichts bei der Andacht) betreffenden
Gebot wurde aus dem Grunde große Bedeutung beigemessen, weil
in ihm die Anerkennung der Heiligkeit der jüdischen Hauptstadt
und zugleich die einer Sukzession in der Prophetie beschlossen lag.
Außerdem setzte Mohammed den alljährlichen Hauptfasttag auf den
io. des ersten Mondmonats des Jahres (den io. Tischri) fest, der
somit mit dem jüdischen Aschura oder dem Jom-Kippur zusammen-
fiel. Von den Bekennern des Judentums scheint er auch die alltäg-
liche Andachtsordnung übernommen zu haben (nur daß er statt der
drei fünf alltägliche Gebete festsetzte) sowie die mit der rituellen
Reinheit zusammenhängenden Waschungsbräuche und das Verbot,
Fleisch von gefallenem Vieh und Schweinefleisch zu genießen.
3g3
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
Durch alle diese Konzessionen beabsichtigte er eine engere Verbin-
dung mit den Juden zustande zu bringen, um so, wenn auch nicht
ihre Bekehrung zu bewirken, doch wenigstens ihre Sympathien für
den neuen Glauben zu gewinnen. Doch sah er sich bald in seinen
Erwartungen arg getäuscht. Nur ganz vereinzelt schlossen sich dem
Stamme Kainuka angehörende Juden der Partei des Mohammed, den
„Ansaren“, an, die in ihm ein Werkzeug der Bekehrung der Araber
zum Judentum erblicken mochten; dagegen lehnte es die große Mehr-
zahl der Juden von Medina nicht nur ab, in dem Flüchtling aus
Mekka einen Gesandten Gottes zu erblicken, sondern begegnete ihm
* sogar mit unverhohlener Mißachtung und scheute sich nicht, diese
auch öffentlich zu bekunden.
Wie hätten auch die Juden einen Mann als Propheten gelten las-
sen können, der seinen sittlichen Eigenschaften nach diesem hohen
Beruf so wenig entsprach. Abstoßend mußte auf sie auch die Igno-
ranz des neuen Glaubensstifters wirken, der die Überlieferungen des
Judentums wie des Christentums nur vom Hörensagen, nur aus den
Unterhaltungen mit zufälligen Reisegefährten, nicht aber aus den ur-
kundlichen Quellen der beiden Glaubenslehren selbst kannte. Von der
Unzuverlässigkeit der Bibelkenntnis Mohammeds konnten sich die
Juden leicht überzeugen, als sie auf verschiedene ihm vorgelegte Fra-
gen falsche Antworten erhielten. Dies veranlaßte sie, Mohammed im
Kreise seiner Verehrer zu verspotten und ihn wegen seiner Unkennt-
nis der mosaischen Lehre bloßzustellen. Nunmehr witterte der Pro-
phet schwere Gefahr: führte er doch seine Lehre auf die Bibel zu-
rück, und nun sollten ihn die erblichen Depositäre der Bibel der
Unkenntnis jener Quelle überführen, aus der er all seine Wahrheiten
schöpfte. Um seine Autorität bei den Rechtgläubigen aufrechtzuerhal-
ten, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Spieß umzudrehen und
zu erklären, daß es gerade die Juden und Christen seien, die ihren
eigenen Deutungen zuliebe den JBibeltext entstellt hätten, während er,
Mohammed, allein im Besitze der unverfälschten Mosestradition sei.
So überhäuft er denn die „Kinder Israel“, das „Volk der Schrift“,
mit einem Schwall zornsprühender Aussprüche1). Er weist darauf
1) Der größte Teil dieser Aussprüche ist in der weitläufigen zweiten Sura
(Kapitel) des Koran gesammelt, doch sind auch in manchen anderen Kapiteln des
Buches auf das Judentum sich beziehend^ Aussprüche des Mohammed verstreut.
Die hier folgenden Stellen sind der zweiten und zum Teil der dritten Sura ent-
nommen.
394
§ 53. Mohammed und die Juden
hin, daß die Israeliten ehedem sogar ihren eigenen Propheten kein
Gehör schenkten, ruft ihnen die Anbetung des Goldenen Kalbes in
der Wüste in Erinnerung und kommt auch auf die aus späterer Zeit
stammende Volkslegende zurück, wonach die Juden die Thora am
Sinai nur aus Furcht, nämlich um von dem Berge nicht erdrückt zu
werden, angenommen hätten1). „Ihr wollt — so spricht Mohammed
zu den Rechtgläubigen —, daß sie (die Juden) euch Vertrauen ent-
gegenbringen; aber ein Teil von ihnen hat ja das Wort Gottes ver-
nommen, wohl begriffen und es dennoch später bewußt entstellt.
Auch unter ihnen gibt es der Schrift Unkundige, die nur Hirn-
gespinste und allerlei Mutmaßungen kennen“. Voll Erbitterung wirft
Mohammed den Juden vor, daß sie seiner Sache den Rücken zu-
kehrten: „Jetzt, da euch ein Buch von Allah (die Aussprüche und
Sendschreiben, die später in den Koran aufgenommen wurden) zur
Bestätigung eurer ehemaligen Offenbarung dargereicht wurde, habt
ihr es zurückgewiesen, obwohl ihr selbst früher den Sieg über die
Ungläubigen erfleht habt. So möge denn der Fluch Allahs über die
Ungläubigen kommen! . . . Die Juden sagen: den Nazarenern (den
Bekennern Jesu von Nazareth) schwanke der Boden unter den Füßen,
und die Nazarener sagen: den Juden schwanke der Boden unter den
Füßen. Und doch lesen die einen wie die anderen die Schrift . . . Du
wirst es weder den Juden noch den Nazarenern recht machen, es sei
denn, daß du dich zu ihrem Glauben bekennst . . . Sie sagen: Wer-
det Juden oder Nazarener — du aber sage ihnen: Nimmermehr, denn
wir bekennen uns zu der Religion Abrahams, der den wahren Glau-
ben erkannte und den Götzendienst verwarf. Wir glauben an Allah
und an alles, was er uns durch seinen Sendboten (Mohammed) offen-
bart hat sowie an das, was er Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und den
Stämmen (Israels) geboten hat und an das, was durch Moses und
Jesus vermittelt und was den Propheten vom Herrn zuteil geworden
ist. Zwischen ihnen allen machen wir keinen Unterschied und wir sind
wahrlich Muslims (d. h. gottergeben, rechtgläubig)“.
Eine solche Vermengung der verschiedenartigsten Lehren, bei der
nicht nur die Erzväter als Propheten erscheinen, sondern sogar Ismael
in ihren Kreis tritt, vermochte weder Juden noch Christen von der
göttlichen Sendung Mohammeds zu überzeugen. Der Aufruf zum Zu-
*) Vgl. Sura 2, 87 und 7, 170 mit der im Talmud, Sabbat 88 a, wieder-
gegebenen Sage.
395
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
sammenschluß verklang ohne Widerhall, der arabische Prophet mußte
auf die erhoffte Bundesgenossenschaft verzichten. Seitdem prägte sich
seinem Geiste immer mehr der Gedanke ein, den er in den angeführten
Aussprüchen als Antithese zu den Religionen Moses’ und Jesu bereits
flüchtig zum Ausdruck gebracht hatte: „Wir bekennen uns zu der Reli-
gion Abrahams“. Wie ehemals der Apostel Paulus in seinem Bestreben,
mit der jüdischen Religion des Gesetzes zu brechen, in Abraham, der
nur durch seinen Glauben selig wurde, einen Rückhalt zu finden ver-
meinte, ebenso glaubte jetzt der weder von den Juden noch von den
Christen anerkannte Mohammed sein Heil in der primitiven Religion
Abrahams, des angeblichen Stammhauptes aller Semiten und darum
auch der Araber, finden zu können. Lebte doch — so folgerte er —
der erste Monotheist Abraham lange vor Moses und Jesus; also ist
dieser Erzvater der Urquell des Glaubens für alle Völker der Erde.
„Oh, du Volk der Schrift, wozu euer Streit über Abraham (ob er Jude
oder Christ war), da doch die Thora und das Evangelium erst nach
ihm verkündet worden sind? . . . Abraham war kein Jude und auch
kein Christ; eher war er ein Mann lauteren Glaubens („Chanif“), ein
Muslim, nicht aber einer von jenen, die Gott Gesellen beigeben. Die-
jenigen stehen also Abraham am nächsten, die in seinen Fußstapfen
wandeln: es sind dies aber der Prophet (Mohammed) und die Gläu-
bigen“ (Sura 3, 58—61). So suchten denn Paulus und Mohammed
ganz in derselben Weise ihre Religion durch die Berufung auf Abra-
ham von der jüdischen Wurzel loszutrennen, der eine um der Hel-
lenisierung, der andere um der Arabisierung willen. Nur konnte Mo-
hammed den Namen Abrahams dabei auch noch als ein national-
arabisches Aushängeschild benutzen: galt er doch als der Vater
Ismaels, des Stammhauptes der „Steppensöhne“, der Araber.
Nach dem vergeblichen Versuch, seine Lehre mit dem Judentum
und dem Christentum in Verbindung zu bringen, blieb dem abgewie-
senen „Gesandten Allahs“ nichts anderes übrig, als in den arabischen
nationalen Glaubensformen selbst Anhalts- und Stützpunkte zu su-
chen, und zwar auf dem Wege eines religiösen Synkretismus, auf
dem einer Verschmelzung heidnischer Begriffe mit dem der Form
nach gewahrten Dogma des Monotheismus (wie es übrigens auch der
Apostel Paulus und seine Anhänger innerhalb der hellenistischen Welt
taten). Jetzt erst entschloß sich Mohammed dazu, das von den Ara-
bern heilig gehaltene heidnische Pantheon in Mekka in eine musel-
396
§ 53. Mohammed und die Juden
manische Weihestätte zu verwandeln und alljährliche Wallfahrten zum
heiligen Stein der Kaaba anzuordnen, aus dessen Nähe die ihn um-
gebenden Götzenbilder allerdings vorher entfernt werden sollten. Zu
diesem Zwecke schaffte er gleich nach dem Bruche mit den Juden
von Medina die früher von ihm empfohlene „Kiblah“ gen Jerusa-
lem ab und befahl statt dessen, bei der Andacht das Angesicht
nach dem heiligen Mekka zu wenden (623). Dadurch war der Bruch
mit dem Judaismus besiegelt und die Arabisierung des Islam, die in
den folgenden Aussprüchen zum Ausdruck kommt, in die Wege ge-
leitet: „Unverständige Menschen werden wohl fragen: Wozu sie (die
Muselmanen) der Kiblah, die sie bereits angenommen haben, abwen-
dig machen? Sage ihnen nun: Allah gehört West wie Ost, und wen
er will, den weist er auf den rechten Weg. Wollen wir doch so aus
euch ein Volk unter anderen Völkern machen, damit ihr vor den
Menschen als Zeugen dasteht, während der Gesandte (Gottes) für
euch Zeugnis ablegen wird . . . Wir haben dich dein Angesicht nach
allen Himmelsrichtungen wenden sehen, nun wollen wir dir aber eine
Kiblah anweisen, die dir Zusagen wird: wende dein Angesicht nach
der heiligen Moschee (in Mekka), und wo ihr euch auch befindet,
wende,t euch in dieser Richtung. Die, denen die Schrift zuteil gewor-
den ist (die Juden), wissen wohl, daß es die Wahrheit ist . . . Und
doch werden sie, welchen Beweis du ihnen auch anführen mögest,
deine Kiblah nicht beherzigen wollen; darum weise auch du ihre
Kiblah zurück“ (Sura 2, i36—i4o). Im gleichen Jahre schaffte
Mohammed auch den Fasttag Aschura ab und ordnete statt dessen
ein Fasten am Tage der während der Wallfahrtszusammenkünfte in
Mekka stattfindenden Opferdarbringung an (späterhin ging dieses
Fasten in dem weihevollen Fastmonat Ramadhan spurlos auf). In
klarem Gegensatz zu den Juden und Christen setzte Mohammed für
die Araber den Freitag als allwöchentlichen Ruhetag (Dschumah) ein.
Von nun ab ist der Sinn Mohammeds, wie es einer der Geschichts-
schreiber des Islam treffend hervorhebt,, ganz darauf gerichtet, seine
Lehre — soweit dies ohne Beeinträchtigung des Grundprinzips von der
Einzigkeit Gottes und des Anspruchs des Mohammed selbst, als größ-
ter unter den Propheten zu gelten, überhaupt erreichbar war — mit den
Überlieferungen und Vorurteilen des alten Arabien möglichst in Ein-
klang zu bringen. So wird denn der Islam zur nationalen Religion
des arabischen Volkes.
397
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
§ 54. Die Kriege Mohammeds gegen die Juden (624—628)
Nach dem von Mohammed in der Schlacht bei Bedr über die
Heiden von Mekka errungenen Siege (624) entschloß er sich, auch
gegen die Juden energischer vorzugehen. Seiner Religion fortan durch
die Macht des „Schwertes Allahs“ Geltung verschaffend, glaubte er,
diese Propagandaart auch den unnachgiebigen „Verwahrern der.
Schrift“ gegenüber, die den Islam mit ihrer Autorität nicht decken
wollten, in Anwendung bringen zu müssen. Das herausfordernde Ver-
halten der Juden sogar nach dem den Muselmanen zuteil gewordenen
Siege entfachte in dem Herzen Mohammeds einen glühenden Rache-
durst. War es doch gerade ein jüdischer Dichter aus Medina, Kaab
ihn Aschraaf, der zum Andenken an die in der Schlacht bei Bedr ge-
fallenen Helden von Mekka ein Trauergedicht verfaßte, und auch jene
Dichterin Asma, die für die von ihr gegen den falschen Propheten
verfaßte Satire mit dem Leben büßen mußte, war ihrer Abstammung
nach eine Jüdin. Den arabischen Überlieferungen zufolge soll näm-
lich Mohammed im Kreise seiner Mitstreiter oder „Ansaren“ den
Wunsch geäußert haben, man möge ihm „dieses Weib vom Halse
schaffen“; schon in der folgenden Nacht schlich sich ein fanatischer
Muselman in ihr Schlaf gemach und erschlug sie auf ihrem Ruhe-
bette, während sie ihr Kind an der Brust nährte. In der gleichen
meuchlerischen Weise wurde ein ehrwürdiger jüdischer Greis Abu-
Afak umgebracht, der in einem Schreiben an die Einwohner von Me-
dina diese tadelte, weil sie sich dem Fremdling Mohammed gefügig
zeigten. Etwas später wurde von dem gleichen Lose auch Ibn-Aschraaf
ereilt.
Bald ging jedoch der rachsüchtige Prophet von vereinzelten Rache-
akten zum Massenmord über. Trunken von dem über die Ungläubigen
errungenen Siege, erschien er an einem Sabbattage in einer Ver-
sammlung der dem Geschlechte Kainuka angehörenden Juden von
Medina und forderte, daß sie seinen Sieg als Beweis für die Wahr-
heit des neuen Glaubens anerkennen sollten. Die Benu-Kainuka er-
widerten indessen: „Deine Erfolge in den Kämpfen mit den untüch-
tigen Kriegern sind dir zu Kopfe gestiegen, allein versuche nur, uns
zu nahe zu treten, so wirst du erfahren, wen du vor dir hast“. Der
zornentbrannte Mohammed zog darauf mit seinen Kriegerscharen ge-
gen die Benu-Kainuka aus und ließ ihr befestigtes Viertel in Medina
398
§ 54. Die Kriege Mohammeds gegen die Juden
umzingeln. Die Belagerten erhofften Beistand von seiten ihrer Glau-
bensgenossen aus den Stämmen Nadhir und Kuraisa sowie von den
heidnischen Arabern aus dem verbündeten Stamme Chazradsch, an
dessen Spitze der in Medina hochverehrte Älteste Abdallah ibn Ubai
stand; doch vermochten weder die einen noch die anderen rechtzeitig
zu Hilfe zu kommen. Nach einer vierzehntägigen Belagerung waren
die ausgehungerten Benu-Kainuka genötigt, sich zu ergeben. Den
Kriegsbräuchen der Araber folgend, schickte sich nun Mohammed
an, alle erwachsenen Männer zu erschlagen, Frauen und Kinder aber
als Sklaven zu verkaufen. Für die Unglücklichen setzte sich indessen
der einflußreiche Stammesfürst Ibn-Ubai ein und forderte die Be-
gnadigung der Besiegten; Mohammed ließ sich überreden und ließ
die Besiegten unter der Bedingung, daß sie die Waffen streckten und
Medina verließen, frei. Drei Tage später brachen die Benu-Kainuka
aus Medina auf. Ein Stück Wegs wanderten sie zu Fuß, doch bald
kamen ihnen ihre Glaubensbrüder aus den benachbarten Ortschaften
entgegen, um sie mit Nahrung und auch mit Kamelen zu versehen.
Die Vertriebenen verließen Arabien und wanderten nach Syrien aus;
hier ließen sie sich in dem Gebiet von Transjordanien, in der Land-
schaft Adraat (Edrei), nieder, in der Nachbarschaft der Perser, die
für kurze Zeit die Byzantiner aus Palästina vertrieben hatten (624).
Bald kam die Reihe auch an einen anderen in der Nähe von Me-
dina, südlich der Stadt lebenden jüdischen Stamm, an die Benu-
Nadhir. Es geschah dies bald nach der Niederlage der Muselmanen
in dem Gefecht bei Uchud, in dem Mohammed selbst kaum der Ge-
fahr entrann, von den Kriegern von Mekka ergriffen zu werden (62 5).
Die Nadhiriten hatten in diesem Kampfe ihren muselmanischen Mit-
bürgern nicht nur jede Waffenhilfe verweigert, sondern freuten sich
noch über deren Mißerfolg. Dies soll, wie man vermutet, den Pro-
pheten ganz außer Fassung gebracht haben. Er verlangte kurzerhand,
daß die Nadhiriten die von ihnen bewohnte befestigte Ortschaft samt
den Dattelpalmenpflanzungen verlassen und fortziehen sollten. Als
sich die Juden weigerten, dem Befehl nachzukommen, schritt Mo-
hammed zur Belagerung. Um ihnen das weitere Verbleiben in ihrer
Siedlung zu verleiden, gab er Befehl, die diese umgebenden Palmen-
pflanzungen, die Hauptquelle ihrer Ernährung, abzuholzen. Es be-
deutete dies eine Verletzung der arabischen Sitte, derzufolge die Dat-
telpalme, deren Früchte ein Hauptnahrungsmittel für das Volk waren,
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
nicht umgehauen werden durfte, um so mehr, als eine neugepflanzte
Palme erst nach einigen Jahren Früchte zu tragen beginnt. Nach die-
ser rücksichtslosen Verwüstung blieb den Nadhiriten keine andere
Wahl, als ihren angestammten Sitz zu verlassen. Es wurde ihnen al-
lerdings gestattet, mit Ausnahme der Waffen ihr Hab und Gut mit-
zunehmen. Die Vertriebenen wandten sich nach der zwanzig Meilen
nördlich von Medina gelegenen Stadt Chaibar, wo viele sich nieder-
ließen, während der Rest nach Transjordanien auswanderte, den Spu-
ren der Benu-Kainuka folgend. Aus Anlaß dieses Sieges und der Er-
oberung des fruchtbaren Landes verfaßte Mohammed eine besondere,
in den Koran auf genommene Sura (die 5gte), in der er seine Misse-
taten auf göttlichen Willen zurückführt: „Es preiset Allah, was im
Himmel und auf Erden ist. Er ist es, der die Ungläubigen unter den
Schriftbesitzern ihre Wohnstätten zu verlassen und sich den schon
früher Ausgewanderten zuzugesellen zwang. Ihr dachtet nicht, daß
sie auswandern würden, und sie selbst glaubten, ihre Festungen wür-
den sie gegen Allah beschützen. Aber Allah kam von einer ganz un-
erwarteten Seite und jagte ihren Herzen Schrecken ein. So wurden
denn ihre Häuser durch ihre eigenen Hände wie durch die der Gläu-
bigen verwüstet. Nehmet euch dies zum Beispiel, ihr Männer, die ihr
Augen habt . . . Wenn ihr auch dabei manche Dattelpalmen abge-
hauen habt . . ., so geschah dies auf Geheiß Allahs und um der
Schmach der Ungläubigen willen“.
Die Nadhiriten fanden sich indes mit ihrer Vertreibung nicht so
leicht ab. Diejenigen unter ihnen, die sich in Chaibar niedergelassen
hatten, knüpften Unterhandlungen mit den Führern der antimusel-
manischen Koalition in Mekka und an anderen Orten an, um Moham-
med mit vereinten Kräften entgegenzutreten. Zugleich suchten sie
auch ihre Glaubensgenossen aus dem Stamme Benu-Kuraisa, die in
ihrer befestigten Siedlung in der Nähe von Medina bislang noch un-
behelligt geblieben waren, für ihre Sache zu gewinnen. Die Kuraisiten
waren zunächst unschlüssig, weil sie den mit Mohammed geschlossenen
Vertrag nicht verletzen wollten, doch gelang es dem Anführer der
Nadhiriten, Choni ben Achtab, sie von der Gerechtigkeit der Sache
der Verbündeten zu überzeugen, und so schlossen sich denn auch die
Kuraisiten dem Bündnis an. Wieder einmal schwebten die Musel-
manen von Medina in großer Gefahr, da sie von den Verbündeten,
die die Stadt durch Aushungerung zu bezwingen gedachten, von allen
4oo
§ 54. Die Kriege Mohammeds gegen die Juden
Seiten umzingelt waren (der „Grabenkrieg“ vom Jahre 627); doch
bald kam es zu Zwistigkeiten unter den Belagernden, die ihren Fein-
den die Rettung brachten. Die Verbündeten traten plötzlich den
Rückzug an, und Mohammed erlangte wieder seine Bewegungsfrei-
heit. Nun ging er daran, die von ihm abgefallenen Kuraisiten exem-
plarisch zu bestrafen. Es galt, den letzten in Medina noch übrigge-
bliebenen jüdischen Stützpunkt zu zerstören, um die Stadt und ihre
Umgegend vor jeder Gefahr zu sichern. Auch diesmal säumte der
Engel Gabriel, der Mittler zwischen Gott und Mohammed, nicht, die-
sem zu Hilfe zu eilen, und ermunterte den Propheten zu einer neuen
Missetat. Die Muselmanen zogen gegen die Siedlung der Benu-Kuraisa
und schlossen sie ein. Wenn auch die Belagerten in ihrer Mitte einige
hundert verwegene Krieger zählten, die in offener Schlacht nicht
leicht zu überwältigen gewesen wären, so waren die Kuraisiten durch
den jähen Überfall doch so sehr überrascht, daß sie es versäumten,
ihre Ortschaft in Verteidigungszustand zu setzen und die nötigen Vor-
räte anzulegen, um eine längere Belagerung aushalten zu können. So
sahen sie sich denn schon nach vierzehn Tagen genötigt, sich den
Muselmanen zu ergeben. Sie rechneten darauf, daß man ihnen, gleich
ihren anderen Stammesgenossen, freien Durchzug gewähren würde;
darum baten Mohammed auch die ihnen freundlich gesinnten Araber
aus dem benachbarten Stamme der Ausiten. Mohammed sann aber auf
eine völlige Ausrottung der Juden. Da es ihm indessen nicht geboten
schien, seinen Plan gegen den Willen der muselmanischen Ausiten aus-
zuführen, überließ er die Entscheidung über das Los der Juden dem
Häuptling des Ausitenstammes, Saad ibn Muadh, der an einer bei der
Belagerung erhaltenen Wunde darniederlag und gegen alle Ungläu-
bigen aufs tiefste erbittert war. Saad tat nun den Spruch: Die Män-
ner sollen erschlagen, die Frauen und Kinder zu Sklaven gemacht
und ihr Hab und Gut unter den Rechtgläubigen aufgeteilt werden.
Der letzte Wille des Sterbenden gab dem Plane Mohammeds gleich-
sam die Weihe, und so wurde die blutige Tat ohne Säumen vollbracht.
Die Hinrichtungen der Verurteilten zogen sich einen ganzen Tag
lang hin: über 600 Juden wurden enthauptet und ihre Leichen
in den die Stadt umgebenden Graben geworfen. Dem Gemetzel
wohnte Mohammed persönlich bei, und sein Mitstreiter, der nach-
malige Kalif Ali, verrichtete mit eigener Hand die Henkersarbeit. Alle
Kuraisiten starben den Märtyrertod und nur ein einziger unter
26 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
4oi
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
ihnen erkaufte sein Leben durch den Übertritt zu dem Glauben
Mohammeds. Als Held starb auch der Anstifter des Aufstandes, Choni
ben Achtab, der noch an der Schwelle des Grabes unerschrocken Mo-
hammed als „falschen Propheten“ brandmarkte. Den Frauen und den
kleinen Kindern war das Sklavenlos beschieden. Ein schönes Mäd-
chen namens Rihana nahm Mohammed, nachdem er sie zwangs-
weise zum Islam bekehrt hatte, in seinen Harem. Alle diese Schand-
taten erhalten im Koran die Weihe Allahs: „Er (Allah) zwang die-
jenigen aus dem Volke der Schrift, die ihnen (den Verbündeten) Bei-
stand leisteten, ihre festen Plätze zu verlassen und ließ ihre Herzen
vor Schrecken erbeben. Einen Teil von ihnen habt ihr niedergemacht,
einen anderen gefangen genommen. Er hat euch ihr Land, ihre Wohn-
stätten und ihre Habe zum Erbteil gegeben, und eine Gegend, die
ihr früher nie betreten, ist in eure Hände gefallen, denn Allah ist
der Herr der Welt“ (Sura 33, 26—27).
Nachdem die im Bezirk von Medina bestehenden jüdischen Haupt-
gemeinden zerstört worden waren und dort nur noch vereinzelte Grup-
pen von Juden übrigblieben, wandte sich Mohammed gegen die große
jüdische Gemeinde von Ghaibar, die die Kuraisiten zu ihrem Auf-
stande angestiftet hatte und nunmehr selbst der antimuselmanischen
Koalition beizutreten gedachte. Zunächst gelang es Mohammed, einen
der einflußreichsten Führer der Koalition, den in Ghaibar wohn-
haften Juden Abu-Bafi, durch Meuchelmord aus dem Wege zu räu-
men. Darauf befahl er, einen anderen Führer, Usair, mitsamt dreißig
seiner Freunde unter dem Vorwand, Friedensverhandlungen mit ihnen
anknüpfen zu wollen, nach Medina zu locken; doch wurden die Frie-
densboten schon unterwegs von dem muselmanischen Schutzgeleite
bis auf einen, dem es zu entkommen gelang, meuchlings niederge-
macht. Nunmehr begann der offene Krieg gegen Chaibar. Diese von
vielen wohlhabenden Juden bewohnte Stadt lockte die Streiter des
Islam namentlich durch die ihnen dort winkende reiche Beute, und
so zog denn Mohammed im Frühling des Jahres 628 an der Spitze
seines Heeres gegen Chaibar ins Feld. Zur Abwehr der drohenden Ge-
fahr riefen die Einwohner von Chaibar die ihnen benachbarten Be-
duinen aus dem Stamme Ghatafan zu Hilfe, die man schon früher
für die antimuselmanische Koalition zu gewinnen gesucht hatte; al-
lein ehe noch die erwarteten Hilfstruppen eingetroffen waren, ge-
lang es dem Heere Mohammeds, die Stadt zu umzingeln. Allerdings
4-02
§ 54. Die Kriege Mohammeds gegen die Juden
hätten die Beduinen, die in offener Schlacht zu kämpfen gewohnt
waren, den Juden, die den Angriff in ihren Bergfesten abzuwehren
hatten, wohl auch nur wenig helfen können. Es begann nun der ver-
zweifelte Kampf der Juden von Ghaibar gegen die muselmanische
Übermacht, die dazu noch von so erfahrenen Feldherren befehligt
wurde, wie die bald als Welteroberer berühmt gewordenen nachmali-
gen Kalifen Abu-Bekr, Omar und Ali. Auch die Juden hatten
freilich tapfere Streiter in ihrer Mitte: den Nadhiritenhäuptling Kai-
nana, den heldenhaften Marhab sowie dessen Brüder. Mit Todesver-
achtung unternahmen sie Ausfälle aus der belagerten Stadt, forderten
die Feinde zum Zweikampf heraus (in einem dieser Zweikämpfe fiel
auch Marhab), und doch war das Verhängnis von der jüdischen Stadt
nicht mehr abzuwenden. Den Muselmanen gelang es, in eines der
Festungswerke einzudringen, und bald darauf ergaben sich auch die
übrigen Festen und Türme. Nach der Einnahme der Stadt stürzten
sich die Sieger zuerst auf die Beute; Mohammed befahl den Juden,
ihr ganzes Hab und Gut auszuliefern; der jüdische Anführer Kainana,
aus dem man Näheres über die verborgenen Schätze herauspressen
wollte, wurde gefoltert und sodann hingerichtet. Diese Hinrichtung
geschah Mohammed selbst zu Gefallen, da dieser auf das schöne Weib
des jüdischen Helden, auf die junge Safija, sein Auge geworfen
hatte. Bald nach der Hinrichtung ihres Gatten nahm sie der Prophet
denn auch in seinen Harem auf. Diesmal verzichtete der Führer der
Muselmanen auf die restlose Ausrottung der Besiegten und begnügte
sich damit, sie zu Leibeigenen zu machen. Er gestattete den Juden,
in Ghaibar zu bleiben, verpflichtete sie aber, die Hälfte des von ihren
Pflanzungen eingebrachten Ertrages den muselmanischen Behörden,
d. h. dem Propheten selbst, zur Verfügung zu stellen. Auch die unter-
worfenen Einwohner der benachbarten jüdischen Siedlungen Fadak
und Wadi-al-Kora wurden, nachdem ihnen der gleiche schwere Tri-
but auferlegt worden war, an ihren alten Wohnstätten belassen. Die-
sen Bedingungen mußte sich sogar die weitab liegende Gemeinde
von Taima fügen (628).
Es fand sich eine mutige Jüdin, die an dem Feinde ihres Volkes
für alle den Juden zugefügten Leiden Rache zu nehmen versuchte.
Die junge Sainab, die Gattin eines der gefallenen Helden von Ghai-
bar, bereitete nämlich für Mohammed sein Leibgericht, einen Ham-
melbraten, zu und setzte ihm diesen vor. Das Fleisch war aber vorher
26*
4o3
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
von ihr vergiftet worden, so daß einer der Tischgenossen des Prophe-
ten, der von dem Braten gegessen hatte, daran starb. Mohammed spie
jedoch den vergifteten Bissen rechtzeitig aus und entging so dem
sicheren Tode. Als er darauf Sainab nach dem Grund ihrer Tat be-
fragte, sprach sie: „Du hast meinem Volke unsägliche Leiden zuge-
fügt und nun dachte ich bei mir: bist du nur ein gewöhnlicher Er-
oberer, so werde ich, indem ich dich vergifte, meinem Volke Ruhe
verschaffen; bist du aber ein Prophet, so wird dich Gott vor meinem
Vorhaben warnen und du wirst unversehrt bleiben“. Mohammed gab
sie kurzerhand dem Tode preis. Noch lange spürte er die Wirkung
des gräßlichen Giftes und glaubte einige Jahre später auf seinem
Sterbelager, sogar seine tödliche Krankheit dieser Vergiftung zuschrei-
ben zu müssen.
Der Kampf Mohammeds gegen die Juden Arabiens hatte somit
628, in diesem für ihre palästinensischen Brüder so verhängnisvollen
Jahre der Wiederherstellung der byzantinischen Herrschaft in Jeru-
salem, sein Ende erreicht. In den letzten Jahren seines Lebens
herrschte Mohammed in Mekka ebenso uneingeschränkt wie ehedem
in Medina. Der Islam triumphierte in ganz Arabien und so konnte
dessen Schöpfer vor seinem im Jahre 632 erfolgten Tode mit gutem
Recht behaupten, daß er seine Mission erfüllt habe. Er hat sie er-
füllt, indem er sich dabei der Mittel bediente, wie sie eben dem da-
maligen Kulturzustand der Araber entsprachen. Sein Verhalten gegen
die Juden ist nur einer der vielen Flecke, die an seinem Anden-
ken haften. Seine Feindseligkeit ihnen gegenüber verewigte er im
Koran in einer ganzen Reihe polemischer Aussprüche. Trotzdem er
die Idee des Monotheismus den Juden verdankte, scheute sich Mo-
hammed später nicht, Zweifel an der Echtheit des jüdischen Mono-
theismus laut werden zu lassen. Er behauptete, sei es aus Unwissen-
heit oder in bewußter Irreführung, Esra (Osair) gelte den Ju-
den als Gottessohn, ebenso wie Jesus den Christen, wodurch er den
Vernichtungskrieg gegen die Juden als die Feinde Allahs zu recht-
fertigen suchte (Sura 9, 3o). „Oh, ihr Gläubigen — so ruft er aus —
pflegt doch keine Freundschaft mit den Juden und den Christen!
Mögen sie nur miteinander in Freundschaft leben. Wer von euch mit
ihnen Freundschaft schließen wird, der wird auch einer der ihrigen
werden“ (Sura 5, 56). Diese und ähnliche im Koran gesammelte Aus-
sprüche waren später der geeignete Nährboden für den muselmani-
4o4
§ 55. Die ersten Kalifen
sehen Fanatismus. Die arabischen Juden hatten ein richtiges Vorge-
fühl, als sie, ungeachtet des von Mohammed gepredigten Monotheis-
mus, mit aller Entschlossenheit gegen den „Propheten“ ankämpften.
Hatten sie doch einen Prediger der Religion des Schwertes vor sich,
die den Andersgläubigen gewaltsam auf gezwungen wurde; vernahmen
sie doch die Reden eines nicht berufenen Propheten, der nicht zum
Frieden, sondern zu Krieg und Gewalttaten aufrief, eines Glaubens-
stifters, dessen Hände mit Blut besudelt waren und der voll wilder
Begierden und Leidenschaften war. Und doch vermochten sie die
ferne Zukunft nicht vorauszusehen. Sobald das Schwert des Islam
das ganze heidnische Morgenland unter seine Gewalt gebracht haben
wird und die Religionskriege ein Ende genommen haben werden,
kommt auf den ehemaligen Schlachtfeldern eine friedliche Kultur
zur Entfaltung, an deren Pflege sich Muselmanen und Juden mit
vereinten Kräften beteiligen.
§ 55. Palästina und Babylonien unter den ersten Kalifen
(638-660)
Gleich nach dem Tode Mohammeds (632) ergoß sich aus Arabien
in die Nachbarländer eine Flut von Kriegern des Islam, die die ge-
samte religiöse und politische Verfassung Vorderasiens und Nord-
afrikas umstürzte. Überall ertönte der donnernde Schlachtruf der
siegreichen Araber: „Es gibt keinen Gott außer Allah und Moham-
med ist der Gesandte Allahs!“ In Übereinstimmung mit dem Ver-
mächtnis seines Schöpfers sollte dem Islam durch die Gewalt des
Schwertes der Weg gebahnt werden. Der „heilige Krieg“ bedeutete
dem Muselmanen eine religiöse Pflicht, deren Erfüllung ihm um so
mehr Zusagen mußte, als sie schon hienieden durch reiche Beute be-
lohnt wurde, im Himmel aber das mohammedanische Paradies in der
Form eines wundervollen Harems verhieß. Das Korangebot, demzu-
folge die „Ungläubigen“ entweder ausgerottet oder mit hartem Tribut
belegt werden sollten, begeisterte in gleicher Weise Fanatiker des
Glaubens wie auf Beute ausgehende Abenteurer. Der Islam rief in
den Arabern einen ungeheuren Expansionsdrang wach und verwan-
delte den umherstreifenden Beduinen in einen Eroberer. Die Streiter
des Islam, die mit Überfällen auf die benachbarten Landgebiete be-
gonnen hatten, machten schließlich, gleich wie neun Jahrhunderte
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
früher unter Alexander von Macedonien die Griechen, das ganze Mor-
genland ihrer Gewalt untertan. Hatten die Griechen nach dem Orient
die Kultur des Okzidents getragen, so leiteten die Araber den rück-
läufigen Prozeß der Orientalisierung des einstmals hellenisierten Mor-
genlandes ein. Vor dem Ansturm der neuen Eroberer erbebten die
beiden in ihren Grundfesten bereits erschütterten Reiche, Persien und
Byzanz, die erst vor kurzem durch den langwierigen Krieg Chosrois II.
mit Heraklius geschwächt worden waren (§ 89). So vermochten denn
im Laufe von nur zwei Jahrzehnten die ersten arabischen Kalifen (die
Statthalter ödes: Nachfolger Mohammeds), Abu-Bekr, Omar und Oth-
man (632—656), nach der Bezwingung der Provinz Babylonien auch
fast das ganze übrige Persien zu erobern und zugleich dem byzantini-
schen Reiche Syrien, Palästina, Ägypten und das nordafrikanische
Küstengebiet zu entreißen.
Die Eroberung Palästinas durch die muselmanischen Feldherren
nahm einige Jahre in Anspruch (634—64o). Sie begann unter dem
Kalifen Omar, dem hervorragendsten Organisator des Islam nach Mo-
hammed, und wurde noch unter seiner Herrschaft zu Ende geführt.
Was mochten wohl die Juden bei dem Eindringen der Muselmanen in
das eben erst durch den persisch-byzantinischen Krieg erschütterte
Land empfunden haben? Erhofften sie eine Verbesserung ihres
Loses von den neuen Eroberern oder hatten sie durch die nach Trans-
jordanien übergesiedelten Verbannten aus Medina von dem traurigen
Geschick der in Arabien selbst ansässigen Juden bereits Kunde erhal-
ten? Die Frage ist nicht leicht zu entscheiden, da die Geschichte der
Eroberung Syriens und Palästinas durch die Araber in ein undurch-
dringliches Dunkel gehüllt ist. Das Eroberungswerk wurde mit ra-
schem Zugriff zu Ende geführt, und seine Einzelheiten sind uns von
den Zeitgenossen nicht überliefert worden. Scheidet man aus dem
Wust der muselmanischen Legenden das geschichtlich Zuverlässige
aus, so gewinnt man die folgende allgemeine Übersicht über den Gang
der Eroberung. Im Jahre 634, als nach dem Tode des Abu-Bekr die
Würde des Kalifen der Rechtgläubigen an Omar ben Katab (634 bis
644) über gegangen war, drangen die muselmanischen Truppen gleich-
zeitig von zwei Seiten her in Palästina ein: von Süden, dem am
Roten Meer gelegenen Akaba her, in Judäa, und von Norden, durch
das syrische Gebiet am Libanon und durch Phönizien, in Galiläa. In
beiden Teilen Palästinas, im Ersten und im Zweiten Palästina (wie
4o6
diese Verwaltungsbezirke in der Amtssprache der Byzantiner genannt
wurden), spielten sich im Laufe von sechs Jahren Kämpfe zwischen
den Arabern und der Heeresmacht des Kaisers Heraklius ab. Die
Städte fielen bald den einen, bald den anderen in die Hand. Allein
schon im Jahre 638 war nahezu das ganze westliche Palästina mit
Ausnahme eines Teiles des Küstenstriches fest in den Händen der
Araber, so die Städte: Jerusalem, Lydda, Jamnia (Jabne), Sichem-
Neapolis, Samaria-Sebaste, Beisan (Skythopolis), Tiberias (Tabaria),
Zippora (Saffuria) und von den Häfen: Gaza, Jaffa, Akko und Ty-
rus. Noch hielt sich die Residenz der byzantinischen Statthalter, Cae-
sarea am Meere, aber auch diese Stadt mußte sich im Jahre 64o er-
geben. Einer der arabischen Chronisten (al-Beladhori) erzählt, daß
Caesarea, in dem viele Juden und Samaritaner wohnten, den Arabern
von einem Juden namens Jussuf in die Hände gespielt wurde. Dieser
habe sich während der Belagerung in das feindliche Lager geschlichen
und die Muselmanen durch einen unterirdischen Gang in die Stadt
geführt. Plötzlich tauchte das Heer des Muawija, die muselmanische
Hymne „Groß ist Allah!“ (tekbir) singend, mitten in der Stadt auf.
An und für sich mag diese Erzählung durchaus glaubwürdig erschei-
nen: die von den Byzantinern hart bedrängten Juden hatten keinen
Grund, größeren Patriotismus an den Tag zu legen als die palä-
stinensischen Christen, die an manchen Orten (in Damaskus und auch
sonst) bei der Rückeroberung einer von den Arabern besetzten Stadt
durch die Byzantiner ihre Trauer nicht zu unterdrücken vermochten.
Doch ist das Zeugnis der arabischen Chronisten in solchen Dingen
überhaupt unzuverlässig, während uns sonstige, von Zeitgenossen her-
rührende Nachrichten fast gänzlich fehlen. Über die Einnahme Jeru-
salems haben sich zwar einige verworrene Legenden sowohl bei den
Muselmanen als auch bei den Christen erhalten, doch fehlt es an
jüdischen Nachrichten, um darüber urteilen zu können, in welchem
Maße diese Erzählungen auf Wahrheit beruhen. Auf Grund der vor-
liegenden Quellen scheint die Einnahme Jerusalems in folgender
Weise vor sich gegangen zu sein.
Vom Jahre 636 an machten die Truppen der hervorragenden mu-
selmanischen Feldherren Amr und Abu-Ubaida mehrmals den Ver-
such, die Stadt zu überwältigen. Im Jahre 638 mußte sie sich schließ-
lich ergeben. Nunmehr traf aus Syrien der Kalif Omar selbst in Jeru-
salem ein, der schon längst die Unterwerfung der heiligen Stadt
407
Die ersten Kalifen
55.
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
zweier Religionen („al-Kuds“ bei den Arabern) plante, um so aller
Welt den Beweis für die Wahrhaftigkeit der neuen, dritten Religion
vor Augen zu führen1). Bis dahin waltete in Jerusalem jener byzan-
tinische Klerus, der neun Jahre früher dem Kaiser Heraklius bei der
Vollführung seiner Heldentat, der Vernichtung der Juden, den Segen
der Kirche erteilt hatte. Bei der Besetzung scheinen in der Stadt keine
Juden mehr gewesen zu sein, so daß die Araber dort nur eine christ-
liche Bevölkerung vorfanden* 2). Nach der Einnahme Jerusalems durch
die Araber zog Omar auf einem Kamel in die Stadt ein und verrichtete
vor allem ein Gebet, wobei er unter anderem den Anfang der Sura
„An die Israeliten“ (Sura 17) vorlas, in der von der phantastischen
nächtlichen Reise Mohammeds aus Mekka nach einer Jerusalemer
Moschee die Rede ist. Darauf berief er einen zum Islam übergetrete-
nen Juden mit Namen Kaab und fragte ihn: Wo rätst du uns eine
Weihestätte (Mesged, Moschee) zu errichten? Kaab wies auf den Fel-
sen Sachra hin, wo ehemals der jüdische Tempel stand, und gab zu-
gleich den Rat, man solle sich beim Gebet mit dem Angesicht nach
dieser Richtung wenden. Omar warf ihm seine Neigung zum Juden-
tum vor und bestätigte erneut das die „Kiblah“ in der Richtung nach
Mekka betreffende Vermächtnis Mohammeds. Die für die Errichtung
der Moschee gewählte Anhöhe erwies sich als ein aus den Trümmern
des Jerusalemer Tempels bestehender Schutthaufen. Kaab erklärte
nun Omar, daß die Juden, als sie Jerusalem wiedererlangten (gemeint
ist anscheinend der Sieg der Perser im Jahre 614), nicht dazu kamen,
diese Stätte von Unrat zu säubern, da sie ihnen bald darauf von den
„Rumern“ wieder weggenommen wurde. Ein christlicher Chronist
(der alexandrinische Bischof aus dem X. Jahrhundert, Eutychius)
erzählt seinerseits, daß dem Kalifen Omar bei seinem Einzug in Je-
rusalem der dortige christliche Patriarch Sophronius entgegenkam.
Der Kalif verlangte, daß der Patriarch ihm einen Platz zur Errich-
x) Neben den Bezeichnungen al-Kuds, al-Makdis, Beth-al-Mukaddas (heilige
Stadt, Haus des Heiligtums) kommt bei den arabischen Chronisten noch die heid-
nische Bezeichnung für Jerusalem — Ilia, d. h. Aelia Capitolina, vor, die die
Araber nach alter Gewohnheit auch in der späteren byzantinischen Zeit zu ge-
brauchen pflegten.
2) Einer der arabischen Chronisten, Tabari, führt allerdings eine Sage an,
derzufolge den Kalifen Omar bei dessen Einzug in Jerusalem auch ein Jude
bewillkommnet hätte. Aus dieser dunklen Legende können über das Zurückbleiben
von Juden in Jerusalem auch nach der im Jahre 629 angeordneten Vertreibung
jedoch keinerlei Schlüsse gezogen werden.
4o8
§ 55. Die ersten Kalifen
tung einer Moschee verschaffe. Sophronius erwiderte: „Gebieter der
Gläubigen, ich werde dir einen Platz zeigen, auf dem du die Moschee
erbauen wirst, einen Platz, den die griechischen Könige nicht bebauen
konnten: es ist dies jener Felsen, auf dem Gott mit Jakob sprach,
und Jakob nannte ihn ,Pforte des Himmels4, die Israeliten aber
,Allerheiligstes4. Er erhebt sich im Mittelpunkt der Erde und war
den Israeliten ein Heiligtum; in ihrer Verehrung wandten sie ihm,
wo sie sich auch befinden mochten, ihr Angesicht zu44. Der christ-
liche Chronist fügt erläuternd hinzu, der Ort Sachra sei schon um
die Zeit, als die Königin Helene, die Mutter Konstantins des Großen,
in Jerusalem Kirchen baute, eine Trümmerstätte gewesen; die Byzan-
tiner hätten nämlich den ehemaligen Tempelplatz mit Absicht in sei-
ner Verwahrlosung liegen lassen und sogar noch Abfälle auf ihn ge-
worfen, so daß sich dort ein großer Schutthaufen bildete. „Die Rumer
vernachlässigten den Platz, verehrten ihn nicht, wie es die Israeliten
getan hatten, und bauten keine Kirchen darauf, denn unser Herr
Jesus, der Messias, sprach im heiligen Evangelium: ,Siehe, euer Haus
soll euch wüst gelassen werden4. Und er sagte noch: ,Nicht ein Stein
wird auf dem anderen bleiben, der nicht zerbrochen werde4. Darum
eben ließen die Christen Sachra (den Felsen) verödet dastehen und
unterließen es, Kirchen darauf zu bauen44. Nach dieser bezeichnenden
Erläuterung berichtet der Chronist des weiteren, daß der Patriarch
Sophronius Omar bei der Hand genommen und ihn auf den den heili-
gen Ort bedeckenden Schutthaufen gestellt habe. Omar soll darauf
eine Handvoll Schutt in den Schoß seines Gewandes genommen und
ihn in das Tal Dekehanama (Ge-hinnom) geworfen haben; seinem
Beispiel folgten alle Muselmanen, und bald war der Hügel vom Schutt
der Jahrhunderte gesäubert An diesem Ort oder in seiner Nähe habe
dann Omar eine Moschee errichtet, die später unter dem Namen
Aksa-Moschee berühmt geworden ist.
Aus allen diesen Erzählungen ist zu schließen, daß Omar in der
Tat in Jerusalem den Grundstein zu einer Moschee gelegt hat, die
den Triumph des Islam in der ehemaligen Metropole des Judentums
und des Christentums darstellen sollte. Es ist wohl möglich, daß der
griechische Patriarch den Muselmanen wirklich für die Errichtung
einer Moschee jenen bei den Christen verrufenen Ort empfohlen hat,
an dem sich einst der Überlieferung zufolge der Jerusalemer Tempel
erhob. Der arglistige Byzantiner wollte vielleicht auf diese Weise
409
Entstehung des Islam and das Omajaden-Kalifat
sowohl die Spuren des noch von Jesus dem Verderben geweihten
Tempels endgültig verwischen, als auch die zu erbauende Moschee
durch die Verkettung ihres Loses mit der unheilvollen Stätte der Ver-
nichtungsgefahr aussetzen (die letzte Katastrophe erfolgte, wie die
Kirchenväter glaubten, bei dem Restaurationsversuch des Julian Apo-
stata). Was aber die Muselmanen betrifft, so legten sie aus Verehrung
für die Stätte des ehemaligen jüdischen Heiligtums allen Wert dar-
auf, ihren Tempel gerade dort zu errichten. Ob nun die Moschee des
Omar auch tatsächlich an dem Orte des ehemaligen Beth-ha’mikdasch
erbaut wurde, bleibt noch immer umstritten. Die zuerst erbaute Mo-
schee wird wohl auf einer anderen Stelle des Tempelberges errichtet
worden sein, nämlich auf den Ruinen der Festungsmauer, wo die
jüdischen Pilger, die sich in die ihnen verschlossene Stadt einzuschlei-
chen vermocht hatten, die Zerstörung ihrer Heimat betrauerten. Bei
der Übergabe Jerusalems an Omar sollen die Christen mit dem Patri-
archen Sophronius an der Spitze die Bedingung gestellt haben, daß
den Juden der Aufenthalt in der heiligen Stadt nach wie vor unter-
sagt bleibe. Der arabische Chronist berichtet, dieses Verbot sei sogar
in die Kapitulationsurkunde aufgenommen worden, doch bezeugen
die erhaltengebliebenen jüdischen Überlieferungen, daß den Juden
unmittelbar nach der Ablösung der Macht Edoms durch die Ismaels
der Aufenthalt in Jerusalem nicht mehr verwehrt wurde. Dieser Wi-
derspruch läßt sich nur durch die Vermutung beheben, daß nach
der Besetzung der Stadt durch die Araber die erwähnte Kapitulations-
bedingung nicht eingehalten wurde, da auch die Juden es wohl nicht
versäumt hatten, den Eroberern, von denen sie eine Verbesserung
ihres Loses erhofften, manche Dienste zu erweisen. Nach der Über-
lieferung sollen die Araber den Juden zur Veranstaltung von An-
dachtsversammlungen an den Feiertagen sogar einen Platz auf dem
Ölberg überlassen haben1).
!) Das Zeugnis des arabischen Chronisten aus dem X. Jahrhundert, Tabari,
wird durch das seines Zeitgenossen, des karäischen Schriftstellers Salmon ben
Jerucham, insbesondere aber durch ein in der Genisa neu auf gefundenes Schrift-
stück aus dem XI. Jahrhundert bekräftigt, in dem die Nachricht überliefert wird,
daß die Juden von den arabischen Eroberern die Genehmigung erhalten hätten,
ihre Andacht an den heiligen Stätten unbehindert zu verrichten. S. Mann, The
Jews in Egypt and Palestine under the Fatimid Caliphs, vol. I, 43— 4.7 (Oxford
1920). Jedenfalls pflegten die Juden zu Beginn des X. Jahrhunderts Andachtsver-
sammlungen auf dem Ölberg zu veranstalten, wie dies durch andere aus der Genisa
stammende Urkunden hinlänglich bezeugt ist.
4io
§ 55. Die ersten Kalifen
Mit dem Namen des zweiten Kalifen verbindet die Überlieferung
den berühmten „Omarpakt“, in dem die Bedingungen für den Aufent-
halt Andersgläubiger in den von Muselmanen eroberten Ländern fest-
gelegt sind. Die Bestimmungen des Vertrages, der zuerst angeblich
mit der christlichen Bevölkerung Jerusalems abgeschlossen worden ist,
sollen hernach auf alle vom Kalifat beherrschten Länder ausgedehnt
worden sein. Diesen Bestimmungen gemäß war es den Andersgläu-
bigen untersagt, neue Tempel zu erbauen, den Gottesdienst öffent-
lich zu verrichten, feierliche Leichenbegängnisse zu veranstalten, fer-
ner die bei den Muselmanen übliche Tracht anzulegen, auf Rossen
zu reiten und Waffen bei sich zu tragen; darüber hinaus waren sie
verpflichtet, muselmanische Wanderer drei Tage lang in ihren Häu-
sern zu beherbergen. Unter der Voraussetzung, daß die Christen und
Juden alle diese Bedingungen einhalten und daß sie insbesondere die
ihnen auferlegten Steuern pünktlich entrichten, war auch ihnen
der Schutz der muselmanischen Behörden durchaus verbürgt. Die wis-
senschaftliche Forschung hat jedoch erwiesen, daß diese die Rechts-
stellung der Andersgläubigen einengenden Gesetze, die die Überlie-
ferung dem Kalifen Omar zuschreibt, in Wirklichkeit erst später von
verschiedenen fanatischen Kalifen erlassen worden und gleich den
mittelalterlichen Kirchengesetzen, statt sich in der Praxis auszuwir-
ken, mehr auf dem Papier geblieben sind. Fest steht nur, daß unter
Omar I. die Grundlage für die die Andersgläubigen betreffende mu-
selmanische Gesetzgebung geschaffen worden ist, die sich dann im
Laufe von Jahrhunderten weiter entwickelt hat. Dieses allen späteren
Rechtsbeschränkungen zugrunde gelegte Prinzip bestand darin, daß
die „Ungläubigen“ als den Muselmanen tributpflichtig gelten und
nur bei Entrichtung einer besonderen Steuer den Schutz des Ge-
setzes genießen sollten. Die sich darauf beziehende Sura des Koran
(9, 29) lautet: „Bekämpft die, denen die Schrift gegeben ist, wenn
sie nicht an Allah und an den Tag des Jüngsten Gerichts glauben,
wenn sie das nicht als verboten erachten, was von Allah und seinem
Sendboten verboten worden ist, wenn sie die wahre Religion nicht
anerkennen wollen — es sei denn, daß sie die Kopfsteuer mit der
Hand (eigenhändig) und demutsvoll entrichten“. Bei der Unterwer-
fung Asiens und Afrikas haben sich denn auch die ersten siegreichen
Kalifen von diesem Vermächtnis des Propheten in jeder Weise lei-
ten lassen. Den „Besiegten“ wurden auf Grund des Kriegsbeute-
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
rechts alles Maß übersteigende Steuern abgefordert. Soweit die Be-
völkerung die beiden Hauptsteuerarten: die allgemeine Kopf- und
Grundsteuer („dschizja“ und „charadsch“) pünktlich entrichtete, ver-
hielten sich die muselmanischen Behörden den Andersgläubigen gegen-
über wie Schutzherren gegen geduldete Schutzbefohlene (dhimma).
Diese hohen und in rücksichtslosester Weise eingetriebenen Abgaben
trugen dem neuen muselmanischen Reiche riesengroße Summen ein,
so daß Omar zu ihrer Verwaltung ein besonderes Finanzamt (den
„Divan“) schuf.
Wenn Omar in den eroberten Gebieten von Byzanz und Persien
den Juden und Christen so seinen Schutz, wenn auch nur bedin-
gungsweise, angedeihen ließ, hielt er es indessen für durchaus un-
angebracht, sie im „Lande des rechten Glaubens“, in Arabien, noch
weiter zu dulden. Die bereits von Mohammed eingeleitete Ausweisung
der Juden aus dem Bezirk von Medina war bekanntlich nicht zu
Ende geführt worden, da es der Prophet selbst war, der bei der Ein-
nahme von Chaibar dessen jüdische Einwohnerschaft dort belassen
hatte. Die gleiche Genehmigung wurde auch den christlichen Einwoh-
nern der Stadt Nedschran in Südarabien zuteil. Omar war jedoch
der Meinung, daß nach der Ausdehnung der muselmanischen Herr-
schaft auf Mesopotamien und Syro-Palästina die Urheimat des Islam
Ungläubige nicht mehr beherbergen dürfe: Arabien sollte sich in ein
rein muselmanisches Land verwandeln. So gab er denn Befehl, die
Juden aus Chaibar und den angrenzenden Ortschaften auszuweisen,
indem er ihnen als neues Siedlungsgebiet Syrien anwies (um 64o).
Auf die Eroberung Syriens und Palästinas folgte die Unterwerfung
Ägyptens, gegen das sich die arabischen Truppen unter Anführung
des Amr auf dem Wege über El-Arisch wandten. Im Jahre 641
bezwangen sie die einstmals so ruhmreiche hellenisch-jüdische Metro-
pole Alexandrien. Der byzantinische Statthalter, der christliche Patri-
arch und ein beträchtlicher Teil der griechischen Bevölkerung wan-
derten nach Konstantinopel aus. In den bei der Übergabe der Stadt
zwischen Griechen und Arabern geschlossenen Kapitulationsvertrag
war die Bestimmung auf genommen worden, daß die Juden in Alexan-
drien weiter verbleiben dürfen, wohl um sie zur Zahlung des von den
Eroberern geforderten Tributes heranziehen zu können. Den Berich-
ten der muselmanischen Schriftsteller zufolge waren in Alexandrien
damals noch 4o ooo Juden geblieben, während an 70000 vor der
4i2
§ 55. Die ersten Kalifen
arabischen Invasion geflüchtet sein sollen, eine Zahl, die nach der
langen Herrschaft der Byzantiner, die das jüdische Kulturzentrum
ebenso wie die klassische hellenistische Kultur in dieser Stadt zer-
stört hatten, wenig glaubwürdig erscheint (Die Sage von der Ein-
äscherung der alexandrinischen Bibliothek durch Omar entspricht
nicht den Tatsachen: schon lange vor den Fanatikern des Islam ver-
standen sich die Fanatiker der Kirche von der Art des Bischofs Cy-
rill sehr wohl auf ähnliche Z er stör ungs werke.) Gleich nach der Be-
gründung der arabischen Herrschaft in Alexandrien ging es seiner
Bedeutung als Verwaltungszentrum verlustig; die Residenz des musel-
manischen Statthalters wurde die neuerbaute Stadt Fostat (Alt-Kairo),
wo sich späterhin eine bedeutende jüdische Gemeinde bildete.
Die muselmanischen Eroberungen zeitigten besonders schwerwie-
gende Folgen für die großen jüdischen Zentren in Babylonien. Gute
Dienste erwies hier den Eroberern der in das persische Reich schon
längst hineingetriebene arabische Keil, der Randstaat der Freischärler
Hira. Den in das Land eingedrungenen Muselmanen wurde von den
Juden und den chaldäischen Christen, die in den letzten Jahrhunder-
ten der Sassanidenherrschaft manchen Verfolgungen ausgesetzt waren,
keinerlei Widerstand geleistet. Die in Persien nach Chosroi II. ein-
getretenen dynastischen Wirren beschleunigten den Untergang des
Staates. In verhältnismäßig kurzer Zeit (633—638) gelang es dem
arabischen Feldherrn Chalid, der später den Prunknamen „Saif Allah“
(Schwert Gottes) erhielt, sowie den anderen Befehlshabern des Omar
ganz Babylonien zu bezwingen. Nachdem die persische Hauptstadt
Ktesiphon, aus der der letzte der Sassaniden, Jesdegerd III., fliehen
mußte, gefallen war (637), wurde im Laufe einiger Jahre, unter dem
Kalifen Omar und unter dessen Nachfolger Othman (644—656), nach
und nach auch das übrige Persien erobert. Zur Hauptstadt Baby-
loniens, das fortan den arabischen Namen Irak trägt, wird jetzt die in
der Nähe der Ruinen des alten Babylon gelegene Stadt Kufa. Hierher
verlegte der vierte auf Mohammed folgende Kalif Ali (656—661)
seine Residenz. Unter ihm scheint die Aufrichtung des durch den
Krieg in Mitleidenschaft gezogenen jüdischen Zentrums in Babylonien
erneut in Angriff genommen worden zu sein. Das bei den Musel-
manen geltende Prinzip, wonach den Andersgläubigen als Äquivalent
für besondere Steuerleistungen ihre religiöse Freiheit zugesichert zu
werden pflegte, erwies sich für die Autonomie der jüdischen und
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
christlichen Gemeinden des Irak als überaus günstig. So räumte denn
auch Omar den christlichen Gemeinden autonome Verwaltung mit
einem Patriarchen oder „Katholikos“ an der Spitze ein, und auch die
jüdischen Gemeinden durften sich unter der Oberleitung ihres Exil-
archen zu einem Verband zusammenschließen. Von der Wiedergeburt
des gegen Ende der persischen Herrschaft in Verfall geratenen Exil-
archats haben sich im jüdischen Schrifttum Überlieferungen in ver-
schiedenen Versionen erhalten, aus deren Konfrontierung sich das
folgende geschichtliche Bild ergibt:
Zur Zeit der Eroberung Persiens durch die Araber unter dem Ka-
lifen Omar lebte in Babylonien der jugendliche Erbe der Exilarchen-
würde namens Bostanai, der bei den neuen Machthabern die Bestäti-
gung seiner Würde zu erlangen suchte. Der Kalif kam nicht nur sei-
nem Wunsche nach, sondern gab Bostanai sogar eine der von den
Arabern gefangengenommenen Prinzessinnen aus dem persischen Kö-
nigshause, die Isdadvar oder Dara, zur Frau. Es war dies gleichsam
eine indirekte Anerkennung der fürstlichen Abstammung des jungen
Exilarchen, der sein Geschlecht auf den König David zurückführte.
Die jüdischen Chronisten heben besonders hervor, daß die Tochter des
mächtigen persischen Königs Chosroi und Schwester des letzten Kö-
nigs Jesdegerd als Kriegsgefangene, d. i. als Sklavin, das Haus des
jüdischen „Fürsten“ betrat, wobei die einen behaupten, daß er die
Prinzessin zum Judentum bekehrte, während die anderen wissen wol-
len, daß er von der Heidin nur uneheliche Kinder besaß, die erst
später als ebenbürtige Familienmitglieder des Exilarchen legitimiert
wurden. In späterer Zeit suchten denn auch die Gegner der dem Ge-
schlechte Bostanais angehörenden Exilarchen das Recht der Nachkom-
men einer „heidnischen Sklavin“ auf die hohe Exilarchenwürde in
Zweifel zu ziehen. Auf Grund aller dieser Nachrichten steht somit
fest, daß nach einer langen Krise zur Zeit des Überganges der Ober-
herrschaft in Babylonien von Persien an die Araber das Exilarchat er-
neut auf gerichtet wurde. Diese unter Omar beginnende Restaurierung
wurde unter dem Kalifen Ali zu Ende geführt, dessen Name gleich-
falls in den jüdischen Überlieferungen mit Bostanai in Zusammen-
hang gebracht wird.
Ali, ein Schwiegersohn des Begründers des Islam, dessen Tochter
Fatima er zur Frau hatte, galt unter den rechtgläubigen Muselmanen
als Schismatiker und hatte einen harten Kampf zu bestehen, ehe er,
4i4
§ 56. Das Kalifat der Omajaden
nach dem Tode Othmans, als gesetzmäßiger Kalif anerkannt wurde.
Zugunsten Alis agitierte einer der ersten Urheber des Schiiten-Schis-
mas, Abdallah ben Saba, ein Jude aus Arabien, der zum Islam über-
getreten war und das Dogma der Wiederkunft Mohammeds vor dem
Weitende proklamiert hatte. Abdallah erblickte in Ali den einzigen
Stellvertreter und rechtmäßigen Erben des Propheten und es gelang
ihm, große Massen von Muselmanen in Babylonien, Syrien und Pa-
lästina auf seine Seite zu bringen. Vielleicht war es gerade der Ein-
fluß dieses und anderer der jüdisch-christlichen MyStile ihre Ideen
verdankenden Männer, der Ali, als er das inmitten der jüdischen
Siedlungen Babyloniens gelegene Kufa zu seiner Residenz machte, da-
zu bewog, die Juden mit Duldsamkeit zu behandeln. Wir haben Grund
anzunehmen, daß auch die Juden ihrerseits diesen Kalifen im Kampfe
um die Macht, den er gegen seinen Rivalen Muawija, den Beherrscher
Syriens, zu führen hatte, nach Kräften unterstützten. Der jüdische
Chronist berichtet, daß nach der Einnahme der dem akademischen
Pumbadita benachbarten Stadt Peroz-Schabur durch Ali der Rektor
der talmudischen Akademie Mar-Isaak diesem entgegenkam und den
Sieger im Namen der jüdischen Gemeinde willkommen hieß. Dem
Kalifen, der unter den Arabern so viele Feinde zählte, konnten diese
Ergebenheitsbezeugungen der Juden nicht gleichgültig sein. Es wird
vermutet, daß gleichwie Omar die weltliche Gewalt des Exilarchen
im Geschlechte des Bostanai wiederhergestellt hat, auf Ali die Erhe-
bung des eben erwähnten Rektors der jüdischen Akademie zum Range
eines hohen geistlichen Würdenträgers zurückzuführen sei. Jeden-
falls ist es sicher, daß ungefähr von dieser Zeit an die Vorsteher der
jüdischen Akademien in den alten talmudischen Zentren Sura und
Pumbadita unter einem neuen Titel hervortreten, dem der Gaonen.
Zugleich mit dem neuen Titel gewannen diese geistlichen Würden-
träger nach und nach eine so einflußreiche Stellung in der jüdischen
Selbstverwaltung, daß sie mit der amtlich anerkannten Exilarchen-
gewalt unausbleiblich in Konflikt geraten mußten.
§ 56. Palästina und Babylonien im Kalifat der 0majaden(660—750)
Nach einer dreißigjährigen Kriegsperiode war im westlichen Asien
und in einem Teil Nordafrikas ein großes Muselmanenreich ent-
standen: das unter der Herrschaft der Kalifen aus der Omajaden-
Dynastie stehende Kalifat. Der Begründer dieser Dynastie, Muawija
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
(661—680), ein Verwandter des Kalifen Othman aus dem Mekka ent-
stammenden Omajadengeschlecht, war einer jener Feldherren, die
Syrien unterworfen und es seit der Zeit des Omar verwaltet hatten.
Nach einem langwierigen Kampfe gegen Ali und nach dessen Tode
ließ sich Muawija in Jerusalem zum Kalifen ausrufen und machte
die frühere Residenz der syrischen Statthalter, die Stadt Damaskus,
zu seiner Hauptstadt. Hierher verschob sich nunmehr das Zentrum
des Kalifats, das sich zuerst in Medina und später in Kufa befand.
Arabien und der Irak wurden zu Provinzen degradiert; Kufa war
jetzt nur der Sitz des Statthalters des Irak, der von dem Gebieter der
Rechtgläubigen in Damaskus ernannt wurde. Die Nähe der Haupt-
stadt mußte in die Provinz Palästina, die damals in die zwei Bezirke:
Filastin (das ehemalige Judäa und Samaria) und Urdun (Jordange-
biet, Galiläa), zerfiel, neues Leben bringen. Wiewohl die alten Chro-
niken über das Los der Juden unter den ersten Oma jaden schweigen,
so ist doch angesichts der von der Mehrzahl der Repräsentanten die-
ser Dynastie bekundeten religiösen Toleranz anzunehmen, daß die Ju-
den Syriens und Palästinas keinen Grund hatten, sich über die Ab-
lösung der byzantinischen Herrschaft durch die arabische zu beklagen.
Ungeachtet ihrer geistlichen „Kalifen4‘-Würde als Statthalter des
Propheten war den meisten Oma jaden der religiöse Fanatismus der
ersten Kalifen, der Mitstreiter Mohammeds und der Verbreiter des
Islam, fremd. Sowohl Muawija wie seine unmittelbaren Nachfolger
verkörperten den Typus rein weltlicher Herrscher und ließen sich
eher von staatsmännischen Nützlichkeitserwägungen als den Geboten
des Koran leiten. So scheute sich der Sohn des Muawija, Jasid I.
(68o—684), nicht, während des Bruderkrieges gegen die Nachfolger
des Ali seine Truppen gegen Medina und Mekka, die heiligen Städte
des Islam, vorrücken zu lassen und diese Hochburgen der Fanatiker
der Zerstörung preiszugeben. Der glänzendste Vertreter dieser Dy-
nastie, Abd-al-Malik (685— 705), versuchte sogar, die muselmanischen
Pilger dem nationalen Heiligtum in Mekka abspenstig zu machen und
ihren Strom jener Moschee zuzuführen, zu der der Grundstein noch
unter Omar auf einem Felsen (Sachra oder Aksa) in Jerusalem ge-
legt worden war. Nachdem Malik die Moschee umgebaut, erweitert
und mit einem prächtigen Kuppelbau gekrönt hatte, befahl er näm-
lich dem Volke, zum Ziele des „Chadsch“ (der Wallfahrt) statt Mekka
Jerusalem zu wählen. Ähnliche Versuche, das geistliche Zentrum aus
4i6
§ 56. Das Kalifat der Omajaden
Arabien nach Jerusalem und Damaskus zu verlegen, machte auch der
folgende Kalif, Walid I. (705—715). Dessen Nachfolger Suleiman
(715—717) entschloß sich sogar, die in der Nähe von Jerusalem neu-
erbaute Stadt Ramla zu seiner Residenz zu erheben. Das Interesse an
der Verbreitung des Islam verringerte sich so sehr, daß Malik die
für die Neubekehrten aus der Mitte der Christen und Juden (mavali)
geltende Vergünstigung, derzufolge sie von der auf den Andersgläu-
bigen lastenden speziellen Besteuerung befreit zu werden pflegten,
nunmehr außer Kraft setzte; dieses Privileg hatte nämlich früher den
Zweck, die „Ungläubigen“ zum Übertritt zum Islam anzuspornen,
doch beeinträchtigte es in nicht unerheblicher Weise die Einkünfte
des Staatsschatzes, während es den Omajaden mehr um das Heraus-
pressen möglichst hoher Steuern aus den Untertanen als um deren
Seelenheil zu tun war.
Bald wurde allerdings diese Vergünstigung von einem der Oma-
jaden, dem frommen Omar II. (717—720), wieder in Kraft gesetzt.
Auf den Vorhalt, daß dadurch der Staatsfiskus geschädigt werde, er-
widerte er, Gott hätte Mohammed zu seinem Apostel, nicht aber zum
Steuereinnehmer auserwählt. Dieser Kalif eiferte nämlich seinem
gleichnamigen Vorgänger nach, den die Überlieferung als den geschwo-
renen Feind aller Nichtmuselmanen hinstellt. Er untersagte den Statt-
haltern, in der Provinz Andersgläubige als Steuereinnehmer oder
Kanzleischreiber anzustellen, indem er sich auf die bekannte Sura
des Koran berief, die jede „Freundschaft“ mit Juden oder Christen
als sündhaft verdammt. Nicht genug damit, gab Omar den Befehl,
daß die Juden und Christen die bei den Mohammedanern übliche
Tracht und Kopfbedeckung (den Turban) nicht anlegen und
daß sie "überhaupt auf jeden auffälligen, unterworfenen Völkern
nicht geziemenden Luxus verzichten sollten. Die späteren arabi-
schen Geschichtsschreiber behaupten, Omar II. hätte außerdem ver-
ordnet, „keine einzige Synagoge und keine einzige Kirche, ob sie alt
oder neuerbaut sei, wo es auch sein möge, unzerstört stehen zu las-
sen“; doch wird durch keine sonstige Nachricht bestätigt, daß solche
barbarische Maßnahmen irgendwo zur Anwendung gebracht worden
wären. Diese „geschichtlichen“ Präzedenzfälle wurden von den spä-
teren muselmanischen Theologen nur zu dem Zwecke erdichtet, um
dadurch irgendeine von fanatischem Geiste getragene, gegen die An-
dersgläubigen gerichtete „Sunna“ oder mündliche Tradition zu recht-
27 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
417
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
fertigen. Jedenfalls bilden diese gesetzgeberischen Versuche Omars II.
in der Geschichte jenes Zeitalters nur eine Ausnahme. Den auf ihn
folgenden Kalifen aus der Omajadendynastie (Jasid II., Hischam
und Merwan II., 720—760) kann keinerlei schwere Verletzung der
Toleranzpolitik den Andersgläubigen (dhimmi) gegenüber zum Vor-
wurf gemacht werden.
Obwohl die syro-palästinensischen Juden wegen ihrer Religion
oder Nationalität keine Verfolgungen zu erdulden hatten, mußten
sie dennoch alle Unbill jener Zeit, als äußere und innere Kriege das
Kalifat fast unausgesetzt von Grund aus erschütterten, über sich er-
gehen lassen. Die Ömajaden hielten nämlich an jener Eroberungs-
politik, die von den ersten „gottesfürchtigen“ Kalifen eingeleitet wor-
den war, unentwegt fest, nur mit dem einzigen Unterschiede, daß sie
auf die Unterwerfung neuer Länder nicht um des Triumphes des
Islam sondern um der Mach tver groß er ung ihres Reiches willen ausr
gingen. Nach und nach wurde das nördliche Afrika auch über die
Grenzen des bereits arabisierten Ägypten hinaus bezwungen. Schon
im Jahre 670 wurde im Gebiete des alten Karthago jene Stadt Kai-
ruwan (was im Arabischen mit „Lagerstätte“ oder „Karawane“ gleich-
bedeutend ist) begründet, die späterhin zum kulturellen Mittelpunkt
der afrikanischen Judenheit werden sollte. Es entspann sich ein lang-
jähriger Kampf gegen die eingeborenen Berberstämme. Von dort aus
drangen die siegreichen Heerscharen des Kalifen Walid im Jahre 711
in das westgotische Spanien ein (was für die dort bedrängten Juden
eine Erlösung bedeutete), und so wurde ein christliches Land in
Europa auf die Dauer von mehreren Jahrhunderten zu einer Kolonie
des arabischen Kalifats. Nur die Tatkraft eines Leo des Isauriers und
eines Karl Marteil vermochte das europäische Byzanz und Frank-
reich vor der arabischen Invasion zu bewahren (in den Jahren 717
und 732). Der ununterbrochene Durchzug der arabischen Heeresmas-
sen durch Syrien, Palästina und Ägypten ruinierte diese Provinzen
immer aufs neue und verhinderte ihren wirtschaftlichen Wiederauf-
bau. Der Druck des Militärstaates lastete in empfindlichster Weise
auf der friedlichen Bevölkerung.
Auch Babylonien kam nicht zur Ruhe. Gleichzeitig mit den fort-
dauernden Eroberungszügen gegen die fernsten Gebiete des Iran und
die mittelasiatischen Provinzen des ehemaligen Persien tobte im In-
neren des Landes der Bruderzwist der Stämme, der religiösen Sekten
4i8
§ 56. Das Kalifat der Omajaden
und der verschiedenen dynastischen Parteien. Die Fäden aller dieser
inneren Zwistigkeiten liefen in Kufa, der früheren Residenz des Ali,
zusammen. Hier vermochte man sich noch lange nicht damit abzufin-
den, daß die Omajaden den gesetzmäßigen Erben des Propheten,
der Nachkommenschaft seines Schwiegersohnes Ali, den Thron ent-
rissen hatten. Die Partei der Aliden verschmolz mit den Puritanern des
Islam, den „Charidschiten“, namentlich aber mit der zahlreichen Sekte
der Schiiten, die in dem politischen Separatismus der persischen Mu-
selmanen ihren Rückhalt hatte. In dieser bis zur Feuersglut erhitzten
Atmosphäre des Kampfes konnte sich die weitgehende Gemeindeselbst-
verwaltung, die den babylonischen Juden unter den Kalifen Omar
und Ali eingeräumt worden war, wohl kaum in normaler Weise ent-
wickeln. Über die Wirksamkeit der Exilarchen und Gaonen dieser
Zeit besitzen wir fast gar keine Nachrichten. Die dem Geschlechte
des Bostanai entstammenden Exilarchen aus dem ersten Jahrhundert
des Kalifats (bis zum Jahre 750) sind uns nur dem Namen nach
bekannt; es waren dies: Bostanai, Chanina ben Adoi, Chasdai, Sa-
lomo. Wie aus den erhaltengebliebenen Überlieferungen zu ersehen
ist, hielt das Volk das Andenken des Bostanai, dessen Name mit der
Wiedergeburt des Exilarchats in der arabischen Epoche verknüpft
war, noch lange in hohen Ehren (so soll das Grab des Bostanai in
Pumbadita, wie von einem Reisenden bezeugt wird, noch im XII.
Jahrhundert eine Wallfahrtsstätte für die babylonischen Juden ge-
wesen sein); seine Nachfolger waren hingegen bei dem Volke nur
wenig beliebt. Der berühmte Chronist, der Gaon von Pumbadita im
X. Jahrhundert, Scherira, läßt sich denn auch über die Exilarchen
aus dem Bostanaigeschlecht folgendermaßen aus: „Gegen Ende der
Herrschaft der Perser und zu Beginn der Herrschaft der Ismaeliter
(Araber) verfügten die Rosche-Galuth über eine weitgehende Ge-
walt, die sie in jeder Weise mißbrauchten. Sie erwarben (bei den
arabischen Kalifen) die Würde von Volkshäuptern für schweres Geld,
und es gab solche unter ihnen, die den Gelehrten ein Ärgernis wa-
ren und sie hart bedrängten“. Voll Selbstgefühl erklärt der Verfas-
ser, seine Vorfahren hätten sich „dem Fürstenhause (der Exilarchen)
entfremdet, den ungerechten Weg der Machtausübung verlassen und
seien in den Kreis der bescheidenen und demutsvollen Akademiege-
lehrten getreten“. „Wir gehören nicht zu den Nachkommen des Bo-
stanai“, ruft er mit Nachdruck aus. So schlecht scheint also der
27*
419
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
Ruf gewesen zu sein, der an den Exilarchen der Omajadenzeit haften
geblieben ist. Sich auf ihre hohen Gönner in Damaskus stützend,
behandelten sie nicht nur die Volksmassen, sondern auch deren gei-
stige Führer, die Gaonen, mit despotischer Rücksichtslosigkeit. Die
geistlichen Würdenträger in Sura und Pumbadita, die sonst von den
akademischen Kollegien gewählt zu werden pflegten, wurden jetzt
von den Exilarchen in willkürlichster Weise ernannt und wieder ab-
gesetzi Der bereits erwähnte Chronograph des Gaonats beschwert
sich, daß er eben aus diesem Grunde in seinem „Sendschreiben“ („lg-
geretli Rab Scherira Gaon“) keine genaueren Nachrichten über die
in Sura bis zum Ende des VII. Jahrhunderts wirkenden Gaonen zu
übermitteln vermag; aber auch über das öffentliche Wirken ihrer
Nachfolger bis zur Mitte des VIII. Jahrhunderts hat er nichts Ge-
naueres zu berichten1). Erst seit der Mitte des VIII. Jahrhunderts,
unter der Dynastie der Abbassiden, beginnt die Rolle der Exilarchen
und Gaonen im Kalifat in klareren Umrissen hervorzutreten: es er-
stehen bedeutende Männer, sowohl von weltlichem wie von geistli-
chem Rang, die in Geschichte und Literatur unverwischbare Spuren
hinterlassen.
Nach der schweren, durch die Eroberungen der Araber ausgelösten
Krise in den Geschicken der morgenländischen Diaspora fiel den
Führern des Judentums in den ehemaligen Provinzen von Persien und
Ryzanz die Aufgabe zu, das komplizierte Rüstzeug der nationalen Au-
tonomie und der talmudischen Gesetzgebung, das in der sturmerfüll-
ten Übergangszeit sicherlich gar manche Einbuße erlitten hatte, er-
neut verwendungsfähig zu machen. Doch sollte sich der Sturm im
Kalifat nicht so bald legen, und so war das gestörte Gleichgewicht
nicht so leicht wiederherzustellen. Auf die Bekenner der ältesten Re-
ligion übte hierbei nicht nur die politische, sondern auch die sich
im Morgenlande vollziehende religiöse Umwälzung einen nachhalti-
gen Einfluß aus. Das für diese Epoche so bezeichnende Überwuchern
1) Die Verwirrung in den chronologischen Daten ist in diesem Falle so groß,
daß die Chroniken nicht einmal das Datum der Entstehung des „Gaon“-Titels, der
an Stelle des früheren „Resch-Metihta“ trat, festzustellen vermögen. Scherira rech-
net mit zwei bis drei Gaonen-Geschlechtern, die noch Mar-Isaak, der den Kalifen
Ali in Peroz-Schabur willkommen hieß, voraufgegangen sein sollen. Dagegen läßt
der Geschichtsschreiber Abraham ibn Daud („Sefer ha’kabbala“) seine Gaonen-
genealogie mit der zweiten, auf Mar-Isaak folgenden Generation beginnen, indem
er die früheren Akademiehäupter bis zum Jahre 690 der Gruppe der „Saboräer“.
der letzten Redaktoren des babylonischen Talmud, beizählt.
420
§ 56. Das Kalifat der Omajaden
der Sekten und Schismen unter den Muselmanen blieb nicht ohne
einen gewissen Widerhall auch in manchen fernabliegenden Gegen-
den der Diaspora. Der durch den Übergang der Macht von dem al-
ten apokalyptischen „Reiche" Edom-Rom auf das arabische Ismael
erschütterten Volksseele begannen wieder einmal Visionen vom „Ende
der Zeiten" vorzuschweben, und die alten messianischen Hoffnungen
wurden von neuem rege. In der Regierungszeit des Kalifen Abd-al-
Malik, an der Wende des VII. und VIII. Jahrhunderts, tauchte in
der persischen Hauptstadt Ispahan ein jüdischer Prophet oder ein
„Vorbote des Messias" namens Abu-Isa (Izchak-Obadja) auf. Ein
Mann aus dem Volke, seines Zeichens ein Schneider, der bis dahin
weder lesen noch schreiben konnte, soll er nämlich durch wunderbare
Eingebung, ohne jede Beihilfe, Bücher verfaßt haben, die freilich
der Nachwelt nicht erhaltengeblieben sind. Die arabischen Chro-
nisten berichten vornehmlich von der politischen Wirksamkeit des
Abu-Isa. Sich für einen Gesandten oder Vorläufer des Messias aus-
gebend, versuchte er in Persien gegen den Kalifen eine Erhebung an-
zuzetteln, um die Juden von dem Joche der Andersgläubigen zu be-
freien. Als bald darauf eine Schar jüdischer Insurgenten von den
Truppen des Kalifen umstellt wurde, zog Abu-Isa einen Strick um
sein Kriegslager und erklärte, daß alle sich in diesem Kreise Be-
findenden gegen die Streiche der Feinde gefeit seien. Die arabischen
Krieger sollen sich hierauf in der Tat von dem die Juden umschlie-
ßenden Zauberkreis zurückgezogen haben. Abu-Isa setzte den sich
Zurückziehenden nach und zerstreute sie. Bald wurden jedoch die
Sektierer in einem Treffen mit den Regierungstruppen geschlagen
und Abu-Isa selbst fiel in der Schlacht; seine Anhänger lebten des~
ungeachtet in dem Glauben, er sei unversehrt und halte sich in einer
Höhle mitten im Felsgebirge verborgen. Im Gegensatz zu dem
arabischen Chronisten (Sahrastani) schildert ein karäischer Schrift-
steller (Karkassani) Abu-Isa als einen religiösen Reformator. Unter
Berufung auf den Psalmenvers: „Siebenmal des Tages preise ich
dich" (Ps. 119, i64) soll Abu-Isa vor geschrieben haben, statt der
üblichen drei sieben alltägliche Andachten zu verrichten. Auch ver-
kündete er seinen Anhängern eine prophetische Offenbarung, nach
der man dem Fleisch- und Weingenuß entsagen sollte. Überdies soll
er das Recht des Gatten, sich von seiner Frau scheiden zu lassen,
ganz abgeschafft haben, worin er dem christlichen Gesetze überaus
421
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
nahekam. Jesus und Mohammed galten ihm überhaupt als wahre,
zu den Heiden gesandte Propheten, und so legte er seinen Anhängern
ans Herz, neben der Bibel auch das Evangelium und den Koran zu
lesen. Die Anhängerschaft des Abu-Isa schloß sich unter dem Na-
men der Isawiten zu einer besonderen Sekte zusammen, deren ge-
ringe Überreste sich bis ins X. Jahrhundert in Damaskus behaupten
konnten.
Eine ähnliche Sekte gründete einige Jahrzehnte später ein Jünger
des Abu-Isa, Judghan aus Hamadan, der von seiner Gefolgschaft
„Hirte“ (Al-Rai) genannt wurde. Die Judghaniten verzichteten gleich-
falls auf den Fleisch- und Weingenuß, oblagen mit besonderem Eifer
dem Gebet und dem Fasten, erachteten jedoch die den Sabbat und
die Feiertage betreffenden Gesetze als unverbindlich. Der arabi-
sche Schriftsteller Sahrastani berichtet, Judghan hätte auch die in
der Bibel vorkommenden, auf die Gottheit sich beziehenden Anthro-
pomorphismen beanstandet und namentlich das Prinzip der abso-
luten Willensfreiheit als Grundlage der persönlichen Verantwort-
lichkeit des Menschen für sein Tun und Lassen hervorgehoben, ein
offenbarer Nachklang der Lehren der arabischen Kadoriten, der Geg-
ner des muselmanischen Fatalismus. Ein Jünger des Judghan, Musch-
ka, stiftete eine vom Geiste seines Meisters durchdrungene Sekte Al-
Muschkania, deren Mitglieder zu einem heiligen Kriege gegen ihre
Widersacher verpflichtet waren; er selbst ging ihnen dabei mit dem
Beispiel voran: in einem von diesem Fanatiker angestifteten Zusam-
menstoß fand er mitsamt einer Gruppe von Sektierern in der Nähe
der persischen Stadt Kuma bald den Tod. Bei einem Teile dieser
Sekte galt Mohammed als wahrer Prophet, dessen Lehre für alle
Völker der Erde mit Ausnahme der Juden verbindlich sei. Dieses
freundschaftliche Verhalten der damaligen jüdischen Sekten dem Is-
lam gegenüber mochte als Schutzwehr gegen den muselmanischen
Fanatismus gedient haben, doch erscheint es nicht ausgeschlossen,
daß die erstaunlichen Erfolge der Religion Mohammeds viele von sei-
ner prädestinierten Rolle auch innerlich überzeugt haben.
Gleichzeitig mit der sektiererischen Gärung in Persien kommt in
Syrien, in der Nähe der Metropole der Omajaden, eine mächtige mes-
sianische Bewegung zum Durchbruch. Es geschah dies bald nach
dem mißglückten Angriff der Araber gegen Konstantinopel (717 bis
422
§ 56. Das Kalifat der Omajaden
718), der unter den unterdrückten byzantinischen Juden manche mes-
sianische Hoffnungen wachrief. Die erlebte Enttäuschung sowie die
erneut gegen die jüdische Religion einsetzenden Verfolgungen unter
Kaiser Leo dem Isaurier zwangen viele zur Auswanderung aus By-
zanz nach Syrien, wo damals der fanatische Kalif Omar II. regierte.
Einer dieser nach Syrien gekommenen Auswanderer namens Zona-
rias (oder Seren, wie sein lateinischer, von dem Worte „Seren113“ =
der Klare, der Erleuchtete, abgeleiteter Beiname lautete) rief sich hier
zum Messias aus und verhieß den Juden, ihnen das von den Musel-
manen unterjochte Heilige Land zurückzugeben. Dem vermeintlichen
Erlöser schloß sich das Volk in Massen an. Zonarias und sein An-
hang setzten viele der talmudischen Grundgebote außer Kraft: sie
verletzten die Speisegesetze, hielten die festgesetzten Andachten nicht
ein, unterließen es, die „zweiten Tage“ der großen Jahresfeste zu
feiern, gestatteten manche vom Talmud verpönten Eheschließungsarten
u. dgl. m. Dem Rufe des syrischen Messias folgten sogar die Juden
aus dem fernen Spanien, das kurz vorher unter die arabische Gewalt
geraten war: viele von ihnen ließen ihr ganzes Hab und Gut im
Stich und wanderten nach dem Morgenlande aus. Die Erregung hielt
einige Jahre an, bis der neue Prophet schließlich festgenommen
wurde. Der Kalif Jasid II., dem Zonarias vorgeführt wurde, über-
zeugte sich bei dessen Verhör, daß seine Lehre aller politischen Mo-
tive entbehre und lieferte ihn darauf den jüdischen Behörden zur
Bestrafung wegen der von ihm verkündeten Irrlehren aus. Nunmehr
bereuten viele unter den Anhängern des falschen Messias ihre Miß-
achtung der talmudischen Gesetze und schlossen sich den rechtgläu-
bigen Gemeinden, von denen sie abgefallen waren, erneut an. Andere
hielten indessen an der ketzerischen Lehre unentwegt fest, wobei
manche sich sogar nicht scheuten, die wichtigsten biblischen Gesetze
zu übertreten. Die ganze Angelegenheit scheint vor dem Gaon oder
vor seinem akademischen Kollegium zu Pumbadita verhandelt worden
zu sein1).
D Es wird vermutet, daß es sich in dem Sendschreiben des Zeitgenossen des
Zonarias, des Gaon von Pumbadita, Natronai I., an den man sich mit der Frage
wandte, wie mit den reumütigen Anhängern „eines in unserer Diaspora aufge-
tauchten Verführers namens Saria, der sich zum Messias ausgerufen und viele
zu seiner Irrlehre verführt hatte“ (Sammlung der gaonäischen Responsen: Schaare
Zedek, Nr. 7—10) zu verfahren sei, eben um Anhänger des Zonarias handelt.
42 3
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
Die messianische Schwärmerei lag eben in diesem durch Welt-
umwälzungen aufgewühlten Zeitalter in der Luft. Die Seele der von
dem Wirbelsturm der Geschichte mitgerissenen Nation, die unter die
einander bekriegenden Staaten aufgeteilt war und ihre Rettung bald
von der einen, bald von der anderen der alles zermalmenden Welt-
mächte erhoffte, fand in dieser Schwärmerei Rückhalt und Zuflucht.
Diese Stimmung ist es, die sich in den neuentstandenen, an die Früh-
zeit des Christentums gemahnenden Apokalypsen wider spiegelt. Die
über die Siege des Islam staunenden, tieferregten Geister suchten zu
ergründen, was wohl das Ergebnis all dieser Siege bilden, wie das
neue Antlitz der Welt aussehen, was die Weltkrise dem zwischen
Edom und Ismael, zwischen Byzanz und dem arabischen Kalifat ste-
henden Judentum bescheren werde. In der Apokalypse „Geheimvisi-
onen (Nistaroth) des Rabbi Simon ben Jochai“ wird nun berich-
tet, daß dieser wunderwirkende Gesetzeslehrer, derselbe, der sich einst
in den Höhlen Galiläas vor den Römern verbarg, eines Tages das
Ende der Zeiten zu erschauen versuchte; als ihm das Kommen des
Reiches Ismael geoffenbart wurde, brach er in Tränen aus und
sprach: „Haben wir denn nicht genug an dem Unheil, das wir vom
Reiche Edom erdulden müssen, und nun soll noch das Reich Is-
maels kommen!“ Da erschien ihm der Engel Metatron (der En-
gel des Angesichts) und sagte zu ihm: „Verzage nicht, du
Menschensohn! Denn Gott wird das Reich Ismaels nur um des-
willen heraufführen, damit ihr von diesem bösen Reiche (Edom)
erlöst werdet. Er wird für sie (die ismaelitischen Araber) einen Pro-
pheten nach seinem Willen (Mohammed) auf stellen und das Land
(das israelitische) erobern, dann aber werden sie es Israel in allen
Ehren zurückerstatten und es wird eine große Feindschaft zwischen
ihnen und den Kindern Esaus (den Römern und Griechen) sein“.
Dann beschreibt der Seher den Weg der Rettung Israels des näheren:
der zweite arabische König (der Kalif Omar I.) werde die Ruinen
des Jerusalemer Tempels wieder auf bauen und auf einem Felsen
Ausdrücklich wird dieser falsche Messias von seinem Zeitgenossen, dem spani-
schen Chronographen Isidor Pacensis, im Zusammenhang mit der Bewegung in
Spanien, und überdies von dem syrischen Chronisten, Bar Hebraeus, und von dem
byzantinischen, Theophanes, erwähnt. S. Graetz, Gesch. V, Note i4, u. Krauß,
Studien zur byzantinisch-jüdischen Geschichte, 38—39 (Wien, igi4).
4a4
§ 56. Das Kalifat der Oma jaden
ein Haus der Anbetung errichten (im Originaltext: „Hischtachawaja“,
die buchstäbliche Übersetzung des arabischen Wortes „Mesged“, d. i.
Moschee), während die folgenden Könige den Tempel weiter ausbauen
werden (die Kalifen Abd-al-Malik und Walid). Später aber wird
dieses Reich seinem Verfall entgegengehen: „Dies soll dir ein Wahr-
zeichen sein: sobald du das Einstürzen des westlichen Flügels des is-
maelitischen Hauses der Anbetung (Moschee) zu Damaskus erblickst,
soll auch das Reich Ismaels selbst einstürzen“. Hierbei nennt der
Verfasser den Kalifen, unter dem dies geschehen soll, sogar mit
Namen: es sei dies der letzte Kalif von Damaskus aus dem Oma-
jadenhause, Merwan II. (744— 7Öo), der im Kriege mit den Auf-
ständischen am Tigris und Euphrat zugrunde gehen und den Thron
für einen neuen Herrscher (den Regründer der Dynastie derAbbasr-
siden) frei machen werde. Danach soll der erste israelitische Messias,
Moschiach ben Joseph, erscheinen, die Juden nach Jerusalem füh-
ren und den heiligen Tempel wieder erbauen. Es werde sich indes-
sen gegen ihn ein königliches Ungetüm Armilos erheben, der Jeru-
salem zerstören und die Juden in die Wüste jagen werde; dort werde
das Volk durch seine Leiden geläutert werden, und erst dann soll
der wahre Messias aus dem Hause Davids, Moschiach ben David,
erscheinen, Armilos bezwingen und Jerusalem in all seiner Pracht
wieder auf bauen. — Aus alledem ist zu ersehen, daß der Verfasser
der „Geheimvisionen4‘ zur Zeit des Zusammenbruchs des Omajaden-
Kalifats gelebt und alle seine Hoffnungen auf die politischen Verän-
derungen gesetzt hat, die sich beim Übergange der Macht an die
Abbassiden angekündigt hatten1). Die von dem Seher gehegten Hoff-
nungen erfüllten sich indessen nur zum Teil: eine Restauration des
!) Es ist Graetz als Verdienst anzurechnen, daß es ihm gelang, einen Zu-
sammenhang zwischen der Apokalypse „Nistaroth de’Rabbi Simon ben Jochai“
und den Ereignissen aus dem Ende der Omajadenepoche herzustellen (Band V
seiner „Geschichte“, Kap. 6 u. Note 16); dagegen wird der von ihm vermutete
Kausalnexus zwischen diesen Ereignissen und der sektiererischen Bewegung des
Abu-Isa nach der Entdeckung des Textes des Karkassani, auf Grund dessen wir
an Stelle der von Graetz für diese Bewegung ungenau angesetzten Zeit (um
745—75o) nunmehr ein viel früheres Datum festsetzen müssen (685—7o5), ganz
hinfällig. Höchstens kann nur ein innerer Zusammenhang zwischen der messiani-
schen Gärung jener Epoche im allgemeinen und ihrer literarischen Widerspie-
gelung, der Apokalypse des Simon ben Jochai, angenommen werden. — S. Bi-
bliographie.
42 0
Entstehung des Islam und das Omajaden-Kalifat
jüdischen Palästina trat nicht ein und auch der äußere Druck ver-
ringerte sich weder in den von Edom, noch in den von Ismael be-
herrschten Ländern. Und doch ließ das neue abbassidische Kalifat
der inneren autonomen Entwicklung des Judentums in seinem ba-
bylonischen Kern einen viel weiteren und freieren Spielraum.
426
Zweites Kapitel
Die autonome Judenheit Babyloniens im
Kalifate der Abbassiden
(^So— 1 o4o)
§ 57. Die sozialen Verhältnisse in der Blütezeit des Kalifats
von Bagdad (VIII.—IX. Jahrhundert)
Die Dynastie der Abbassiden (die Nachkommen des Abbass, des
Oheims des Propheten Mohammed) besiegte die Omajaden im Zei-
chen der religiösen Restauration. Der Vernichtungskrieg, den die Be-
gründer der neuen Dynastie der „Gebieter der Rechtgläubigen“ (emir
al muminin) gegen die weltlichen Herrscher von Damaskus geführt
hatten, endete nämlich damit, daß sie im Jahre 7Öo den letzten der
Kalifen aus dem Omajadengeschlecht, Merwan II., zu Fall brachten.
Das Losungswort von der Wiederherstellung des wahren „Kalifats“,
der Statthalterschaft des Propheten, schien die Gefahr einer Ver-
stärkung der Theokratie und einer Verschärfung des muselmanischen
Fanatismus in sich zu bergen. Doch waren diese Befürchtungen nur
zum Teil begründet: das allgemeine politische System baute sich aller-
dings auf einer scharfen Trennung der „Ungläubigen“ von den Mu-
selmanen, der Tributpflichtigen von den Herren auf, was in der
Entrichtung besonderer Steuern zugunsten der Herren und manch-
mal auch in den Andersgläubigen (dhimmi), den Juden und den
Christen, aufgenötigten Formen der äußeren Lebensführung zum
Ausdruck kam; soweit jedoch die Unterworfenen diesen formellen
Forderungen der Sieger nachkamen, wurden sie von diesen weder in
ihrer wirtschaftlichen Betätigung noch in dem Werke des inneren
Aufbaus irgendwie behindert. Sklaverei nach außen (d. h. jene beson-
dere Art Sklaverei, wie sie für einen despotischen Staat, in dem alle
mit Ausnahme des Herrschers und seiner Feldherren als Sklaven gal-
427
Babylonien unter den Abbassiden
ten, charakteristisch war) und Selbständigkeit nach innen, monarchi-
sche Willkürherrschaft und Förderung der Aufklärung, ein Vorbild
des europäischen „aufgeklärten Absolutismus“, und ein ganzes System
von die verschiedenen Religionen und Nationalitäten voneinander
trennenden Scheidewänden, die jeder von ihnen eine eigengesetzliche
Entwicklung ermöglichten — dies war die eigenartige Verfassung,
die in der jüdischen Geschichte den Rahmen für eine weitgehende
Autonomie der Gemeinden, für eine ungehemmte Industrie- und Han-
delstätigkeit und für einen kräftigen Aufschwung auf dem Gebiete
geistigen Schaffens abgab.
Das neue Leben beginnt für das jüdische Babylonien in der zwei-
ten Hälfte des VIII. Jahrhunderts. Um diese Zeit, unter dem zweiten
Kalifen aus der Abbassidendynastie, Al-Mansur (754—775), ersteht
am Ufer des Tigris, unweit von der degradierten persischen Haupt-
stadt Ktesiphon, die neue Hauptstadt des Kalifats Bagdad. Ebenso
wie unter den Oma jaden die Reichshauptstadt Damaskus in der Nähe
des alten jüdischen Heimatlandes gelegen war, so entstand auch jetzt
das Staatszentrum in der nächsten Nachbarschaft der kulturellen
Hochburgen der babylonischen Diaspora, der Akademiestädte Sura
und Pumbadita. Die neue Staatsgewalt stieß hier auf eine wohlorga>-
nisierte Macht, den Verband der jüdischen Gemeinden, dessen in-
nere Autonomie gesetzlich anerkannt war, und so waren allen von
den Machthabern auf dem Gebiete der sozialen Reglementierung des
jüdischen Lebens unternommenen Versuchen von vornherein enge
Grenzen gesteckt. Um einen richtigen Einblick in die soziale Stel-
lung der Juden unter dem Kalifat von Bagdad zu gewinnen, muß man
sich stets vor Augen halten, daß hier keine besondere Politik den Juden
gegenüber sondern eine auf alle Nichtmuselmanen, die Dhimmi über-
haupt: auf Christen, Juden und auch auf die persischen Feueranbeter
und sonstige Heiden sich erstreckende Politik getrieben wurde. So
fehlen denn in der muselmanischen Gesetzgebung fast gänzlich be-
sondere, speziell die Juden betreffende Vorschriften, und es bestehen
nur auf die Andersgläubigen im allgemeinen sich beziehende Ge-
setze, in denen freilich mitunter ein und dieselbe Beschränkung Chri-
sten und Juden in verschiedener Form auf erlegt wird (z. B. die vor-
geschriebene Farbe der Tracht, worüber noch unten die Rede sein
wird). Aber auch diese auf die Andersgläubigen sich beziehende all-
gemeine Politik war durchaus schwankend: wurde sie doch in erster
428
§ 57. Die Blütezeit des Kalifats von Bagdad
Linie von dem Charakter oder Temperament des einen oder anderen
Kalifen oder Wesir bestimmt, von dem Grad seiner Nachgiebigkeit
dem Einfluß der fanatisierten muselmanischen Geistlichkeit gegen-
über, die freilich um des Ruhmes des Koran und der Sunna willen
stets auf Repressalien gegen die Ungläubigen drang. So wurden die
Andersgläubigen unter dem einen Kalifen zum Staatsdienst als
Schriftführer, Schreiber und Steuereinnehmer zugelassen, während
man unter anderen Herrschern diese Übertretung des Korangebotes
in schärfster Weise ahndete. Die Mehrzahl der Kalifen beschränkte
sich indessen auf die Erhebung der Andersgläubigen auferlegten
Sondersteuern, und nur manche von ihnen bestanden überdies auf
der Befolgung der „Gesetze des Omar“, die besondere Tracht und
allerlei sonstige Demütigungen vorschrieben. In einzelnen Provin-
zen lag das Los der Andersgläubigen in den Händen der Statthalter
oder Emire, die in den ihnen unterstellten Gebieten als uneinge-
schränkte Herren walteten.
Über das allgemeine Verhalten den Andersgläubigen gegenüber
unter den ersten Kalifen aus dem Abbassidenhause geben uns na-
mentlich die annalistischen Nachrichten aus der Regierungszeit des
Harun-al-Raschid (786—809) Aufschluß. Dieser über Gebühr ver-
herrlichte Kalif, unter dem der Hof von Bagdad in höchstem Glanze
stand und zu dem sogar der Gebieter Europas, Karl der Große, seine
Gesandten schickte, vermochte der Lage seiner andersgläubigen Un-
tertanen nur insofern ein Interesse entgegenzubringen, als er durch
den von ihnen reichlich gezollten Tribut die Auffüllung des infolge
des verschwenderischen Hofluxus stark in Anspruch genommenen
Staatsschatzes zu gewärtigen hatte. Im Aufträge des Harun-al-Raschid
verfaßte sein Hoftheologe und Rechtsberater Abu-Jussuf eine aus-
führliche Denkschrift über die Arten der Steuererhebung (kitab al
charadsch) und über die Staatsverwaltung, in der auch das Problem
der Stellung der Andersgläubigen eingehende Erörterung fand. Die
Gesetzesvorschläge des Verfassers dieser Denkschrift scheinen dem
Kalifen und seinen Beamten als Richtschnur gedient zu haben und
auch die persönlichen Meinungsäußerungen dieses Rechtsgelehrten von
Bagdad spiegeln zweifellos nur die unter den Muselmanen in bezug
auf diese Frage vorherrschenden Anschauungen wider. Die Art, in
der Abu-Jussuf seinen Plan der Eintreibung der Sondersteuern ent-
wickelt, die ihm gleichsam als ein von den Andersgläubigen für die
429
Babylonien unter den Abbassiden
Nichtanerkennung des Islam geleistetes Lösegeld gelten, ist der fol-
gende: „Zur Entrichtung der Kopfsteuer sind alle Andersgläubigen
verpflichtet: Juden, Christen, Feueranbeter, Sabäer und Samaritaner,
diejenigen, die in Ass-Sawad (Babylonien), und die anderen, die in
Hira leben, mit Ausnahme der christlichen Taglibiten und der Ein-
wohner von Nedschran. Die Kopfsteuer lastet nur auf den Männern,
nicht aber auf den Frauen und den Kindern . . . Sie ist jedoch weder
von dem von Almosen lebenden Bettler noch von dem Blinden oder
Gelähmten zu erheben; ist indessen der Gelähmte oder Sieche ver-
mögend, so ist sie auch von ihm zu erheben. Dasselbe gilt in bezug
auf die Mönche . . . Dem Gebieter steht es nicht zu, irgendeinem
Christen, Juden, Feueranbeter, Sabäer oder Samaritaner die Kopf-
steuer nachzulassen . . . weil Leben wie Eigentum ihnen nur unter
der Voraussetzung der Steuerleistung zugesichert sind“. Zur Bekräfti-
gung seiner Grundsätze beruft sich Abu-Jussuf auf die Meinung einer
muselmanischen Autorität, wonach „die Andersgläubigen über keinen
anderen Besitz verfügen als über den, der ihnen aus Gnade belassen
ist“, d. h. über denjenigen, der ihnen nach der Entrichtung der Steuer
zugunsten der Muselmanen noch übriggeblieben ist.
Zur Eintreibung der Steuern empfiehlt Abu-Jussuf dem Kalifen,
in jeder größeren Stadt, z. B. in Bagdad, Kufa oder Basra, einen
besonderen Beamten aus der Mitte der „gerechten und gottesfürchti-
gen“ Männer (der Muselmanen) einzusetzen und diesem Gehilfen bei-
zugeben, die ihm die Bekenner der verschiedensten Religionen zuzu-
führen hätten, damit er bei ihnen, dem festgesetzten Staffeltarif ge-
mäß, die Steuern beitreibe. Zugleich bringt Abu-Jussuf die folgenden
Tarifsätze in Vorschlag: wohlhabende Kaufleute, Gutsbesitzer, prak-
tizierende Ärzte haben 48 Dirhemen1) zu zahlen; dem Mittelstand
angehörende Händler und Handwerker 2 4; diejenigen, die „von ihrer
Hände Arbeit leben“, als da sind: der Schneider, der Färber, der Schu-
ster, der Pantoffelmacher u. dgl., 12. Alle Einnahmen sind als „Beute
der Muselmanen“ an den Staatsschatz abzuführen. Aus den weiteren
Ratschlägen des Abu-Jussuf ist zu ersehen, daß die Abgaben bei den
Andersgläubigen nicht selten auf grausamste Weise eingetrieben zu
werden pflegten: die saumseligen Zahler setzte man, nachdem man
ihnen den Kopf mit Olivenöl begossen hatte, der Sonnenglut aus. Der
!) „Dirhem“ (von der alten griechischen Münzbezeichnung „Drachme“) war
eine Silbermünze im Werte von etwa 80 Pfennig.
43o
§ 57. Die Blütezeit des Kalifats von Bagdad
Verfasser der Denkschrift warnt allerdings vor solchen Folterungen
und schlägt statt dessen vor, die im Rückstand Befindlichen bis zur
Begleichung der Schuld im Gefängnis zurückzuhalten. Aus derselben
Quelle ist zu entnehmen, daß man bei der Steuerveranlagung den
Steuerpflichtigen aus der Mitte der Dhimmi besondere Stempel auf
den Hals drückte, wodurch die Höhe des Steuerbetrages der erwähn-
ten Staffelung gemäß kenntlich gemacht wurde.
Des weiteren erteilt Abu-Jussuf dem Kalifen den dringenden Rat,
die Befolgung aller zur Unterscheidung der Andersgläubigen von den
Muselmanen festgesetzten Regeln streng zu überwachen. Es sei unzu-
lässig, daß die Andersgläubigen in ihrer Tracht, in ihrem Äußeren,
im Reiten auf Rossen den Muselmanen gleichen; statt des üblichen
Gürtels sollten sie eine grobe Schnur, als Kopfbedeckung Kalansuwen
(spitzige Mützen) aus Leinwand und als Schuhwerk Sandalen mit
Doppelriemen tragen; ihren Frauen sei das Reisen auf Kamelen zu
untersagen. Man könne ihnen wohl das Kaufen und Verkaufen von
jeder Art Ware auf den muselmanischen Märkten gestatten, doch nicht
den Handel mit dem bei den Muslims verpönten Wein und Schweine-
fleisch. Was die Errichtung von Tempeln und Kirchen betrifft, so
vertritt Abu-Jussuf die Meinung, daß die alten Tempel der Anders-
gläubigen kraft der altehrwürdigen, zwischen den arabischen Erobe-
rern und den unterworfenen Völkern geschlossenen Verträge unan-
tastbar bleiben müßten, dagegen dürften neue Tempel nicht errichtet,
die eigenmächtig errichteten aber müßten unnachsichtlich zerstört wer-
den. Es wird hier also in bezug auf Tempel und Kirchen die Anwen-
dung desselben Gesetzes empfohlen, das die christlichen Herrscher
ehedem hinsichtlich der Synagogen erließen. Besonders anstößig er-
scheinen dem Verfasser die geräuschvollen religiösen Prozessionen der
Christen, die er zu den „Abgötterei Treibenden“ zählt, sowie die von
ihnen zur Schau gestellten Kruzifixe und Kirchenfahnen, weswegen
er diese Kundgebungen in bestimmte räumliche und zeitliche Schran-
ken zu weisen vorschlägt. Gleich der Mehrzahl der arabischen Schrift-
steller ist auch er überzeugt, daß alle die Andersgläubigen betreffen-
den Beschränkungen durch den „Omarpakt“ in Syrien und Palästina
eingeführt worden seien; ähnliche Verträge, meint er, wären unter
Abu-Bekr und Omar mit den Andersgläubigen des Irak von dessen
Bezwinger Chalid abgeschlossen worden. Innerhalb der Grenzen dieser
431
Babylonien unter den Abbassiden
Verträge sei indessen die Toleranz gegenüber den Andersgläubigen
durchaus Pflicht.
Harun-al-Raschid scheint sich nun im allgemeinen an diese
Ratschläge des Rechtsgelehrten von Ragdad gehalten zu haben, nur
daß er dabei eine gewisse Nachsicht walten ließ, namentlich was die
besondere Tracht und die Kirchenprozessionen betrifft; erst gegen
Ende seiner Regierung sah er sich genötigt, zu schärferen Repressiv-
maßnahmen zu greifen. Auf die gegen die Christen von Syrien ge-
führten Beschwerden hin befahl nämlich der Kalif im Jahre 807,
in dem an Byzanz angrenzenden Gebiet von Suhur alle Kirchen zu
zerstören. Diese Repressalien sollen nach der Vermutung eines arabi-
schen Schriftstellers aus späterer Zeit durch Denunziationen über von
syrischen Christen mit den Byzantinern gepflogene Verhandlungen ver-
anlaßt worden sein. Ob sich diese Repressivmaßnahmen auch auf die
Juden erstreckten, bleibt ungewiß.
Nur dürftig sind die Nachrichten über die Lage der Juden wäh-
rend der Regierungszeit des aufgeklärten Kalifen Al-Mamun, der sich
namentlich als Förderer der Wissenschaften hohen Ruhm erwarb
(813—833). Der Aufschwung des geistigen Schaffens in dieser
Epoche, so besonders im Bereiche der Religionsphilosophie und der
schönen Literatur, blieb auch auf die gebildeten jüdischen Kreise Ba-
byloniens nicht ohne Einfluß. Seit dieser Zeit setzt eine jüdisch-
arabische literarische Renaissance ein, die in mancher Hinsicht an die
jüdisch-hellenistische Blütezeit erinnert (unten, §§ 71—72). Allein,
gleichwie in der Persönlichkeit des Mamun selbst die Verehrung für
den Rationalismus und die griechische Philosophie sich sehr wohl mit
einem Despotismus echt orientalischer Prägung vertrug, so mochte
auch das Verhalten den Juden gegenüber gleichzeitig von „aufkläreri-
schem“ und von tyrannischem Geiste getragen gewesen sein. Wenn
man dem späteren arabischen Schriftsteller (dem Mufti von Kairo
Al-Nakasch) Glauben schenken will, soll sich der mohammedanische
Klerus nicht wenig Mühe gegeben haben, Al-Mamun sowohl gegen die
Andersgläubigen überhaupt als auch gegen die Juden im besonderen
in jeder Weise aufzustacheln. Man erzählte, der Lehrer des Kalifen,
Al-Kissai, hätte einst, als er mit Al-Mamun jene Sura des Koran las,
in der der Prophet den Gläubigen die Freundschaft mit Juden und
Christen untersagt, sich an diesen mit der folgenden Frage gewandt:
„Oh, Gebieter der Gläubigen, warum liest du das Buch Gottes und
§ 57. Die Blütezeit des Kalifats von Bagdad
befolgst nicht die darin enthaltenen Vorschriften?“ Darauf soll der
Kalif Befehl gegeben haben, 2800 Christen einzukerkern und viele
Juden aus Bagdad in die Provinz auszuweisen. Bald wurde angeblich
auch noch das folgende Edikt des Kalifen bekanntgegeben: „Das ver-
dorbenste unter den Völkern ist das Volk der Juden, und die bös-
willigsten unter diesen sind die Juden von Samarra1), von den letzte-
ren aber — die Familien soundso. Ihre Namen mögen, dies walte Gott,
aus den Registern der Militär- und Finanzverwaltung gestrichen wer-
den“. Es handelte sich anscheinend um Militär-und Finanzagenten aus
der Mitte der Juden, die ungeachtet des Koranverbotes im Staatsdienst
verwendet wurden. Eine andere ähnliche Überlieferung will wissen,
daß ein muselmanischer Dichter, als er eines Tages Al-Mamun in sei-
nem Palaste besuchte und dort einen Juden vorfand, dem Kalifen die
folgenden Worte zugerufen hätte: „Bist du dir dessen wohl bewußt,
daß der Jude den Propheten (Mohammed), dem du all deine Größe
verdankst, für einen Betrüger hält?“ Der Kalif fragte nun den Ju-
den, ob es wohl wahr sei, was der Dichter da behauptete. „Jawohl“,
antwortete unerschrocken der Jude, worauf ihn der Kalif kurzerhand
zu enthaupten befahl.
Kamen unter Mamun Verfolgungen von Juden nur vereinzelt vor,
so wurden sie unter dem reaktionären Kalifen Al-Mutawakil (847
bis 861) geradezu zum System, was auch von allen arabischen Ge-
schichtsschreibern einstimmig bezeugt wird. Von grausamem und aus-
schweifendem Wesen, suchte dieser Kalif seine Laster durch reli-
giösen Eifer zu bemänteln. So machte er es sich zur Aufgabe, die
strenge Rechtgläubigkeit, die seit der Zeit Al-Mamuns durch die Fort-
schritte der Wissenschaft und des philosophischen Freidenkertums
ins Wanken geraten war, von neuem aufzurichten. Er unterstützte
nämlich die Orthodoxen gegen die Rationalisten. Das von Mamun
proklamierte Dogma der „Kreatürlichkeit des Koran“, d. i. der rein
menschlichen Herkunft des Islam, wurde als Irrlehre erklärt. Doch
am ehesten konnte man sich bei den Fanatikern des Islam durch Un-
terdrückungen der Andersgläubigen einschmeicheln, die dank den
1) Samarra war der in der Nähe von Bagdad gelegene Stammsitz der Kalifen
aus dem Abbassidenhause, doch ist es möglich, daß hierbei die Samaritaner gemeint
sind, die es freilich in Babylonien nicht gab, die aber von dem späteren ägyptischen
Schriftsteller nur aus dem Grunde, weil sie in Ägypten häufig anzutreffen waren,
irrtümlicherweise miterwähnt werden konnten.
28 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
433
Babylonien unter den Abbassiden
neuen Zeitströmungen mit den gebildeten Muselmanen engere Bezie-
hungen anzuknüpfen begannen, vielfach in den Staatsdienst traten und
überhaupt die Bedeutung eines wichtigen politischen Faktors erlang-
ten. Dies widersprach dem Koran und gefährdete die Grundfesten
der muselmanischen Staatlichkeit, die sich gerade auf der streng
durchgeführten Einteilung der Untertanen in hoch und niedrig, in
Sieger und Besiegte, in Rechtgläubige und Ungläubige aufbaute.
Durch die fanatische Priesterschaft angespornt, erließ nun Mutawakil
im Jahre 85o ein besonderes, Juden und Christen betreffendes Gesetz,
das von allerlei überaus erniedrigenden Vorschriften wimmelte. „Der
Gebieter aller Gläubigen, heißt es in diesem an die Provinzialstatt-
halter gerichteten Erlaß des Kalifen, hat für gut befunden, allen An-
dersgläubigen (dhimmi), von den Höchststehenden bis zu den Niedrig-
sten, sowohl denen, die an seinem Hofe sind, wie den in den ver-
schiedenen ihm gehörenden Gebieten wohnhaften, den Kaufleuten,
den Schreibern, den großen und den kleinen, vorzuschreiben, ihre
Taliessane (ein um den Kopf gewickeltes, auf den Nacken herabfal-
lendes Tuch, das die Vornehmen zu tragen pflegten) aus gelbem Stoff
zu verfertigen. Diejenigen aber, die keine Taliessane tragen, die Diener
oder die Leute der niederen Klassen, sollen angehalten werden, an
einer kenntlichen Stelle ihrer Kleidung, auf der Brust und dem Rük-
ken, je einen Flecken von derselben gelben Farbe zu tragen, deren
jeder eine volle Spanne breit und ebenso lang sein muß. Auch sollen
sie gezwungen werden, auf ihren Kalansuwen (Mützen) Knöpfe anzu-
bringen, die sich ihrer Farbe nach von der Kalansuwe selbst unter-
scheiden und, ohne sich in den Falten zu verbergen, leicht kenntlich
sein müssen. Auch soll man sie dazu anhalten, an den Satteln hölzerne
Steigbügel anzubringen und an der Stützfläche des Sattels Kugeln so
aufzusetzen, daß sie auf den ersten Blick auf fallen . . . Ferner soll
man die Sklaven und Sklavinnen sowie alle dieser Klasse Angehören-
den, die Gürtel zu tragen pflegen, dazu anhalten, statt der Gürtel
Leibbinden oder Wollschnüre anzulegen. Die von dem Gebieter aller
Gläubigen darüber ergangenen Befehle sollst du deinen Beamten
strengstens einschärfen, sie vor jeder Nachgiebigkeit und Nachsicht
warnen und den Befehl geben, alle Andersgläubigen, die diese Vor-
schriften aus Trotz übertreten oder sie vernachlässigen sollten, einer
Strafe zu unterziehen“. Neben den in diesem Erlaß aufgezählten de-
mütigenden Verhaltungsmaßregeln erließ Mutawakil um die gleiche
§ 57. Die Blütezeit des Kalifats von Bagdad
Zeit und in den darauffolgenden Jahren (854—85g) auch noch eine
Reihe viel einschneidenderer, Juden wie Christen betreffender Rechts-
beschränkungen. Das auf die äußere Kenntlichmachung bezügliche
Reglement wurde durch die folgenden Vorschriften ergänzt: der Man-
tel (kaba) und die Tunika (durra) mußten an den Ellenbogen von
gelber Farbe sein; von derselben Farbe mußte der Rock sein, den
die Frauen beim Ausgang anhatten; auch der Turban, soweit er von
Andersgläubigen getragen wurde, durfte nur aus gelbem Stoff ange-
fertigt werden. Reiten durfte man nur auf Eseln und Maultieren.
Sogar die Häuser der Ungläubigen hatte man durch ein besonderes
Merkzeichen kenntlich zu machen, nämlich durch ein hölzernes, über
dem Hauseingang angebrachtes Teufelsbild. Der zehnte Teil der Häu-
ser der Andersgläubigen sollte für die Erbauung von Moscheen oder
für die Anlegung von öffentlichen Plätzen eingezogen werden. Die
neuerbauten Kirchen und Synagogen sollten niedergerissen werden (die
arabischen Chronisten berichten von Fällen, in denen solche Tempel
in mohammedanische Moscheen umgewandelt wurden). Die Gräber
der Andersgläubigen waren dem Erdboden gleichzumachen, damit die
Grabhügel nicht hervorträten. Kirchenprozessionen am Palmsonntag
mit dem dabei üblichen Vorantragen von Kreuzen und Kerzen waren
den Christen untersagt. Die Kinder der Andersgläubigen durften we-
der in den muselmanischen Schulen noch bei Muselmanen überhaupt
Unterricht genießen. Der Dienst in den Staatsämtern sowie in Kanz-
leien, in denen Angelegenheiten von Muselmanen verhandelt wurden,
sollte den Andersgläubigen unzugänglich bleiben. Die späteren arabi-
schen Geschichtsschreiber (nach Tabari) ergänzen dieses Schikanen-
register des Mutawakil noch durch die folgenden Punkte: den Anders-
gläubigen ist es verboten, die muselmanischen Badehäuser zu benutzen
und Muselmanen in ihren Diensten zu behalten; überdies wurde auch
noch die ihnen auferlegte Kopfsteuer verdoppelt.
Es kann wohl bezweifelt werden, ob alle diese schmachvollen Be-
schränkungen auch in der Tat allenthalben in ihrer ganzen Strenge
durchgeführt wurden. Die von den Christen und Juden im Staate ein-
genommene Stellung war durchaus nicht so, daß sie sich zum Tragen
des ihnen auferlegten Kainszeichens demutsvoll hergegeben hätten.
Christen und Juden bildeten in Syrien und Palästina, in Ägypten und
Babylonien (hier namentlich die Juden) einen bedeutenden Teil der
Babylonien unter den Abbassiden
Bevölkerung, bedienten sich des Arabischen als Umgangssprache
und hatten gute Beziehungen zu den führenden Schichten der arabi-
schen Gesellschaft. Sie spielten eine hervorragende Rolle im wirt-
schaftlichen Leben dieser Länder, taten sich in den freien Berufen
als Ärzte, Schreiber und Lehrer hervor und waren seit dem Anbruch
der intellektuellen Renaissance tatkräftige Vermittler bei der Weiter-
gabe der „griechischen Weisheit“ an die Araber. Ungeachtet aller
Verbote wurden Juden wie Christen, namentlich dort, wo sich ein
Mangel an vorgebildeten Beamten fühlbar machte, sogar zum Staats-
dienst zugelassen. Unter solchen Verhältnissen war der Kampf nicht
aussichtslos: wohl wurden die Staatsämter von Zeit zu Zeit auf die
Beschwerden der Eiferer des Islam hin von andersgläubigen Beamten
gesäubert, doch waren diese nie ganz zu beseitigen. Einen emp-
findlicheren Druck bedeuteten die die Errichtung neuer Kirchen und
Synagogen betreffenden Beschränkungen. (Die Repressalien zielten,
wie es scheint, in erster Linie auf die durch ihren äußeren Anblick
auffallenden Kirchen ab.) Dagegen scheinen die auf die besondere
Tracht bezüglichen Bestimmungen nur sehr selten angewandt worden
zu sein. Dies erhellt daraus, daß man diese Regeln immer aufs neue
bestätigen mußte, wie auch aus der Tatsache, daß in den Denkmälern
des jüdischen Schrifttums keinerlei Klagen über solche Schikanen zu
finden sind. Die Machthaber in den einzelnen Provinzen werden wohl
die Andersgläubigen gegen entsprechenden Entgelt vom Tragen der
schmählichen Zeichen befreit haben. Am zutreffendsten dürfte die
Vermutung sein, daß alle diese Ausnahmegesetze, ebenso wie die ähn-
lichen mittelalterlichen, gegen die Juden ausgeheckten Kirchengesetze
in Europa, nur den Gegenstand der Sehnsucht der Priesterschaft bil-
deten, die ihnen mit Hilfe des einen oder des anderen Kalifen oder
Emirs praktische Geltung zu verschaffen suchte, ohne jedoch dabei
größere Erfolge zu erzielen. In späterer Zeit mochten die muselmani-
schen Theologen manche dieser Regeln einfach erfunden und sie den
gottesfürchtigen Kalifen der früheren Jahrhunderte von Omar bis
Mutawakil in den Mund gelegt haben, um so den Geist der zeitgenös-
sischen Herrscher beeinflussen zu können.
436
§ 58. Die Zeit der Auflösung des Kalifats von Bagdad
(X.—XL Jahrhundert)
In dem Kalifat von Bagdad, das sich über zwei Weltteile er-
streckte, konnte von einer starken Regierungsgewalt überhaupt keine
Rede sein. Das riesige Reich mit seiner vielstämmigen und den ver-
schiedensten Konfessionen angehörenden Bevölkerung wurde immer
wieder von inneren Zwistigkeiten heimgesucht. Unter der muselmani-
schen Bevölkerung selbst wütete unaufhörlich der Kampf um die
Macht: in Babylonien und auf dem Iran zwischen den Arabern
und Persern, in Syrien und Palästina zwischen Arabern und Grie-
chen, in Ägypten und Nordafrika zwischen Arabern, Kopten und
Berbern. An eine staatliche Einheit war bei diesem bunten Gemisch
von Völkern, Religionen und Kulturen nicht zu denken. Vorherrschend
waren vielmehr separatistische Aspirationen: die autonomen Provin-
zen, aus denen sich das Kalifat zusammensetzte, tendierten zu einem
völligen Abfall von der Metropole. An der Spitze der Verwaltung des
persischen Chorassan, Syro-Palästinas, Ägyptens und der Berber-
provinzen Nordafrikas standen die von dem Kalifen von Bagdad er-
nannten machtvollen Emire, die in den ihnen unterstellten Gebieten
selbst die Rolle von Kalifen spielen wollten. Im Iran und in den mit-
telasiatischen Provinzen wuchs immer mehr die Macht der Türken,
und gar bald wurden dort die Emire zu nahezu unabhängigen Sul-
tanen, vor denen nicht selten sogar Bagdad erbebte. In der Haupt-
stadt selbst war der Kalif häufig nur ein Spielzeug in den Händen
seiner Wesire, und seit dem X. Jahrhundert war es der den Titel
„Emir-al-Omra“ (Emir über den Emiren) tragende und zum Major-
domus des Hofes gewordene Oberbefehlshaber der Armee, der aus-
schlaggebenden Einfluß gewann. Das Prätorianertum nahm überhand:
die Armee setzte die Kalifen ein und ab. Die ununterbrochenen Kriege
zwischen den Emiren und die Aufstände gegen die Obergewalt des
Kalifen verwandelten das Kalifat in einen Haufen sich befehdender
Staaten. Unter solchen Verhältnissen war das Los der Juden von der
Zentralgewalt nur in dem Bezirk von Bagdad in Babylonien abhän-
gig, wo sich das jüdische Hauptzentrum befand, das indessen so fest
organisiert war und über eine so weitgehende Autonomie verfügte,
daß es sich gegen jeden äußeren Druck wohl behaupten konnte (un-
ten, § 60). Wechselvoller gestaltete sich das Los der Juden in Syrien,
437
Babylonien unter den Abbassiden
Palästina und Ägypten, wo sich die jüdische Bevölkerung bei der
ständigen Ablösung der einen Gewalt durch die andere in der Mitte
zwischen zwei mächtigen Rivalen sah: zwischen den Muselmanen und
den Christen (unten, §§ 65—67).
Die reaktionäre Politik des Kalifen Mutawakil wurde unter sei-
nen Nachfolgern häufig durchbrochen. Unter Al-Mutadid (892—902)
pflegte der Wesir Ibn-Suleiman gebildete Juden und Christen zum
Staatsdienst gern zuzulassen. Auf einen diesbezüglichen Vorhalt des
Kalifen antwortete der Wesir, daß er das nicht aus Sympathie für
das Judentum oder Christentum tue, sondern aus dem Grunde, weil
die andersgläubigen Beamten dem Staate ehrlicher dienten und der
Dynastie mehr ergeben seien als die Muselmanen. Dem hielt Al-Muta-
did entgegen, daß er die Treue der Juden stark in Zweifel ziehe, da
sie ja nach dem Erscheinen ihres Messias den Übergang der Macht
in ihre eigenen Hände erhofften. Der Kalif Al-Muktadir (908 —982)
gab Befehl, daß die Juden und Christen nur als Ärzte und Steuer-
einnehmer zugelassen werden sollten, und auch dies nur unter der
Bedingung, daß sie gelbe Kleidung und bunte Flicken auf den Män-
teln trügen. Solche bizarre Kompromisse zeugen von der Unbestän-
digkeit der Repressalienpolitik gegenüber den Andersgläubigen. Und
in der Tat, unter dem Kalifen Ai-Radi (934—940) sehen sich die
muselmanischen Orthodoxen von neuem genötigt, dem Gebieter aller
Rechtgläubigen wegen Zulassung von jüdischen und christlichen Be-
amten Vorhalte zu machen. So wendet sich z. B. der Dichter Scherif
an den Kalifen mit den folgenden Worten: „Du vertrautest musel-
manische Angelegenheiten ihren Feinden an — so handelten nicht die
Söhne des Abbas. Was willst du dem Obersten Richter denn sagen:
daß sie deine Reichtümer vergrößert hätten? Aber sie verleugnen ja
Gott. Glaube nicht, daß du unter dem nichtigen Vorwände, sie seien
rechtschaffen, tüchtig und gescheit, sie nicht wegzujagen brauchst“.
Doch scheint der Kalif von nüchterneren Erwägungen ausgegangen
zu sein und setzte sich dafür ein, daß die „rechtschaffenen, tüchti-
gen und gescheiten Männer“, die den Staatsschatz mehrten, dem
Staatsdienste erhalten blieben. So befand sich unter seinen Beamten
ein Jude namens Ibn-Fadlan. Aus irgendeinem Grunde setzte Al-Radi
diesen Beamten ab und ernannte an seiner Stelle den Christen Ibn-
Malik, worauf derselbe orthodoxe Dichter, der in der Ersetzung eines
Juden durch einen Christen ein noch größeres Übel erblickte, seinem
438
§ 58. Die Zeit der Auflösung des Kalifats von Bagdad
Protest in dem folgenden Gedichte Ausdruck gab: „Ist es möglich,
daß du nach Ibn-Fadlan dem Ibn-Malik die Macht verleihst? Vergiß
doch nicht an Gott und denke an das Blatt, auf dem alle deine Taten
auf gezeichnet werden! Schon haben die schriftführenden Engel die-
ses Blatt mit Schwärze bedeckt und es mit Aufzeichnungen über solche
Taten ausgefüllt, die im Jenseits nur Kopf schütteln erregen werden“.
Die dem Al-Radi gemachten Vorwürfe scheinen ein Widerhall jener
allgemeinen Erregung zu sein, welche die mit der Regierung dieses
Schwächlings auf dem Kalifenthrone unzufriedenen Orthodoxen von
Bagdad ergriffen hatte. Um jene Zeit befand sich das Kalifat be-
reits in einem Zustande der Zersetzung. „Die Gebieter in den Pro-
vinzen — berichtet einer der arabischen Geschichtsschreiber — ver-
fuhren eigenmächtig und verweigerten den Gehorsam. Außer Bag-
dad und seinem Bezirk war dem Kalifen nichts mehr übrig geblie-
ben“. Besonders arg waren die Verhältnisse in Palästina: infolge des
von den verschiedenen Machthabern geführten Bürgerkrieges und des
Krieges gegen Byzanz hatten sich die Beziehungen zwischen den Mu-
selmanen und Christen sehr zugespitzt, und die Juden sahen sich
immer wieder in der Klemme zwischen den beiden feindlichen Par-
teien. Bei der Zerstörung von Kirchen in Askalon (989) und Jeru-
salem (966) durch die Araber sollen die Juden nach den Berichten
der arabischen Annalisten den Muselmanen behilflich gewesen sein.
Es war dies wohl die Reaktion auf die Verfolgungen, die die Juden
von der christlichen Mehrheit im Heiligen Lande zu erdulden hatten.
In der zweiten Hälfte des X. Jahrhunderts ging das Kalifat von
Bagdad seiner endgültigen Auflösung entgegen. Ägypten fiel ab und
bildete ein besonderes Kalifat der Fatimiden, das auch Syrien und
Palästina unter seine Gewalt brachte, während aus Mittelasien gleich-
zeitig die Türken anstürmten. In der Mitte des XI. Jahrhunderts ver-
mochten die Sultane der türkischen Seldschuken ihre Gewalt vom
Iran aus über die beiden Hälften des Kalifats, die östliche und die
westliche, auszudehnen. Den Kalifen von Bagdad verblieb nur noch
ein Schatten der Macht: sie wurden nunmehr nur noch als Träger des
Titels von Statthaltern des Propheten, als die offiziellen Schirmherren
der Rechtgläubigkeit, in Ehren gehalten. Der politische Gesichtskreis
verengerte sich zusehends, und immer mehr wurde die orthodoxe Ein-
stellung ausschlaggebend. Im Bezirk von Bagdad, im Irak, dem ehe-
maligen Babylonien, erhoben die Eiferer des Koran aus den Kreisen
439
Babylonien unter den Abbassiden
der Priesterschaft und der gelehrten Juristen von neuem ihre Stimme.
So hat einer dieser Rechtsgelehrten, Al-Mawerdi, der in der ersten
Hälfte des XI. Jahrhunderts in Basra und Bagdad lebte, ein Buch
über die Staatsordnung verfaßt, in dem auch die Frage des Verhaltens
den Andersgläubigen im muselmanischen Staate gegenüber in aller
Weitläufigkeit behandelt wird. Die Erörterungen des Mawerdi sind
für die Stimmung der Muselmanen in der Zeit des Niederganges des
Kalifats nicht weniger bezeichnend als die obenangeführten Ausfüh-
rungen des Abu-Jussuf für die Blütezeit des Kalifats.
Gleich Abu-Jussuf und den anderen rechtsgelehrten „Fakihen“
erblickt auch Mawerdi in der Sonderbesteuerung der Andersgläubigen
ein Symbol der Herrschaft des Islam: „Kopfsteuer und Charadsch
(Grundsteuer) sind zwei den Muselmanen den Abgötterei Treibenden
gegenüber (womit alle Nichtmuselmanen gemeint sind, wiewohl der
Verfasser des weiteren zwischen den der „Offenbarung teilhaftig Ge-
wordenen“ und den Heiden einen Unterschied macht) eingeräumte
Rechte“. Dieser Tribut werde dem Andersgläubigen „als Wahrzeichen
seiner Demütigung“ auf erlegt und sei als „Kriegsbeute“ zugunsten
der Muselmanen zu betrachten. Eine besonders wichtige symbolische
Bedeutung komme der Kopfsteuer (dschizja) zu, da sie in der be-
rühmten Sura (9, 29) vom Koran selbst angeordnet worden sei. Den
Text dieses Korangebotes interpretiert Mawerdi in derselben kasuisti-
schen Weise, in der die Talmudisten die Bibelauslegung zu handhaben
pflegten, wobei er sich auf die Ansichten verschiedener muselmani-
scher Theologen beruft. So erläutert er den Schlußsatz der Sura über
die Steuerentrichtung „mit der Hand und demutsvoll“ in folgender
Weise: „Mit der Hand“ kann entweder „je nach Vermögen und Mit-
teln“ bedeuten oder aber eine Anspielung auf den mächtigen Arm der
die Steuer erhebenden Muselmanen sein; auch die Wendung „demuts-
voll“ könne in zwiefacher Weise ausgelegt werden: entweder in dem
Sinne, daß die „Dhimmi verachtungswürdig und erbärmlich“ oder
daß sie den muselmanischen Behörden untergeordnet seien. „Die der
Offenbarung teilhaftig Gewordenen — wird weiter auseinandergesetzt
— sind die Juden und die Christen, ihre heiligen Schriften sind der Pen-
tateuch und das Evangelium. Hinsichtlich der Erhebung der Kopf-
steuer sind ihnen die Feueranbeter gleichgestellt; auch von den Sa-
bäern und den Samaritanern, insofern sie mit den Juden und Christen
in den Grunddogmen des Glaubens übereinstimmen, ist diese Steuer
44o
§ 58. Die Zeit der Auflösung des Kalifats von Bagdad
zu erheben“. Was die Höhe der Kopfsteuer betrifft, so waren die An-
sichten darüber geteilt: während die einen an dem in der Denkschrift
des Abu-Jussuf empfohlenen Dreiklassensystem festhielten, meinten
die anderen, die Höhe des Steuerbetrages sei von Fall zu Fall von
dem Herrscher nach Gutdünken oder auf Grund eines Übereinkom-
mens mit den Ältesten der besteuerten Gemeinden festzusetzen. Sich
auf die muselmanische Fiktion von einem „Toleranzpakt“ mit den
Andersgläubigen stützend, unterscheidet Mawerdi zweierlei Arten von
nach diesem Vertrage festgelegten Bedingungen: verbindliche und
wünschenswerte. Zu der ersten Art gehören die Verpflichtungen der
Andersgläubigen, über den Islam nicht abfällig zu urteilen, Moham-
med nicht als Lügner hinzustellen, keine Ehe mit einer Mohammeda-
nerin einzugehen, einen Mohammedaner nicht zum Abfall von seiner
Religion zu verleiten und einer gegen die Muselmanen kriegführenden
Partei nicht beizustehen. Als nur wünschenswert seien die folgenden
Bedingungen zu erachten: daß die Andersgläubigen sich in ihrem
Äußeren durch besondere Merkzeichen an der Kleidung kenntlich ma-
chen, daß ihre Gebäude nicht höher als die muselmanischen ragen,
daß „weder ihre Glocken (die zur Andacht auf rufen), noch das Vor-
lesen ihrer Bücher, noch ihre Reden von Useira (Esra, der dem Koran
zufolge den Juden angeblich als Gottessohn galt) sowie vom Messias
(Christus) bis zu den Ohren eines Muselmanen dringen, daß sie in
Gegenwart von Muselmanen keinen Wein trinken, daß sie nicht öffent-
liches Ärgernis durch Schweinezucht erregen, das Zeichen des Kreuzes
nicht zur Schau stellen und ihre Toten ohne Lärm und Wehklagen be-
statten ; schließlich ist es auch wünschenswert, daß ihnen das Reiten auf
Rossen und Kamelen untersagt bleibe und daß sie sich zu diesem Zwecke
nur der Esel und Maultiere bedienten“. Neue Tempel dürften die An-
dersgläubigen nicht errichten, doch solle es ihnen freistehen, die bau-
fällig gewordenen zu renovieren. Wohl müsse es den Andersgläubigen
gestattet sein, ihre Streitsachen ihren eigenen Richtern zu unterbreiten,
soweit sie aber ihre Prozesse vor einem muselmanischen Richter an-
strengten, müßten sie sich auch den muselmanischen Gesetzen fügen.
In all diesen Äußerungen des Bagdader Rechtsgelehrten aus dem
XI. Jahrhundert tritt die Feindseligkeit den Andersgläubigen gegen-
über unverhohlen zutage, und doch verraten sie im Gegensatz zu den
praktischen Vorschlägen, die zwei Jahrhunderte früher dem Harun-
al Raschid von Abu-Jussuf gemacht worden waren, einen mehr theo-
44i
Babylonien unter den Abbassiden
retischen Charakter. Es scheint, daß gleichzeitig mit dem Zusammen-
schrumpfen des Landbereiches des Kalifats von Bagdad und mit dem
Schwinden der Kalifenmacht auch die Frage der Rechtsbeschränkung
der Andersgläubigen ihre ehemalige Schärfe eingebüßt hatte. Aktuell
blieb sie nur noch für die den Herrschaftsbereich des ägyptischen
Kalifats der Fatimiden bildende westliche Reichshälfte, wo zu Be-
ginn des XI. Jahrhunderts erneut der Versuch gemacht wurde, den
Repressivmaßnahmen gegen Juden und Christen praktische Geltung
zu verschaffen (unten, § 65).
§59. Die Beteiligung der Juden an dem internationalen Handel des
Kalifats
In der Epoche der arabischen Weltherrschaft, als die ihr unterlie-
genden Länder dreier Weltteile durch die großen Handelsstraßen
enger miteinander verbunden wurden, mußte auch die Handelstätig-
keit der Juden, die in dem ganzen Herrschaftsgebiet des arabischen
Kalifats verstreut waren, zu neuem Aufschwung kommen. Die Ver-
legung der Reichshauptstadt in das den jüdischen autonomen Zentren
benachbarte Bagdad hatte für die babylonischen Juden überaus wich-
tige wirtschaftliche Folgen. Am Ufer des Tigris gelegen und mit
Basra, dem Hafen am Persischen Golf, durch einen Kanal verbun-
den, wurde Bagdad, als Knotenpunkt der aus Persien, Arabien und
Syrien führenden Straßen, zu einem der belebtesten Handelsplätze. Mit
Waren beladene Schiffe und Karawanen strebten unaufhörlich der
reichen Residenz der Kalifen zu, die mit ihrem Hofstaat und der
zahlreichen Beamtenschaft die Hauptabnehmer für die Landespro-
duktion sowie für die von auswärts eingeführten Erzeugnisse waren.
An dieser Handelstätigkeit nahmen auch die babylonischen Juden einen
immer reger werdenden Anteil. Die bei ihnen ehedem vorherrschende
Landwirtschaft, auf der jetzt der Druck der muselmanischen Grund-
steuer, des „Charadsch“, lastete, vermochte nämlich die Bedürfnisse
der jüdischen Bevölkerung nicht mehr ganz zu befriedigen, und zu-
gleich wurde auch die Schraube der den Andersgläubigen auferlegten
Kopfsteuer so rücksichtslos angezogen, daß das Fortkommen auf die
bisherige Weise überhaupt zur Unmöglichkeit wurde. All dies trieb die
Steuerzahler gebieterisch dazu, sich nach neuen Erwerbsquellen um-
zusehen. Der im Kalifat zum Aufschwung gekommene Handel bot
§ 59. Die Juden im internationalen Handel
nun den Juden ein Betätigungsfeld, das ihnen ermöglichte, die ihnen
durch die arabische Herrschaft auferlegten Lasten leichter zu tragen.
Die geographische Lage des Kalifats, in dessen Bereich sich auch
die zum Mittelmeer führenden Straßen kreuzten, begünstigte insbe-
sondere die Entfaltung des internationalen Handels. Dieser Handel
zu Wasser und zu Lande, der die Märkte Asiens und Afrikas mit de-
nen der europäischen Länder der Feudalwirtschaft verband, mußte
die interterritoriale Nation, deren Zentrum sich immer weiter nach
dem Westen verschob, unausbleiblich in seinen Strudel mithin ein-
ziehen. Die von Bagdad und seinem Hafen Basra ausgehenden Han-
delswege führten nämlich sowohl über Persien und den Kaukasus
nach Osteuropa wie über Syrien, Palästina und Ägypten in die Län-
der des westlichen Europa. Auf all diesen Wegen, die überall an den
Kolonien der jüdischen Diaspora vorbeiführten, zogen nun neben den
Scharen der muselmanischen Pilger, der „Chadschas“, die nach dem
viele tausend Meilen entfernten Heiligtum von Mekka wallfahrteten,
arabische, jüdische und griechische Handelsleute. Einer von diesen
die ganze Welt durchwandernden Pilgern, der arabische Geograph
des IX. Jahrhunderts Ibn-Chordadbe, widmete denn auch in seinem
„Buche der Straßen und Königreiche“ ein besonderes Kapitel der
Beschreibung des Handelsweges, den die in ihren geschäftlichen An-
gelegenheiten zwischen Asien, Afrika und Europa reisenden jüdischen
Kaufleute einzuschlagen pflegten. Dieser teils zu Wasser, teils zu
Lande verlaufende Weg führte von Basra aus über Bagdad, Arabien,
das Rote Meer, Suez und die ägyptischen Häfen des Mittelmeeres nach
den Häfen von Byzanz, Italien, Spanien und den Ländern der Franken
und zweigte von Byzanz oder dem Kaukasus aus auch nach Osteuropa,
nach den Ländern der Slaven ab. Die Handelskarawanen zogen von
Babylonien einerseits nach Persien und Mittelasien, andererseits nach
Damaskus, Tiberias, Ramleh, Jerusalem und den anderen syro-palä-
stinensischen Städten. Mit Waren beladene Schiffe liefen auf ihrem
Wege nach dem Haupthafen Alexandrien nicht selten die palästinen-
sischen Häfen Tyrus (Sur), Akko, Jaffa und Gaza an1).
Lebhafter Handelsverkehr herrschte namentlich zwischen Syrien
1) Auf das Buch des Ibn-Chordadbe wird noch des näheren im folgenden
Bande dieser „Geschichte“ einzugehen sein, da das Werk dieses Schriftstellers
eigentlich von westlichen oder europäischen Kaufleuten handelt, die mit den Er-
zeugnissen ihrer Heimat nach dem Morgenlande zogen, um von dort mit mor-
Babylonien unter den Abbassiden
und Palästina. Der aus Palästina gebürtige arabische Schriftsteller
Al-Mukadassi schildert den Warenaustausch zwischen diesen beiden
Provinzen in folgender Weise: „Der Handel ist in Syrien sehr rege.
Aus Palästina werden ausgeführt: Oliven, getrocknete Feigen, Ro-
sinen, Johannisbrot, halbseidene Kleider, Seife und Kopftücher. Aus
Jerusalem führt man Käse, Baumwolle, vorzügliche Rosinensorten,
herrliche Äpfel, Bananen und überdies Spiegel, Lampengefäße und
Nadeln ein. Aus Jericho (Aricha) kommt herrlicher Indigo, aus Su-
har (Zoar) und Baissan Indigo und Datteln, aus Amman (dem al-
ten Rabbath-Ammon, Philadelphia) Korn, Lämmer und Honig, aus
Tabaria (Tiberias) Teppichstoffe, Papier und Leinwand. Aus Kades
(in Syrien) führt man den „Balisi“ genannten Stoff und Stricke
aus, aus Sur (Tyrus) Zucker, Glasperlen und die Mehrzahl der Ar-
tikel von Basra, aus Baissan Reis; aus Damaskus Olivenöl, die „Ba-
lisi“-Stoffe, Brokat, minderwertiges Veilchenöl, Kupfergeräte, Papier,
Nüsse, getrocknete Feigen, Rosinen; aus Chaleb (Aleppo) Baumwolle,
Leinwand, getrocknete Feigen, Laugensalz und Ocker; aus Baalbek
Süßigkeiten aus getrockneten Feigen“. An diesem reichentfalteten
Handelsverkehr ebenso wie an der Produktion mancher dieser Ar-
tikel nahmen auch Juden regsten Anteil: „In Syrien sind die Mehr-
zahl der Münzensortierer, der Färber, der Geldwechsler und Gerber
Juden, während die Mehrzahl der Ärzte und Schreiber Christen sind“.
Die gleiche Wirtschaftsverfassung, in deren Mittelpunkt der Han-
del stand, bildete sich auch in Babylonien heraus. In den Gerichtsent-
scheidungen der Gaonen ist oft die Rede von „nach Ägypten sich be-
gebenden Handelsleuten“, von „mittels Briefen (Wechseln) getätigtem
Warenumsatz“, von Geldwechslern oder Bankiers (Schulchanim) wie
auch von allerlei sonstigen geschäftlichen Transaktionen. Doch ist
aus den gleichen Responsen zu ersehen, daß Acker- und Gartenbau
sowie Handwerk im jüdischen wirtschaftlichen Leben noch immer
einen ansehnlichen Platz behaupteten. Die jüdischen Kaufleute be-
förderten mit den aus Bagdad ziehenden Karawanen und über den
Hafen von Basra nicht nur die von der muselmanischen Bevölkerung
des Irak produzierten Waren, sondern auch die landwirtschaftlichen
genländischen Waren heimzukehren. Wenn indessen jüdische Kaufleute aus Europa
geschäftliche Reisen nach Asien und Afrika unternahmen, so werden ihre orien-
talischen Stammesgenossen dieselben Wege sicherlich ihrerseits für Reisen nach
Europa benützt und sie wohl auch als erste eingeschlagen haben.
444
§ 59. Die Juden im internationalen Handel
und industriellen Erzeugnisse ihrer eigenen Stammesgenossen. Je
mehr indessen die unausgesetzt wütenden Bürgerkriege und der maß-
lose Steuerdruck die babylonischen Juden ruinierten, desto stärker
wurde der Auswandererstrom, der sich aus den östlichen Gebieten des
Kalifats von Bagdad in seine westlichen, immer unabhängiger werden-
den Provinzen ergoß, nach Ägypten und Maghreb; von dort aus zo-
gen viele Auswanderer noch weiter, nach dem arabischen Spanien und
den anderen Ländern Europas. Man verließ die „alte Welt“, Asien
und Afrika, um in der neuen Welt, in den europäischen Ländern sein
Glück zu suchen, bis am Ende des XI. Jahrhunderts die ersten Kreuz-
fahrer durch ihr Erscheinen in Syrien und Palästina gleichsam offen-
kundig machten, daß es um die Juden im fernen Westen durchaus
nicht mehr gut bestellt sei.
Ein mächtiges Werkzeug des internationalen Verkehrs bildete in
jener Zeit die arabische Sprache, deren Herrschaftsbereich sich über
das ganze von Bagdad bis zum spanischen Cordova reichende Gebiet
erstreckte. Im Laufe eines ganzen Jahrtausends, von der Zeit der
griechischen bis zu der der arabischen Herrschaft, bedienten sich die
Juden Babyloniens der aramäischen Sprache, diejenigen Kleinasiens
und Ägyptens der griechischen und die Juden Syriens und Palästinas
beider Sprachen zugleich, so daß der dritte Rivale, die hebräische
Sprache (die der Mischna und des Midrasch), sich nur noch in der
Literatur zu behaupten vermochte. Mit der fortschreitenden Erwei-
terung der arabischen Herrschaft werden jedoch die aramäische und
griechische Sprache als internationale Umgangssprachen allmählich
von der arabischen, der offiziellen Staatssprache des Kalifats, ver-
drängt. So wird diese seit dem IX. Jahrhundert zur Hauptverkehrs-
sprache der morgenländischen Diaspora und bürgert sich für lange
Zeit neben der hebräischen und aramäischen Sprache sogar im jü-
dischen Schrifttum ein. Wie ehedem die aramäische, so paßt sich
jetzt auch die neue semitische Sprache der Diaspora an das hebräische
Idiom an, wird im täglichen Verkehr zu einem hebräisch-arabischen
Jargon, bedient sich der hebräischen Schriftzeichen und gewinnt so
ein jüdisch-nationales Gepräge. Im Welthandel spielt die arabische
Sprache die Rolle eines internationalen Faktors, der Länder und Völ-
ker und somit auch die unter ihnen verstreuten Teile der Judenheit
einander näher bringt. Zugleich wird aber das Arabische auch zu
einem Werkzeug des geistig-kulturellen Tauschverkehrs. Ganz so wie
445
Babylonien unter den Abbassiden
sich einst die Mischform einer jüdisch-hellenistischen Literatur ge-
bildet hatte, so kommt jetzt als ein Produkt der arabisch-hebräischen
Renaissance des IX.—XII. Jahrhunderts eine hebräisch-arabische Li-
teratur zur Entfaltung.
§ 60. Die Selbstverwaltung: Die Exilarchen und Gaonen
in Babylonien
Für den festen nationalen Kern der babylonischen Judenheit hatte
die Politik der Kalifen und die Stellungnahme der muselmani-
schen Gesetzgebung zu den Andersgläubigen gleichsam nur „au-
ßenpolitische'‘ Bedeutung. Das dem Islam zugrunde liegende Prin-
zip der Absonderung der Andersgläubigen ermöglichte es diesen,
sich der herrschenden Nation und Religion gegenüber ebenso zu ver-
halten, wie sich ein Vasallenstaat der souveränen Gewalt gegenüber
verhält. Zolle den die Untergebenheit symbolisierenden Tribut, be-
obachte ein gewisses dich von der Umwelt unterscheidendes Verhalten,
darüber hinaus magst du aber dein Leben so einrichten, wie es dir
beliebt — so sprach gleichsam das Gesetz zu den Juden. Der Jude
säumte denn auch nicht, die sich ihm bietende Gelegenheit zu er-
greifen, und baute seine angestammte Selbstverwaltungsorganisation
bis zu einem so hohen Grade der Selbständigkeit aus, daß seine natio-
nale „innere Politik“ die äußere ganz in den Hintergrund zurück-
drängte und ihn im großen und ganzen von dem allgemeinen
Staatsregime, wenn auch nicht von der allgemein-wirtschaftlichen und
kulturellen Verfassung des Morgenlandes, so gut wie unabhängig
machte.
Seit der Zeit, da Bagdad zur Hauptstadt des Kalifats geworden
war, nahm das Leben der babylonischen Juden einen noch nie da-
gewesenen Aufschwung. Von einem Kranze alter jüdischer Gemein-
den umgeben, war die neue Stadt gar bald stark bevölkert und zwar
nicht zuletzt von Zuwanderern aus diesen ihr benachbarten jüdischen
Gemeinden. Die jüdischen Kolonisten ließen sich anscheinend in Bag-
dad in einem besonderen Viertel nieder, das noch in viel späterer
Zeit unter dem Namen „Dar-al-Jahud“ bekannt war. Die über den
Kanal im westlichen Vorort der Stadt geschlagene Brücke hieß die
„jüdische Brücke“. Alsbald wurde nach der neuen Hauptstadt des
Kalifats auch die Residenz des offiziellen Hauptes der jüdischen
446
§ 60. Exilarchen und Gaonen
Selbstverwaltung, des Exilarchen, verlegt. Die muselmanischen Behör-
den hatten, wie bereits erwähnt, nichts dagegen, daß die Juden und die
Christen durch ihren Patriarchen und Katholikos offiziell repräsentiert
würden, doch standen dabei dem Haupte der Juden viel weiter gehende
Befugnisse zu. So konnten denn in der arabischen Epoche die Exil-
archen aus dem Geschlechte des Bostanai sich den Titel der einst-
maligen Patriarchen, „Nassi“ oder Fürst, beilegen, wodurch sie so-
wohl ihre von der Tradition anerkannte Abstammung vom König
David wie auch die Kontinuität der von Palästina auf Babylonien
übergegangenen nationalen Hegemonie zum Ausdruck brachten. Ge-
wöhnlich wurden sie indessen nach wie vor „Häupter der Diaspora“,
Resch-galuta, und von den Arabern dementsprechend „Ras-al-Dscha-
lut“ genannt. Die Araber zweifelten nicht an der königlichen Her-
kunft der Exilarchen aus dem Bostanaigeschlechte, und es waren un-
ter ihnen sogar Sagen über die prophetischen Gaben der „Ras-al-
Dschalut“ verbreitet1). Der Exilarch gehörte seinem Range nach zu
den höchststehenden Hofwürdenträgern und galt gleichsam als der
Fürst eines tributpflichtigen Volkes und als Vasall des Kalifen. Er
wird wohl einer der willkommensten Gäste am Hofe des Kalifen ge-
wesen sein, da er der Überbringer riesengroßer Steuersummen war.
Wie auch ehedem, versah er nämlich in erster Linie fiskalische Funk-
tionen und war für die Eintreibung der Staatsabgaben in den jüdi-
schen Gemeinden verantwortlich. Eine andere Amtsobliegenheit des
Exilarchen bestand in der Überwachung der Selbstverwaltungsord-
nung: zu diesem Behufe ernannte oder bestätigte er die sogenannten
„Dajanim“, d. i. die mit administrativen Vollmachten ausgestatteten
Richter in den einzelnen Gemeinden. Hierbei mußte er jedoch seine
Macht mit den geistigen Führern, mit den Akademievorstehern oder
„Gaonen“ teilen, die ihrerseits den Anspruch erhoben, die Ämter mit
ihnen genehmen rechtskundigen Talmudisten zu besetzen. Wie in der
!) So berichtet eine arabische Überlieferung, daß einer der Exilarchen den
Tod eines Märtyrers des Islam, Hussein, der ein Sohn des Kalifen Ali und ein
Enkel Mohammeds war, vorausgesagt hätte. Nach der Ermordung des Hussein,
des rechtmäßigen Erben der Kalifengewalt, soll ein anderer Exilarch sich einem
einflußreichen Muselmanen gegenüber in folgender Weise geäußert haben: „Mich
trennen von meinem Urahnen, dem König David, nicht weniger als siebzig Ge-
nerationen, und doch anerkennen die Juden meine Gewalt, während man sich
bei euch nicht gescheut hat, einen Nachkommen des Propheten schon in der
dritten Generation zu ermorden“.
447
Babylonien unter den Abbassiden
persischen Zeit galt der Exilarch auch jetzt offiziell als der oberste
Richter und die höchste Berufungsinstanz. Ihm zur Seite stand ein
rechtskundiger Richter, den man „Dajan des fürstlichen Gerichtes“
(Dajana de’baba de’maruta) nannte. Von den Strafarten und Zwangs-
maßnahmen pflegte die Exilarchenbehörde am häufigsten den Syna-
gogenbann oder die Exkommunizierung aus der Gemeinde („Che-
rem“) anzuwenden. Der Exkommunikationsakt wurde in feierlichster
Weise vollzogen. „Wenn der Ras-al-Dschalut zur Bestrafung eines
Schuldigen — so berichtet ein arabischer Schriftsteller aus dem
IX. Jahrhundert (Al-Dschachiz) — ihm den Verkehr mit den Ge-
meindebrüdern untersagte, so war es Brauch, bei der Verkündung
dieser Strafe in den ,Schofar‘ (Widderhorn) zu blasen. Weder dem
Katholikos noch dem Ras-al-Dschalut steht es nämlich in den musel-
manischen Ländern zu, jemanden zu Kerker- oder Leibesstrafe zu ver-
urteilen; sie dürfen nur eine Geldbuße verhängen oder jeden Ver-
kehr mit den Mitmenschen untersagen“.
Bei der im muselmanischen Kalifat herrschenden theokratischen
Verfassung, in deren Rahmen dem Kalifen die Stellung eines Ober-
hirten, eines „Imam“ zukam, konnte die Regierung auch die Macht
der Exilarchen nur in Verbindung mit der Autorität der geistlichen
Führer des Volkes gelten lassen. Schon bei dem Amtsantritt des Exil-
archen war die Sanktionierung durch die Gaonen von Sura und Pum-
badita unerläßliche Bedingung. Die Feier, die man dabei veranstaltete,
sollte der eigentlich nur erbrechtlichen Machtübernahme den Schein
einer allnationalen Anerkennung verleihen. Der babylonische Ger
lehrte Nathan ha’Babli, der um g5o nach Afrika übersiedelte, hat den
dortigen Juden viel Bemerkenswertes von dem inneren Aufbau der
jüdischen Selbstverwaltung in Babylonien erzählt und unter anderem
auch manches über die Zeremonie der „Einsetzung“ in das Exilarchen-
Amt. Der auf Grund der Aussagen dieses Augenzeugen niedergeschrie-
bene Bericht, den wir hier mit manchen Kürzungen wiedergeben,
lautet folgendermaßen:
„Wenn die Öffentlichkeit sich für die Einsetzung einer bestimm-
ten Persönlichkeit in das Amt eines Exilarchen (Rosch-galuth) bereits
entschieden hat, versammeln sich die Vorsteher der beiden Akademien
(Rosche-Jeschiboth) nebst den jüngeren Akademieangehörigen sowie
die Repräsentanten der Gesellschaft und die Ältesten in dem Hause
eines der angesehensten Männer Babyloniens, wodurch sie ihm die
448
§ 60. Exilarchen und Gaonen
höchste Ehre erweisen1). Darauf findet an einem Donnerstag eine
Versammlung in der Synagoge statt. Dort wird der Exilarch bewill-
kommnet und es ertönen die Schofar-Klänge, um das ganze Volk,
Groß und Klein, von dem Geschehenen in Kenntnis zu setzen. Alle, die
die Kunde vernommen haben, schicken dem neuerwählten Exilarchen
eine ihrem jeweiligen Vermögen entsprechende Ehrengabe. Die Re-
präsentanten des Volkes und die Reichen schicken ihm prächtige Ge-
wänder, Edelsteine, silberne und goldene Gefäße. Er aber (der Exil-
arch) veranstaltet am Donnerstag und am Freitag große Gastmähler,
bei denen allerhand Speisen, Getränke und Süßigkeiten verabreicht
werden.
Am Sabbatmorgen begibt er sich in aller Frühe, von den ehr-
würdigsten Gemeindemitgliedern begleitet, in die Synagoge. Dort steht
für ihn schon ein aus Holz gezimmertes Podium bereit, das ganz mit
prächtigen Seiden- und Purpurteppichen belegt und drapiert ist; da-
neben nimmt ein Chor Aufstellung, der aus edlen, mit wohlklingen-
den Stimmen begnadeten Jünglingen besteht; der Exilarch aber nimmt
zusammen mit den Akademievorstehern im Hintergründe des Podiums
Platz. Der Chasan (Kantor) der Synagoge stimmt die Gebethymnen
an, und der Chor der Jünglinge fällt sekundierend ein . . . Nach-
dem die Andacht zu Ende ist, tritt der bisher unsichtbare Exilarch in
den Vordergrund; jetzt erheben sich alle von ihren Plätzen. Der Exil-
arch setzt sich auf den für ihn bestimmten erhöhten Platz. Ihm folgt
der Rosch-Jeschiba von Sura nach, beugt vor ihm das Knie und
nimmt, nachdem sein Gruß erwidert worden ist, seinen Sitz auf
dem Podium an der Seite des Exilarchen ein. Ebenso macht es der
Rosch-Jeschiba von Pumbadita. Das Volk bleibt so lange stehen, bis
alle drei sich gesetzt haben: der Exilarch in der Mitte, der Rosch-
Jeschiba von Sura zu seiner Rechten und der von Pumbadita zu sei-
ner Linken . . . Der in das Gebetgewand eingehüllte Chasan spricht,
*) Nach einer arideren, der alten Sammlung „Responsen der Gaonen“ ent-
nommenen Version dieser Schilderung, die uns durch die bekannte Chronik
„Schebet Jehuda“ (Nr. 42) überliefert ist, war mit dieser Zusammenkunft ein be-
sonderes Zeremoniell verbunden: im Hause des „hochangesehenen Mannes“ pflegte
man den Exilarchen auf einem Prunksessel Platz nehmen zu lassen, worauf sich
zu seinen beiden Seiten die Gaonen, Gelehrten und Ältesten auf ihre Sessel nie-
derließen; dann erhob sich der Gaon von Sura von seinem Sitz und richtete
an den Exilarchen „Worte der Ermahnung“, indem er ihm ans Herz legte, „gegen
seine Brüder nicht hochmütig zu werden, da ihm nicht Macht verliehen, sondern
der Dienst am Volke auf getragen werde“.
29 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
449
Babylonien unter den Abbassiden
mit dem Angesicht zum Podium gewendet, besondere zur Einsegnung
des Exilarchen bestimmte Gebetformeln und der Chor der Jünglinge
fällt mit einem lauten ,Amen!‘ ein. Darauf hält entweder der Exil-
arch selbst eine Predigt über den am betreffenden Sabbat vorgelese-
nen Bibelabschnitt oder er überträgt dies dem Rosch-Jeschiba von
Sura. Neben dem Prediger steht der Meturgeman und wiederholt seine
Worte mit lauter, dem ganzen Volke vernehmbarer Stimme. Dann
betet der Chasan den Kaddisch vor und schaltet vor die Worte:
,Bei eurem Leben und dem aller dem Hause Israels Angehörenden4
die Worte ein: ,Beim Leben unseres Nassi, des Hauptes der Exulant
ten\ Nach dem Kaddisch segnet er den Exilarchen und die Akademie-
Vorsteher. Hierbei gibt er bekannt, wieviel jede der Bezirksstädte
mitsamt den ihr angeschlossenen Ortschaften für die Akademien bei-
gesteuert hat, und segnet die Vertreter der durch ihre Beiträge di©
Akademien unterstützenden Gemeinden1). Hierauf wird die Thora-
rolle ausgehoben und man xuft einen Kohen und einen Leviten zur
Thoravorlesung auf; danach überreicht der Chasan die Thora dem
Exilarchen, der sie in Empfang nimmt und daraus vorliest; ihm zur
Seite stehen die beiden Rosche-Jeschiba, wobei der von Sura den Tar-
gum (die aramäische Übersetzung) vorliest. Der Gottesdienst schließt
mit dem Mussafgebet.
Nachdem der Exilarch die Synagoge verlassen hat, gibt ihm das
Volk, ihn in Lobliedern preisend, vor ihm und hinter ihm herschrei-
tend, bis zu seinem Hause das Geleit. Die Akademievorsteher beglei-
ten ihn dabei nicht, wohl aber die Studierenden, die ihn in sein Haus
führen und dann sieben Tage lang bei ihm verweilen. Von nun an
verläßt der Exilarch nicht mehr sein Haus (um in die Synagoge zu
gehen), sondern das Volk versammelt sich zur Andacht sowohl an
Wochen- wie auch an Feier- und Sabbattagen bei ihm“* 2).
Des weiteren wird das Zeremoniell der Ausfahrt des Exilarchen
!) Ein Widerhall dieser Segenssprüche dringt zu uns in dem aramäisch ab-
gefaßten Gebet „Jekum purkan“, das bis zum heutigen Tage an den Sabbaten
in allen Synagogen des aschkenasischen Ritus gesprochen wird. Das Gebet für
das Wohlergehen „unserer Ältesten und Gelehrten im Lande Israel und in Ba-
bylonien, unserer Exilarchen und Akademievorsteher (rosche-galwata we'rosche
metibata)“ würde heute nur einen Anachronismus bedeuten, wenn mit dieser For-
mel nicht unsere zeitgenössischen geistlichen und weltlichen Führer gemeint wären.
2) In der oben erwähnten anderen Lesart heißt es zutreffender: „Bestimmte
Personen (nicht das Volk) kommen zur gemeinsamen Andachtsverrichtung in sein
Haus“.
45o
§ 60. Exilarchen und Gaonen
sowie das seines Empfanges beim Kalifen geschildert: „Hat der
Exilarch etwas außerhalb seines Hauses zu erledigen, so fährt er
gleich den Hofwürdenträgern reich gekleidet in einem prächtigen
Wagen aus, mit einem Gefolge von fünfzehn Personen und einem
hinter seinem Gefährt herlaufenden Sklaven. Die ihm begegnenden
Juden beeilen sich, an ihn heranzutreten, um seine Hand zu drücken
und ihn zu begrüßen. Gleich allen anderen Würdenträgern erscheint
er nie ohne Gefolge. Hat der Exilarch beim König (Kalifen) etwas
vorzubringen oder ihn um etwas anzugehen, so sucht er durch die
Vermittlung der Hofwürdenträger um eine Audienz nach. Bei sei-
nem Eintritt in den Palast laufen ihm alle königlichen Diener ent-
gegen, er aber nimmt aus seinem Beutel eigens dazu vorbereitete Mün-
zen und verteilt diese unter sie, bis er die königlichen Gemächer er-
reicht hat, wohin er von den ihn ehrerbietig stützenden Dienern ge-
führt wird. Vor den König tretend, sinkt der Exilarch in die Knie,
der König winkt aber einem Diener, daß er ihm aufhelfe und ihn
zu dem für ihn bestimmten Platz führe. Der König erkundigt sich
dann nach seinem Befinden und nach der Angelegenheit, in der er
erschienen sei, worauf der Exilarch, nachdem er um Redeerlaubnis
gebeten, mit einer vorbereiteten Begrüßungsrede beginnt, der altehr-
würdigen Sitten gedenkt und den König so lange mit wohlklingenden
Worten zu überreden sucht, bis dieser seiner Bitte stattgibt. Im Be-
sitze einer schriftlichen Genehmigung des von ihm Erbetenen läßt
sich der Exilarch vom König beurlauben und kehrt frohen und zu-
versichtlichen Mutes heim“.
Für den Unterhalt des Exilarchenhofes wurden die von den jü-
dischen Gemeinden der ostbabylonischen und persischen Provinzen
Naharwan, Halwan und Farsistan eingehenden Beiträge verwendet;
um die Mitte des X. Jahrhunderts beliefen sich diese Eingänge all-
jährlich auf 700 Golddenare. Darüber hinaus flössen dem Exil-
archen die von verschiedenen Gemeinden und Privatpersonen „frei-
willig“ gespendeten Ehrengaben und Geschenke zu. Wie es um diese
Freiwilligkeit bestellt war, ist am besten daraus zu ersehen, daß im
Falle der Verweigerung dieser Gaben von seiten irgendeiner Gemeinde
der Exilarch sie in Acht und Bann zu tun und obendrein bei den lo-
kalen muselmanischen Behörden anzuzeigen pflegte. So hat z. B. der
Exilarch David ben Sakkai, als dessen zum Einkassieren solcher
Ehrengaben in eine der persischen Provinzen (Fars) gesandter Sohn
29*
45!
Babylonien unter den Abbassiden
dort nichts erhielt, keinen Anstand genommen, den jüdischen Ge-
meinden mit dem Bannfluch zu drohen und zugleich den persischen
Emii* um Unterstützung seines Sohnes zu bitten. Der Emir säumte
nicht, die persischen Juden „seine Hand spüren zu lassen“, und so
konnte der Exilarchensohn in allen Gemeinden dieser Provinz reich-
lichen Tribut eintreiben. Die Schilderung dieses grauen Alltags des
Exilarchats stammt von demselben Zeitgenossen, der mit so großer
Rührung von den Huldigungsfeierlichkeiten zu Ehren des „Diaspora-
hauptes“ berichtet Bei dieser Lage der Dinge ist es nicht ausgö-
schlossen, daß im Kalifat von Bagdad dieselbe Erscheinung wieder-
kehrte, die ein anderer Chronist in bezug auf den „Anfang der
arabischen Herrschaft“ feststellen konnte: den mit dem Exilar-
chenamt getriebenen Handel. Von mehreren in Betracht kommenden
Erben des Exilarchen vermochte nämlich nur derjenige dieses Amt
zu erlangen und sich darin zu halten, der imstande war, bei der
Übernahme der Exilarchenwürde den Kalifen oder seine Würden-
träger durch ansehnliche Gaben günstig für sich zu stimmen, und
der es auch späterhin nicht unterließ, sie mit einem Teil seiner Ein-
künfte zu bedenken.
So war es nur natürlich, daß sich im Volke wahrer Hochachtung
nicht diese offiziellen Würdenträger, sondern die Gaonen oder die
„Rosche-Jeschiboth“ erfreuten, die mit der Glorie einer geistigen
Autorität umgeben waren. Der wirkliche Mittelpunkt der jüdischen
Selbstverwaltung befand sich somit nicht in Bagdad, sondern in den
in seiner Nähe gelegenen Städten Sura und Pumbadita1). In den
beiden vom alten Ruhm umstrahlten Akademien, in denen in der
Amoräerzeit die talmudischen Gesetze theoretisch unterbaut worden
waren, arbeitete man unter den Gaonen an ihrer Verwertung für die
*) Bei den arabischen Schriftstellern begegnen wir Sura (oder Sora) in den
Verzeichnissen der zum Bezirk des südwestlich von Bagdad gelegenen Kufa ge-
hörenden Städte; dagegen war Pumbadita nicht unter diesem uns geläufigen Na-
men, sondern unter der arabischen Bezeichnung El-Anbar bekannt und diente
vor der Erbauung von Bagdad dem ersten Kalifen aus dem Abbassidenhause als
Residenz (s. Streck, Die Alte Landschaft Babylonien, I, 20—21; Le-Strange,
Baghdad, p. 5—12). Die Identität von Pumbadita und Anbar ergibt sich aus
dem Sendschreiben des Karäers Sahal ben Mazliach, der von dem „Joch zweier
Weiber, die über Israel zu Sura und Anbar herrschten“ (nämlich die zwei Je-
schiboth von Sura und Pumbadita, s. unten, § 70), spricht. Aber auch abgesehen
davon heißt es in dem arabischen Fragment des Berichtes des Nathan ha’Babli
ganz deutlich: „Pumbadita, d. i. Al-Anbar“ (s. Friedländer, The arabic original
of the report of Natan Babli). Vgl. Huart, Histoire des arabes I, 223, 289.
452
§ 60. Exilarchen und Gaonen
Lebenspraxis durch eine entsprechende Auslegung und Erläuterung.
Bei der damaligen Rechtsordnung war aber mit den gesetzgeberi-
schen Funktionen auch die höchste Verwaltungs- und Gerichtsfunk-
tion, die Oberaufsicht auf dem Gebiete der Selbstverwaltung, verbun-
den. Auf diesem Gebiete mußten also Rechte und Pflichten der Exil-
archen einerseits und der Gaonen andererseits miteinander in Kolli-
sion geraten. Hierbei ist zu beachten, daß auch unter den Gaonen
selbst ein gewisser Rangunterschied gemacht wurde. Wie aus dem
Bericht des Nathan ha-Babli zu ersehen ist, hatte nämlich der Gaon
von Sura die Vorrangstellung inne. Er war es, der in der Zwischen-
zeit zwischen dem Ableben des einen Exilarchen und der offiziellen
Bestätigung seines Nachfolgers als Verweser fungierte. Es wird so-
gar vermutet, daß der „Gaon‘‘-Titel lange Zeit hindurch ausschließ-
lich dem Rektor der Akademie von Sura Vorbehalten blieb, während
sein Kollege in Pumbadita nur den ihm zukommenden Gelehrtentitel
„Rosch-Jeschiba“ (das aramäische Resch-Metibta, das arabische Ras-
al-Metiba, d. h. Akademiehaupt) führte. Außerdem wurde die Kom-
petenz der Gaonen von Sura von der Regierung in Bagdad als mit
den Befugnissen des Exilarchen gleichstehend anerkannt, wohingegen
die Akademievorsteher von Pumbadita eine solche Gleichberechtigung
nicht genossen und ursprünglich dem Exilarchen unterstellt waren.
Erst gegen Ende der geschilderten Epoche sollte, wie wir unten sehen
werden, die Akademie von Pumbadita samt ihren Gaonen den Vor-
rang gewinnen.
Der innere Aufbau des akademischen Lebens spiegelt sich in der
Schilderung eines Zeitgenossen (Nathan ha’Babli) in folgender Weise
wieder: Neben den regulären, zur Erörterung von Fragen des talmu-
dischen Rechts abgehaltenen Versammlungen wurden an der Akademie
zweimal im Jahre aus dem ganzen Lande beschickte Konferenzen der
Gelehrten und der Studierenden veranstaltet. Es waren dies jene jedes
halbe Jahr wiederkehrenden Kalla, die schon in der Amoräerzeit üb-
lich geworden waren, jetzt aber ein viel umfassenderes Programm zu
erledigen hatten. Am Ende des Winters (im Monat Adar) und am
Ausgang des Sommers (im Monat Elul) pflegten sich nämlich in
Sura oder Pumbadita rechtskundige Talmudisten aus den verschieden-
sten Städten Babyloniens einzufinden, um vier Wochen lang gemein-
same Sitzungen abzuhalten. In diesen Versammlungen führte der Gaon
als der „Rosch-Jeschiba“ den Vorsitz. Wor ihm saßen in sieben Reihen
Babylonien unter den Abbassiden
die Mitglieder des Gelehrtenkollegiums, je zehn in einer Reihe, und
zwar ein jeder auf einem bestimmten, seinem Range entsprechenden
Platz; von den in der ersten Reihe Sitzenden führten sieben den
Ehrentitel „Resche Kalla“ (Konferenzleiter), während die übrigen drei
„Chaberim“ (Präsidialgenossen) genannt wurden. Diese aus siebzig
Gelehrten sich zusammensetzende Hauptgruppe hieß mitsamt dem den
Vorsitz führenden Gaon das „Große Synhedrion“. In den hinteren
Reihen saßen die Studierenden, bis vierhundert an der Zahl. In der
Sitzung warf einer der Gelehrten aus der ersten Reihe irgendeine
Frage auf, die mit dem im abgelaufenen Semester durchgenommenen
Talmudtraktat in Zusammenhang stand. Die Frage wurde von den
Mitgliedern der ersten Reihe einer Erörterung unterzogen, worauf der
Vorsitzende die Debatten zusammenfaßte und sein Präsidialgutachten
erteilte. Mitunter pflegte er selbst irgendeine These zur Erörterung zu
stellen, die dann in der ersten Reihe gründlich behandelt wurde, wor-
auf die Diskussion begann, an der sich auch die nachgeordneten Rei-
hen beteiligen konnten. In der letzten Woche des Kallamonats unter-
zog der Gaon oder „Rosch-Jeschiba“ die Studierenden einer Prüfung,
die sich auf den ganzen im Laufe des Semesters durchgenommenen
Stoff erstreckte. Wer die Prüfung nicht bestand, mußte sich einen
strengen Verweis wegen Mangels an Eifer und Fleiß oder aber eine
Kürzung der gewährten Unterstützung gefallen lassen. Vor dem
Schluß der Konferenz pflegte der den Vorsitz führende Gaon den
Zuhörern bekannt zu geben, welchen der Talmudtraktate man in dem
kommenden Semester zu studieren habe.
In diesen Sitzungen wurde aber außerdem auch über Anfragen
verhandelt, die an den Gaon aus den verschiedensten Gegenden ge-
richtet zu werden pflegten. Der Inhalt dieser Anfragen war überaus
mannigfaltig: bald bezogen sie sich auf das Gebiet der religiösen
Bräuche, bald auf das Zivilrecht, die Prozeßordnung oder auf Ehe-
scheidungsangelegenheiten, bald auf Fragen der Gemeindeselbstver-
waltung. Nach einer allseitigen, sich auf das talmudische Recht grün-
denden Erörterung der auf der Tagesordnung stehenden Frage ver-
lautbarte der Vorsitzende die Entscheidung, die von einem Schreiber
auf der Stelle zu Papier gebracht wurde. Im Laufe der einen Monat
währenden Session wurden auf diese Weise alle von den verschie-
denen Gemeinden und Privatpersonen eingelaufenen Anfragen erle-
digt, so daß noch vor Abschluß der Session die Anfragen mitsamt
454
§ 60. Exilarchen und Gaonen
den darauf bezüglichen Entscheidungen in Anwesenheit aller Kon-
ferenzmitglieder vorgelesen werden konnten, um dann von dem Vor-
sitzenden unterzeichnet und durch die der Entscheidung harrenden
Boten an die betreffenden Bestimmungsorte abgeschickt zu werden.
Den beiden Akademien waren oberste Tribunale (Beth-din ha’ga-
dol, Schaar ha’jeschiba oder Baba di’metibta) vornehmlich als Beru-
fungsinstanzen für verschiedene Gerichtssachen angegliedert Bei der
Untersuchung der wichtigsten Prozeßfälle führte der Gaon in eigener
Person den Vorsitz, wobei er die von den Ortsrichtern gefällten Urteile
entweder bestätigte oder aufhob. Weniger wichtige Gerichtssachen wur-
den unter dem Vorsitz des Stellvertreters des Gaon verhandelt, der den
altehrwürdigen Titel „Ab-beth-din“ (Gerichtsvorsteher) führte.
Die babylonischen Akademien spielten somit in dieser Epoche die
Rolle eines Synhedrion, das in seiner Blütezeit üi Judäa gleichfalls
das höchste Organ der Gesetzgebung und Rechtsprechung war. Die
Entscheidungen dieses Synhedrion pflegte man an alle jüdischen Ge-
meinden des Kalifats in Asien, Afrika und Europa zu verschicken.
Diese Entscheidungen oder „Responsen“ der Gaonen („Teschuboth
ha’geonim“) konnten auf diese Weise als Richtschnur für die Rechts-
gelehrten und Richter aller Diasporaländer dienen. Die Gemeinden,
die sich an die Gaonen mit Anfragen über die Anwendung eines be-
stimmten talmudischen Gesetzes oder wegen Schlichtung irgendeines
Streitfalles wandten, schickten nicht selten bei dieser Gelegenheit den
Akademien durch ihre Sendboten beträchtliche Geldsummen. Über-
dies liefen für den Unterhalt der Akademien von Sura und Pum-
badita und ihrer Gaonen und Gelehrtenkollegien besondere, von be-
stimmten Bezirken entrichtete Abgaben ein. Die Jurisdiktion stand
nämlich in den einen Bezirken dem Exilarchen, in den anderen da-
gegen den Gaonen zu: so setzte der Exilarch in manchen, vornehmlich
persischen Bezirken Gemeinde-„Dajanim“ nach seiner Wahl (wenn
auch mit Zustimmung der Gaonen) ein und erhob durch deren Ver-
mittlung die zur Bestreitung seines Unterhalts bestimmten Abgaben,
während in anderen Bezirken die „Dajanim“ von den Gaonen be-
stellt wurden, zu deren Gunsten dann auch die Abgaben eingingen.
Auf diese Weise bezog der Gaon von Sura alljährlich an i5oo De-
nare aus den Bezirken von Basra, Wassita und den benachbarten Ge-
genden Südbabyloniens, und dem Gaon von Pumbadita standen die Ein-
künfte von den in Nordbabylonien gelegenen Städten zur Verfügung.
455
Babylonien unter den Abbassiden
In das Amt der „Dajanim“, die die Obliegenheiten der Rabbiner
der späteren Zeit versahen, pflegten die Gaonen Männer mit gründe
licher talmudischer Vorbildung einzusetzen. Dabei wurde ihnen im
Namen des an die Akademie angegliederten „obersten Tribunals“ eine
schriftliche Vollmacht oder ein Richterdiplom (Pitka de’dajanuta) fol-
genden Inhalts ausgehändigt: „Wir ernennen den X. Y. zum Dajan
am Orte Z. und erteilen ihm die Vollmacht, in Gerichtssachen Recht
zu sprechen, sowie alle auf Verbotenes und Gestattetes (dem religiö-
sen Ritus gemäß) und den Gottesdienst bezüglichen Fragen zu ent-
scheiden. Mit jedem, der sich seinem Urteil nicht fügen sollte, darf
er (der Dajan), als mit einem, der sich an Gott versündigt hat,
nach seinem Gutdünken verfahren“. Religiöse Fragen pflegte der
Dajan allein zur Entscheidung zu bringen, während ihm bei der Ver-
handlung von Gerichtssachen zwei Beisitzer aus der Mitte der an-
gesehenen Gemeindemitglieder zur Seite standen. Gewisse Rechtsge-
schäfte konnten ohne Mitwirkung des Dajan keine volle Rechtsgül-
tigkeit erlangen. Gleich dem heutigen Notar beglaubigte er verschie-
dene Urkunden: Verkauf kontrakte, Schuldverschreibungen, Schen-
kungsurkunden, Ehe- und Scheidebriefe. Für den Vollzug dieser Akte
durfte er bei den Parteien eine bestimmte Gebühr erheben. Darüber
hinaus bezog der Dajan als Seelenhirt von den ortsansässigen Ge-
meindemitgliedern Feiertagsabgaben (im X. Jahrhundert hatte jedes
über zwanzig Jahre alte Gemeindemitglied alljährlich zwei Sus zu
entrichten, je ein Sus am Passah- und am Sukkothfest). Dazu ka-
men noch gewisse Einnahmen, die der Dajan von den Fleischern be-
zog, da ihm auch die Aufsicht über die rituelle Viehschlachtung zu-
stand. Aus all diesen Mitteln wurden neben dem Unterhalt des Dajan
selbst auch die Kosten seiner Kanzlei bestritten, in der ein festbesol-
deter Schreiber (Sofer) oder Schriftführer angestellt war. Die Ge-
horsamsverweigerung oder die Vollziehung eines der Beglaubigung
bedürftigen Rechtsgeschäftes ohne Hinzuziehung des Dajan konnte
dieser mit einer Geldbuße, mit Stockhieben (Malkoth) oder mit dem
Bannfluch, d. h. mit der Untersagung jeglichen Verkehrs mit dem
Schuldigen, ahnden. — Neben dem Dajan als der vom Exilarchen oder
dem Gaon eingesetzten Behörde fungierte ein gewählter Gemeinde-
rat, der ganz so wie in der vorhergehenden Epoche die Volksbildungs-,
Wohlfahrts- und Fürsorgeangelegenheiten verwaltete.
§ 61. Der Antitalmudismus und die Sekte der Ananiten
Die Macht der Gaonen bedeutete den Triumph des Talmud sowohl
als eines Reglements der jüdischen Autonomie wie auch als des Hor-
tes der religiösen Zucht. Schon im ersten Jahrhundert seines Be-
stehens, unter der Dynastie der Omajaden, vermochte anscheinend
das babylonische Gaonat vieles für die Umsetzung der talmudischen
Gesetzgebung in die Praxis zu leisten, indem es diese Gesetzesbestim-
mungen der sozialen Ordnung des muselmanischen Staates anpaßte.
Seit der Zeit, da die altehrwürdige Überlieferung oder die „mündliche
Thora“ in einem Schriftdenkmal festgelegt worden und an die Seite
der Bibel getreten war, wurde es allen offenbar, daß sich die Ver-
fassung des Volkes fortan aus zwei Thoras zusammensetze: die eine
war die durch Moses vermittelte Offenbarung Gottes, die andere
schien aber nur eine Erfindung von Menschen zu sein, die sich selbst
zu Erben der alten Überlieferungen und zu Interpreten der göttlichen
Offenbarung ausgerufen hatten. Sind nun die von ihnen vermittelten
„Überlieferungen“ aber auch wirklich echt, sind die Vollmachten der
Gesetzeslehrer, von den alten Pharisäern bis zu den zeitgenössischen
Gaonen, die alle auf das Erbe Moses’ Anspruch erheben, überhaupt
rechtsgültig? Diese Fragen mußten sich unwillkürlich jenem Teile des
Volkes aufdrängen, der die immer beschwerlicher werdende Bürde
des Gesetzes als besonders drückend empfand, ohne zu begreifen, daß
diese Bürde noch viel unerträglicher gewesen wäre, wenn die alte
Thora nicht vermittels der elastischen mündlichen Traditionen und
Deutungen an die in stetem Wechsel begriffenen Lebensformen an-
gepaßt worden wäre. Vor der gleichen Frage stand um jene Zeit auch
die muselmanische Welt, für die sie im Zusammenhang mit der
Sunna, der mündlichen Tradition, und den Normen des Gewohnheits-
rechts, die den Koran an die Erfordernisse des arabischen Lebens an-
zupassen suchten, besonders akut geworden war. Die Sekte der Schi-
iten, der Gegner der Sunna, deren Entstehung übrigens durch be-
stimmte politische Umstände veranlaßt worden ist (bekanntlich wollte
sie als rechtmäßige Kalifen nur die Nachkommen des Ali anerken-
nen, denen es jedoch nicht geglückt war, im Kalifat eine Dynastie
zu begründen), bestritt nämlich um der Unantastbarkeit des Buch-
stabens des Koran willen die von der Sunna vermittelten Überliefe-
rungen und Deutungen und wurde gerade darum zu einer konser-
Babylonien unter den Abbassiden
vativen, sich jedem Fortschritt entgegenstemmenden Macht im Is-
lam. Zu solchen Schiiten innerhalb des Judaismus wurden nun die
in der zweiten Hälfte des VIII. Jahrhunderts auftauchenden Anti-
talmudisten, die später den Namen Kar der erhielten. Diese Sekte, die
ursprünglich im Zeichen der Reform hervortrat, verwandelte sich im
Laufe der Zeit in eine Sekte von jüdischen „Altgläubigen“.
Die neue Bewegung bedeutete den Versuch, in Babylonien jene
Opposition gegen den vollendeten und für das Leben maßgebend ge-
wordenen Talmud wieder aufzunehmen, die einstmals in Judäa die
Sadduzäer gegen die Keimzelle des Talmud, die mündliche Lehre der
Pharisäer, begonnen und angeführt hatten. Die neuen Sadduzäer bil-
deten freilich im Gegensatz zu den alten wie auch zu ihren musel-
manischen Zeitgenossen, den zu den Aliden haltenden Schiiten, keine
politische Partei, doch stand ihr erstes Auftreten immerhin mit einer
bestimmten Episode der „inneren Politik“ im Zusammenhang, näm-
lich mit einer der auf dem Gebiete der jüdischen Selbstverwaltung
so häufigen Zwistigkeiten. In den ersten Jahrzehnten des Kalifats
von Bagdad, unter dem Kalifen Al-Mansur, redete der muselmanische
Imam Abu-Chanifa einer freien Auslegung des Koran auf dem Wege
der Erörterung oder Schlußfolgerung zuerst das Wort. Gerade um
diese Zeit, um das Jahr 765, starb in Babylonien der alte, dem
Bostanaigeschlechte angehörende Exilarch (Salomo, nach einer an-
deren Version Isaak), ohne direkte Erben zu hinterlassen. Als An-
wärter auf das Exilarchenamt kamen nahe Verwandte des Verstorbe-
nen in Betracht, die Brüder Anan ben David und Josia oder Hassan
(einer anderen Version zufolge: Chananja). Seinem Alter und seiner
Gelehrsamkeit nach hatte Anan eher als sein Bruder Anrecht auf
die hohe Würde eines „Resch-Galuta“, und doch entschieden sich
die Gaonen und das Gelehrtenkollegium für Josia, der im Rufe
größerer Frömmigkeit stand. Anan, der lange Zeit in den ostpersi-
schen Provinzen, mitten unter den Sektierern, den Isawiten und Jud-
ghaniten (§ 56), gelebt hatte, wurde dagegen ketzerischer Anwand-
lungen verdächtigt Es mag sein, daß er schon damals eine geheime
antitalmudistische Propaganda trieb, so daß seine Gesinnungsgenos-
sen nur deswegen das Exilarchenamt für ihn gewinnen wollten, um
gegen die Gaonen und die Akademien offen hervortreten zu können.
Als nun die Gaonen, Gefahr witternd, die Wahl des Anan vereitelten,
weigerte sich dessen Partei, seinen Bruder als Exilarchen anzuerken-
458
§ 61. Der Anlitalmudismus und die Sekte der Ananiten
nen, obwohl er inzwischen von dem Kalifen in seinem Amte bestätigt
worden war. Sie zögerten nicht, Anan zum rechtmäßigen Exilarchen
auszurufen, und gerieten so mit der Regierung in Konflikt. Anan
wurde in den Kerker geworfen und hatte eine schwere Strafe zu ge-
wärtigen (767). Im Gefängnis traf er mit einem Leidensgenossen,
dem erwähnten muselmanischen Theologen Abu-Chanifa zusammen,
der wegen Verbreitung ketzerischer Lehren gleichfalls hinter Schloß
und Riegel gebracht worden war. Der muselmanische Ketzer gab sei-
nem jüdischen Mitgefangenen den folgenden klugen Rat: „Sobald
du vor dem Gerichte des Kalifen erscheinst, verneige dich ehrerbie-
tigst vor ihm und sprich: Oh, Herrscher der Rechtgläubigen, hast du
meinen Bruder zum Obersten über die Bekenner einer einzigen Reli-
gion oder zweier Religionen eingesetzt? Wird der Kalif antworten:
,Über die Bekenner einer Religion4, so wirst du erwidern: ,Aber ich
und mein Bruder bekennen uns ja zu verschiedenen Religionen, und
auch unsere Anhänger sind verschiedenen Glaubens4. Dann wird der
Kalif, wenn du ihm nur den Unterschied zwischen deiner Lehre und
der talmudischen auseinander setzest, dich ohne weiteres freigeben44.
Anan tat, wie ihm geraten worden war. Überdies gelang es ihm noch,
Al-Mansur glauben zu machen, daß seine Anhänger mit Hochachtung
der prophetischen Mission Mohammeds gegenüberstünden und daß
die Lehre der Antitalmudisten mit der des Islam in vielen Punktea
übereinstimme, so z. B. in der Art der Kalenderaufstellung auf Grund
der unmittelbaren Beobachtung der Mondphasen, nicht aber auf Grund
von astronomischen Berechnungen. In der Tat wurde Anan auf freien
Fuß gesetzt und trat nunmehr offen als Haupt der Antitalmudisten
auf, wobei er seine Feindseligkeit dem Talmud gegenüber besonders
betonte, um auf diese Weise sein Auftreten als Gegenexilarch zu
rechtfertigen.
Gleich den alten Sadduzäern ließ auch Anan nur die biblischen
Gesetze als göttlich gelten; hingegen sah er in der ganzen seit der
Pharisäerzeit unter dem Namen „mündliche Lehre44 ausgearbeiteten
Gesetzgebung eitel Menschenwerk. Den von den Talmudisten geschaf-
fenen Gesetzen — lehrte er —■ komme aus dem Grunde keine verbind-
liche Kraft zu, weil vieles darin über die Bestimmungen des Bibel-
kodex hinausgehe, manches dessen Vorschriften außer acht lasse,
während das übrige auf falscher Interpretation beruhe. Während
Anan so die mündliche Überlieferung als Ergänzung des Mosesge-
459
Babylonien unter den Abbassiden
setzes zurückwies, verwarf er jedoch nicht zugleich auch die Ausle-
gung der Thora; er verlangte nur, daß diese Auslegung, statt auf der
Grundlage angeblicher „Überlieferungen“, im Geiste des Bibeltextes
selbst, auf Grund logischer Schlußfolgerungen erfolge. Hierin
stimmte er in gewissem Sinne mit seinem Kerkergenossen Abu-Cha-
nifa überein, der, obwohl er die Überlieferungen der Sunna neben
dem Koran gelten ließ, nichtsdestoweniger verlangte, daß diese beiden
Gesetzesquellen ihrem direkten Sinne gemäß, auf Grund der logi-
schen Erörterungen (Ra’j) und des Analogieschlusses (Kias), ausge-
legt werden sollten. Anan forderte seine Anhänger auf, den folgenden
Grundsatz zu beherzigen: „Suchet sorgsam in der Heiligen Schriftl“
(Chapissu be’urajta schapir), wodurch er alle sich über der Thora
türmenden historischen Schichtungen abzutragen gedachte, um
den Weg für eine logisch korrekte Auslegung zu ebnen. Allen ande-
ren Interpretationsmethoden zog auch er namentlich die Methode
des Analogieschlusses (Hekes) vor: aus einem biblischen Gebot seien,
meinte er, neue Gesetze nur für solche Fälle abzuleiten, die mit den
in der Bibelvorschrift vorgesehenen gleichen Wesens sind. Hierbei
ließ er indessen nicht nur die aus dem Sinne des Bibeltextes, sondern
auch die aus der Ausdrucksform gezogenen Schlüsse gelten, was der
exegetischen Verfahrensweise des Talmud überaus nahekam, aus dem
er übrigens unter gewissen Modifikationen mancherlei Gesetzesbe-
stimmungen auch direkt übernahm. Sich auf solche Auslegungsme-
thoden stützend, führten Anan und sein Anhang, die Ananiten, in
das rituelle System des Judaismus eine Reihe wesentlicher Neuerungen
ein, deren wichtigste auf das folgende hinausliefen:
Die die Sabbatheiligung betreffenden Gesetze beobachteten die
Ananiten in mancher Hinsicht noch viel strenger als die Talmudisten.
Das biblische Verbot, am Sabbat Feuer anzuzünden und zu kochen,
legte Anan in der Weise aus, daß man nicht einmal am Sabbatvor-
abend Feuer zur Beleuchtung des Hauses und zum Wärmen der
Speise anzünden dürfe, denn dies hieße die Arbeit des Wochentags
automatisch in den Ruhetag hinein verlängern; dies der Grund, war-
um man noch vor Anbruch des sabbatlichen Abends die Kerzen aus-
zulöschen und den Abend im Dunkeln zuzubringen habe, warum man
die warmen Speisen noch am Freitag aus dem Ofen herausholen
müsse, um sie dann am Sabbat kalt zu verzehren. Andererseits durfte
man jedoch am Sabbat leichte Sachen bei sich tragen, denn als Last
46o
§ 61. Der Antitalmudismus und die Sekte der Ananiten
galt nur das, was gewöhnlich auf den Schultern getragen zu werden
pflegte. In diesem Falle mag wohl Anan den Sinn des Gesetzes zu-
treffender erfaßt haben als die Talmudisten, was indessen keines-
wegs von dem von ihm ausgegangenen Verbot behauptet werden
kann, demzufolge man das Haus am Sabbattage ohne dringenden An-
laß nicht verlassen und sich nur zur Sabbatandacht in die Synagoge
begeben durfte. Auch das Ritual der Feier- und Fasttage wurde von
den Ananiten nicht unerheblich modifiziert. Das Osterbrot, die „Maz-
zoth“, pflegten sie z. B., an das im Pentateuch erwähnte „Brot des
Elends“ anknüpfend, nicht aus Weizen-, sondern aus Gerstenmehl
zu backen. Das Schebuothfest begingen die Sektierer nach dem Vor-
bilde der Sadduzäer am fünfzigsten Tage vom ersten Passahsabbat,
nicht aber vom zweiten Passahtage gerechnet, wie dies bei den Tal-
mudisten Brauch war, so daß dieses Fest bei den Ananiten stets auf
einen Sonntag fallen mußte. Die Fasttage wurden erheblich vermehrt:
der siebente Tag eines jeden Monats galt nämlich als Fasttag. Im
Kalenderwesen verwarf Anan die von den Talmudisten eingeführte
astronomische Berechnung und nahm von neuem die primitive Me-
thode der Feststellung des Neumonds auf Grund unmittelbarer Wahr-
nehmung auf. Auch die Speisegesetze erfuhren manche Modifikatio-
nen: das Verbot, Fleisch- und Milchspeisen zu vermischen, wurde ge-
mildert, doch empfahl Anan zugleich, dem Fleischgenusse überhaupt
nach Möglichkeit zu entsagen, da dieser jetzt, nach der Tempelzer-
störung, nicht mehr wie ehedem durch den Opferdarbringungsakt
sanktioniert werde. Einen gewissen Ersatz für das Opfer bilde jetzt
— so meinten die Ananiten — der komplizierte Ritus des Schächtens,
und so maßen sie denn den „Schechita*‘-Bräuchen eine sehr große
Bedeutung bei; in späterer Zeit pflegte man aus diesem Grunde die
„Schechita“ von feierlichsten Zeremonien begleiten zu lassen, so von
einer dem Schlachten vorangehenden Beichte des Schächters, der
auch selbst als eine Art Priester galt. Die gleiche Bedeutung einer
Opferdarbringung wurde von Anan dem Beschneidungsritus beige-
messen; auch für die Beschneidung führte er ein kompliziertes
Zeremoniell ein, wobei die Operation selbst jedoch nur geringfügig
modifiziert wurde: die Operation sollte nämlich nicht mit einem
Messer, sondern mit einer Schere vorgenommen werden. Besonders
zahlreich waren die von Anan stammenden Verbote, die sich auf
manche vom Talmud zugelassenen Verwandtenehen bezogen. Ver-
Babylonien unter den Abbassiden
schärft wurden überdies die auf die rituelle Reinheit, auf die Hy-
giene des Geschlechtslebens, auf Waschungen und Reinigungsakte be-
züglichen Gesetze, worin sich neben den sadduzäischen Tendenzen
auch noch Nachklänge des alten Essäertums bemerkbar machten. Im
Zusammenhang damit machte sich unter den Ananiten die Neigung
zur Absonderung von den Andersgläubigen in einem noch viel höhe-
ren Maße als bei den Talmudisten geltend.
Das charakteristische Gepräge aber verlieh der Gefolgschaft des
Anan der Hang zum Asketismus und die von ihr bekundete Sehnsucht
nach Zion. Die ersten Ananiten betrachteten sich nämlich als eine Ge-
meinde von Auserwählten, die durch ihren heiligen Lebenswandel da-
zu berufen seien, die Heimkehr der Nation ins Heilige Land zu be-
schleunigen. Ohne die messianische Losung gleich seinem Vorgänger
Abu-Isa in den Vordergrund zu rücken, erblickte Anan dennoch in
dem von ihm gewiesenen Ziel der Rückkehr zur Thora nur ein Mittel
für die Rückkehr nach Zion: die Wiederbelebung der alten Frömmig-
keit sollte eben nur eine Vorstufe zu der Wiederherstellung des alten
Heimatlandes sein. Diese messianischen Hoffnungen wie auch die Ver-
folgungen, denen die Ananiten in Babylonien, dem Mutterlande der
Exilarchen und Gaonen, ausgesetzt waren, bewogen viele Sektierer,
nach Palästina überzusiedeln. Eine spätere karäische Überlieferung
behauptet, auch Anan selbst hätte sich in Palästina angesiedelt, dort
seine Gemeinde organisiert und für sie in Jerusalem selbst eine Syna-
goge errichtet. Im Heiligen Lande lebten die ersten Sektierer als Ein-
siedler, „trauerten um Zion“ und erflehten in ihren Gebeten das
Erscheinen des Messias.
Seine Glaubenslehre und seine Thorainterpretationen legte Anan
in einem von ihm aramäisch abgefaßten „Buch der Gebote“ (Sefer
ha’mizwoth) nieder, von dem sich jedoch nur handschriftliche Frag-
mente sowie eine Reihe von Exzerpten in den späteren Schriften der
Karäer und in den polemischen Werken der Talmudisten erhalten ha-
ben. Von seinen letzten Tagen ist uns nichts bekannt. Der Überlie-
ferung zufolge soll er gegen Ende des VIII. Jahrhunderts in Palä-
stina gestorben sein. Die Anhänger des Anan hielten sein Andenken
heilig und fügten später in den Gottesdienst ein besonderes Gebet für
sein Seelenheil ein. Dieses Gebet, das bis zum heutigen Tage in den
Synagogen der Karäer gelesen wird, lautet: „Erbarme dich, Gott, des
Fürsten Anan, des göttlichen Mannes, der den Weg zur Thora ge-
462
§ 62. Die Entwicklung des Karäertums
bahnt, die Augen der Karäer hell gemacht, viele von uns der Sünde
entrissen und uns den Weg der Wahrheit gewiesen hat. Möge der
Herr ihm an der schönen und herrlichen Zufluchtsstätte, mitten unter
den des Paradieses teilhaftigen sieben Gruppen der Gerechten seinen
Platz zuweisen“. Nach dem Ableben des Anan standen laut der Über-
lieferung an der Spitze der von ihm gestifteten Sekte sein Sohn Saul
und sodann sein Enkel Joschijahu, die indessen wenig bedeutend
waren und in der Geschichte der Sekte keine Spuren hinterließen.
Da sie sich als rechtmäßige Exilarchen aus dem Geschlechte Davids
betrachteten, legten sie auch außerhalb Babyloniens diesen Titel nicht
ab, wobei sie sich allerdings nicht „Resch-Galuta“, sondern nach dem
Vorbilde der ehemaligen palästinensischen Patriarchen „Nassi“ nannten.
Wäre die Sekte der Ananiten über das Entwicklungsstadium nicht
hinausgekommen, in dem sie ihr Stifter zurückgelassen hatte, so würde
sie nichts weiter als eine oppositionelle Richtung innerhalb des Judais-
mus, ein durch ihre abweichende Auffassung der gebotenen Thora-
erklärung hervorgerufenes akademisches Schisma gezeitigt haben.
Allein Anan selbst hielt sein Werk für noch unvollendet. Sein oben-
erwähnter Ausspruch: „Suchet sorgsam in der Heiligen Schrift!“ soll
der Überlieferung zufolge von dem Nachsatz begleitet gewesen sein:
„und verlaßt euch nicht auf meine Meinung“. Dieses Mahnwort gab
der persönlichen Einsicht, der Umdeutung der Bibel nach dem Gut-
dünken jedes einzelnen „Suchers“, den weitesten Spielraum. So wurde
denn die gesamte Verfassung des religiösen Lebens von der mehr oder
weniger zutreffenden Bibelerklärung des einen oder anderen Theo-
logen abhängig gemacht. Die Sekte, die mit der Parole der Talmud-
beseitigung auf den Plan getreten war, war nunmehr selbst'auf dem
Wege, ihren eigenen, nicht minder scholastischen, jedoch der ge-
schichtlichen Grundlage entbehrenden Talmud zu begründen.
§ 62. Die Entwicklung des Karäertums und der religiöse Zwiespalt
Im IX. Jahrhundert besaß die Sekte der Ananiten zwei Mittel-
punkte: den einen in Babylonien und dem angrenzenden Persien, den
anderen in Palästina. Die in Palästina lebenden Sektierer hofften
ihrer Lehre durch deren Verbreitung im Heiligen Lande eine beson-
dere Weihe zu verleihen. Zur erfolgreichen Propaganda der neuen
Lehre tat es aber not, sie vorerst auf eine feste Basis zu stellen, der
Babylonien unter den Abbassiden
die Doktrin des Anan, der ja selbst die Parole für eine hemmungslose
Umdeutung der Gesetze des Judaismus ausgegeben hatte, durchaus
ermangelte. Auch die rigorose Ritustreue und die asketischen Tenden-
zen der ersten Ananiten waren wenig dazu angetan, der Sekte einen
großen Anhang zu verschaffen. So verstrichen denn mehr als hundert
Jahre, ehe der Antitalmudismus zu einem wohlgefügten System aus-
gebildet wurde. Das ganze IX. Jahrhundert war für die Sekte eine
Zeit tastender Versuche, während der sie sich in verschiedene Sonder-
strömungen zersplitterte, die auf die in den verschiedenen Provinzen
wirkenden Glaubenslehrer zurückgingen, bis endlich aus diesem Chaos
die Umrisse einer Sekte mit einem mehr oder weniger charakteristi-
schen Gepräge deutlich hervortraten. Zu Beginn des X. Jahrhunderts
gehen bereits die Ananiten, der ursprüngliche Kern der Sekte, gänz-
lich in der großen Masse ihrer Anhänger auf, die nunmehr den neuen
Namen Karäer (Karaim, Bne-mikra) erhalten, was soviel wie die „An-
hänger der Schrift“, die „Bibeltreuen“, heißen sollte. Mit diesem Zeit-
punkt beginnt die eigentliche Geschichte der Sekte und zugleich tritt
auch ihre Entzweiung mit den Gesetzestreuen offen zutage.
Die in der Zwischenzeit zwischen dem Hervortreten der Ananiten
und der endgültigen Herausbildung des Karäertums wirkenden Glau-
benslehrer suchten die Lehre der Sekte, jeder auf seine Weise, zu
begründen. Der gebildetste unter diesen Glaubenslehrern war Benja-
min Nahawendi, ein Richter (Dajan) aus der persischen Stadt Naha-
wendi (um 800—8 5o). Er verfaßte Kommentare zu den Büchern
der Bibel und war auch der Urheber eines „Gesetzeskodex“ (Sefer
dinim), der im karäischen Schrifttum neben dem Kodex des Anan
die zweite Stelle behauptet. Benjamin .verbesserte in mancher Hin-
sicht das Gesetzbuch seines Vorgängers, indem er dessen Rigorismus
abschwächte und sich nicht selten den talmudischen Ansichten näherte.
So legte er z. B. den Bibelvers: „So bleibe jeder daheim; niemand soll
am siebenten Tage seinen Ort verlassen“, in dem Sinne aus, daß man
sich am Sabbat nicht weit von seinem Wohnort entfernen dürfe,
während die Ananiten aus diesem Vers die Verpflichtung ableiteten,
den ganzen Tag mit Ausnahme der Andachtsstunden „daheim“ zu-
zubringen. Mit noch größerem Nachdruck als Anan drang Benjamin
darauf, daß die Thora ihrem logischen Sinne gemäß, ohne Rücksicht
auf irgendeine Autorität, frei ausgelegt werde: der Sohn dürfe dem
Vater widersprechen, der Schüler dem Lehrer, wenn nur der Wider-
464
§ 62. Die Entwicklung des Karäertums
spruch sich auf innere Überzeugung gründe. Benjamin Nahawendi
war zugleich der erste in diesem Kreise, der das Gebiet der religiösen
Dogmen streifte. Auf irgendeine unerfindliche Weise gewann die Lo-
goslehre des Philo von Alexandrien Macht über ihn und so lehrte
er, daß sich Gott als rein geistiges Wesen an der Erschaffung der
sinnlichen Welt oder an dem Akt der Sinaioffenbarung nicht unmit-
telbar beteiligen konnte, sondern die Weltschöpfung durch Vermitt-
lung eines Engels vollbracht hätte; auf diesen Mittler eben bezögen
sich denn auch alle biblischen Anthropomorphismen, jene Wendungen,
in denen Gott als ein redendes, handelndes oder Menschengefühle äu-
ßerndes Wesen erscheint. Übrigens können die Ansichten des Benjamin
auf Grund der kurzen Fragmente, die uns aus seinen hebräisch abge-
faßten Werken erhaltengeblieben sind, nur schwer rekonstruiert werden.
Ebenso undurchsichtig ist in ihren Einzelheiten die Lehre eines
anderen geistigen Bannerträgers der Sekte, des Daniel al Kumissi aus
Tabaristan (gegen Ende des IX. Jahrhunderts), der gleichfalls der Ur-
heber eines „Gesetzeskodex“ war. Daniel führte den Titel eines
„Resch-kalla“ (Vorsitzenden wissenschaftlicher Versammlungen) und
verfügte über ein tiefes Wissen, doch war er in seinen Ansichten sehr
unbeständig. So bekundete er anfänglich große Hochschätzung für
Anan, den er das „Haupt der Aufgeklärten“ (Rosch ha’maskilim)
nannte, um ihn sodann als das „Haupt der Toren“ (Rosch ha'kessilim)
zu schmähen. Seine Lehre stellte die Existenz der Engel in Abrede, in
denen Daniel nur die Personifizierung von Naturkräften erblickte, an-
dererseits untersagte er jedoch jede Beschäftigung mit der Astrono-
mie, die er von der Astrologie, von der Aufstellung von Horoskopen,
nicht zu unterscheiden wußte. Auf dem Gebiete des Ritus neigte er eher
zum Rigorismus, so namentlich in der Auslegung der Speisegesetze.
Das Prinzip der freien Bibelauslegung richtete unter den Anti-
talmudisten große Verwirrung an. Das Fehlen einer festen Tradition
einerseits und genau fixierter methodologischer Prinzipien anderer-
seits rief unter den Sektierern immer wieder Unstimmigkeiten hervor.
Jeder der Gelehrten setzte sich für seine eigene Art der Auslegung
der biblischen Gesetze ein, die indessen nur von einem eng begrenzten
Kreise gebilligt wurde. So wucherten denn innerhalb des Karäerschis^
mas selbst in jener Zeit, da es noch der festen Form und Gestalt er-
mangelte, in üppigster Weise allerlei Richtungen und „Ketzereien“.
Um die Mitte des IX. Jahrhunderts bildete sich unter den Karäern die
30 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
465
Babylonien unter den Abbassiden
Sekte der Akbariten, deren Begründer, der aus der nahe Bagdad ger-
legenen Stadt Akbar stammende Ismael, in mancher Hinsicht von der
rituellen Strenge der älteren Glaubenslehrer abwich. Unter anderem
stand er nicht an zu behaupten, daß der biblische Text viele Ver-
stümmelungen aufweise, die auf Grund logischer Erwägungen oder
der Konfrontierung mit anderen altüberlieferten Texten, dem samari-
tanischen und griechischen, verbessert werden könnten. Sein jüngerer
Zeitgenosse Meschwi, der aus der syrischen Stadt Baalbek stammte,
vergrößerte noch die Verwirrung in der Gesetzesauslegung und modi-
fizierte wieder einmal manche der religiösen Bräuche. So gebot er,
den Jom-Kippur stets an einem Sabbat zu begehen, aus dem Grunde
nämlich, weil dieser Tag im Pentateuch „Sabbat der Sabbate“ genannt
wird; andererseits hielt er sich jedoch nicht an die karäische Regel,
das Schebuothfest stets auf einen Sonntag fallen zu lassen, und ge-
stattete, es gleichzeitig mit den Talmud-Anhängern zu begehen. Bei
der Andacht sollte man sich stets mit dem Angesicht gen Westen,
nicht aber gen Osten richten, weil Meschwi selbst östlich von Jerusa-
lem lebte, wobei er an die Juden, die westlich von Jerusalem lebten,
anscheinend ganz vergaß. Bei den Karäern galt Meschwi als ein Ketzer.
In der zweiten Hälfte des IX. Jahrhunderts bildete sich in den armeni-
schen Gebieten des Kalifats noch eine neue Sekte, die der „Tiflisiten“,
die ihren Namen von der kaukasischen Stadt Tiflis erhielt, wohin der
Stifter der Sekte, Musa al Safrani, aus Bagdad übersiedelte. Er scheint
hier die Lehre der Akbariten mit manchen Modifikationen propagiert
zu haben. Um dieselbe Zeit tauchte in Palästina die Sekte der „Mali-
kiten“ auf, deren Begründer Malik al Ramli (aus der Stadt Ramla)
die von Anan herrührenden Speiseverbote verwarf. Um seine Behaup-
tung, daß die von Anan als Speise verpönten Hähne und Hühner den
reinen Vögeln zuzuzählen seien, zu bekräftigen, bestieg Malik eines
Tages den Hügel, auf dem sich einst der Jerusalemer Tempel erhoben
hatte, und schwor, daß dieses Federvieh auf dem Tempelaltar als
Opfer dargebracht zu werden pflegte und daß es sich somit auch zur
Nahrung wohl eigne.
Wie weit die Verwirrung in den Ansichten und Bräuchen der Karäer
fortgeschritten war, ist aus der folgenden um das Jahr 980 abgefaß-
ten Schilderung zu ersehen, die von einem gelehrten Karäer, Jakub
al Karkassani, stammt. Aus der Bagdad benachbarten Stadt Karkassan
gebürtig, bereiste dieser Gelehrte zu Beginn des X. Jahrhunderts die
466
§ 62. Die Entwicklung des Karäertums
Landschaften des Irak und Persiens, um die verschiedenen Strömun-
gen innerhalb der karäischen Sekte näher kennenzulernen. In seinem
umfangreichen, in arabischer Sprache abgefaßten Werke „Buch der
Gestirne“ (Kitab al-Anwar) entwirft er ein buntes Bild von den bei
den Karäern herrschenden Bräuchen. Wir geben hier seine Schilde-
rung mit Kürzungen wieder:
„Ein Teil der Karäer verbietet, Waschungen am Sabbat vorzuneh-
men. Andere verbieten, am Sabbat das Tablett (oder einen kleinen
Tisch) mit Speisen herumzureichen und das Bett zu machen; verspü-
ren sie aber Hunger, so begeben sie sich dorthin, wo die Speisen ste-
hen, um sie an Ort und Stelle zu verzehren. Andere wiederum gestat-
ten, das Tablett herumzureichen und die Kissen zurechtzulegen, doch
untersagen sie, das eine wie das andere wegzuräumen, da dem Sabbat-
bedürfnis wohl das Herbeiholen, nicht aber das Wegräumen entspreche.
Ein Teil der Karäer von Bagdad gestattet es, am Sabbat für den Be-
darf der kommenden Wochentage alles das zu verrichten, was für
den Bedarf des Sabbat selbst zu tun gestattet ist. Ein Teil der Karäer
von Tuster untersagt es, warme Speisen für den Sabbat zurückzustel-
len und fordert, daß man sie vor Anbruch des Sabbat kalt stelle,
und zwar aus dem Grunde, weil ihrer Meinung nach die Wärme in
den Speisen schon nach Anbruch des Sabbat Veränderungen vei>
ursache; hingegen sind andere damit nicht einverstanden und gestatten
sogar, die für den Sabbat bestimmten warmen Speisen in Stroh zu
legen (um die Wärme zu erhalten). Manche Karäer verbieten das Ko-
chen und Backen an allen Feiertagen mit Ausnahme des Passah, wäh-
rend hi Tuster, wie man mir erzählte, auch noch solche Karäer un-
längst hervorgetreten sind, die alles, was am Sabbat untersagt ist,
auch an den Feiertagen zu tun verbieten. Es gibt Karäer, denen es als
verboten gilt, am Sabbat die Wohnung zu verlassen. Bei der Fest-
stellung des Neumondes begnügen sich die einen mit den Aussagen
eines einzigen Zeugen, während den anderen die Aussage zweier Zeu-
gen unentbehrlich erscheint. Manche unter den Karäern unterlassen in
Übereinstimmung mit der Ansicht des Exilarchen (Anan) das Feiern
des zweiten Feiertages sowohl am Passah- wie am Sukkothfeste, wo-
hingegen andere dies nur am Passah-, nicht aber am Sukkothfeste
zu tun pflegen. Nicht wenige unter ihnen halten sich auch an das Ver-
bot des Anan, am Sabbat die Beschneidung vorzunehmen, doch ist
die Mehrzahl der gegenteiligen Meinung“,
o*
467
Babylonien unter den Abbassiden
„Während manche Karäer nur den Verzicht auf den Genuß des
gesäuerten Brotes, nicht aber auch das Genießen der Mazzoth an allen
sieben Passahtagen für verbindlich erklären, machen die anderen den
Mazzothgenuß an allen Passahtagen zur Pflicht . . . Die einen gestat-
ten ferner, das Fleisch von Hornvieh auch im Exil („al galia“:
Galuth) zu genießen, während die anderen dies untersagen. Manche
Karäer nehmen keinen Anstoß daran, auch bei Andersgläubigen Fische
zu kaufen, anderen gilt dies jedoch als verboten. Die einen genießen
das Fleisch von einem mit Haut und Haar gebratenen Schaf, während
die anderen dies aus dem Grunde verpönen, weil dabei das Fleisch
zusammen mit dem Talg gebraten wird. Einem Teil der Karäer gilt
das Fleisch des von den Rabbaniten (Talmudisten) geschlachteten
Viehs als genießbar, wohingegen ein anderer Teil dessen Genuß ver-
pönt. Manche von den Karäern gestatten den Genuß von Hühner-
fleisch, manche dagegen nicht, während noch andere in diesem Punkte
unschlüssig sind. Unter den Karäern von Basra und denen von Persien
gibt es solche, die neben dem Genuß von jeder anderen Art Talg auch
den der Gedärmenetzhaut und des Talgs des Dickdarms und der Lun-
gen untersagen, dagegen nehmen andere keinen Anstoß daran . . .“
„Die alten Karäer aus Basra behaupteten, daß das Wochenfest un-
bedingt an einem Sonntag begangen werden müsse, nur wüßten sie
nicht, an welchem Sonntag (vor oder nach Eintritt des fünfzigsten
Tages nach Passah). Es gab unter ihnen auch solche, die der Meinung
waren, dieses Fest wäre für die Jetztzeit überhaupt nicht verbindlich;
andere wieder meinten, in der Jetztzeit seien alle Feiertage ohne Aus-
nahme unverbindlich und sie würden nur zum Andenken gehalten . . .
Unter den Karäern von Chorossan und Dschebal waren solche anzu-
treffen, die die Ansicht vertraten, der verheißene Messias sei schon er-
schienen und wieder verschwunden, ebenso wie der Tempel (der von
den Propheten verheißen war) der Tempel Serubbabels gewesen sei,
dem kein anderer mehr folgen würde. Es gibt unter ihnen auch
solche, die die Totenauferstehung nicht anerkennen und der Meinung
sind, daß mit der in der Bibel erwähnten ,Auferstehung* nichts an-
deres als die Erlösung der jüdischen Nation aus dem Exil und der
Schmach gemeint sei. Ein gewisser Teil der Karäer von Bagdad be-
hauptete, daß Chanoch (Henoch) ebenso wie der Prophet Elias eines
gewöhnlichen Todes gestorben seien, da es nicht auszudenken sei, daß
sie als Menschen von Fleisch und Blut gen Himmel gefahren wären“.
468
§ 62. Die Entwicklung des Karäertums
Um nun dieser Verwirrung der Geister ein Ende zu machen, ent-
schlossen sich die karäischen Gesetzeslehrer des X. Jahrhunderts, das
von Anan proklamierte Prinzip der freien Bibelauslegung einzuschrän-
ken und diese nicht nur durch formal-logische Regeln sondern auch
durch eine bestimmte Tradition zu begrenzen. Zugleich gewannen sie
die Überzeugung, daß man auch auf dem Gebiete der religiösen Praxis
jene Bräuche, die, wenn sie auch in der Thora nicht verankert sind,
doch im Volke Wurzel gefaßt haben, nicht einfach ignorieren könne;
sie sahen sich daher genötigt, die Rechtsgültigkeit dieser Bräuche als
einer „angestammten Bürde“ (Sebel ha’jeruscha) anzuerkennen. So
blieb denn den neuen Wortführern des Karäertums nichts anderes
übrig, als dem früheren engherzigen Formalismus zu entsagen. Es
setzte nunmehr eine Reformationsbewegung ein, die auf die Umarbei-
tung der spröden Doktrin Anans zwecks ihrer Anpassung an das Leben
ausging. Einer der hervorragendsten Führer dieser zu Beginn des
X. Jahrhunderts einsetzenden Bewegung war Karkassani selbst, von
dem eben die angeführte Schilderung herrührt, in der die in der
Sekte um sich greifende Zersetzung, das traurige Erbe des vorherge-
henden Jahrhunderts, so anschaulich vor Augen tritt. Dasselbe „Buch
der Gestirne“, dessen erster Teil die Geschichte der älteren und neue-
ren jüdischen Sekten zum Gegenstände hat, behandelt in zwölf wei-
teren Teilen die Unerläßlichkeit der Forschung auf dem Gebiete der
Religion, die Methoden der Gesetzesauslegung und endlich die Ge-
setze selbst nach ihrem Wesen und Inhalt, die hierbei nach sachlichen
Gesichtspunkten in Gruppen zusammengefaßt werden; bei der Er-
örterung jedes der Gesetze nimmt der Verfasser kritisch Stellung
zu den darauf bezüglichen Ansichten der Talmudisten und der älte-
ren karäischen Autoritäten. Seine religionsphilosophischen Ideen
brachte Karkassani in seinen Kommentaren zu den biblischen Büchern
(so unter anderem zu Hiob und Kohelet) wie auch in einer besonderen
Abhandlung „Über den Monotheismus“ zum Ausdruck, die alle gleich-
falls in arabischer Sprache abgefaßt wurden. Gleichzeitig mit Kar-
kassani trat noch eine Reihe anderer karäischer Schriftsteller hervor,
die ihre Lehren in einer gegen die Talmudisten geführten Polemik
des näheren auseinandersetzten (s. unten, § 70).
Zu Zusammenstößen zwischen den Sektierern und den Talmudisten
kam es nicht selten auch innerhalb der Gemeinden. Ein Widerhall
dieser Konflikte ist in jenen Responsen der Gaonen zu vernehmen,
469
Babylonien unter den Abbassiden
die sich auf Gesetzesübertretungen beziehen, denen willkürliche Aus-
legung und eine dementsprechende Modifizierung der religiösen Bräu-
che zugrunde lag. In einer dieser Antworten schildert der Gaon von
Sura Natronai (um 860) die Ananiten mit folgenden zornsprühenden
Worten: „Ketzer sind sie, die die Worte der Weisen verspotten und
verachten, Jünger des Anan unseligen Andenkens, jenes Anan, der
zu den durch seine Gedankenunzucht Verführten gesprochen hat:
Lasset ab von der Mischna und dem Talmud, und ich werde selbst
für euch einen Talmud schaffen. Noch halten sie an ihren Verirrun-
gen fest und sind gleichsam ein Volk für sich geworden. Er (Anan)
hat in der Tat für sie einen garstigen und sinnwidrigen Talmud ge-
schaffen, wie man dies aus seinem abscheulichen Buche, das „Buch
der Gebote“ genannt wird, ersehen kann. Es gilt heutzutage, sie (die
Sektierer) mit dem Bannfluch zu belegen, damit sie mit den Juden
(den rechtgläubigen) nicht gemeinsam die Andacht in den Synago-
gen verrichten; es gilt, sich so lange von ihnen fernzuhalten, bis sie
sich bessern und die von zwei Akademien (in Sura und Pumbadita)
gutgeheißenen Bräuche befolgen“. Dieser Ausschluß der Sektierer
aus den Gemeinden wurde denn auch mit aller Strenge in die Tat
umgesetzt. Später schritten die Talmudisten überdies zu einer lite-
rarischen Bekämpfung des Karäismus, die infolge der seit dem
Anfang des X. Jahrhunderts von den Karäern in Babylonien, Palä-
stina und Ägypten immer reger betriebenen Propaganda des Antital-
mudismus zur unabweisbaren Notwendigkeit geworden war. Das Um-
sichgreifen des Karäertums bedeutete eine schwere Gefahr für jenes
nationale Werk, in dessen Diensten viele Generationen von Gaonen
gestanden hatten: für das Werk der Vereinheitlichung der Judenheit
durch das Mittel der strengen nationalen Zucht. Als erster witterte
diese Gefahr der feinfühligste unter den damaligen Führern der Na-
tion, der Gaon Saadia, von dessen Wirksamkeit noch unten die Rede
sein wird.
§ 63. Der Widerstreit zwischen Exilarchen und Gaonen.
Der Gaon Saadia
In dem Zeitraum zwischen dem VIII. und X. Jahrhundert wurde die
nationale Hegemonie Babyloniens von den Juden sowohl im Bereiche
des Abbassiden-Kalifats als auch weit über dessen Grenzen hinaus
anerkannt. Aus den verschiedensten Ländern pflegte man die „Syn-
470
§ 63. Innere Streitigkeiten und der Gaon Saadia
hedrien“ von Sura und Pumbadita um die Entscheidung religiöser
und rechtlicher Fragen anzugehen. Dieser ständige Verkehr mit dem
geistigen Zentrum des Judentums begünstigte die gegenseitige An-
näherung der verschiedenen Teile des zerstreuten Volkes. Je weiter
die Grenzen des arabischen Kalifats gezogen wurden, um so reger
wurden die Beziehungen zwischen den Repräsentanten der babyloni-
schen Akademien und den in den fernsten Ländern gelegenen Gemein-
den. Der geistige Einfluß der Gaonen erstreckte sich auf die jüdi-
schen Gemeinden Persiens und Mesopotamiens, Syriens und Palästinas,
Ägyptens und Nordafrikas, aber auch auf Spanien, wo seit dem
VIII. Jahrhundert die arabische Herrschaft festen Fuß gefaßt hatte.
Allerorten wurden die Normen des talmudischen Rechts in die Le-
benspraxis eingeführt. Die Verbreitung des Talmud folgte der des
Islam auf dem Fuße. Die Araberherrschaft, die Asien, Afrika und
Europa einander näher brachte, bahnte allenthalben den Weg für
die von den Akademien Babyloniens ausgehende Lehre und trug zur
homogenen Ausbildung der autonomen Verfassung der Diaspora bei.
Unter anderen politischen Verhältnissen hätte sich eine derartig ein-
heitliche nationale Disziplin sicherlich nicht so leicht befestigen kön-
nen und die Geschicke des Judentums hätten sich wohl ganz anders
gestaltet. Diesen Gedanken kleideten die synagogalen Prediger jener
Zeit in die folgenden Wendungen: „Die beiden Jeschiboth (vonSura
und Pumbadita) hatten weder unter der Religionsnot noch unter
Judenhetzen zu leiden, und sie gerieten weder unter die Herrschaft
Jawans (Byzanz’) noch Edoms (Roms). Eine Wohltat erwies Gott
Israel dadurch, daß er zwölf Jahre vor der Zerstörung Jerusalems
(durch Nebukadrezzar) den König Jekonja mitsamt den erlesensten
Männern nach Babylonien verschlagen hat, wo sich die Thora seit
jener Zeit bis auf die heutigen Geschlechter ununterbrochen entwik-
kelt hat“1).
Indessen litt die Organisation der autonomen Gewalt in Babylo-
nien an einem Krebsschaden, der unausgesetzt an ihren Kräften zehrte.
Wohl vereinigte die babylonische Hegemonie die verschiedenen Teile
des jüdischen Volkes zu einem Ganzen, doch fehlte es an der nötigen
*) Bruchstück einer aus der gaonäischen Epoche stammenden Predigt, das
sich in manchen Abschriften des Midrasch Tanchuma, im Abschn. Noah, findet
(das Stück fehlt in der Ausgabe von Buber). Eine ähnliche Stelle kehrt in dem
Sendschreiben eines der Gaonen des IX. Jahrhunderts wieder (S. „Ha’goren“,
B. IY, i9o3, S. 73).
471
Babylonien unter den Abbassiden
Eintracht unter den Führern selbst. Die Aufteilung der Gewalt zwi-
schen dem Exilarchen einerseits und den beiden Gaonen andererseits
mußte mangels scharfer Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzsphä-
ren immer wieder zu Streitigkeiten führen. Zwei oder drei neben-
einander bestehende, dem Exilarchen und den beiden Gaonen unter-
stellte Zentralbehörden, deren jede ihre eigenen „Dajanim“ und Ver-
waltungsbeamlen in den Gemeinden einsetzte, zwei oder drei Finanz-
behörden, eine jede mit eigener Finanzhoheit, drei oberste Gerichts-
stätten, in Bagdad, Sura und Pumbadita — all dies mußte unaus-
bleiblich zu unliebsamen Reibereien unter den Trägern der Gewalt
führen. Es fehlte eben an einer Verfassung, die die gegenseitigen
Beziehungen zwischen den verschiedenen Verwaltungsorganen in un-
zweideutiger Weise geregelt hätte. Die Exilarchen würde vererbte sich
in dem Geschlechte des Bostanai, doch bedurfte die Machtübernahme
jedesmal der Sanktion von seiten der Gaonen, die nach dem Ableben
eines Exilarchen unter den Erbberechtigten manchmal selbst die Wahl
treffen konnten, wie z. B. in dem Falle des Anan. Auch viele Ger-
richtsentscheidungen der Exilarchen bedurften der Zustimmung der
rechtskundigen Gaonen. Seinerseits erhob der Exilarch Anspruch auf
das entscheidende Wort bei der Bestätigung der Gaonen in ihrer
Würde, und es kam vor, daß er bei der Rivalität zweier Bewerber
um das Amt des Akademiehauptes der von dem Gelehrtenkollegium
getroffenen Wahl seine Zustimmung versagte. Die Abhängigkeit der
geistlichen Macht von der weltlichen kam symbolisch darin zum Aus^
druck, daß beide Gaonen alljährlich zur Teilnahme an der altüber-
kommenen Huldigungszeremonie zu Ehren des Exilarchen am „feier-
lichen Sabbat“ (Schabbata de’rigla de’resch-galuta) nach Bagdad
kommen mußten, und nur selten geschah es, daß der Exilarch sich zu
dieser Feier nach Sura begab. Das Huldigungszeremoniell wurde zwar
treulich beobachtet, doch empfanden die Gaonen ihre Abhängigkeit
in gesellschaftlichen und geistlichen Dingen von dem in Bagdad schal-
tenden Beamten als äußerst lästig und ignorierten ihn nicht selten
gerade in solchen Fällen, in denen er sich selbst als ausschlaggebende
Instanz betrachtete.
Zu besonders schweren Zusammenstößen kam es namentlich bei
der Einsetzung der Gaonen, insbesondere der von Pumbadita, die an-
fänglich nicht über die gleiche amtlich anerkannte Autorität verfüg-
ten wie ihre Kollegen von Sura. So weigerte sich der Exilarch (man
472
nimmt an, daß es Salomo ben Chisdai war) um das Jahr 755, in
das Amt des Gaons von Pumbadita den gelehrten Schriftsteller Achai
aus Schabcha, den Verfasser eines halachisch-haggadischen Sammel-
werkes „Scheeltoth“ (unten, § 69), einzusetzen und ernannte an sei-
ner Statt seinen eigenen, dieses Amtes viel weniger würdigen Lands-
mann Natroi aus Bagdad. Der gekränkte Achai verließ Babylonien
und wanderte nach Palästina aus. Einige Jahre später, als dieser
Exilarch starb, mischten sich die Gaonen ihrerseits in die Wahl seines
Nachfolgers ein, für die zwei Anwärter, Anan und Chananja (Josia),
in Betracht kamen, was bekanntlich zu einer formellen Lossagung
des Anan vom talmudistischen Judaismus und zur Entstehung des
Karäerschismas den ersten Anstoß gab (§ 61). Manchmal fungierten
zur selben Zeit je zwei Würdenträger: ein Exilarch und ein Gegen-
exilarch, ein Gaon und ein Gegengaon. So geschah es, daß um das
Jahr 826 in Bagdad zwei Exilarchen um die Macht stritten, David
und Daniel, während in Pumbadita zu gleicher Zeit ihre zwei Krea-
turen, Abraham ben Scher ira und Joseph bar Chi ja, sich gegen-
seitig die Gaonwürde streitig machten. Joseph war ehedem als Ge-
richtsvorsteher (Ab-beth-din) der Stellvertreter des Gaon Abraham
und wurde als Günstling des Gegenexilarchen gleichfalls zum Gaon
befördert. Als es David bald darauf gelungen war, sich in Bagdad
die Alleinherrschaft zu sichern, erschienen dort zu seiner Begrüßung
die beiden Gaonen von Pumbadita. Während der feierlichen Ver-
sammlung in der Synagoge, als der Kantor ausgerufen hatte: „Nun
höret die Meinung der Häupter (statt „des Hauptes“) der Akademie
von Pumbadita!“, wurde im Volke lautes Schluchzen vernehmbar,
da gar viele von der schmachvollen Zwietracht zwischen den geistli-
chen Würdenträgern schmerzlich berührt waren. Da erhob sich R.
Joseph und gab die Erklärung ab, daß er auf die Gaonwürde ver-
zichte und in sein früheres Richteramt zurückkehre. So wurde die
Rivalität der Würdenträger unter dem Drucke der öffentlichen Mei-
nung aus der Welt geschafft.
Der obenerwähnte Streit der beiden Exilarchen wurde aber durch
die Einmischung des damaligen Kalifen, des aufgeklärten Al-Mamun,
geschlichtet. Zu David hielt anscheinend die Gemeinde von Pumba-
dita, während die von Bagdad mehr zu Daniel neigte. In diesem Wi-
derstreit spielte nicht so sehr persönlicher Ehrgeiz eine Rolle als
vielmehr die Verschiedenheit der religiösen Gesinnung: Daniel soll
§ 63, Innere Streitigkeiten und der Gaon Saadia
Babylonien unter den Abbassiden
nämlich der Sekte der Ananiten angehört haben oder vielmehr der
Sympathien für sie verdächtigt worden sein, und so wurde denn gegen
ihn der Kampf um des rechten Glaubens willen geführt. Um die
gleiche Zeit war auch ein Kampf zwischen zwei Anwärtern auf die
Würde des chaldäischen Patriarchen innerhalb der christlichen Kirche
Babyloniens entbrannt. Jede der streitenden Parteien beider Konfes-
sionen ging nun die Regierung von Bagdad um Unterstützung an.
Der freidenkende Kalif Al-Mamun entschied den Streit im Geiste un-
eingeschränkter Gewissensfreiheit: er tat kund, daß es jeder mehr als
zehn Personen zählenden religiösen Gemeinschaft, mögen es Christen,
Juden oder Magier sein, freistehe, einen eigenen Repräsentanten zu
wählen. Diese rückhaltlose Sanktion schismatischer Absplitterungen
konnten sich nicht nur ernstlich überzeugte Männer sondern auch
ehrgeizige Streber zunutze machen, und so nahm der Kampf um
die Macht nicht selten Dimensionen an, die geradezu die Grundpfei-
ler der jüdischen Selbstverwaltung zu erschüttern drohten. Besonders
heftig und folgenschwer wurden diese inneren Zwistigkeiten in der
ersten Hälfte des X. Jahrhunderts.
Um das Jahr 920, als das Exilarchenamt in Bagdad von Ukba ver-
waltet wurde, entbrannte zwischen ihm und der Akademie von Pumba-
dita einStreit wegen der Einsetzung vonDajanim und der Steuererhe-
bung in der Provinz Chorassan, die der Gerichtshoheit der Gaonen un-
terstellt war. Als Ukba die Abgaben aus Chorassan zu seinen Gunsten
einzog, rief der Gaon von Pumbadita Kohen-Zedek den Beistand ein-
flußreicher Männer in Bagdad an, denen es gelang, beim Kalifen die
Amtsenthebung des Ukba durchzusetzen. Ukba wurde darauf nach der
Landschaft Karmissin, fünf Tagereisen östlich von Bagdad, verbannt.
Bald suchte indessen der Kalif selbst (oder der „Sultan“, nach der
arabischen Version) diese Gegend zur Erholung auf. Auf seinen Spa-
ziergängen in den prächtigen, seinen Palast umgebenden Gärten be-
gegnete ihm nun alltäglich der abgesetzte Exilarch, der ihn mit wohl-
klingenden Versen begrüßte, wobei er deren Inhalt und Form jedes-
mal zu ändern wußte. Der Schreiber des Kalifen, der die Verse des
Ukba aufzuzeichnen pflegte, lenkte die Aufmerksamkeit seines Herrn
auf die wunderbare dichterische Gabe des Verbannten, was den Ka-
lifen dazu veranlaßte, Ukba zu sich zu berufen; nach Anhörung sei-
ner Bitte gestattete er ihm nicht nur die Rückkehr nach Bagdad,
sondern trug ihm auch das Exilarchenamt von neuem an. Dies er-
474
§ 63. Innere Streitigkeiten und der Gaon Saadia
regte jedoch den Unwillen der Bagdader jüdischen Notabein, an de-
ren Spitze die einflußreiche Familie Natira stand, und so wurde denn
nichts unterlassen, um Ukba erneut die Ungnade des Hofes zuzu-
ziehen, Ukba wurde abermals seines Amtes entsetzt und auf Befehl
des Kalifen aus dem Bezirk von Bagdad ausgewiesen. Er brach nun
nach dem Westen, nach „Maghreb“, auf, anscheinend um den Mit-
telpunkt der nordafrikanischen Judenheit, Kairuwan, aufzusuchen.
Nach diesem Zwischenfall blieb das Exilarchenamt einige Jahre
unbesetzt. Als ein vielen genehmer Amtsanwärter kam der Neffe des
Ukba, David ben Sakkai, in Betracht, der sich späterhin durch seinen
Kampf gegen das Gaonat traurigen Ruhm erwarb. Obwohl sich der
Gaon von Pumbadita Kohen-Zedek dieser Wahl widersetzte, erteilte
der Gaon von Sura der Einsetzung Davids in das Exilarchenamt seine
Sanktion. Die Gelehrten und die Studierenden der Akademie von
Sura begaben sich nach Davids Heimatorte, dem zwischen Sura und
Bagdad gelegenen Al-Kasr, um ihm aus diesem Anlaß zu huldigen.
Kohen-Zedek verweigerte dem neuen Exilarchen noch drei Jahre lang
in hartnäckigster Weise seine Anerkennung, bis auch er auf das Zu-
reden des als Wundertäter geltenden weisen Blinden Nissi Nahar-
wani, eines ehemaligen „Resch-Kalla“, d. h. eines Leiters der aka-
demischen Konferenzen, sich schließlich mit ihm aussöhnte.
Kaum war die Exilarchenfrage erledigt, als in Sura das Gaonamt
vakant wurde. Es war nicht leicht, in Babylonien einen mit der nöti-
gen Autorität ausgestatteten Gelehrten, der der Würde des Vorstehers
der ältesten Akademie gewachsen wäre, zu finden, und man entschloß
sich daher einen Gelehrten von auswärts zu berufen. Um jene Zeit
verbreitete sich im ganzen Morgenlande der Ruhm des jungen, aus
Ägypten gebürtigen Schriftstellers Saadia al Fajumi, der sich da-
mals zuerst in Palästina und dann in Syrien auf hielt. Von dem Wun-
sche geleitet, Sura durch die Heranziehung einer solchen Berühmt-
heit zu neuem Ansehen zu verhelfen, beriefen der Exilarch David ben
Sakkai und das Gelehrtenkollegium Saadia nach Babylonien und er-
nannten ihn zum Gaon von Sura (928). Nun entbrannte aber ein
Kampf, der für die beiden Grundfesten der jüdischen Selbstverwal-
tung, das Exilarchat und das Gaonat, verhängnisvoll werden sollte.
Saadia ben Joseph (geb. 882 oder 892, gest 942), aus dem Be-
zirk von Fajum oderPithom in Oberägypten gebürtig, gehörte zu den
erlesensten Vorkämpfern der arabisch-jüdischen literarischen Renais-
Babylonien unter den Abbassiden
sance. Er vereinigte in seinem Geiste die gesamte weltliche und reli-
giöse Bildung seines Zeitalters. Ein vorzüglicher Kenner des Talmud
und des ganzen jüdischen Schrifttums, war er zugleich ein hervor-
ragender Repräsentant der damaligen arabischen Bildung (der größte
Teil seiner Werke ist auch arabisch geschrieben). Die Früchte seiner
enzyklopädischen Bildung kamen früh zur Reife. Schon mit dem
zwanzigsten Lebensjahre ging er an die Zusammenstellung einer En-
zyklopädie der Sprachwissenschaft, eines Lexikons der hebräischen
Sprache, um sodann ein System der Grammatik, der Stilistik und
Poetik („Sefer ha’Agron“) zu schaffen. Drei Jahre später verfaßte
er in arabischer Sprache ein polemisches Werk gegen die Karäer un-
ter dem Titel „Die Widerlegung des Anan“ (unten, § 70). Unmittel-
bar darauf nahm Saadia ein noch viel wichtigeres Werk in Angriff:
eine von einem ausführlichen Kommentar begleitete Übertragung der
biblischen Bücher ins Arabische. Damit wollte er vor allen Dingen
die Bibel allen gebildeten Arabern sowie den arabisch sprechenden,
ihrer alten Sprache nicht mehr mächtigen Juden zugänglich machen,
und überdies sollte durch die vernunftgemäße Auslegung der wahre
Sinn der von den Anhängern der verschiedenen Religionen und Sek-
ten in willkürlicher Weise aufgefaßien heiligen Texte vor Mißdeutung
bewahrt werden. Im Jahre 915 verließ Saadia Ägypten und siedelte
nach Palästina über; von dort aus begab er sich nach Syrien und
Babylonien. Auf dem Wege nach Bagdad wurde er in den heftigen
Streit mithineingezogen, der um jene Zeit zwischen den babylonischen
und palästinensischen Akademien im Zusammenhang mit dem Ka-
lenderwesen entbrannt war. Die in Jerusalem neuerstandene Akade-
mie bestritt nämlich den Akademien von Sura und Pumbadita das
Recht, die Feiertagstermine festzusetzen, indem sie sich auf das alte
Vorrecht der palästinensischen Patriarchen berief, der Diaspora all-
jährlich die Feiertagsfristen bekanntzugeben (unten, § 65). Auf das
Drängen des babylonischen Exilarchen und der Gaonen hin mischte
sich nun Saadia in diesen Streit ein und sprach sich für die Unab-
hängigkeit Babyloniens aus. Diese Stellungnahme des Saadia im
Kampfe um die Hegemonie zugunsten der babylonischen Gaonen und
des Exilarchen bewog nun diese dazu, ihm den altehrwürdigen Posten
eines Gaon von Sura, der Geburtsstätte des Talmudismus, anzubieten.
Saadia kam nach Babylonien mit dem innigsten Wunsche, sich
ganz dem Dienste an der Gemeinschaft zu widmen und das Gedeihen
476
§ 63. Innere Streitigkeiten und der Gaon Saadia
der alten Akademie, in deren Hallen noch der Nachklang der Stimmen
der Talmudschöpfer, des Rab und Rab Aschi, vernehmbar war, nach
Kräften zu fördern. Dieser von der geistigen Metropole ausgehende
Zauber mußte indessen für Saadia an Anziehungskraft erheblich ver-
lieren, als er die gesellschaftlichen Verhältnisse der babylonischen Ju-
den und namentlich die Gepflogenheiten der Führer des Volkes näher
ins Auge faßte. Das Gaonat und die akademischen Kollegien entspra-
chen keineswegs ihrem hohen Berufe. Die Exilarchen konnten sich
nur durch Bestechung des Kalifen und seiner Würdenträger an der
Macht halten und bürdeten ihrerseits dem Volke in willkürlichster
Weise Steuern auf, die dabei nicht selten auch noch durch Gewalt-
maßnahmen mit Hilfe der arabischen Beamten beigetrieben zu wer-
den pflegten. Mit diesem Mißbrauch der Amtsgewalt vermochte sich
nun Saadia in keiner Weise abzufinden. So geriet er denn bald selbst
in einen Konflikt mit dem Exilarchen David ben Sakkai.
Der Exilarch ließ sich nämlich einst bei der Entscheidung irgend-
eines eine große Nachlassenschaft betreffenden Rechtsstreites nicht
von Recht und Billigkeit, sondern von durchaus eigennützigen Er-
wägungen leiten (es war ihm der zehnte Teil der Erbschaft in Aus-
sicht gestellt worden) und verlangte, daß die beiden Gaonen seinen
Urteilsspruch nachträglich mitunterzeichneten. Der Gaon von Pumba-
dita, Kohen-Zedek, stand nicht an* die Forderung zu erfüllen, und
gab seine Unterschrift; dagegen hatte es Saadia als Gaon von Sura
abgelehnt, der rechtswidrigen Entscheidung des Exilarchen seine
Sanktion zu erteilen. Als der Exilarch darauf durch Vermittlung sei-
nes Sohnes von dem trotzigen Gaon unbedingten Gehorsam for-
derte, gab dieser dem Boten zur Antwort: „Kehre zu deinem Vater
heim und sage ihm, daß es in der Thora heißt: Du sollst ohne An-
sehen der Person richten“. Nach langem vergeblichen Zureden er-
dreistete sich der jugendliche Bote, dem Gaon Gewaltmaßnahmen an-
zudrohen, worauf er ohne Umstände von den Getreuen des Saadia zur
Tür hinausgeworfen wurde. Der aufgebrachte Exilarch entzog nun
Saadia die Gaonwürde, verhängte über ihn den „Gherem“1) und er-
1) Der Bannfluch erstreckte sich nach der erhaltengebliebenen Urkunde (in
gemischter hebräisch-arabischer Sprache) auf jeden, der „den Seid Alfajumi, den
Verderber Israels, mit seinem früheren Ehrennamen (Gaon) titulieren, sein Haus
betreten, seinen richterlichen Spruch angehen, sich an ihn in einer Streitsache,
bei der Ausfertigung einer Schuldverschreibung, eines Ehekontrakts oder eines
Scheidebriefes wenden sollte“ usw.
477
Babylonien unter den Abbassiden
nannte zum Rektor von Sura einen anderen Gelehrten, einen gewissen
Joseph ihn Satia. Saadia tat seinerseits David ben Sakkai in Acht und
Bann und rief gemeinschaftlich mit seinen Anhängern dessen Bru-
der, Josia Hassan, zum Gegenexilarchen aus (93o). So bildeten sich
in Babylonien zwei Parteien, die des David und die des Saadia, deren
jede den Kalifen und die maßgebenden Würdenträger von Bagdad
für sich zu gewinnen suchte. Durch große Bestechungssummen gelang
es jedoch der Partei des David, am Hofe von Bagdad die Oberhand
zu gewinnen. Saadia ging seiner Würde verlustig und mußte Sura
verlassen, während der von ihm ernannte Gegenexilarch nach Choras-
san deportiert wurde. Doch war der Kampf noch nicht zu Ende.
Die erhaltengebliebenen Überreste der Streitschriften, die die bei-
den Parteien einander entgegenschleuderten, zeugen von der großen
Heftigkeit, mit der der Kampf ausgefochten wurde. An der Spitze
der Gegner des Saadia und der Parteigänger des Exilarchen stand der
reiche Bagdader Kaufmann Aaron ibn Sardschado, der auch auf die
Gelehrtenwürde Anspruch machen zu können glaubte. In der von
diesem Widersacher des Saadia veröffentlichten Streitschrift wurden
verschiedene angeblich von „palästinensischen Zeugen“ bestätigte Ver-
unglimpfungen des Gaon aneinandergereiht: so sollte er von zum Ju-
dentum bekehrten Heiden aus dem Bezirk von Fajum abstammen,
ferner hätte er sich allerlei Gesetzesübertretungen, so z. B. das Tra-
gen am Sabbat, zuschulden kommen lassen, die Beobachtung mancher
religiösen Bräuche unterlassen und sei überhaupt ein ausgesprochener
Freidenker (Epikoros). All diese Anwürfe mochten in der verhältnis-
mäßig freien Denkungsart des Saadia und in der Weite seines Ge-
sichtskreises ihren letzten Grund gehabt haben. Zur Entkräftung die-
ser Streitschrift schrieb Saadia sein „Buch des Verbannten“ („Sefer
ha’galuj“, mit dem arabischen Titel „Kitab al tarid“), in dem er den
Angriffen seiner Widersacher mit Würde entgegentrat. „Dieses Buch
zu schreiben — heißt es darin—, sah ich mich dadurch veranlaßt, daß
sich die Menge, aus Haß gegen die Weisheit und von dem Wunsche
getrieben, in unserem Volke weder Wissen noch Gerechtigkeit auf-
kommen zu lassen, gegen mich auf lehnte“. Saadia beruft sich auf
seine frühere Wirksamkeit und zählt seine Werke auf, um die Grund-
losigkeit des ihm gemachten Vorwurfes des Freidenkertums vor Au-
gen zu führen. Außer diesem Buche, von dem sich nur ein Bruch-
stück erhalten hat, verfaßte Saadia im Laufe jener sieben Jahre, als
478
§ 64. Das letzte Jahrhundert der babylonischen Hegemonie
er in Bagdad unter dem Drucke des auf ihm lastenden Bannfluches
in Einsamkeit lebte, noch eine Reihe anderer Werke. In diesen Jah-
ren widmete er sich ganz der literarischen Tätigkeit, schrieb Kom-
mentare zur Bibel, talmudische Untersuchungen sowie Gedichte religi-
ösen Inhalts. Die Lieblingsbeschäftigung des Saadia war aber die Re-
ligionsphilosophie. In den traurigen Jahren des Ungemachs verfaßte
er in arabischer Sprache das bedeutsamste seiner Werke, das seinen
Namen für alle Zeiten unsterblich machte, den Traktat „Glaubens-
lehren und Beweisführungen“, der ein ganzes System der Philosophie
des Judaismus in sich schließt (unten, § 71).
Die langwierigen Zänkereien unter den höchsten Vertretern der
jüdischen Selbstverwaltung wirkten in ungünstigster Weise auf das
Gemeindeleben zurück. Das Volk litt schwer unter der Zerrüttung
der zur Regelung seines inneren Lebens berufenen Zentralbehörden.
So fanden sich denn wohlgesinnte Männer, die den Entschluß faß-
ten, dem unheilvollen Zwist ein Ende zu machen. Die zwischen den
Vertretern der beiden Parteien angeknüpften Verhandlungen hatten
Erfolg, und bald schlossen David ben Sakkai und Saadia in Bagdad
in feierlichster Weise Frieden miteinander. Saadia wurde nun in
sein Amt als Rektor der Akademie von Sura erneut eingesetzt (937).
David ben Sakkai starb schon drei Jahre nach der erfolgten Versöh-
nung, und auch Saadia überlebte seinen ehemaligen Widersacher nur
kurze Zeit. Die Aufregungen der Kampfperiode und die angestrengte
geistige Arbeit untergruben die Gesundheit des großen Gaon. Erstarb
im Jahre 942, im Alter von fünfzig Jahren.
§ 64. Das letzte Jahrhundert der babylonischen Hegemonie
(942-1040)
David ben Sakkai war der letzte Patriarch, dem von Amts wegen
die Gewalt über die jüdischen Gemeinden des ganzen Kalifats von
Bagdad zustand. Mit seinem Tode geht das Exilarchat allmählich un-
ter, da um diese Zeit die Gewalt der abbassidischen Kalifen, an der
die Dynastie der jüdischen „Fürsten“ ihren Rückhalt hatte, selbst
in Zersetzung begriffen ist. Es ist gewissermaßen symbolisch, daß
der Tod des David ben Sakkai und der des Kalifen von Bagdad Al-
Radi, der als letzter der Abbassiden offiziell noch als „Gebieter der
Rechtgläubigen“ im ganzen Morgenlande galt, in ein und dasselbe Jahr
479
Babylonien unter den Abbassiden
fällt (g4o). Die Nachfolger der beiden Gebieter, des muselmanischen
wie des jüdischen, führen ein nur kümmerliches Dasein. Die jüdische
Dynastie der Bostanaiiden schien gleichsam erloschen zu sein, so daß
nicht einmal die Chronisten des Loses der letzten Vertreter dieses Ge-
schlechts gedachten. Der Sohn und Nachfolger des David ben Sakkai,
Jehuda, überlebte seinen Vater nur um sieben Monate. Des ver-
waisten Enkels des David nahm sich der Gaon Saadia an. Mit liebe-
voller Sorgfalt widmete sich der Gaon von Sura der Erziehung und
der Ausbildung des Enkelkindes des Mannes, der einstmals sein Geg-
ner war. Nach dem Ableben Saadias stand aber der minderjährige
Prätendent völlig schutzlos da. So blieb das Exilarchenamt, wie es
scheint, lange Zeit unbesetzt. Die späteren Exilarchen, die man kaum
dem Namen nach kennt, spielten in der jüdischen Öffentlichkeit keine
irgendwie bedeutsame Rolle mehr1).
Mit dem Niedergange des Exilarchats mußte ein Teil seiner Funk-
tionen auf die Gaonen und die Gelehrtenkollegien der beiden Aka-
demien übergehen. Die traurigen Anzeichen des Verfalls traten in-
dessen auch hier unverkennbar zutage. Die älteste der Akademien,
die von Sura, büßte mit dem Tode ihres großen Rektors Saadia ihre
Bedeutung ein. Der Amtsnachfolger des Saadia, sein einstmaliger Ri-
vale Joseph ibn Satia, vermochte die alte Pflanzstätte des Wissens
von dem unabwendbaren Verfall nicht mehr zu retten. Die Zahl der
Gelehrten und Studierenden in Sura verringerte sich zusehends und
auch die Einnahmen der Akademie, die sich aus den von verschiede-
nen Gemeinden gestifteten Spenden zusammensetzten, schmolzen emp-
findlich zusammen. So geschah es, daß die ruhmvolle, noch von dem
großen Amoräer Rab begründete Akademie, die mit Unterbrechun-
gen sieben Jahrhunderte lang in Blüte stand, nunmehr ihre Pforten
endgültig schließen mußte (um 948). Damit war zugleich auch dem
1) Über die Exilarchen der zweiten Hälfte des X. Jahrhunderts sind uns nur
verworrene Nachrichten überliefert. So berichtet Nathan Babli, ein Zeitgenosse
des Saadia, über einen Bewerber um das Exilarchenamt, der in der Stadt Nisibis
auf getaucht war: kaum hatte er jedoch nach dem Tode des David ben Sakkai
das Amt angetreten, als er mitten auf dem Markte von einem fanatischen Musel-
manen wegen „Verdammung des Nichtswürdigen“ (des Propheten Mohammed) er-
mordet wurde. Gegen Ende des X. Jahrhunderts bezeugt der Gaon Scherira, daß
vom Exilarchengeschlechte nur ein einziger in kindlichem Alter stehender Nach-
komme übriggeblieben sei. Dieser letzte Sproß der Dynastie scheint später unter
dem Namen Hiskia zum Exilarchen ernannt worden zu sein (s. unten, am Ende
dieses Paragraphen).
48o
§ 6U. Das letzte Jahrhundert der babylonischen Hegemonie
Amte des Gaon von Sura für lange Zeit der Boden entzogen. Erhalten
blieb nur die zweite Hochschule, die von Pumbadita. Die Gaonen
von Pumbadita hielten gemeinsam mit ihrem Gelehrtenkollegium noch
ein ganzes Jahrhundert lang die ehrwürdige Autorität des talmudi-
schen Zentrums, die altüberkommene babylonische Hegemonie auf-
recht,-und doch entglitt die Führung immer mehr den Händen der
babylonischen Judenheit, um sich allmählich westwärts, nach Afrika
und dem fernen arabischen Spanien zu verschieben. So sehen sich
denn die Gaonen der zweiten Hälfte des X. Jahrhunderts genötigt,
die Gemeinden dieser Länder um materielle Hilfe zu bitten. Nicht
ohne Schmerzen sehen die Repräsentanten des babylonischen Juden-
tums den immer weiter um sich greifenden Dezentralisierungsprozeß,
die unausbleibliche Folge der neuen Konstellation in der Diaspora.
Gleichwie der Akademie von Sura war auch der von Pumbadita
ein ruhmreiches Ende beschieden: brach die Wirksamkeit jener mit
dem Ableben des Saadia, des aufgeklärtesten unter den Gaonen, ab,
so standen dieser zuletzt als Gaonen die überragenden Rechtsgelehr-
ten Scherira und sein Sohn Hai vor. In demselben Maße als Saadia
die fortschrittliche und weltliche Strömung im Gaonat verkörperte,
repräsentierten seine Nachfolger in Pumbadita die für ihre Zeit mehr
charakteristische konservative, streng an den Talmud sich haltende
Richtung. Während seiner dreißigjährigen Yerwaltungstätigkeit an
der Spitze des gelehrten Gerichtskollegiums (um 968—998) mühte
sich Scherira unablässig um die Verbreitung der talmudischen Ge-
setzgebung vermittels der Versendung von Antworten auf die von den
verschiedenen Gemeinden einlaufenden Anfragen über zivilrechtliche
und in der religiösen Praxis auf tauchende Fälle. In seinen Entschei-
dungen pflegte Scherira die religiösen Gesetze im Sinne einer Ver-
schärfung ihres vorbeugenden und prohibitiven Charakters zu deuten.
Diese von einer übermäßigen Hochschätzung der alten Überlieferun-
gen stammende Strenge bezweckte den Schutz der Rechtgläubigen
gegen die Einflüsse der die „mündliche Lehre“ bekämpfenden karä-
ischen Propaganda wie gegen jedes Freidenkertum überhaupt. Von
denselben konservativen Erwägungen ließ sich der Gaon von Pum-
badita auch bei der Abfassung seines eine Anfrage aus Afrika
beantwortenden, die Entwicklung des Talmud behandelnden histori-
schen „Sendschreibens“ leiten (s. unten, § 72). In dieser geschicht-
lichen Begründung der „mündlichen Lehre“ schildert Scherira die un-
31 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
481
Babylonien unter den Abbassiden
unterbrochene Kette der Hüter und Förderer dieser Lehre, der Schöp-
fer des talmudischen Judaismus von Jehuda ha’Nassi bis zu dem
Geschlechte des Verfassers des „Sendschreibens'4 selbst. Hierbei wird
besonders die führende Rolle, die Babylonien bei dem Aufbau des
Talmud zugefallen ist, in den Vordergrund gerückt sowie die Vor-
rangstellung, die Pumbadita im Gegensatz zu Sura in der ganzen
arabischen Zeitperiode einnahm — ein Zug des für den Verfasser
bezeichnenden lokalen Patriotismus.
Bei der Erfüllung der vielfachen Amtsobliegenheiten, die Scherira
als dem geistigen Oberhaupte der babylonischen Juden zustanden,
stand ihm (seit 986) sein Sohn Rabbi Hai zur Seite, der den Titel
eines „Gerichtsvorstehers“ (Ab-beth-din), d. h. des Stellvertreters des
Gaon in der Oberleitung des Gelehrtenkollegiums, führte. Viele Ur-
teilssprüche und Rechtsentscheidungen wurden im Namen beider Ge-
lehrten zugleich versandt. Der Amtstätigkeit des Scherira und des
Hai blieb anscheinend ungeachtet der großen Popularität, deren sich
diese Männer erfreuten, eine Opposition dennoch nicht erspart. Den
Gegnern des Kollegiums von Pumbadita aus der Mitte der „ehrlosen
Juden“ gelang es, den Gaon und seinen Sohn bei dem Kalifen von
Bagdad anzuschwärzen. Zu dieser Denunziation mochte die Verstim-
mung einer in einen Rechtsstreit verwickelten Partei über den für
sie ungünstig ausgefallenen Urteilsspruch des gaonäischen Oberge-
richts Anlaß gegeben haben, oder aber eine Amtshandlung irgendeines
der lokalen „Dajanim“, die R. Hai selbst als „Richter von Sodom,
Räuber, die sich fremdes Eigentum aneignen“ kennzeichnete. Nicht
ausgeschlossen ist es auch, daß man dem Kalifen die weitverzweigten
Beziehungen des Gaon und seines Sohnes zu den jüdischen Gemeinden
jener Länder anzeigte, die vom Kalifat von Bagdad längst abgefallen
waren und ihm feindlich gegenüberstanden. Diese Beschwerde oder
Denunziation führte dazu, daß von dem Kalifen (Kadir) der Befehl
erging, Scherira und Hai gefangerizusetzen, ihren ganzen Besitz aber,
„ohne ihnen auch nur etwas zur Ernährung zu überlassen“, ein-
zuziehen. Bald wurden sie indessen freigegeben und in ihre früheren
Ämter wieder eingesetzt. Kurz vor seinem Tode überließ Scherira,
ein fast hundertjähriger Greis, das Gaonamt ganz seinem Sohne.
Der Amtsantritt des Hai ging in höchst feierlicher Weise vor sich.
Am ersten Sabbat nach dem Tode Scheriras las man in der Synagoge
das Kapitel von der Salbung Salomos durch den greisen König Da-
482
§ 6h. Das letzte Jahrhundert der babylonischen Hegemonie
vid vor und rief dabei aus: „Und Hai bestieg den Thron seines Va-
ters Scherira, und seine Macht befestigte sich mehr und mehr!“
Rabbi Hai, der nahezu vierzig Jahre (998—1088) das Gaonamt
in Pumbadita bekleidete, übertraf noch seinen Vater an Tiefe und
Vielseitigkeit des Wissens. Eine hervorragende Autorität auf dem
Gebiete der talmudischen Rechtskunde, beschäftigte er sich zugleich
mit biblischen Untersuchungen, brachte der Moralphilosophie ein be-
sonderes Interesse entgegen und war auch in der arabischen Literatur
bewandert Viele seiner gaonäischen Sendschreiben und die umfang-
reichsten seiner das talrhudische Recht behandelnden Werke ver-
faßte er in arabischer Sprache (so die Bücher „Kauf und Ver-
kauf“, „Gesetze über die Eidesleistungen“ u. a., die von späteren
Schriftstellern ins Hebräische übertragen worden sind). Neben
den das talmudische Recht behandelnden Werken verfaßte Hai
eine Reihe von Schriften zur hebräischen Grammatik, Lexiko-
graphie und Bibelexegese, und brachte überdies in seinen Send-
schreiben viele Gedanken über die die damaligen gebildeten Kreise
in Spannung haltenden religionsphilosophischen Fragen zum Aus-
druck (s. unten, § 69). Die Autorität des Hai stand so hoch, daß
man sich mit Fragen an ihn sogar aus jenen Ländern wandte, in
denen sich bereits selbständige Akademien gebildet und bedeutende
Gelehrte auf allen Wissensgebieten hervorgetan hatten, so aus Ägyp-
ten, Kairuwan, Spanien. In Babylonien selbst teilte Hai eine Zeitlang
seine geistliche Gewalt mit seinem Schwiegervater, Samuel ben
Chofni, der das längst abgeschaffte und nunmehr wiederhergestellte
Amt des Akademievorstehers von Sura mit dem Titel eines Gaon be-
kleidete (um 1010—io34). Ein aufgeklärter Geist, ein Verehrer der
philosophischen Ideen des Saadia, scheint Samuel ben Chofni in gar
mancher Hinsicht anderer Meinung als sein einflußreicher, konser-
vativ eingestellter Schwiegersohn gewesen zu sein, und so blieb er
denn, mehr Schriftsteller als Mann der Öffentlichkeit, fast ganz im
Hintergründe. Am Vorabend des Unterganges der babylonischen He-
gemonie sollte für einen kurzen Augenblick das Gaonat von Sura
wieder erstehen, gleichsam dazu, um mit dem Gaonat von Pumba-
dita gemeinsam zu Grabe getragen zu werden. Der letzte Gaon von
Sura, Samuel ben Chofni, starb im Jahre io34 und bald folgte ihm
im Tode auch der letzte Gaon von Pumbadita, Rabbi Hai (io38).
Das Ableben des allgemein beliebten geistigen Führers rief in den
31*
483
Babylonien unter den Abbassiden
jüdischen Gemeinden der gesamten Diaspora tiefempfundene Trauer
hervor. In der Person des Hai beweinten die Zeitgenossen den letzten
allgemein anerkannten, in der Urheimat des Talmud wirkenden Gaon.
Die Nachricht von seinem Tode bewegte den Führer der Judenheit im
damaligen arabischen Spanien, Samuel ha’Nagid, zu folgenden Ver-
sen:
„Fort ist die Wahrheit aus Pumbadita und Sura . . .
Ins Grab ging er (Hai), ohne einen Sohn zu hinterlassen,
Und nie mehr wird die Thora ihren alten Hafen anlaufen.
Doch hat er Kinder in den Ländern der Araber und in denen Edoms,
Die er im Geiste des Talmud aufzog und zu Meistern ausbildete“.
Diese „Kinder“ der Gaonen in den neuen Zentren der Hegemonie
waren sich jedoch dessen wohl bewußt, daß dem babylonischen gei-
stigen Zentrum eine Wiedergeburt nicht mehr beschieden sei. Zwar
versuchten die Schüler des Hai an seiner Statt in Babylonien einen
anderen zu wählen und riefen zum Haupt der Akademie von Pum-
badita Hiskia, einen Nachkommen des ehemaligen Exilarchen David
ben Sakkai, aus, der in seiner Person die Gaonwürde und die Exil-
archenwürde vereinigen sollte; doch war dieser nur dazu ausersehen,
den beiden Würden zugleich gleichsam das letzte Geleit zu geben.
Es fand sich ein Denunziant, der den selbstherrlichen jüdischen
„Fürsten“ bei dem Kalifen von Bagdad anzeigte. Hiskia wurde er-
griffen, in den Kerker geworfen, und sein Besitz fiel den gierigen
Höflingen zur Beute1). Die Söhne des Hiskia flüchteten nach Pa-
1) Die Episode, von der ohne Angabe der Urquelle der Chronograph Ibn-
Daud in seinem „Sefer ha’kabbala“ berichtet, bleibt überaus undurchsichtig. Die
Katastrophe geschah unter dem Kalifen Kaim (io31—1075), als im Bezirk von
Bagdad die Gewalt faktisch in den Händen der persischen Sultane, der Buiden,
lag, die bald darauf ihrerseits von den türkischen Seldschuken verdrängt wurden.
Bei der damaligen Anarchie waren falsche Anschuldigungen gegen wohlhabende
Männer zwecks Konfiskation ihres Besitzes nichts Ungewöhnliches. ^Obwohl dem
Exilarchen, nach dem Zeugnis des damaligen arabischen Schriftstellers Ibn-Hazm
(um ioi3), „keine Gewalt über die Juden zustand und er sich nur eines Ehren-
titels erfreute“, mochte dennoch der erste Fall einer Vereinigung des Exilarchen-
titels mit der geistlichen Gaonwürde das Mißtrauen der fanatisierten persischen
Schiiten erregt haben. Es scheint ein gewisser Zusammenhang zwischen der Ver-
haftung des Hiskia und der vorhergehenden Einkerkerung des Scherira und Hai
bestanden zu haben: in beiden Fällen lief die ganze Sache schließlich auf Ein-
ziehung des Besitzes der Gefangengenommenen hinaus. In einer späteren Chronik
(„Schebet Jehuda“, Nr. 42) wird das Ende des Exilarchats auf Grund alter
Überlieferungen folgendermaßen geschildert: „Als die Babylonier schließlich auf
die hohe Stellung des Nassi (Exilarchen) aufmerksam wurden, regte sich in ihren
484
§ 64. Das letzte Jahrhundert der babylonischen Hegemonie
lästina, und seine Nachkommen ließen sich später in Spanien nieder.
So fiel das ruhmgekrönte babylonische Gaonat nach vier Jahrhunderte
langem Bestehen. Die Urheimat des Talmud büßte die geistige Hege-
monie im Judentum für immer ein.
Großen die Mißgunst und im Volke begann man zu sprechen: Seht nur, wie die
Juden mächtig werden, bald werden sie sich unter der Anführung der Nachkom-
men des Königs David erheben, um uns zu unterwerfen! Sie entschlossen sich da-
her, den Nassi bei seiner Fahrt durch die Stadt zu ermorden, um sodann auch an
die jüdischen Ältesten Hand zu legen. Als man im Hause des Königs (des Ka-
lifen) davon Kunde erhielt, eilte man dem Nassi zu Hilfe, doch war er schon
tot, und es gelang nur, die übrigen zu retten. Angesichts des Vorgefallenen ent-
schlossen sich die Juden, die Nassiwürde für die Zukunft abzuschaffen“. Im An-
denken des Volkes hat sich überhaupt die Vorstellung von einem gewaltsamen
Ende des Exilarchats erhalten, die sich wohl in Anlehnung an den sechs Jahr-
hunderte früher erfolgten Untergang des palästinensischen Patriarchats gebildet
hatte.
485
Drittes Kapitel
Die autonomen Zentren in Palästina und
Ägypten bis zu den Kreuzzügen
(X.—XI. Jahrhundert)
§ 65. Palästina vor der Zeit des Fatimidenkalifats
Aus den ersten drei Jahrhunderten der muselmanischen Ära drin-
gen zu dem Geschichtsschreiber fast gar keine Nachrichten über die
Geschicke der Juden im arabischen Palästina. Im undurchdringlichen
Nebel der Legenden verschwimmt das schicksalsvolle Ereignis der jü-
dischen Geschichte: die Unterwerfung Palästinas durch die Araber
im Jahre 638 (§ 55). Was mit den Juden nach diesem Ereignis ge-
schehen sein mochte, ist rätselhaft. Umstritten bleibt sogar die Frage,
ob sich die Juden in Jerusalem, das nunmehr die heilige Stadt des
Islam geworden war, frei aufhalten durften. Nur die Nachrichten
über die allgemeine politische Lage in dem damascenischen Kalifat
der Oma jaden sowie manche Andeutungen in den Chroniken lassen
es als wahrscheinlich erscheinen, daß jüdische Gemeinden um jene
Zeit sowohl in Jerusalem als auch in anderen palästinensischen Städ-
ten bestanden haben (§ 56). Ob sie nun hierbei einheitlich organi-
siert und einem gemeinsamen autonomen Landeszentrum unterge-
ordnet oder ob sie der allgemeinen Zentralgewalt der babylonischen
Gaonen unterstellt waren, bleibt ungewiß. Über die ersten zwei Jahr-
hunderte des Bagdader Kalifats besitzen wir indessen sich indirekt
auch auf die Juden Palästinas beziehende Nachrichten, die in den
geographischen und die Verwaltungsordnung behandelnden Schrif-
ten der damaligen arabischen Geographen zu finden sind.
Im VIII. und IX. Jahrhundert war Palästina als Provinz des Ka-
lifats von Bagdad diesen Beschreibungen zufolge in zwei Militärver-
waltungsbezirke (dschund) eingeteilt: in Filastin oder den eigentlich
486
§ 65. Palästina vor der Zeit des Fatimidenkalifats
palästinensischen Bezirk, d. i. das ehemalige Judäa, und Urdmin oder
den Jordanbezirk, d. L Galiläa. Das Verwaltungszentrum von Filastin
war damals nicht mehr Jerusalem, sondern die Stadt Ramleh, die auf
halbem Wege zwischen jenem und der Hafenstadt Jaffa gelegen
war. Dagegen galt als die Hauptstadt von Urduun oder Galiläa nach
wie vor Tabaria (Tiberias). Ramleh wurde noch unter den Omajaden
erbaut, die dort die Einwohner der benachbarten Stadt Lydda an-
siedelten, gelangte aber erst unter den Abbassiden zur Blüte. Die
Stadt besaß zahlreiche Märkte und trieb ausgedehnten Handel. Von
Ramleh gingen nach verschiedenen Richtungen Handelswege aus. Unter
anderem nahm hier die dem Meereswege parallel, an Jaffa und Gaza
vorbei, über El-Arisch „durch den Sand“ führende Karawanenstraße
nach Ägypten ihren Anfang, deren Endpunkt Fostat, die Hauptstadt
des arabischen Ägypten, war. Transjordanien aber gehörte zu dem
syro-palästinensischen Bezirk von Damaskus („Dschund Dimaschk“).
Die geistige Hauptstadt von Palästina war jedoch auch jetzt Je-
rusalem, die heilige Stadt dreier Religionen (das arabische „Al-
Kuds“), in der sich hochragende Moscheen, Kirchen und Synagogen
erhoben. Der arabische Schriftsteller Mukadassi, selbst aus Jerusalem
gebürtig (er lebte in der zweiten Hälfte des X. Jahrhunderts), schil-
dert den damaligen Zustand der Stadt in folgender Weise: „In Jeru-
salem — so beginnt er — ist es nie sehr kalt oder sehr heiß, und der
Schneefall ist hier eine große Seltenheit. Die Häuser sind in Jerusa-
lem aus Stein erbaut; prächtigere und festere wirst du nirgends fin-
den, wie du auch nirgends anständigere Leute als die Bewohner Je-
rusalems oder ein angenehmeres Leben oder reinlichere Handelsstra-
ßen oder eine größere Zahl heiliger Stätten finden wirst. Es ist über-
reich an allerlei Meistern und Ärzten, und so fühlt sich denn das
Herz jedes vernünftigen Menschen zu ihm hingezogen. Das ganze
Jahr hindurch fehlt es auf seinen Straßen nie an Ausländern . . .
Und doch hat die Stadt auch manche Schattenseiten aufzuweisen. In
den Büchern Moses’ (?) heißt es, Jerusalem sei ein goldenes Gefäß
voll Skorpione. Und fürwahr, nirgends wirst du unsauberere Bade-
häuser und drückendere Steuern finden als in der heiligen Stadt
Gelehrter Männer (muselmanischer) gibt es da wenig, Christen aber
viel, und sie benehmen sich auf öffentlichen Plätzen in überaus un-
gezwungener Weise. Auf den Marktplätzen und in den Karawanse-
reien wird ein großer Zoll von den dort feilgebotenen Waren erho-
487
Palästina und Ägypten bis zu den Kreuzzügen
ben; an den Toren stehen Polizeibeamte, so daß niemand irgendeinen
für den Lebensunterhalt notwendigen Gegenstand außerhalb der dazu
bestimmten Orte kaufen kann . . . Überall in Jerusalem gewinnen
die Christen und die Juden die Oberhand, während die Moschee leer
steht. Die Stadt ist kleiner als Mekka, doch viel größer als Medina.
Sie ist übervölkert, da hier viel Volk von Osten und Westen her, Chri-
sten wie Juden zusammenströmen“.
Dem persischen Reisenden Nasiri-Chosrau, der Jerusalem im
Jahre 1047 besuchte, fiel besonders das dort herrschende rege Trei-
ben auf. Er berichtet, daß die Muselmanen, die verhindert sind, den
„Chadsch“ (die Wallfahrt) nach Mekka zu unternehmen, ihrer reli-
giösen Pflicht durch die Wanderung nach Jerusalem Genüge tun,
wo sie alle für Mekka vorgeschriebenen Zeremonien vornehmen kön-
nen. Manchmal sammeln sich hier bis 20000 solcher Pilger an,
von denen viele ihre Kinder mit sich bringen, um deren Be-
schneidung in Jerusalem in feierlicher Weise vorzunehmen. „Aus den
Gebieten der Rumer (Byzanz) und anderen Ländern kommen nach
Jerusalem auch viele Christen und Juden, um ihre Kirche und Sy-
nagoge zu besuchen“. Des weiteren berichtet der Verfasser, daß die
ständige Einwohnerschaft der Stadt nahezu 20000 Köpfe zählt und
daß viele Bewohner dem Handwerk nachgehen; jedem der Handwerke
sei eine besondere Ladenreihe zugewiesen.
Auch der Hauptstadt des Bezirks von Urduun, Tabaria oder Tiberias,
kam sicherlich eine wichtige wirtschaftliche und kulturelle Bedeu-
tung zu, da man sie sonst wohl kaum zum Mittelpunkt des Bezirks
gewählt hätte, doch ist über die Rolle, die die Juden dort gespielt
haben, nur sehr wenig bekannt. Die ehemalige Residenz der jüdischen
Patriarchen scheint, nachdem das geistige Zentrum unter den Arabern
sich aus Galiläa wieder nach Judäa, nach Jerusalem und Ramleh,
verschoben hatte, ihre Bedeutung eingebüßt zu haben. Der erwähnte,
im Lande aufgewachsene Mukadassi schildert Tiberias als die an den
Ufern des gleichnamigen Sees gelegene Stadt, die durch ihre heißen
Heilquellen besonderen Ruhm genieße. Da die Stadt in der tiefen
Jordantalmulde liege, hätten die Einwohner im Sommer unter einer
unerträglichen Hitze zu leiden. Im Volke soll, wie er erzählt, die
folgende witzige Redewendung in Umlauf gewesen sein: „Zwei Mo-
nate im Jahre hüpfen die Einwohner von Tabaria der bissigen Flöhe
488
§ 65. Palästina vor der Zeit des Fatimidenkalifats
wegen herum, zwei Monate essen sie sich an Früchten übersatt, zwei
Monate führen sie Krieg gegen die Wespen, die sie mit Wedeln von
den Süßfrüchten wegtreiben, zwei Monate laufen sie nackt wegen
der sommerlichen Hitze herum, zwei weitere Monate blasen sie die
Rohrflöte und die zwei letzten waten sie durch den Schmutz (im Win-
ter)“. Von den anderen Städten des Bezirks von Urduun erwähnen
die Zeitgenossen häufiger nur die Küstenstädte Tyrus, Akko und
Haifa. Die im Inneren dieser Landschaft gelegenen Städte gravi-
tierten eher nach dem transjordanischen „Dschund Dimaschk“, da
Tiberias mit Damaskus durch die kürzeste Karawanenstraße verbun-
den war. Von den zwischen Palästina und Syrien gepflegten Handels-
beziehungen und ihrem gegenseitigen Güteraustausch war bereits
oben die Rede (§ 59).
Aus allen Berichten der Zeitgenossen ist zu ersehen, daß unter der
arabischen Herrschaft Judäa innerhalb Palästinas von neuem jene
Vorrangstellung erlangte, die es in den letzten Jahrhunderten der
römischen Herrschaft an Galiläa hatte abtreten müssen. Die Bevöl-
kerung Judäas war viel zahlreicher als die von Galiläa. Die aus dem
Ende des VIII. Jahrhunderts stammenden Steuerrollen bezeugen, daß
die alljährlichen Steuereingänge sich auf die drei Dschunden fol-
gendermaßen verteilten: während der von Damaskus 420000 De-
nare und der von Filastin-Judäa 310 000 einbrachte, gingen aus Ur-
duun-Galiläa nur 96000 Denare ein. Im VIII. Jahrhundert erfuhr
die jüdische Bevölkerung Judäas eine Vergrößerung durch den Zu-
strom der in Babylonien verfolgten Ananiten oder Karäer, jener „um
Zion Trauernden“ (Abele Zion), die in Palästina, der Urheimat der
Bibel, ihrer Sekte zu einem durchschlagenden Erfolg zu verhelfen
hofften. In der zweiten Hälfte des IX. Jahrhunderts wurde Palä-
stina von den Bagdader Kalifen unabhängig. Der Statthalter des Ka-
lifen in Ägypten, Ibn-Tulun, rief sich nämlich in seiner Provinz
zum unabhängigen Gebieter aus und dehnte im Jahre 887 seine
Herrschaft auch auf Syrien und Palästina aus. Dreißig Jahre später
gelangten diese Provinzen wieder unter die Gewalt von Bagdad, von
dem sie indessen in der zweiten Hälfte des X. Jahrhunderts endgültig
abfielen. Sie bildeten ein besonderes Kalifat unter der Herrschaft
der Fatimiden. Um die gleiche Zeit machte sich auch unter den
palästinensischen Juden das Bestreben bemerkbar, vom babylonischen
489
Palästina und Ägypten bis zu den Kreuzzügen
Zentrum, von der Gaonengewalt in Sura und Pumbadita, abzufallen.
Schon im IX. Jahrhundert finden wir in Palästina ein Gelehrtenkol-
legium mit einem Vorsitzenden (Rosch ha’chabura) an der Spitze,
dessen Autorität in den mit dem Kalenderwesen zusammenhängenden
Fragen sogar von den Exilarchen und den Gaonen Babyloniens an-
erkannt wurde. Später scheinen die Ansprüche Palästinas auf die
Hegemonie mit noch größerem Nachdruck geltend gemacht worden
zu sein, so daß sie in Babylonien auf starken Widerstand stoßen
mußten. Die Rivalität der beiden jüdischen Zentren spitzt sich be-
sonders zu Beginn des X. Jahrhunderts zu.
Die Oberleitung der talmudischen Akademie von Palästina (in Je-
rusalem oder dem nahegelegenen Ramleh) hatte damals ein tatkräf-
tiger Gelehrter namens Ben-Meir inne. Bei einem Besuch in Bagdad,
der in die Zeit der langwierigen Zwistigkeiten zwischen dem Exil-
archen Ukba und den Gaonen (§ 63) fiel, gewann Ben-Meir ange-
sichts dieser Streitigkeiten und der zwischen den Gaonen selbst herr-
schenden Rivalität die Überzeugung, daß das geistige Zentrum in Ba-
bylonien seinem Verfall entgegengehe und daß die palästinensische
Akademie nunmehr ihren Ansprüchen auf die Rolle eines nationalen
Synhedrion mit Erfolg Geltung verschaffen könne. Die Palästinen-
ser entschlossen sich nun, als Vorwand für einen offenen Kampf
gegen die Babylonier denselben Punkt zu wählen, um den sich schon
einstmals der Widerstreit der beiden Hegemoniezentren gedreht hatte:
das Rechl der Kalenderaufstellung und der Feiertagsfestsetzung. Wie-
wohl durch die im IV. Jahrhundert erfolgte Ersetzung der Methode
der unmittelbaren Beobachtung der Mondphasen durch die der ma-
thematischen Berechnung die Kalenderaufstellung nicht länger ein
Monopol der palästinensischen Patriarchen und Akademien bleiben
konnte, glaubten die palästinensischen Gelehrten dennoch, zur Be-
rechnung der Kalenderfristen eher als ihre Rivalen berufen zu sein.
Ihre Bestrebungen gingen dahin, dem Kalender eine Art „Kiblah“
aufzupfropfen, d. h. die Feiertagstermine in der ganzen Diaspora, zur
Vermeidung eines nicht gleichzeitigen Feierns der Gedenktage in den
verschiedenen Ländern, von der palästinensischen Zeit abhängig zu
machen. Die Gefahr einer solchen Diskrepanz war im Jahre 921, als
es zwischen den palästinensischen und babylonischen Gelehrten zu
einer Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der Terminbestimmung für
490
§ 65. Palästina vor der Zeit des Fatimidenkalifats
das Passahfest des folgenden Jahres gekommen war, in der Tat nicht
gering. Den Berechnungen des Ben-Meir zufolge sollten nämlich die
nächsten Herbstmonate Cheschwan und Kislew nicht vollzählig sein
(d. h. nur 29 Tage zählen); aus diesem Grunde ließ er in Jerusalem,
in der Versammlung von Andächtigen auf dem Ölberge, feierlich vei>
künden, daß das nächste Passah des Jahres 922 (4682 der jüdischen
Zeitrechnung) mit einem Sonntag beginnen werde. Hingegen verkün-
deten die babylonischen Akademien, daß die Herbstmonate in dem
betreffenden Jahre vollzählig, d. i. dreißigtägig, sein würden, wes-
halb auch das Passah um zwei Tage später, also erst am Dienstag be-
ginnen werde. Die Lage wurde immer peinlicher: es drohte die Ge-
fahr, daß die Juden in den verschiedenen Ländern ihr allnationales
Fest an verschiedenen Tagen begehen würden. Der Bagdader Exil-
arch David ben Sakkai und die Gaonen von Sura und Pumbadita
versuchten zwar dem gefährlichen Zwiespalt durch an Ben-Meir ge-
richtete Sendschreiben zuvorzukommen, doch blieb dieser unbeug-
sam. Da rief nun der Exilarch die Vermittlung des jungen, aus Ägyp-
ten gebürtigen Gelehrten Saadia, des nachmaligen berühmten Gaon,
an, der als neutraler Dritter den Streit in unparteiischer Weise
schlichten sollte. Saadia übersiedelte damals gerade aus Palästina nach
der syrischen Stadt Aleppo (Achlab), um sich von dort weiter nach
Bagdad zu begeben. Auf Wunsch des Exilarchen und der Gaonen
wandte er sich mit einem offenen Schreiben an alle Gemeinden und
ersuchte sie, der maßgebenden Entscheidung der Gelehrtenkollegien
Babyloniens Folge zu leisten, von dem Urheber des Zwiespaltes, Ben-
Meir, aber zu lassen. Gleichzeitig damit veröffentlichte Saadia sein
„Buch der Feiertage“ (Sefer ha’moadim), in dem er das Kalender-
system der babylonischen Gelehrten eingehend begründete. Allein auch
Ben-Meir blieb nicht untätig: er versandte Aufrufe an die Gemeinden,
in denen er die Zuverlässigkeit seiner Kalenderberechnung zu bewei-
sen suchte, die, wie er meinte, schon allein mit Rücksicht auf das
alte kalendarische Vorrecht der palästinensischen Gelehrten jeder an-
deren Aufstellung vorgezogen werden müßte. Der Streit wurde im-
mer heftiger, und inzwischen brach das Passahfest an. Das Unge-
heuerliche wurde Ereignis: in Palästina und in Babylonien begann
man mit der Feier an verschiedenen Tagen. Zu dem gleichen Zwie-
spalt mußte es ein halbes Jahr später, beim Feiern des jüdischen
Neujahrstages des Jahres 4683 (September 922), kommen. Die jü-
491
Palästina und Ägypten bis zu den Kreuzzügen
dische Welt zerfiel in zwei Parteien: die eine setzte sich für die
palästinensische, die andere für die babylonische Hegemonie ein. Von
den Parteiführern wurde eine heftige schriftliche Polemik geführt,
in deren Verlaufe man sich auch zu persönlichen Verunglimpfungen
hinreißen ließ. So suchte z. B. Ben-Meir an der Abstammung des
„Ägypters“ Saadia zu mäkeln, dessen Vater angeblich den Mund
durch verbotene Speisen verunreinigt haben sollte, wofür er aus
Ägypten vertrieben worden wäre. Auf die Vorhalte der Gegner, die
Zwietracht mache die Juden zum Gespött der Andersgläubigen und
Ketzer (der Karäer), erwiderte Ben-Meir, an dem ganzen Zwiespalt
sei am meisten der „aus Fajum Gebürtige“, d. i. Saadia, schuld,
der es auf die Erniedrigung des Judentums abgesehen hätte. Diese
Demagogie half indessen Ben-Meir nichts: der Streit ging nicht zu
seinen Gunsten aus. Die Autorität der babylonischen Gaonen blieb
unerschüttert, und einige Jahre später war es Saadia selbst, der un-
ter diesen Häuptern der Nation zu einer führenden Stellung ge-
langte.
Doch war der Kampf des Ben-Meir um die Hegemonie Palästinas
nicht umsonst geführt worden. Wenn es ihm auch nicht gelungen
war, für das palästinensische Zentrum eine Vorrangstellung zu er-
ringen, so hatte er wenigstens dessen Gleichstellung mit dem babylo-
nischen erreicht Wir besitzen verschiedene Nachrichten, daß im IX.
Jahrhundert die Gemeinden aus aller Herren Ländern die akademischen
Autoritäten beider Zentren in gleicher Weise um Rat und Urteils-
spruch angingen. So bezeugt ein italienischer Chronograph jener
Zeit („Megillath Achimaaz“), daß die jüdischen Gemeinden Italiens
ihre Spenden für die Synagogen und Jeschiboth des Heiligen Lan-
des nicht minder regelmäßig als für die Gelehrtenkollegien Babylo-
niens durch die Pilger zu schicken pflegten. Gemeinden vom fer-
nen Rhein her („Ansche Rhenus“) wandten sich im Jahre 960 an
die Gelehrten Palästinas mit einer Anfrage über die in Umlauf ge-
kommenen Gerüchte von dem nahe bevorstehenden Erscheinen des
Messias sowie mit der Bitte um Erläuterung eines Gesetzes. In den
um dieselbe Zeit abgefaßten Antwortschreiben des Chasarenkönigs
Joseph auf einen Brief des Chasdai ibn Schaprut heißt es: „Unsere
Augen sind auf den Herrn, unseren Gott, gerichtet sowie auf die
Weisen Israels in den Jeschiboth von Jerusalem und Babylonien“.
492
§ 66. Das Jahrhundert der Fatimiden
Ganz in dieselbe Zeit fällt auch jene politische Umwälzung, die Palä-
stina endgültig vom Bagdader Kalifat losriß und es zu einem Be-
standteil des Kalifats der Fatimiden machte.
<S 66. Das Jahrhundert der Fatimiden in Äqypten und Palästina
(969-1070)
Die Geschichte der Juden in Ägypten in der Zeit zwischen dem
VII. und IX. Jahrhundert ist in noch undurchdringlicheres Dunkel
gehüllt als die Geschichte des jüdischen Palästina im selben Zeit-
raum. Nach der im Jahre 64i erfolgten Übergabe des großen jüdi-
schen Zentrums, der Stadt Alexandrien, an den muselmanischen Feld-
herrn Amr durften die Juden, der bereits erwähnten Bestimmung
des Kapitulationsvertrages gemäß, auch fernerhin in der Stadt ver-
bleiben. Auch für das VIII. und IX. Jahrhundert ist das Bestehen
jüdischer Gemeinden neben christlichen in Alexandrien und in der
neuen arabischen Hauptstadt Fostat durch erhaltengebliebene Nach-
richten hinlänglich bezeugt. Diese Gemeinden unterhielten ständige
Beziehungen zu den autonomen Zentren in Babylonien und Palästina.
Daß die ägyptischen Juden gegen Anfang des X. Jahrhunderts sich
in der arabischen Kultur, die sie mit ihrer nationalen Kultur zu einer
Einheit verbanden, bereits heimisch fühlten, beweist das Hervor-
treten eines Mannes wie Saadia Gaon in ihrer Mitte, dessen allseitige
Bildung sich, wie erwähnt, ebenso aus arabischen wie aus jüdischen
Elementen aufbaute und der die besten seiner Werke sogar in ara-
bischer Sprache schrieb.
So bildete sich im Lande der ehemaligen jüdisch-hellenistischen
Kultur nunmehr ein kultureller Mittelpunkt jüdisch-arabischer Prä-
gung. Die jüdische Bevölkerung Ägyptens war der Rolle, die ihr
um die Mitte des X. Jahrhunderts unter den neuen politischen Ver-
hältnissen besehieden war, durchaus gewachsen. Um diese Zeit er-
neuerten sich nämlich in Afrika die Wühlereien der Aliden oder
Fatimiden (der angeblichen Nachkommen des Ali und seiner Frau
Fatima, der Tochter des Propheten), die den Herrschern von Bagdad
die Kalifenwürde streitig machten. Einem dieser Fatimiden, die in
Kairuwan (Nordafrika) ein selbständiges Reich gegründet hatten, dem
zu den Schiiten haltenden Imam Il-Moizz, gelang es nun im Jahre
969, mit seiner Heeresmacht ganz Ägypten und sodann auch Syrien
493
Palästina und Ägypten bis zu den Kreuzzügen
und Palästina zu besetzen, worauf er sich zum allmuselmanischen
Kalifen ausrufen ließ. So bildete sich ein großes Reich, das Kalifat
der Fatimiden, das zu dem in Auflösung begriffenen Kalifat von
Bagdad in Gegensatz trat. Die Hauptstadt des neuen Kalifats war
zunächst Fostat und später die in seiner Nähe neu erbaute Stadt Kairo
(Al-Kahira) oder Misr (Mizraim).
Die Regierungszeit der beiden ersten Herrscher aus der neuen.
Dynastie, des Al-Moizz (969—975) und des Al-Aziz (975—996), war
für die Juden überaus günstig. Beide Kalifen verhielten sich den An-
dersgläubigen gegenüber mit einer unter den Schiiten recht seltenen
Duldsamkeit. Ihr ganzes Streben ging darauf, in dem Lande, wo ehe-
dem die Anarchie geherrscht hatte, Ordnung zu stiften, und sie
scheuten sich nicht, hierbei auch staatsmännisch begabte Juden und
Christen zur Mitarbeit heranzuziehen. Noch in Kairuwan hatten die
Juden Gelegenheit, Al-Moizz wichtige Dienste zu erweisen, wobei sich
besonders der aus Bagdad stammende Jakob ibn Killis hervortat,
der um eines hohen Regierungspostens willen zum Islam übertrat
Als Al-Moizz Kalif geworden war, ernannte er Jakob zu seinem näch-
sten Berater. Der folgende Kalif Al-Aziz übertrug Jakob sogar das
Wesiramt. So verwaltete ein ehemaliger Jude dreizehn Jahre lang
(978—991) den weitausgedehnten Staat und machte sich dabei so
sehr verdient, daß nach seinem Tode der Kalif das Haus des Ver-
storbenen persönlich auf suchte, um an der Totenbahre den schweren
Verlust bitterlich zu beweinen. Ibn-Killis folgte im Wesiramte der
Christ Isa ben Nestorius, der zu seinem Statthalter in Syrien den
damascenischen Juden Menasche al-Kazaza ernannte. Beide Würden-
träger stellten überall christliche und jüdische „Katiben“, Schreiber
bzw. Beamte, an und verdrängten so die Muselmanen, die (wie dies
ein arabischer Schriftsteller jener Zeit bezeugt) den Andersgläubi-
gen an Bildung durchaus nachstanden, aus dem Staatsdienst. Die Be-
günstigung der Glaubensgenossen durch Menasche, der hierin nur
seinem Vorgesetzten folgte, kam namentlich in der Einsetzung jüdi-
scher Steuereinnehmer zum Ausdruck. Dies alles erfüllte die Mu-
selmanen mit Entrüstung. Ein zeitgenössischer ägyptischer Dichter
erleichterte sein Herz durch folgende sarkastische Verse: „Die Ju-
den unserer Zeit sind am Ziele ihres Strebens, sie sind zur Macht
auf gestiegen, ihnen gebührt Ehre, ihnen auch das Geld! Aus ihrer
Mitte werden die Staatsräte erwählt und all die hohen Würdenträger.
494
§ 66. Das Jahrhundert der Fatimiden
Oh, ihr Männer Ägyptens! Ich rate euch: werdet Juden, denn der
Himmel selbst ist jüdisch geworden“. Es wird erzählt, die Musel-
manen hätten einst in Kairo ihrem Unwillen dadurch Ausdruck ver-
liehen, daß sie auf dem Wege, den der Kalif Al-Aziz bei seinen
Spaziergängen zu wählen pflegte, eine Puppe aufstellten und ihr
einen Zettel folgenden Inhalts in die Hand steckten: „Im Namen
dessen, der die Juden durch Menasche und die Christen durch Isa
erhöht, die Muselmanen aber durch dich erniedrigt hat, beschwöre
ich dich: Wird mir denn nie mein Recht werden?“ Darauf befahl
der Kalif, die beiden Würdenträger zu verhaften, worauf er ihnen
eine große Geldbuße auferlegte. Der Unwille der Muselmanen über
die Teilnahme der Andersgläubigen an den Staatsgeschäften wurde
jedoch dadurch nicht beschwichtigt; diese Mißstimmung war es, die
unter anderem zu jener Reaktion führte, welche in der nächsten Re-
gierungsperiode grausame Verfolgungen der Andersgläubigen in
Ägypten und Palästina im Gefolge hatte.
Diese Periode, die Regierungszeit des Al-Hakim (996—1021), ist
überhaupt eines der düstersten Intermezzi in der Geschichte der Fa-
timiden. Zwar verliefen die ersten zehn Jahre seiner Regierung ziem-
lich ruhig, und den Christen wie den Juden blieben ihre alten Vor-
rechte ungeschmälert erhalten; doch erfolgte plötzlich eine schroffe
Wendung in der Gesinnung des Kalifen. Er glaubte nämlich, dem
Islam durch die Verfolgung der beiden mit diesem wetteifernden Re-
ligionen zu neuem Ruhme verhelfen zu können. So geht denn auf
ihn seit dem Jahre 1007 eine Reihe im Geiste der angeblichen Omar-
gesetze verfaßter Erlasse zurück, die es besonders auf die Erniedri-
gung der Fremdgläubigen abgesehen hatten. Unter anderem befahl
er diesen, zum Unterschied von den Muselmanen auf den Straßen
nur schwarz gekleidet zu erscheinen, wobei die Christen ein großes
hölzernes Kreuz, die Juden aber, zur schmachvollen Erinnerung an
das biblische Goldene Kalb, einen Holzklotz in Form eines Kalbs-
kopfes am Halse tragen mußten. Sogar in den Badehäusern hatten
die Juden als besonderes Kennzeichen ein Glöckchen und die Christen
ein Kreuz am Halse zu tragen. Der Verhöhnung folgte bald auch
ein direkter Anschlag auf die Religion: auf Befehl des Hakim wur-
den in Ägypten, Palästina und Syrien gleicherweise Kirchen wie Sy-
nagogen der Zerstörung preisgegeben. Es kamen auch Gerüchte auf,
daß noch neue Gewaltmaßnahmen in Vorbereitung seien. Viele Chri-
495
Palästina und Ägypten bis zu den Kreuzzügen
sten, besonders die beamteten „Katiben“ und andere ehedem ange-
sehene Bürger, traten nun, um der Schmach und den Verfolgungen
zu entgehen, notgedrungen zum mohammedanischen Glauben über.
Mehr Standhaftigkeit legten die Juden an den Tag, von denen, wie
dies der zeitgenössische christliche Chronist, der Arzt Jachia von
Antiochia, bezeugt, nur ganz wenige der Versuchung erlagen. Es ka-
men indessen auch Fälle direkter Nötigung und zwangsweiser Be-
kehrung zum Islam vor. Den trotzig in ihrem Glauben Verharrenden
stellte man anheim, in das „Land der Rumer“, nach Byzanz, aus-
zuwandern, und viele säumten denn auch nicht, die sich bietende
Gelegenheit zu ergreifen1). In den letzten Jahren seines Lebens be-
gann Hakim, von Darasi, dem Stifter der Drusensekte beeinflußt, an
die Göttlichkeit seiner Person zu glauben und verlangte, daß man
ihm göttliche Ehren erweise; dies rief einen Aufruhr unter den Mu-
selmanen Ägyptens hervor, der jedoch bald in grausamster Weise
unterdrückt wurde. In dieser letzten Periode seines Lebens (1017 bis
1020) bewies der nunmehr den Muselmanen hart zusetzende Hakim
den Juden und Christen wieder mehr Milde: die zerstörten Synago-
gen und Kirchen durften von neuem aufgebaut werden, den zwangs-
weise zum Islam Bekehrten wurde es freigestellt, zu ihrem alten
Glauben zurückzukehren und auch die Verbannten konnten ihre alte
Heimat wieder auf suchen. Im Jahre 1021 verschwand der sonderbare
Kalif auf mysteriöse Weise, vielleicht infolge einer von einem ortho-
dox gesinnten Muselmanen verübten Mordtat. Die Anhänger des Ha-
*) Die unlängst in der Genisa von Kairo aufgefundenen Fragmente bestä-
tigen im allgemeinen die Nachrichten der arabischen und christlichen Chronisten
und fügen deren Mitteilungen nur noch eine neue Episode hinzu. Im Dezember
1011, als die jüdische Gemeinde von Kairo ihren Oberrabbiner Schemarja ben
Elchanan feierlich zu Grabe trug, überfiel nämlich eine Schar fanatischer Musel-
manen den Leichenzug und mißhandelte viele der Trauernden, worauf die Polizei
dreiundzwanzig Vertreter der jüdischen Gemeinde in Haft nahm. Tags darauf
verlangten die Fanatiker, daß die Verhafteten, denen allerhand Verfehlungen
zur Last gelegt wurden, hingerichtet würden; auf Verlangen des Kalifen wurden
jedoch die Häftlinge diesem vorgeführt, der sie, nachdem das Verhör ihre völlige
Unschuld erwiesen hatte, freizugeben befahl. Aus Anlaß dieser „wunderbaren Er-
rettung“ wurde in der Hauptsynagoge eine große Feier veranstaltet und die Be-
gebenheit selbst in einer besonderen „Megilla“ verewigt. Daraus ist zu ersehen,
daß zu Beginn des Jahres 1012 durchaus nicht alle Synagogen zerstört waren.
Auch an anderen Orten wird wohl das Zerstörungswerk nicht so weit getrieben
worden sein, wie es die Chronisten wahrhaben wollen. S. Mann, The Jews in
Egypt etc. I, 3o—38 u. II, 3i—3g.
§ 66. Das Jahrhundert der Fatimiden
kim glaubten indessen, er sei gen Himmel gefahren, um am Ende
der Zeiten wieder zu erscheinen (die Sekte der am Libanon wohnen-
den Drusen hält noch heute an diesem Glauben fest).
Der jähe Ausbruch des von Hakim gehegten muselmanischen Fa^-
natismus hatte seinen Grund nicht zuletzt in gewissen Glaubensfor-
men, die sich um jene Zeit in den Kreisen der „Rechtgläubigen“ zu
verbreiten begannen. Als die verfolgten Juden und Christen — so
berichtet die Überlieferung — Hakim daran zu erinnern versuchten,
daß der Koran die Andersgläubigen mit Duldsamkeit zu behandeln
gebiete, soll er ihnen nämlich folgende Geschichte erzählt haben:
„Unser Prophet Mohammed kam einst mit den Häuptern der Ju-
den und Christen in ein Gespräch. Er legte ihnen die Beweise sei-
ner göttlichen Mission vor, doch wiesen sie den Propheten zurück,
worauf er so zu ihnen sprach: ,Ihr lehnt es ab, den hohen Beruf,
der mir von Gott zuteil geworden ist, anzuerkennen; ihr behauptet,
der von euren heiligen Schriften verkündete Messias werde einen an-
deren Namen tragen und erst nach Ablauf von noch vier Jahrhun-
derten erscheinen. Wohlan denn, wollen wir einen Vertrag schlie-
ßen, demzufolge ihr euch verpflichtet, den Muselmanen während
der ganzen Zeit, die bis zum Erscheinen des von euch erhofften
Messias verstreichen wird, Tribut zu zahlen. Bin ich ein Lügner und
Betrüger, so werdet ihr uns für tdie Bedrückung heimzahlen, da ja
nach Ablauf der verabredeten Frist, wie ihr selbst glaubt, die Macht
euer sein wird. Trifft aber das Gegenteil zu und euer Messias er-
scheint bis dahin nicht, dann wird der Herrscher, der um jene Zeit
statt meiner regieren wird (der Kalif), euch erneut meine Religion
ans Herz legen. Nehmt ihr sie an, so wird eure Unterwürfigkeit eure
Rettung sein, widrigenfalls wird euch aber der König erbarmungslos
in den Tod schicken, eure Tempel zerstören, eure heiligen Bücher
den Schmähungen der Menge preisgeben und euch mitsamt den übri-
gen Ungläubigen ganz ausrotten*. Jeder weiß nun — so schloß Ha-
kim seine Erzählung — wann Mohammed zur Welt kam; bis jetzt
durfte niemand von seinen Statthaltern (Kalifen) den von ihm ab-
geschlossenen Vertrag verletzen. Jetzt aber, da die Macht in meine
Hände gelangt und die verabredete Frist bereits verstrichen ist, steht
mir das Recht zu, mit euch im Sinne des von euren Vätern mit Mo-
hammed getroffenen Übereinkommens zu verfahren“. — Diese sagen-
hafte Unterredung wird verständlich, wenn man bedenkt, daß in die
32 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
497
Palästina und Ägypten bis zu den Kreuzzügen
Regierungszeit Hakims das Ende des ersten seit der Geburt Christi
verflossenen Jahrtausends und zugleich das Ende des vierten Jahr-
hunderts der muselmanischen Ära fällt1). Die christliche Doktrin
der „Millenarier“ stellte aber die Wiederkunft Christi gerade am
Ende des ersten Jahrtausends nach seiner Geburt (millenarium) in
Aussicht, und auch die damaligen jüdischen Theologen, wie z, B.
der Gaon Saadia, versuchten den Anbruch der messianischen Zeit
vorauszuberechnen und setzten ihn gleichfalls um diese Zeit an. All
dies mochte den Kalifen, der in das Fahrwasser der muselmanischen
Mystiker geraten war, dazu veranlaßt haben, den Krieg gegen die
Andersgläubigen zu beginnen.
Die dem Judentum von Hakim zugefügten Wunden wurden in-
dessen bald von seinem Nachfolger Az-Zahir (1021—io36) wieder
geheilt. Der Kalif veröffentlichte ein Toleranzedikt, in dem er be-
kanntgab, es sei zu ihm „die Stimme vieler Dhimmi, Christen und
Juden, gedrungen, die von ihrer Abneigung gegen den Übertritt zu
der muselmanischen Religion zeuge“, und er sei nun über die ge-
waltsame Bekehrung empört, da man „niemanden gewaltsam gläubig
machen könne“. Der Erlaß verkündete, daß alle Andersgläubigen bei
ihrem Glauben verharren dürften und daß sie sich des Schutzes des
Kalifen, der sich die Interessen aller seiner Untertanen in gleicher
Weise angelegen sein ließe, erfreuen würden. Die Ruhe war aller-
dings nicht so sehr durch diese Verheißungen der Toleranz als viel-
mehr durch den Zufall des Favoritentums gewährleistet, der eine
ständige Begleiterscheinung der despotischen Staaten ist. Um jene
Zeit taten sich nämlich am Hofe von Kairo zwei Brüder, reiche jü-
dische Kaufleute aus der persischen Stadt TustaT, Abu-Saad Ibrahim
und Abu-Nasr Harun, hervor, die unter dem gemeinsamen Beinamen
Al-Tustari bekannt waren. Der eine von ihnen war ein vermögender
Juwelenhändler, der in verschiedenen Ländern allerlei Kostbarkeiten
und Raritäten aufkaufte, während der andere ein Bankgeschäft be-
!) Die Regierungszeit Hakims fällt in die Jahre 386—4n der „Hedschira"
(die muselmanische Ära, die mit dem Jahre 622 der christlichen Zeitrechnung,
dem Jahre der Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina, beginnt). Da nun
das muselmanische Mondjahr um elf Tage kürzer als das Sonnenjahr ist, so er-
gab sich im Laufe von vier Jahrhunderten zwischen den beiden Zeitberechnungen
eine Differenz von zwölf Jahren, und das Jahr 4oo der muselmanischen Zeit-
rechnung entsprach dem Jahre 1008—1009 der Zeitrechnung der Christen, mit
dem die Religionsverfolgungen auch in der Tat ihren Anfang nahmen.
498
§ 66. Das Jahrhundert der Fatimiden
trieb und als Grundstücksmakler im Irak und in Ägypten tätig war.
Beide Brüder halfen dem Kalifen Zahir aus mancher Geldverlegen-
heit Überdies pflegte der Kalif dem Abu-Saad allerlei Kostbarkeiten
abzukaufen. Einst brachte Abu-Saad aus dem Sudan ein schwarzes
Sklavenmädchen von blendender Schönheit mit und überließ es dem
Kalifen. Von dieser Sklavin bekam der Kalif einen Sohn, den er vor
seinem Tode zum Thronerben unter dem Namen Al-Mustansir (io36
bis 1094) ausrief. Beim Tode seines Vaters war der Thronfolger erst
sieben Jahre alt, und so wurde das Reich bis zu seiner Volljährig-
keit von seiner Mutter, der „Walida“ (Kalifenwitwe) verwaltet. Abu-
Saad wurde nunmehr zu ihrer Vertrauensperson und gewann zusam-
men mit seinem Bruder Abu-Nasr großen Einfluß auf die Staats-
geschäfte. Dies verwickelte sie in Konflikte mit den Wesiren, den
ersten Ministern, die geheime Hofeinflüsse in ihrer Staatstätigkeit
nur als störend empfanden. Als jedoch einer von den Wesiren aus
seiner Feindseligkeit den beiden Brüdern gegenüber kein Hehl
machte, wurde er von der Walida nicht nur abgesetzt, sondern sogar
mit dem Tode bestraft. Auf Empfehlung des Abu-Saad ernannte die
Regentin nunmehr zum Wesir den ehemaligen Juden Sadaka ben
Jussuf, vielleicht einen von jenen, die unter Hakim gewaltsam zum
Islam bekehrt worden waren. Auch der neue Wesir fühlte sich in-
dessen durch die Vormundschaft des jüdischen Günstlings nicht min-
der belästigt und entschloß sich, ihn aus dem Wege zu räumen. Die
vom Wesir bestochene türkische Leibwache überfiel bald darauf Saad
und machte ihn nieder; das gleiche Los traf auch seinen Bruder
(io48). Die Walida ließ allerdings den Tod ihres Favoriten nicht un-
gerächt und gab den Wesir Sadaka dem Tode preis. Die jüdischen
Gemeinden Ägyptens und Palästinas gingen so ihrer mächtigen
Schutzherren am Hofe des Kalifen verlustig und beweinten bitterlich
den Tod der beiden Brüder, „der hochmögenden Würdenträger“ und
der „gerechten Männer“, wie es in dem Sendschreiben der Jerusalemer
Gemeinde an die von Kairo heißt.
Die Toleranzpolitik wurde auch während der ganzen Regierungs-
dauer des Mustansir beobachtet, als die Herrschaft im Lande völlig
in die Hände der Wesire übergegangen war. Einer dieser das Land
im Namen des Kalifen verwaltenden Würdenträger war der im Jahre
1074 zur Macht gelangte Oberbefehlshaber der Armee, der Armenier
Badr al-Dschamali, ein umsichtiger Politiker, dem es gelungen war,
32*
499
Palästina und Ägypten bis zu den Kreuzzügen
in einer Zeit der Wirren, der Folge des Vordringens der türkischen
Seldschuken, die einen bedeutenden Teil Palästinas und Syriens dem
Kalifat der Fatimiden entrissen hatten (1171), im Inneren Ägyptens
Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten.
§ 67. Die ersten Nagidim in Ägypten und die letzten Gaonen
in Palästina
Im Jahrhundert des Niedergangs der babylonischen Hegemonie be-
gannen sich im Herzen des nationalen Organismus von neuem Kräfte
zu regen, die darauf gerichtet waren, in der Urheimat der Nation, in
dem mit Ägypten verbundenen Palästina, ein führendes autonomes
Zentrum wieder erstehen zu lassen. Eine Zeitlang mochte es scheinen,
daß die jüdische nationale Hegemonie aus dem sich auf lösenden Ka-
lifat von Bagdad in das Fatimidenkalifat hinüber wandere. Die alten
Kulturstätten erwachten nach jahrhundertelanger Lethargie zu neuem
Leben, und auf dem Boden der jüdisch-arabischen Kultur schien
der längst verschwundene Zwiespalt zwischen Judäa und Alexandrien
erneut entstehen zu wollen. Wieder einmal bildeten sich in Ägypten
neben vielen kleinen jüdischen Gemeinden zwei bedeutende Zentren,
das eine in Kairo-Fostat (Mizraim oder Zoan in den jüdischen Ur-
kunden), das andere in Alexandrien (No-Amon oder Iskanderia). Zu-
gleich erstand in Palästina neben den aus späterer Zeit stammenden
Gemeinden von Ramleh und Tyrus und den alten Gemeinden in Ti-
berias und an anderen Orten eine zentrale Gemeinde in Jerusalem.
Auch in Syrien standen die Gemeinden von Damaskus und Aleppo in
hoher Blüte. In den großen Städten zerfielen die Gemeinden in ver-
schiedene religiöse Gruppen: die der Talmudisten oder Rabbaniten, der
Karäer und der Samaritaner; in Kairo und Alexandrien gruppierten
sich die Juden überdies auch noch nach Landsmannschaften, deren
eine die Auswanderer aus Palästina und die andere die aus Baby-
lonien (al-schamain und al-irakin) vereinigte. Jede Landsmannschaft
hatte ihre eigene Synagoge, während jede religiöse Gruppe für sich
eine selbständige Gemeinde mit ihrer eigenen Geistlichkeit bildete.
Die reichen Gemeinden von Kairo und Alexandrien ließen den
palästinensischen Gemeinden, die viele aus allen Ländern in Jeru-
salem zusammenströmende arme Pilger zu versorgen hatten, nicht
selten materielle Unterstützung zukommen. Darüber hinaus lastete auf
5oo
§ 67. Die Nagidim in Ägypten und die Gaonen in Palästina
den Juden Alexandriens auch noch die Verpflichtung, ihre von den
Seepiraten gefangengenommenen und im Hafen von Alexandrien feil-
gebotenen Glaubensgenossen loszukaufen. Um jene Zeit machten näm-
lich die überall auf dem Mittelmeere segelnden arabischen (sarazeni-
schen) Seeräuber Jagd nach auf byzantinischen Schiffen reisenden
Christen und Juden, um sie sodann von ihren Glaubensgenossen in
Alexandrien und anderen Hafenstädten loskaufen zu lassen. In der
gleichen Weise verfuhren die griechischen Seeräuber mit den Musel-
manen. Die größte Teilnahme pflegten dabei ihren Stammesgenossen
die Juden entgegenzubringen. Der zeitgenössische arabische Schrift-
steller Mukadassi berichtet, daß man durchschnittlich für drei Ge-
fangene ioo Golddenare, d. s. etwa 1000 Reichsmark, zu erlegen
hatte. Es kam vor, daß man solche Menschenware scharenweise ein-
lieferte, so daß die jüdische Gemeinde ihre wohlhabenden Mitglieder
zu besonderen, für den Loskauf der Gefangenen („Pidion schebuim“)
bestimmten Leistungen 'heranziehen mußte; nicht selten wurden zu
diesem Zwecke in mehreren Gemeinden zugleich Kollekten veranstal-
tet. Diese gegenseitige Hilfe setzte einen festen Zusammenschluß der
Gemeinden voraus, der auch für die Wahrung der politischen In-
teressen des Judentums wie für die geistige Einheit der Nation über-
haupt unentbehrlich war. So war es nur natürlich, daß mit dem
Zusammenbruch des einigenden geistigen Zentrums in Babylonien das
Bestreben rege wurde, dieses Zentrum in Ägypten oder in Palästina
zu neuem Leben erstehen zu lassen.
Eine alte, in einer ägyptisch-jüdischen Chronik (von Sambari) er-
haltengebliebene Überlieferung berichtet nun, im Jahre 985 sei aus
Bagdad eine von dem ägyptischen König geehelichte Prinzessin aus
dem Abbassidenhause in Ägypten eingetroffen, die es ihrem Gemahl
nahegelegt habe, für die im Lande wohnenden Juden einen ähn-
lichen Vorgesetzten, Exilarchen, zu ernennen, wie ihn von jeher die
Kalifen von Bagdad an ihrem Hofe gehabt hätten. Der ägyptische Kö-
nig soll darauf einen der Angehörigen des Exilarchen aus Babylonien
zu sich berufen und ihn zum Oberhaupte aller in seinem Kalifat ge-
legenen jüdischen Gemeinden eingesetzt haben; so soll das Geschlecht
der ägyptischen Exilarchen, die den Titel „Nagid“ (der Großmächtige)
erhielten, seinen Anfang genommen haben. Der geschichtliche Kern
dieser Überlieferung besteht wohl darin, daß die ersten Kalifen aus
dem Fatimidenhause, die den Abbassiden den Titel von Häuptern der
5oi
Palästina und Ägypten bis zu den Kreuzzügen
Rechtgläubigen streitig machten, Wert darauf legten, die jüdische
Gemeinschaft an ihrem Hofe in ähnlicher Weise offiziell vertreten
zu sehen, wie sie bei ihren Rivalen in Bagdad durch die Exilarchen
vertreten war. Die Verwandtschaft mit dem Hause der babylonischen
Exilarchen war aber nur dazu erdichtet worden, damit deren ägyp-
tische Nebenbuhler ihre angebliche Abstammung von König David
gellend machen könnten. In Wirklichkeit waren jedoch die ersten
Exilarchen in Ägypten, die allerdings weder mit diesem Titel noch mit
dem eines „Nagid“ geschmückt waren, verschiedene Hofbankiers jü-
discher Abstammung von der Art des Abu-Saad und dessen Bruders
oder aber jüdische Leibärzte, denen die Fatimiden besonderes Ver-
trauen entgegenzubringen pflegten. Der „Nagid‘ -Titel kam aber nach-
gewiesenermaßen zuerst um die Mitte des XI. Jahrhunderts in Ge-
brauch, um sich erst im folgenden Jahrhundert endgültig einzubür-
gern. Zunächst wurden die ägyptischen Exilarchen durch den Ehren-
titel „Sar“ oder „Sar-ha’sarim“ (Fürst der Fürsten) oder auf ara-
bisch: „Ras al-Jahud“ (Haupt der Juden) ausgezeichnet. In der Volks-
erinnerung hat jedoch die Wirksamkeit dieser dem Kalifen zur Seite
stehenden höchsten jüdischen Beamten so gut wie gar keine Spur
hinterlassen, und erst gegen Ende des XI. Jahrhunderts hebt sich die
Gestalt des Nagid Meborach, des Leibarztes des Kalifen, der seine
Stellung dreißig Jahre lang (1080—1110) innehatte, von dem dunk-
len Hintergründe deutlich ab.
Mehr Nachrichten sind uns über die geistlichen Führer überliefert,
die in Ägypten die Rolle von Gaonen spielten. Der erste dieser Füh-
rer, Schemaria ben Elchanan, war ein Zögling der Akademie von
Pumbadita, mit deren letzten Häuptern Scherira und Hai er auch
späterhin regen Verkehr pflegte. Nach Ägypten soll Schemaria durch
einen Zufall verschlagen worden sein als einer von den vier ge-
fangenen Gelehrten, die um 970 von Seeräubern nach Alexan-
drien verschleppt und von der dortigen Gemeinde losgekauft wurden
(s. unten, § 68). Vierzig Jahre lang stand Schemaria an der Spitze
der talmudischen Jeschiba von Kairo-Fostat, wobei er allerdings nicht
den Titel eines „Gaon“ sondern nur den eines „Ab-beth-din“ führte.
Desungeachtet galt er als das geistige Oberhaupt der gesamten ägyp-
tischen Judenheit. Sein in das Ende des Jahres 1011 fallender Tod
war es, der während der Religionsnot unter Hakim zu den obener-
wähnten Straßenkrawallen (oben, § 66) Anlaß gab. Der Sohn und
002
§ 67. Die Nagidim in Ägypten und die Gaonen in Palästina
Nachfolger des Schemaria, Elchanan (1012—1026), mußte die ganze
Drangsal der Regierungszeit des wahnwitzigen Kalifen miterdulden,
doch war es ihm noch beschieden, seine Gemeinde besseren Zeiten
entgegenzuführen. Er führte den eigenartigen Titel „Rosch-ha’seder“,
Haupt der akademischen Reihe oder des Akademiekreises, wiewohl
sein Einfluß sich weit über diesen Kreis hinaus auf das ganze öffent-
liche jüdische Leben in den Städten Ägyptens, Palästinas und Syriens
erstreckte.
Die ägyptischen Nagidim und Halbgaonen konnten schon dar-
um auf die Rolle der ehemaligen babylonischen Exilarchen und
Gaonen keinen Anspruch erheben, weil eine Art von Erbrecht auf
die Hegemonie bereits von Palästina mit Nachdruck verfochten
wurde. Seit dem X. Jahrhundert, der Zeit des Ben Meir (§ 65),
führten nämlich die Palästinenser unausgesetzt den Kampf um die
Vorrangstellung. Die Nachfolger des Ben Meir in Jerusalem tru-
gen den hochtrabenden Titel „Rosch-jeschibath-Gaon-Jakob“, d. h.
Akademiehäupter an der Stätte der ehemaligen Größe Israels (vgl.
Am. 6, 8 u. Ps. 47, 5). Im zweiten Viertel des XI. Jahrhunderts hatte
das Gaonamt in Jerusalem der hochgelehrte und tatkräftige Salomo
ben Jehuda ha’Kohen (um 1025—io5i) inne. Während er dem Ge-
lehrtenkollegium als Gaon Vorstand, hieß der eine seiner Amtsgenossen
Ab (Vater) und der andere schlechtweg „der Dritte“ (ha’Schlischi).
Sie bildeten so zu dritt den Vorstand eines kleinen Synhedrion, das für
das gesamte verstreute Israel Großes zu leisten im Sinne hatte. Die
Entscheidungen dieses Synhedrion pflegte man, soweit ihnen allnatio-
nale Bedeutung zukam, einmal im Jahre, am Tage des Hoschanna-
Rabba, in den Volksversammlungen auf dem Ölberge zu verlautbaren.
Man trug sich 'damals in Palästina auch mit dem Gedanken, das Pa-
triarchat (Nessiuth) wiederherzustellen, um so mehr als im Jahre io4o
das Exilarchat in Babylonien bereits erloschen war. Verworrene Über-
lieferungen wollen wissen, daß sich um jene Zeit in Jerusalem der
Sohn des letzten babylonischen Gaon-Exilarchen, David ben Hiskia,
als Gast aufhielt, der bei vielen überaus beliebt war und häufig so-
gar als „Nassi“ angeredet wurde; aus nicht ganz klaren Gründen
wurden jedoch seine Bemühungen um das Patriarchenamt vereitelt
Ein anderer Bewerber um dieses Amt trat in Palästina nach dem Tode
des Gaon Salomo hervor. Dem Verstorbenen folgte nämlich in dem
Gaonamte der Gelehrte Joseph ha’Kohen, der indessen schon nach
5o3
Palästina und Ägypten bis zu den Kreuzzügen
zwei Jahren starb, nachdem er seine Würde auf seinen Bruder Elias
ha’Kohen übertragen hatte (io53). Inzwischen kam aber aus Baby-
lonien ein Mitglied des Exilarchengeschlechtes, Daniel ben Asarja,
nach Palästina und erhob den Anspruch auf den Doppeltitel eines
Nassi (Patriarchen) und eines Gaon. Es geschah dies zehn Jahre nach
dem Erlöschen des Exilarchats und des Gaonats in Babylonien, und
viele waren daher der Meinung, Palästina dürfe die günstige Gelegen-
heit nicht ungenützt lassen und müsse nun durch die Wahl eines
Nachkommen des Königs David aller Welt den Übergang der Hege-
monie an das Heilige Land vor Augen führen. So wurde denn Daniel
schon im Jahre io5i zum Patriarchen ausgerufen, um zwei Jahre
später mit dieser Würde auch die des Gaon zu vereinigen, da der
Gaon Elias ihm sein Amt freiwillig abtrat und neben ihm nur als
sein Gehilfe (Ab) fungierte. Der neue Patriarch wurde von allen Ge-
meinden Palästinas und Syriens anerkannt. Seine Macht war jedoch
nur von kurzer Dauer. Im Jahre 1062, als seine Kinder noch in
zartestem Alter standen, ereilte ihn ein früher Tod. So vermochte
denn Elias ha’Kohen sein Gaonamt wieder anzutreten, das er dann
zwanzig Jahre lang (1062—1082) innehatte.
Um diese Zeit brachen über Palästina folgenschwere Ereignisse
herein, die gleichsam ein Vorspiel zu den Kreuzzügen Europas wa-
ren. Die von den Seldschuken abstammenden türkischen Sultane, die
in Bagdad im Namen der abbassidischen Kalifen das Zepter führten,
eröffneten nämlich gegen Ägypten den Kampf um den Besitz von
Syrien und Palästina. Im Jahre 1071 besetzte das Seldschukenheer
Damaskus, Tiberias, Ramleh und auch Jerusalem. In den Moscheen,
Synagogen und Kirchen des Heiligen Landes mußte man nunmehr
auf Befehl der Eroberer für das Wohl der abbassidischen Kalifen
beten. Doch blieben auch die Fatimiden nicht untätig, und so war
denn Palästina zwei Jahrzehnte lang der Schauplatz der zwischen
Türken und Ägyptern ausgefochtenen Kämpfe. Mit dem Jahre 1096
begann das Kriegsglück den Fatimiden zu blühen. Die Truppen des
ägyptischen Kalifen Mustali vertrieben die türkischen Herrscher, die
Ortokiden, aus Jerusalem, und Palästina glaubte endlich nach lang-
jährigen Wirren wieder zur Ruhe kommen zu können. Allein um
diese Zeit zog bereits eine neue Gewitterwolke von Westen her über
das Land herauf. Aufgepeitscht durch die Gerüchte über die grau-
same Behandlung, die die Christen von seiten der Türken im Heiligen
5o4
§ 67. Die Nagidim in Ägypten und die Gaonen in Palästina
Lande zu erdulden hätten, brachen zügellose Scharen von Kreuz-
fahrern aus Europa über Byzanz nach Palästina auf, um schon im
Jahre 1099 an die Tore Jerusalems zu pochen.
Alle diese Umwälzungen erschütterten das neuerstandene palästi-
nensische Zentrum bis in den Grund. Zwar räumten die Kämpfer um
die Hegemonie ihre Stellung nicht ohne Widerstand. Als Jerusalem
von den Seldschuken besetzt wurde (1071), zog sich der Gaon Elias
mitsamt seinem Gelehrtenkollegium nach der Stadt Tyrus zurück,
die, wie der ganze Küstenstrich, noch unter ägyptischer Herrschaft
verblieb. Zehn Jahre später berief Elias, seinen baldigen Tod voraus-
ahnend, eine große, aus ganz Galiläa beschickte Versammlung ein,
die seinen Sohn Ebjatar zu seinem Nachfolger in der Gaonwürde er-
wählte. Noch kurz vor seinem Tode ging Elias nach Haifa, um dort
„das Jahr einzuweihen“, d. h. die Kalenderfristen für das nächste
Jahr zu verkünden, was gleichsam die Macht der alten Patriarchen
symbolisieren sollte (io83). Ebjatar stieß indessen bald auf den Wi-
derstand eines mächtigen Rivalen. Der Sohn des ehemaligen Gaon-
Nassi Daniel, David ben Daniel, der inzwischen volljährig geworden
war, erhob nämlich jetzt seinerseits Ansprüche auf das väterliche
Erbe. Er fand in Kairo, seinem neuen Wohnsitz, eifrige Anhänger,
denen es auf allerlei Schleichwegen gelang, seine Ernennung zum
Exilarchen Palästinas und aller übrigen Provinzen des Fatimiden-
reiches durchzusetzen. Der damals das Amt eines Nagid bekleidende
Meborach wurde eine Zeitlang seiner Würde enthoben. Sich damit
nicht begnügend, verlangte David, daß er in dem ägyptischen Teile
Palästinas als „Nassi“ und Gaon zugleich gelten solle, da in der Per-
son seines Vaters die beiden Würden bereits vereinigt gewesen wären.
Darauf begann er in den Küstenstädten Palästinas (Caesarea, Haifa,
Beirut, Askalon) von seiner Macht in der Weise Gebrauch zu machen,
daß er den dortigen Gemeinden drückende Steuern aufbürdete. Nach
Tyrus sandte er aber einen Stellvertreter, und so mußte der Gaon
Ebjatar zusammen mit einigen Mitgliedern des Gelehrtenkollegiums
die Stadt verlassen, um in irgendeinem in der Nähe von Damaskus
gelegenen Nest Zuflucht zu suchen. Der zwischen dem Gaon und
dem Gegengaon ausgebrochene Zwist versetzte das ganze Land in
große Aufregung. Im Jahre 1098 trat nun in Tyrus eine Versamm-
lung unter Teilnahme der Vertreter beider Parteien zusammen. In
dieser Versammlung setzte sich für die Rechte des gesetzmäßigen
5o5
Palästina und Ägypten bis zu den Kreuzzügen
Gaon Ebjatar mit besonderer Wärme sein Mitarbeiter im Gelehrten-
kollegium ein, der in seiner Rede folgendes zu erhärten suchte: vor
allen Dingen besäße ein Nachkomme der Exilarchen schon aus dem
Grunde kein Recht auf Palästina, weil der Titel eines Exilarchen,
der soviel wie „Haupt der Exulanten“ bedeute, einstmals von den
aus Judäa nach Babylonien Verbannten nur zu ihrem eigenen Nutzen
und Frommen, nicht aber zu dem der im Heimatlande Zurückgeblie-
benen geschaffen worden wäre; den Ländern jener besonderen Dia-
spora (Gola), für die allein der „Rosch-Gola“, der Exilarch, ernannt
worden war, sei nicht einmal Ägypten zuzuzählen; überdies stehe
trotz allem nur den Gelehrten des Heiligen Landes nach wie vor das
alte Privileg zu, für die gesamte Diaspora kalendarische Bestimmun-
gen zu treffen — wie könnte also auf dieses Recht ein aus Babylonien
stammender und in Ägypten lebender Fremdling Ansprüche erheben?
Diese überzeugenden Beweisgründe stimmten sogar diejenigen um,
denen bis dahin das Anrecht des Exilarchen David unstreitig zu sein
schien. Nunmehr wandten sich auch seine ägyptischen Gönner von
ihm ab. So konnte Ebjatar sein vom Exilarchen in Kairo unab-
hängiges Amt des palästinensischen Gaon auch fernerhin behalten.
Seiner Macht im Heimatlande war aber nur eine kurze Frist beschie-
den, denn schon im Jahre 1099 wurde Jerusalem von den Kreuz-
fahrern besetzt, und das für einen kurzen Augenblick auferstandene
nationale Zentrum in Palästina mußte wieder für viele Jahrhunderte
vom geschichtlichen Schauplatz verschwinden.
§ 68. Das provisorische Zentrum in Maghreb (Kairuwan)
Auf ihrem Wanderwege von Ost nach West hielt die nationale
Hegemonie hier und da kurze Rast, so daß es scheinen mochte, daß
das Erbe des autonomen Babylonien bald Palästina, bald Ägypten,
bald gar dem afrikanischen Maghreb zufallen werde. Später stellte sich
indessen heraus, daß auf diese Weise nur Teilstrecken eines aus Asien
nach Europa führenden Weges zurückgelegt worden waren. Auf die-
ser Wanderung bildete nun Maghreb (das Gebiet des nachmaligen
Tunis, Algerien und Marokko) mit seiner arabischen Hauptstadt Kai-
ruwan nur die abschließende Etappe: von hier aus nahmen seit dem
VIII. Jahrhundert die Araber ihren Weg nach Spanien und den glei-
chen Weg über Maghreb schlug später auch das sich gleichfalls nach
Spanien verschiebende jüdische Kulturzentrum ein.
§ 68. Das provisorische Zentrum in Maghreb
Diese Verschiebung der Hegemoniezentren spiegelt sich in einer
vom spanisch-jüdischen Chronisten des XII. Jahrhunderts, Abraham
Ibn-Daud, vermittelten geschichtlichen Sage in treffender Weise wi-
der. In der Mitte des X. Jahrhunderts — so berichtet die Überliefe-
rung — segelte ein Schiff die byzantinische und italienische Küste des
Mittelmeeres entlang, auf dem sich vier Gelehrte befanden, die als
Sendboten der jüdischen Gemeinden die verschiedenen Länder be-
reisten, um Beiträge für gemeinnützige Zwecke (vielleicht für den
Unterhalt der babylonischen Akademien) einzusammeln. Im griechi-
schen Archipel fiel das Schiff der Flotte des Kalifen von Cordova,
Abdurachman III., zur Beute, die eigens dazu ausgesandt war, den
feindlichen Schiffen aufzulauern. Die jüdischen Gesandten, die sich
in dem süditalienischen Hafen Bari eingeschifft hatten, wurden von
dem Oberbefehlshaber der Flotte von Cordova, Ibn-Rumahis, gefan-
gengenommen, und einer nach dem anderen wurde sodann in den von
der Flotte angelaufenen Häfen von den verschiedenen jüdischen Ge-
meinden losgekauft. So wurde einer der gefangenen Gelehrten, Rabbi
Schemaria, von der Gemeinde der Stadt Alexandrien ausgelöst, um
bald zum Haupte der ägyptischen Juden erwählt zu werden (der
obenerwähnte Ab-beth-din Schemaria ben Elchanan in Fostat, § 67).
Der zweite, R. Chuschiel, wurde nach Kairuwan verschleppt, wo er
der geistige Führer der jüdischen Gemeinden von Maghreb wurde.
Der dritte, Moses, wurde samt seinem Sohne Clianoch in die Metro-
pole des spanischen Judentums, nach Cordova, verschlagen, wo sich
beide bald als Rabbiner hervortaten. Das Los des vierten Gefangenen
ist aber ebenso wie sein Name unbekannt geblieben. Die Sage fügt
noch hinzu, daß bei der Begebenheit die göttliche Vorsehung gewaltet
hätte: Gott selbst habe Sorge dafür getragen, daß noch vor dem Nie-
dergänge der talmudischen Akademien in Babylonien die Lehrkräfte in
verschiedene andere Länder verschlagen werden, um dort neue Pflanz-
stätten des Wissens zu begründen. Die in dieser Sage künstlich mit-
einander verflochtenen Ereignisse, die für die Verschiebung der na-
tionalen Hegemonie allerdings überaus kennzeichnend sind, haben sich
indessen auf einem ganz anderen Hintergründe abgespielt.
Schon im IX. Jahrhundert bildete sich in Kairuwan ein kulturelles
Zentrum der Juden von Maghreb. Trotz des Fanatismus der ein-
heimischen Berbernstämme und des häufigen Wechsels der Ober-
gewalt in diesen bald von Statthaltern der Abbassiden, bald von denen
Palästina und Ägypten bis zu den Kreuzzügen
der Fatimiden verwalteten Landgebieten beherbergte Maghreb eine
große Anzahl von Juden. Die Stadt Kairuwan, die an der Kreuzung
der Bagdad und Damaskus mit Spanien verbindenden Karawanen-
straßen gelegen war, trieb lebhaften Handel mit den verschiedenen
Punkten der Diaspora, an dem auch die Juden regen Anteil nahmen.
So war es die Gemeinde von Kairuwan, der unter allen Gemeinden
von Maghreb, die in Tlemsen, Fez (Fas) und anderen in Tunis, Al-
gerien und Marokko gelegenen Städten bestanden, die Führung zu-
fiel, wobei sie ihnen gegenüber schon sehr früh die Rolle einer gei-
stigen Hauptstadt spielte. Der „Einwohner von Kairuwan“ (Ansche
Kairuwan) wird in den verschiedene Fragen der religiösen Praxis zur
Entscheidung bringenden Responsen der Gaonen gar häufig Erwäh-
nung getan. Im X. und in der ersten Hälfte des XI. Jahrhunderts
stehen die Gaonen bereits in regem Briefwechsel mit den Gelehrten
von Kairuwan, den Leitern der dortigen talmudischen „Jeschiboth“.
Um dieselbe Zeit gewannen einige Juden unmittelbaren Einfluß am
Hofe der Herrscher von Maghreb. Schon unter den letzten Herrschern
aus der aghlabitischen Dynastie hatte hier der berühmte jüdische Na-
turforscher und Philosoph Isaak Israeli (um 84o—94.0), der aus
Ägypten stammte und ein Freund des Gaon Saadia war, das Amt
eines Leibarztes inne. Als das Stammhaupt der Fatimiden, Mahdi
Obaid-Allah, die angestammte Dynastie von Kairuwan stürzte (909),
behielt Israeli auch unter ihm das gleiche Amt. Von der zweiten
Hälfte des X. Jahrhunderts ab, als Maghreb an das ägyptische Kali-
fat der Fatimiden angegliedert worden war, stand die Gemeinde von
Kairuwan in engstem Verkehr mit den Gemeinden von Kairo und
Alexandrien und hatte namhafte Gelehrte zu ihren Führern, denen
innerhalb der Judenheit von Maghreb die Stellung von Gaonen zu-
kam. Zu diesen gehörte auch R. Chuschiel, einer der Helden der Sage
von den vier Gefangenen, der aber anderen Nachrichten zufolge frei-
willig aus Süditalien oder Byzanz nach Afrika gekommen war (um
970). Ursprünglich gedachte er nach Ägypten zu gehen, doch wurde
er unterwegs von der Gemeinde von Kairuwan aufgehalten und grün-
dete dort eine talmudische Akademie, eine Pflanzstätte zur Heran-
bildung von rechtskundigen Rabbinern für die afrikanischen Gemein-
den. Gleichzeitig mit ihm fungierte als „Oberrabbiner“ von Kairuwan
Jakob ben Nissim (ibn Schahin), der mit dem Gaon von Pumbadita,
Scherira, in Briefwechsel stand und diesen durch seine Anfrage dazu
5o8
§ 68. Das provisorische Zentrum in Maghreb
veranlaßte, sein berühmtes, die Entwicklungsgeschichte des talmudi-
schen Schrifttums behandelndes Antwortschreiben zu verfassen (unten,
§ 72). Die Söhne dieser beiden Gelehrten von Kairuwan, Chananel
ben Chuschiel und Nissim ben Jakob (um 1000—io5o), führten das
von ihren Vätern eingeleitete Werk, die Aufklärung der afrikanischen
Juden, mit größtem Eifer weiter fort. Beide hinterließen eine Reihe
von für die Talmud- und Bibelwissenschaft höchst bedeutsamen Wer-
ken, auf die unten, bei der Behandlung des literarischen Schaffens
dieses Zeitalters, noch des näheren eingegangen wird. Sie standen in
wissenschaftlichem Briefwechsel mit dem letzten der babylonischen
Gaonen, R. Hai, und waren auch selbst die letzten „Gaonen“ von
Maghreb, ein Ehrentitel, der ihnen allerdings erst von der Nachwelt
zuteil wurde. Unter der Einwirkung der in der zweiten Hälfte des
XI. Jahrhunderts über das Land hereingebrochenen politischen Krisen
geriet jedoch das afrikanische Zentrum von Kairuwan in Verfall. Die
besten geistigen Kräfte des dortigen Judentums zog nämlich das be-
nachbarte Spanien an sich. Schon der Gaon Nissim war in materieller
Hinsicht von dem einflußreichen Repräsentanten der spanischen Ju-
den jener Zeit, von Samuel ha’Nagid, abhängig; der Schüler des Nis-
sim, der aus der Stadt Fez stammende große Talmudgelehrte Isaak
Alfassi, sah sich aber genötigt, sogar seine eigene Wirksamkeit nach
Spanien zu verlegen, und es gelang ihm auf diese Weise, das Talmud-
studium dort auf eine feste Grundlage zu stellen.
Verhängnisvoll für das Zentrum von Maghreb war der Abfall der
Berberländer von Ägypten. Den Fatimiden entstanden nämlich in den
einheimischen Gaufürsten, die das Volk durch die Losung des Kamp-
fes um die Rechtgläubigkeit hinzureißen verstanden, gefährliche Geg-
ner. Um die Mitte des XI. Jahrhunderts treten neue Streiter des
Islam in den Vordergrund: die Almoraviden oder Morabiten, die An-
hänger der das Mönchtum oder den Asketismus predigenden „Ribat“-
Lehre. Wie schon so häufig in der Geschichte der islamitischen Welt
war die sektiererische Lehre auch diesmal nur der Anlaß für eine
politische Umwälzung. Der Kriegsherr der neuen Sekte, Jussuf ibn
Taschfin (1062—1106), erlangte die Herrschaft über einen bedeu-
tenden Teil Nordafrikas und wurde zum Begründer einer neuen Dy-
nastie. Im Jahre 1086 unterwarf er weitausgedehnte Gebiete im süd-
lichen Spanien. So erstreckte sich die Gewalt der Almoraviden bald
von Marokko in Afrika bis Sevilla und Lucena in Europa. Nachdem
509
Palästina und Ägypten bis zu den Kreuzzügen
die ersten Ausbrüche des muselmanischen Fanatismus überwunden
waren, ließ indessen der Glaubenseifer der neuen Herrscher nach
und sie begannen den Andersgläubigen mehr Duldsamkeit entgegen-
zubringen. In den vierziger Jahren des XII. Jahrhunderts tauchten
jedoch in Maghreb noch viel unbeugsamere Eiferer des Islam auf:
die Almohaden oder Unitarier, die den Andersgläubigen Krieg auf
Leben und Tod ansagten. Diese islamitische Parallele zu den Kreuzr-
zügen war es, die in der folgenden Epoche für das Los der afrikani-
schen Judenheit verhängnisvoll werden sollte (s. Band IV).
5io
Viertes Kapitel
Das geistige Leben im Zeitalter der
arabisch-jüdischen Renaissance
§ 69. Das talmudische Schrifttum der Gaonen
Die Neubelebung des internationalen Verkehrs auf dem über drei
Weltteile sich erstreckenden Riesengebiet der arabischen Kalifate kam
auch der Verbreitung des Talmud als einer Quelle praktischer Gesetz-
gebung zugute. Die Rechtsnormen und Regeln des religiösen Verhal-
tens, die in den von den Gaonen geleiteten Akademien Babyloniens
auf der Grundlage des Talmud ausgearbeitet wurden, erreichten un-
verzüglich auch die entferntesten jüdischen Zentren. Es begann die dy-
namische Periode des Talmudismus, die Periode eines Wanderschrift-
tums, das in Form von „Sendschreiben der Gaonen“ die Entschei-
dungen des babylonischen Synhedrion von Land zu Land trug. Diese
Sendschreiben stellten zumeist Antworten auf Anfragen dar, die von
den Vertretern verschiedener Gemeinden an die Akademien gerichtet
wurden, und hießen demgemäß „gaonäische Responsen“ (Teschuboth
ha’geonim). Damit jedoch die hinsichtlich der Fragen des talmudi-
schen Rechts zu treffenden Entscheidungen in der Praxis allgemeine
Geltung erlangten, mußten sie zunächst an Ort und Stelle einer Er-
örterung in den akademischen Sitzungen unterzogen werden, und so
kam es, daß die von den auswärtigen Gemeinden gesandten Boten
nicht selten lange auf die erbetene Entscheidung warten mußten, um
sie dann in der Form von schriftlichen, von den Gaonen selbst be-
glaubigten Urkunden in ihre Heimat mitnehmen zu können. Doch
pflegten die Akademien, um den Gelehrten und Dajanim in den ein-
zelnen Gemeinden die Auslegung und die Anwendung der Gesetze zu
erleichtern, in Voraussicht eventueller Schwierigkeiten, die in Frage
kommenden, im Talmud verstreuten Halachoth gewöhnlich schon im
Die arabisch-jüdische Renaissance
voraus zu sammeln und zu kodifizieren, indem sie aus den vielfälti-
gen Ansichten der Tannaiten und Amoräer klare und bestimmte
Schlußfolgerungen zogen.
Solche Versuche einer Kodifikation des Talmuds wurden seit der
Mitte des VIII. Jahrhunderts mehrfach unternommen. Einer dieser
Versuche geht auf den oben (§ 63) erwähnten Achai aus Schabcha
zurück, jenes Mitglied des Gelehrtenkollegiums von Pumbadita, das
bei seiner Bewerbung um das Gaonamt vom Exilarchen übergangen
worden war und darauf nach Palästina ging, um dort eine Heim-
stätte für die babylonische Wissenschaft zu schaffen. Er verfaßte ein
umfangreiches Werk unter dem Titel „Scheeltoth“ („Fragen“, oder
genauer: „Thesen“), in dem der ganze talmudische Stoff in der Rei-
henfolge der Abschnitte des Pentateuch angeordnet ist. In jedem der
170 Abschnitte dieses Sammelwerkes wird zunächst die biblische
These dargelegt, der sodann manche der darauf bezüglichen Sätze
der talmudischen Halacha oder Haggada folgen. So wird hier der
Lehrvortrag mit der Moralpredigt zu einer Einheit verbunden. Der
Autor wollte anscheinend das Erfassen der Einzelfragen des Ritus
oder des Rechts betreffenden, oft überaus verschlungenen Beweis-
führung des Talmud dem Leser dadurch erleichtern, daß er in die
abstrakten Auseinandersetzungen sittliche Belehrungen einschob. Ein
Rabbiner aus späterer Zeit berichtet: „Wir sind im Besitze einer
glaubwürdigen Überlieferung, derzufolge Rabbi Achai einen Sohn
hatte, der keine Neigung für die Beschäftigung mit der Wissenschaft
(mit dem Talmud) zeigte, und für den eben das Buch ,Scheeltoth4 ab-
gefaßt worden war, damit er bei dem allwöchentlichen Lesen des
festgesetzten Thoraabschnittes in der Lage wäre, sich zugleich ge-
wisse talmudische Halachoth anzueignen“. Solche Sagen legen das
beste Zeugnis dafür ab, wie schwer es dem Durchschnittsmenschen
fallen mochte, sich in dem höchst verschlungenen Stoff der Ha-
lacha zurechtzufinden, geschweige denn bestimmte Gesetzesvorschrif-
ten daraus herzuleiten. Das Sammelwerk hatte diese Schwierigkeiten
freilich noch nicht behoben, da es eigentlich kein Kodex, sondern
eher ein für den allgemeinen Gebrauch bestimmtes Hilfsmittel des
Talmudstudiums war.
Auf direkterem Wege versuchte man das Kodifikationswerk in
Babylonien in Angriff zu nehmen. Seit der zweiten Hälfte des VIII.
Jahrhunderts kamen hier Sammlungen talmudischer Gesetzesvor-
5l2
§69. Das talmudische Schrifttum der Gaonen
Schriften in Umlauf, die die Titel „Halachoth pessukoth“, „Hala-
choth kezuboth“ („Halachoth-Entscheidungen“) führten. Als Verfas-
ser dieser Werke gelten der Gaon von Sura Jehudai (um 760) und
ein Gelehrter aus späterer Zeit, Simon Kajara. Sowohl die ursprüng-
lichen Verfasser wie auch der Urtext dieser Sammlungen lassen sich
nur schwer feststellen, da sie im Laufe der Zeit durch verschiedene
Einfügungen ergänzt und von den Gelehrten oder den im praktischen
Leben stehenden Richtern, denen sie als Leitfaden dienten, vielfach
rezensiert wurden. Die Frucht dieser kollektiven Arbeit einer Reihe
von Generationen ist das bis auf unsere Zeit gelangte Sammelwerk
„Halachoth gedoloth“, das sich in zwei bedeutend voneinander ab-
weichenden Rezensionen erhalten hat, von denen die eine in den fol-
genden Jahrhunderten unter den deutsch-französischen, die andere
unter den spanischen und provenzalischen Juden weite Verbreitung
fand. Es wäre wohl eine Übertreibung, diese Kodifikationsversuche
als gelungen zu bezeichnen; vielmehr trugen sie nur den Stoff für
jenen systematischen Gesetzeskodex zusammen, zu dessen Schaf-
fung es drei Jahrhunderte später der Kraft des genialen Maimonides
bedurfte. Standen doch den in dieser Richtung gehenden Bemühun-
gen mancher Gaonen auch noch allerlei akademische Vorurteile im
Wege. Den gestrengen Priestern der Wissenschaft mißfiel nämlich
das Bestreben, den Talmud durch kurz gefaßte Kompendien zu er-
setzen. Dem Gaon Paltoi ging einst die folgende Anfrage zu: „Soll
man sich in den Talmud vertiefen oder genügt es, wenn man sich
auf fragmentarische Halachoth (,Halachoth ketuoth') beschränkt?
Die meisten neigen eben zu den fragmentarischen Halachoth, indem
sie sagen: Was haben wir von der Beschäftigung mit den talmudi-
schen Disputationen?“ Die Antwort des Gaon lautete: „Die Leute,
die so sprechen, begehen einen Fehler: sie schmälern den Bereich
der Wissenschaft“.
Die Gaonen der folgenden Jahrhunderte zogen es vor, den Tal-
mud vornehmlich in der Form von wissenschaftlichen, den Einzel-
problemen des Rechts und des Ritus gewidmeten Monographien zu
behandeln. Der auch auf anderen Wissensgebieten hervorragende
Saadia verfaßte z. B. eine ganze Reihe solcher Monographien: über
Hinterlassenschaften, über Schuldverschreibungen, über Wucher, über
Eidesleistungen, über das Reine und Unreine, über das Viehschlach-
ten und die „Terefoth“. Von allen diesen Werken haben sich nur der
38 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
5i3
Die arabisch-jüdische Renaissance
Traktat über das Erbrecht und Bruchstücke von zwei oder drei an-
deren Büchern erhalten. Dagegen sind alle übrigen verschollen, wohl
aus dem Grunde, weil sie arabisch abgefaßt waren, was ihrer Ver-
breitung in den europäischen Ländern (abgesehen vom arabischen
Spanien) störend im Wege stand. Dasselbe Los war dem größten
Teil der das Zivilrecht behandelnden Untersuchungen des Gaon Hai
beschieden; erhalten haben sich davon nur zwei, aus dem Arabischen
ins Hebräische übersetzte Bücher: „Vom Kauf und Verkauf“ und
„Von den Eidesleistungen“ („Mekach u’memkar“, „Schabuoth“).
Saadia, Hai und andere babylonische Gaonen schrieben überdies auch
noch Kommentare zum Talmud, die jedoch im Laufe der Zeit gleich-
falls spurlos verschwunden sind, da sie von den späteren Kommentaren
der europäischen Gelehrten bald überflügelt wurden. Erhalten haben
sich dagegen die von den letzten Gaonen von Kairuwan herrührenden
Werke gleichen Charakters: das Werk des Nissim („Hamafteach‘V *
ein Kommentar zu drei Talmudtraktaten) und das von Chananel
(„Perusch“, Kommentare zu vielen Talmudtraktaten, die zum Teil ge-
druckt vorliegen, zum Teil als Manuskripte in den verschiedenen
europäischen Bibliotheken auf bewahrt werden). Eine Eigenart der
Werke dieser beiden im Kairuwan des XI. ‘Jahrhunderts wirkenden
Gelehrten bestand darin, daß sie in ihren Deutungen und Schluß-
folgerungen als erste auch den Text des „Jerusalemer Talmud“
zu berücksichtigen begannen, der durch den allgemein gebräuchlichen
babylonischen Talmud aus dem geistigen Verkehr gänzlich verdrängt
worden war. Die Beziehungen, die die Gelehrten von Kairuwan zu
Palästina und den dort damals zu neuem Leben erstandenen Aka-
demien unterhielten, ermöglichten es ihnen, sich mit den Abschrif-
ten der älteren „westlichen Gemara“ vertraut zu machen. Durch das
Gegeneinanderhalten der Texte der beiden Talmude, des babyloni-
schen und des palästinensischen, gelang es Chananel nicht selten,
über viele dunkle Stellen Klarheit zu gewinnen, und so konnte er
neue juristische Schlüsse ziehen, die den späteren Rabbinern als
Richtschnur dienten.
Der sicherste Weg jedoch, auf dem der Talmud ins Leben zu
dringen vermochte, war der unmittelbare Verkehr der Gemeinden
der verschiedenen Länder mit den Gaonen und den „zwei heiligen
Jeschiboth“, wie man die Akademien von Sura und Pumbadita zu
nennen pflegte. Der Ortsrichter, der Dajan, oder der in dieser oder
5i4
§ 69. Das talmudische Schrifttum der Gaonen
jener Gemeinde wirkende Gesetzeslehrer ging den Gaon durch einen
Boten um die Erläuterung einer bestimmten Frage des Rechts oder
des Ritus an und erhielt darauf ein erschöpfendes Antwortschreiben,
dem etwa die Bedeutung einer modernen Reichsgerichtsentscheidung
zukam. Die Entscheidungen, die im Namen des unter der gemein-
samen Leitung der Gaonen Scherira und Hai stehenden Gelehrten-
kollegiums ergingen, weisen die folgende feierliche Eingangsformel
auf: „Die folgende Anfrage ist bei uns während der Sitzung der Jo-
schiba der Gola (Babylonien) zur Begutachtung durch unseren Herrn
Hai, das Oberhaupt der Jeschiba und den Gaon in Israel, den Sohn
des Jeschibahauptes Scherira, eingegangen und wurde in unserem
Beisein verlautbart, worauf wir Befehl gaben, auf die Anfrage
schriftlichen Bescheid zu geben. Sodann wurde sie (die Anfrage) zur
Begutachtung dem obersten Beth-din, unserem Herrn Scherira, dem
großen Rösch-Jeschiba, vorgelegt, der sich in die Frage vertiefte und
die Anordnung traf, die Antwort zu unterzeichnen und deren Rich-
tigkeit zu beglaubigen“. Diese Antwortschreiben oder „Teschuboth“
wurden nicht nur den Urhebern der Anfrage bekanntgegeben, son-
dern gelangten in Abschriften auch an andere Gemeinden, denen sie
gleichfalls als Richtschnur dienten, um später in besondere Samm-
lungen „Gaonäischer Entscheidungen und Erläuterungen“ auf genom-
men zu werden. Die Antworten wurden entweder hebräisch oder ara-
mäisch, aber auch arabisch (in hebräischen Schriftzeichen) abgefaßt;
in arabischer Sprache verfaßte man jene Sendschreiben, die in Be-
antwortung der in der gleichen Sprache eingelaufenen Anfragen er-
gingen. Ihrem Inhalte nach zerfielen die gaonäischen Entscheidungen
in vier Gruppen: a) in solche, die sich auf religiöse Bräuche und
Zeremonien bezogen; b) in Erläuterungen von Fragen des Familien-
und Zivilrechts, der Prozeßordnung und Gemeindeverwaltung; c) in
die Lebensführung und die Volkssitten betreffende Anweisungen;
d) in Erläuterungen dunkler Talmudstellen. In der ersten Gruppe
nahmen den größten Raum die gottesdienstlichen Fragen, die Vor-
schriften über die Sabbatheiligung und die Feste sowie die Speiso-
gesetze ein. In diesem Bereiche zeichneten sich die Entscheidungen
der Gaonen durch äußerste Strenge aus, wiewohl man manchmal auch
hierbei den Anforderungen des Lebens Rechnung tragen und die
Härte des Gesetzes mildern mußte, namentlich in den Fällen, wo
diese zu großen Unzuträglichkeiten führte (z. B. bei minutiöser Be-
33*
5i5
Die arabisch-jüdische Renaissance
obachtung der Speisevorschriften). So entschieden einst die Gaonen
die von einer Gemeinde eingegangene Anfrage, ob von Nichtjuden
gebackenes Brot (Path schel goim) gemäß dem alten Gesetze als un-
genießbar zu betrachten sei, in dem Sinne, daß das entsprechende
Verbot einstmals nur zu dem Zwecke erlassen worden sei, um der
Verschmelzung von Juden mit Andersstämmigen durch Verschwäge-
rung auf diese Weise vorzubeugen (vgl. Band II, § 91); da indessen
diese Gefahr nunmehr gebannt sei, so sei auch den Übertretern dieses
Verbotes die strenge Strafe zu erlassen und man könne sich wohl in
solchen Fällen auf die Erteilung einer Rüge beschränken. Auch die
den „Wein der Heiden“ (Ja’in nessech) betreffenden Regeln wurden
im Hinblick darauf, daß die Muselmanen den Weingenuß überhaupt
verpönten, bedeutend gemildert. Mit um so größerer Strenge drang
man auf die Befolgung der das Viehschlachten, das säuberliche Aus-
einanderhalten der Fleisch- und Milchspeisen u. dgl. m. betreffen-
den Vorschriften. Der Rigorismus in der Sabbatheiligung wurde auf
die Spitze getrieben. Angesichts des biblischen Gebotes, demzufolge
am heiligen Tage auch dem Vieh die Ruhe gegönnt werden sollte,
wurde es untersagt, das Vieh für den Sabbattag sogar einem Nicht-
juden zur Verfügung zu stellen. Ein kompliziertes Vorschriftennetz
umspannte das liturgische Zeremoniell, das in der gaonäischen Zeit
in den Synagogen der verschiedenen Länder endgültige Formen zu
gewinnen begann; neben den allgemeinen Regeln galten hierbei auch
die lokalen Gepflogenheiten als verbindlich. Weniger Konservativismus
zeigten die Gaonen auf dem Gebiete des Familien- und des Zivil-
rechts. In diesem Bereiche ließen sie auch Reformen gelten, die vor-
nehmlich die Wahrnehmung der Interessen der schwächeren Partei
bezweckten. Das Recht der Ehefrau, unter gewissen Voraussetzungen
die unverzügliche Auflösung der Ehe zu verlangen, wurde erweitert,
ebenso wie das Erbrecht der Tochter, die nunmehr auch einen be-
stimmten Teil der hinterlassenen beweglichen Güter für sich be-
anspruchen konnte, während sie ehedem nur in bezug auf unbeweg-
liche Güter erbberechtigt war. Die Erhebung übermäßiger Kapital-
zinsen, sogar auf indirektem Wege, in Form einer Beteiligung am
Unternehmergewinn, wurde jetzt in viel schärferer Weise geahndet,
wobei manche Gaonen solche Geschäfte, auch wenn sie mit Nicht-
juden abgeschlossen wurden, rückhaltlos verdammten. Gaonäische Ent-
scheidungen über die Fragen des Zivilrechts und der Prozeßordnung
5i6
§ 69. Das talmudische Schrifttum der Gaonen
pflegte man in eine allgemeine Form zu kleiden und sie etwa fol-
gendermaßen auszudrücken: „Rüben verkaufte sein Grundstück dem
Simon, Levi übernahm aber die Bürgschaft“ usf.; der Einzelfall
wurde so verallgemeinert, und die auf ihn bezügliche Entscheidung
erlangte Verbindlichkeit für alle gleichgearteten Fälle.
Die Gaonen und die Gelehrtenkollegien arbeiteten somit an der
weiteren Entwicklung des Gesetzes unter dem unmittelbaren Drucke
des praktischen Lebens. Mit rein theoretischen Fragen trat man viel
seltener an sie heran. Unter den Sendschreiben der Gaonen gibt es
nur wenige, die die letzten theologischen oder dogmatischen Fragen
berühren. Manche der Schreiben erörtern die Einwirkung der For-
men des Volksglaubens auf die religiöse Lebensführung. Diesen Glau-
bensformen und den daraus entspringenden Volkssitten brachten die
Gaonen nicht selten große Nachsicht entgegen. So glaubte z. B. der
Gaon von Pumbadita, Sar-Schalom (85g), die Frage, ob es geboten
sei, auf dem Rückwege nach einer Beerdigung sich siebenmal nieder-
zusetzen, um nämlich dadurch die vom Friedhof her nacheilenden
bösen Geister zu verscheuchen, bejahen zu müssen. Sein Nachfolger
Natronai ben Hilai sanktionierte den Volksbrauch, am Vorabend des
Jom-Kippur Hähne und Hennen als Sühneopfer zu schlachten („Ka-
poroth“). Ein anderer Gaon glaubte den sonderbaren Brauch gut-
heißen zu müssen, demzufolge man den Beschneidungsritus auch an
einem vor dem achten Lebenstage verstorbenen Neugeborenen auf dem
Friedhof vorzunehmen pflegte, damit es den Eltern möglich werde,
ihren Sohn bei der Totenauferstehung wiederzuerkennen. Sogar eine
so maßgebende Autorität wie Hai traf eine Entscheidung, die die-
sem Volksbrauch Rechnung trug, obschon das ihm zugrunde liegende
Motiv von ihm wohl kaum ernst genommen werden konnte. Dem
offensichtlichen Aberglauben trat allerdings dieser Gaon mit Ent-
schiedenheit entgegen. Als die Gelehrten von Kairuwan an Hai einst
die Frage richteten, ob es wohl wahr sei, daß es geheimnisvolle „hei-
lige Namen“ oder Formeln für wunderwirkende Beschwörungen gäbe,
mit deren Hilfe man sich vor Räubern schützen, den Sturm auf dem
Meere beschwichtigen, mit großer Geschwindigkeit riesengroße Strek-
ken zurücklegen könnte u. dgl. m., gab der Gaon von Pumbadita zur
Antwort: „Es ist dies nichts als unnützes Gerede; nicht einmal die
vollkommensten Gerechten vermögen solche Wunder zu wirken. Wer
an die Möglichkeit solcher Dinge glaubt, ist den Dummköpfen zu-
517
Die arabisch-jüdische Renaissance
zuzählen“. Andererseits gestattete aber Hai als Hüter der Recht-
gläubigkeit sogar in bezug auf die Wahrheit der phantastischen
Haggadaerzählungen nicht, irgendwelche Zweifel zu hegen, da der
Talmud in seiner Gesamtheit als sakrosankt galt.
Den Gaonen gebührt unter anderem das Verdienst, die synagogale
Liturgie endgültig festgelegt zu haben. Besonderen Eifer zeigte hier-
bei der Gaon von Sura, Amram (um 85o—-880). Auf den Wunsch
der von Babylonien weit abliegenden Gemeinden (es wird vermutet,
daß der Wunsch von den spanischen Juden geäußert wurde) stellte
er eine vollständige Sammlung der an den Wochen- und Festtagen
in der Synagoge zu lesenden Gebete zusammen und fügte diesen auch
alle auf die Gebetsordnung bezüglichen Regeln bei („Siddur Rab-
Amram“). Dieses Gebetbuch fand bald unter den Juden Asiens,
Afrikas und Europas weite Verbreitung und wurde sowohl dem
Gottesdienst nach sefardischem als auch nach aschkenasischem Ritus
zugrunde gelegt. Im Laufe der Zeit erfuhr allerdings der „Siddur-
Amram“ bedeutende Modifikationen und Erweiterungen, und doch
hat sich bei den sefardischen Gemeinden als Kern ihrer Liturgie
eben jenes System erhalten, das von dem babylonischen Gaon aus
dem IX. Jahrhundert ausgearbeitet worden war.
Im Laufe von drei Jahrhunderten, vom VIII. bis zum XI., ge-
lang es den babylonischen Gaonen, die Herrschaft des talmudischen
Gesetzes in allen Teilen der zerstreuten Judenheit so sehr zu befesti-
gen, daß das jüdische Volk der Auflösung des babylonischen Zen-
trums durchaus nicht ungerüstet gegenüberstand. An Stelle dieses
Zentrums traten die von langer Hand aufgebauten neuen Organi-
sationszentren in Palästina, Ägypten und Afrika und später auch im
fernen Westen. Das den Händen der Gaonen entglittene Banner des
talmudischen Judaismus pflanzten nunmehr ihre Jünger, die Rab-
biner, in Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland auf.
§70. Die Polemik der Rabbaniten und Karäer
Eine große Gefahr drohte dem Talmudismus von seiten des
Karäertums. Je drückender im praktischen Leben die Bürde der tal-
mudischen Zucht war, um so verlockender mußten die Versuche er-
scheinen, dieses Joch der „zweiten Thora“ abzustreifen und zur
ersten, zur Bibel, zurückzukehren. Zum Glück für die Talmudtreuen
5i8
§ 70. Rabbaniten und Karäer
vermochten jedoch die Schöpfer des Karäertums an ihrem ursprüng-
lichen Ziel nicht festzuhalten und sahen sich genötigt, zur Anpas-
sung der biblischen Gesetze an das Leben, eigene weitverzweigte Deu-
tungen auszuhecken, einen eigenen mündlichen „Talmud“ zu schaf-
fen, der noch widerspruchsvoller und auch nicht weniger beschwer-
lich war als der der Tannaiten und Amoräer, all dieser „Rabbi’s“ und
„Raben“, deren Verehrer von den Karäern „Rabbaniten“ genannt
wurden. Und doch war die der Rechtgläubigkeit von dem Karäer-
tum drohende Gefahr noch lange nicht gebannt. In vielen Städten
bestanden nebeneinander zwei Gemeinden, die der Rabbaniten und
die der Karäer, so daß die Führer des talmudischen Judaismus eine
Annäherung ihrer Getreuen an die Schismatiker ernstlich zu befürch-
ten hatten. Nach dem ergebnislos verlaufenen Kampf innerhalb der
Gemeinden blieb jedoch, nachdem der Zwiespalt nunmehr Tatsache
geworden war, nur noch der Weg der literarischen Bekämpfung und
der theologischen Polemik offen. Diesen polemischen Kampf eröff-
nete als erster der hervorragendste Repräsentant des Gaonats, Saadia
Gaon. Schon in jugendlichem Alter, als er noch in Ägypten lebte,
verfaßte Saadia in arabischer Sprache ein Buch unter dem Titel „Die
Widerlegung des Anan“ (Kitab alrad ali Anan, 915), um später seine
Polemik gegen die Karäer bereits als der höchstgestellte geistliche
Würdenträger, als Gaon von Sura, wieder aufzunehmen. Ein gestähl-
ter Kämpe, dem es auch in seinem eigenen Lager, unter den Tal-
mudisten, an Widersachern nicht fehlte, erklärte Saadia dem Karäertum
als einer antinationalen Bewegung schärfsten Krieg. Er machte Anan
zum Vorwurf, dieser hätte seine Kalenderreform nur den Muselmanen
zuliebe eingeführt: „Wir haben die Monate stets auf Grund der astro-
nomischen Berechnungen bestimmt, bis sich die Macht der Ismaeliter
(der Araber) befestigte, die betreffs der Beobachtung des Neumonds
ein neues Gesetz erließen; Anan, der gerade um diese Zeit auf getaucht
war, stimmte ihnen nun, um sich ihren Beistand zu sichern, zu“. In
diesem Kalender-Konflikt erblickte Saadia einen besonders schweren
Schlag gegen die Einheit der Nation, deren zwei Teile nunmehr die
nationalen Gedenktage zu verschiedener Zeit zu feiern begannen.
Den Gaon beseelten hierbei dieselben Gefühle, die ihn zum Kampfe
gegen Ben Meir antrieben, der um der Hegemonie Palästinas willen
gleichfalls das einheitliche Kalenderwesen zerschlug. Soweit man nach
den erhaltengebliebenen Bruchstücken der antikaräischen Schriften
519
Die arabisch-jüdische Renaissance
des Saadia urteilen kann, ging er in seiner Polemik auch an den übri-
gen Streitpunkten, die die Karäer mit den Rabbaniten entzweiten,
nicht achtlos vorbei. Mit Nachdruck setzte er sich für die Autorität
der Mischna und des Talmud ein, wies die den Talmudtreuen ge-
machten Vorwürfe, daß sie in der Haggada und in den Gebethymnen
eine anthropomorphistische Auffassung der Gottheit befürworteten,
mit Entschiedenheit zurück und führte den Beweis, daß verschiedene
poetische Redewendungen nur in übertragenem Sinne zu verstehen
seien (.s. unten, § 71).
Die Kritik des Saadia versetzte die Karäer in höchste Erregung.
Die Leidenschaftlichkeit, mit der die Führer der Sekte ihm entgegen-
traten, verrät, wie niederschmetternd die Beweisgründe des großen
Denkers für sie sein mochten. Es wurde gegen Saadia eine münd^
liehe und eine schriftliche Hetzkampagne eingeleitet. Karäische Pre-
diger brachen aus Palästina nach Ägypten auf, um Saadia in seinem
Heimatlande bloßzustellen. Einer von ihnen, Salmon ben Jeruchim,
verfaßte ein gegen Saadia und die Talmudtreuen gerichtetes Buch,
das er die „Kriege des Herrn“ (Milchamoth Adonai) betitelte. Das
Buch war für die Gebildeten in hebräischer Sprache, für diejenigen
aber, die nur die Umgangssprache beherrschten und, des talmudischen
Schrifttums unkundig, sich leichter in die Netze der karäischen Pro-
paganda verstricken konnten, auch in arabischer Sprache abgefaßt.
In seiner von persönlichen Verunglimpfungen des Gegners strotzen-
den Streitschrift ist Salmon mehr auf den Angriff, als auf die Ver-
teidigung bedacht. Besonders eifert er gegen die Willkür der Tal-
mudtreuen, wie sie in ihrer Auslegung der Speisegesetze, der Sabbat-
vorschriften und der die Verwandtenehen betreffenden Gesetze an-
geblich zutage tritt; er verspottet die bizarren Redewendungen der
talmudischen Haggada, wie die folgenden: „Gott betet, legt die Ge-
betkapseln an“. Mitunter bezichtigt er den freidenkenden Saadia der
Abweichung vom Talmud und fordert ihn ironisch auf, in die Reihen
der Karäer zu treten. Ein ausgesprochener Gegner der weltlichen
Wissenschaft und der Philosophie, hatte Salmon für den Rationalis-
mus des Saadia nichts als Verachtung übrig. In seinen umfangreichen
Kommentaren legt der karäische Glaubenslehrer eine bis ins Extrem
gehende Unduldsamkeit den Andersgläubigen gegenüber an den Tag.
Er verdammt diejenigen, die die kostbare Zeit auf das Studium an-
derer Bücher als der Bibel vergeuden, verhöhnt die Weisheit des
020
§ 70. Rabbaniten und Karäer
Euklid und Almagest, spottet über das Interesse für die arabische
Grammatik und für die Philosophie und erklärt ohne Umschweife:
„Die Weisheit der Andersgläubigen und ihre Philosophie ist nichts
als unnützes Gerede, Betrug und Taschenspielerei“.
Noch lange nach dem Hervortreten Saadias hallte die gesamte
karäische Gemeinde, einem aufgescheuchten Bienenschwarm gleich,
von den Stimmen ihrer polemisierenden Theologen wider. In Prosa
und in Versen, in hebräischer und in arabischer Sprache wurden
Streitschriften gegen die Rabbaniten verfaßt, wobei man es ganz be-
sonders auf den „Fajumiten“ (Pithomi) Saadia abgesehen hatte. Der
Glaubenslehrer der Karäer, Jafet ben Ali, aus Jerusalem (um g5o
bis 980), der von seinen Anhängern „Aufklärer der Diaspora“ (Mas-
kil ha’gola) genannt wurde, verfaßte eine Reihe von gereimten Send-
schreiben, die gegen einen der Jünger des Saadia gerichtet waren. In
diesen Strafgedichten werden die Karäer als die wahren Hüter der
Thora geschildert, während die Rabbaniten als Freidenker hingestellt
werden, die das Verbot, die Schrift „weder zu mehren noch zu min-
dern“, in leichtfertigster Weise überträten; der „Ägypter“ Saadia
aber wird dem biblischen Erzsünder Jerobeam gleichgestellt, der
gleichfalls aus Ägypten gekommen sei, um die Israeliten in Ver-
suchung zu führen. Das Wesen der talmudistischen Gesetzesauslegung
wählt Jafet zur Zielscheibe seiner Polemik in seinen Bibelkommen-
taren, die in arabischer Sprache abgefaßt und teilweise auch ins
Hebräische übersetzt worden sind; diese Bücher gelten als die grund-
legenden Werke der karäischen Theologie.
Der tatkräftigste Agitator unter den Karäern war der aus Jerusa-
lem gebürtige Sahl ben Mazliach, dessen Wirksamkeit in die zweite
Hälfte des X. Jahrhunderts fällt. Ein strenger Asket und Eiferer der
karäischen Glaubenslehre, brachte er sein ganzes Leben der Propa-
ganda dieser Lehre zum Opfer. Er scheute sich nicht, eine Reise nach
der Hochburg der Rabbaniten, nach Babylonien, zu unternehmen,
um in Bagdad selbst den Gesetzeslehrern, den Sprossen der beiden
das Volk vom rechten Wege ablenkenden Akademien, zu Leibe zu
rücken. Hier stieß er jedoch auf den Schüler des Saadia, Jakob ben
Samuel, der ihm sowohl in öffentlichen Reden als auch in einem
hebräisch und arabisch abgefaßten Sendschreiben kraftvoll entgegen-
trat. Daraufhin trat auch Sahl mit einer langen Streitschrift auf den
Plan, die unter dem vielleicht aus späterer Zeit stammenden Titel
521
Die arabisch-jüdische Renaissance
„Öffentliche Straf rede“ („Tochachath megula“) auf uns gelangt ist.
Es ist dies eine höchst bemerkenswerte und für die Sitten jener Zeit
überaus aufschlußreiche literarische Urkunde. Der Verfasser erklärt,
daß er auf die Aufforderung seines Widersachers hin seine .Antwort
in der heiligen Sprache abgefaßt hätte, daß er aber dafür Sorge tra-
gen wolle, sie auch in einer arabischen Übersetzung erscheinen zu
lassen, „damit auch die des Hebräischen Unkundigen sie lesen könn-
ten“. Immer wieder kommt er auf den Satz zurück: „Ich bin aus
dem heiligen Hause (Jerusalem) hergekommen, um die Söhne un-
seres Volkes zu warnen“. Die Babylonier sucht er im Namen der
„Bekenner der Schrift“ (Bne-mikra) zu überreden, „jener gerechten
und gottesfürchtigen Männer, die sich in Jerusalem versammelt ha-
ben, dort schlaflose Nächte zubringen und im Hofe des (ehemaligen)
Tempels darum flehen, daß Gott seine verirrte Herde erretten und
sie in die heimatlichen Gefilde zurückführen möge“. Sahl schildert
diese palästinensischen Karäer als strenge Asketen, die „den sinnlichen
Gelüsten, dem Fleisch- und Weingenuß“ entsagt, sich von allen Pri-
vatangelegenheiten losgesagt hätten und unaufhörlich „um Zion trau-
ern“. Diese Einsiedler stellt er den Talmudisten Babyloniens entgegen,
jenen geistlichen Hirten mit durchaus weltlichen Bestrebungen, die
das Volk in ihrer Gewalt haben, ihm schweren Tribut auferlegen und
mit dem Beistand der durch den letzten Groschen des Volkes be-
stochenen fremden Machthaber von den Mitteln der Abschreckung
und der Ächtung (Cherem) Gebrauch machen. Auf die beiden Aka-
demien von Sura und Pumbadita glaubt Sahl ben Mazliach die Vi-
sion des Propheten Sacharja (Kap. 5) von den zwei Weibern anwen-
den zu können, die die Gottlosigkeit versinnbildlichten und sich „im
Lande Sinear (Babylonien) niedersetzten“. „Gott — so ruft er aus
— wird das Joch der zwei Weiber zerbrechen, die das Zepter Israels
in Sura und Anbar (Pumbadita) führen und die Juden von dem
Wege der Thora, dem Wege der Priester, Propheten und all unserer
Urahnen abirren ließen, um ihnen statt dessen in den Schulen einge-
schärfte, von Menschen erdachte Gebote aufzudrängen. Diese zwei
Weiber sind es, die den Garten des Gottes unseres Herrn zerstamp-
fen, die Gesetze des göttlichen Volkes verzerren und es den Talmud
und die Haggadoth lehren“. Das Gesicht Sacharjas von den zwei
Hirtenstäben (Kap. n) wendet der Verfasser der „Strafrede“ auf
die zwei Gewalten, die fremde und die autonome jüdische, an; beide
522
§ 70. Rabbaniten und Karäer
Stäbe werden indessen zerbrechen, zunächst das „Reich der Völker“
und sodann auch die Gewalt der Gaonen und der babylonischen Aka-
demien, die „zwischen Juda und Israel den Bruderzwist entfachen“
(die Karäer nannten sich nämlich im Gegensatz zu den Talmudisten
„Israeliten“). „Die Tage des Gerichts über die Nationen sind nahe
— so glaubt der Verfasser prophezeien zu können —, und die Erlö-
sung Israels, da Gott es von dem Joche der zwei Weiber befreien
und als König über uns den Messias, den Sohn Davids, einsetzen
wird, ist nahe herbeigekommen“. Sahl sucht seine Gegner durch das
Schreckbild des „in Zorn und Ingrimm herannahenden Tages des
Gerichts“ und der den „abtrünnigen“ Rabbaniten beschiedenen Qua-
len der Gehenna einzuschüchtern. Wie von religiöser Raserei befallen,
ruft der Fanatiker aus: „Wie könnte ich schweigen, da ich Juden
sehe, die sich an den Sabbattagen aus ihren Häusern nach den Syna-
gogen mit allerhand Sachen in den Händen begeben, die am Vorabend
des Sabbat gekochte und am Sabbat im Ofen gewärmte Speisen ver-
zehren und von Frauen, die sich dem Reinigungstauchbad noch nicht
unterzogen haben, Speisen entgegennehmen!“ usw. Der die Baby-
lonier verdammende Verfasser versichert, daß die Rabbaniten „auf
dem Heiligen Berge (in Jerusalem) und auf dem Karmel sich von
solchen Ungebührlichkeiten fernhalten“, da sie dort den Karäern
nacheifern: viele entsagten in Jerusalem dem Fleischgenuß, verzich-
teten auf bei Nichtjuden gekaufte Nahrungsmittel, vermieden jede Art
von Verunreinigung und schlössen keine Ehen mit Nichten und anr-
deren Anverwandten; manche von ihnen seien bereits so „aufgeklärt“,
daß sie sich auch von dem rabbanitischen Kalender losgesagt hätten
und die Feiertage gleich den Karäern auf Grund unmittelbarer Be-
obachtung des Mondes festsetzten. Der Verfasser fordert seine Geg-
ner zum Besuche der Andachtversammlungen der Karäer auf, um
sich dort mit ihnen friedlich auseinanderzusetzen, da es den Karäern
nicht möglich sei, zu diesem Zwecke in den Synagogen der Rabba-
niten zu erscheinen, wo am heiligen Freitagabend Kerzen brennen
und die Heiligkeit des Sabbattages überhaupt in jeder Weise entweiht
werde.
Die den Karäern des Heiligen Landes eigentümliche messianisch,-
asketische Einstellung war indessen durchaus nicht für das gesamte
Karäertum charakteristisch. Um diese Zeit eben setzte unter den
Karäern, deren Gemeinden überall, von Persien bis nach Spanien, ver-
5a3
Die arabisch-jüdische Renaissance
streut waren, eine in mannigfache Richtungen sich verzweigende gei-
stige Bewegung ein. Die neuerblühte muselmanische Theologie und
die rabbanitische Kritik spornten die Sekte, die sich gerade in der
Periode des Aufbaus eines eigenen theologischen Systems befand, zu
neuer Gedankenarbeit an. Den obengenannten Schriftstellern, die im
Zeitalter des Saadia Gaon lebten, folgte eine Reihe hervorragender
Sektenführer, die sich von der früheren karäischen Engherzigkeit
frei zu machen wußten und den Weg tiefschürfender Untersuchung
betraten. Die einen gaben sich mit der grammatischen Erforschung
des Bibeltextes ab, andere drangen, den Spuren des Saadia folgend,
in den Bereich der Religionsphilosophie vor, um ihre Glaubensdog-
men auf eine sichere rationale Basis stellen zu können. Unter den
philosophierenden Sektenführern tat sich im XI. Jahrhundert beson-
► ders der babylonische Gesetzeslehrer Joseph al-Bassir (um 1020 bis
io5o) hervor, der, da er des Augenlichts beraubt war, den euphe-
mistischen Beinamen „Ha’roe“ (der Sehende) erhielt. Von seinen
Werken sind namentlich die zwei religionsphilosophischen arabisch
geschriebenen Abhandlungen: „Muchtawi“ und „Al-Tamjiz“ bekannt
(in der hebräischen Übersetzung führen sie die Titel: „Sefer haNei-
moth“ und „Machkimath Peti“). Die Schriften behandeln das Pro-
blem der Einzigkeit Gottes, das der göttlichen Attribute, der Willens-
freiheit und der Vergeltung im Jenseits. Das System des Al-Bassir
lehnt sich in der Anordnung seiner Teile so sehr an das hundert Jahre
früher erschienene philosophische Werk des Saadia Gaon an, daß
die hier waltende Abhängigkeit von dem orthodoxen jüdischen Den-
ker unmittelbar auffällt, wiewohl der Verfasser es für angebracht
hielt, sich in seiner Polemik gegen den antikaräischen Gaon keine
Zurückhaltung aufzuerlegen. Der Schüler des Al-Bassir, der Palä-
stinenser Josua ben Juda, der mehr unter seinem arabischen Namen
Abulfaradsch Furkan (um io5o—1080) bekannt ist, galt bei den
Karäern als der „große Wegweiser“; er trieb mit großem Eifer eine
mündliche Propaganda der karäischen Lehre und verfaßte außerdem
einige Schriften über die Glaubensdogmen, über die zehn Gebote und
über die innerhalb der Sekte selbst umstrittene Frage der Verwandten-
ehen.
Von dem ausgefochtenen Kampf und dem allgemeinen geistigen
Aufschwung dieses Zeitalters beflügelt, gaben sich die karäischen Den-
ker alle Mühe, das von Anan neuaufgerichtete Gerüst des alten Sad-
524
§ 71. Die Philosophie Saadias; Rationalisten und Mystiker
duzäertums mit einem lebendigen Geist zu erfüllen. Die Aufgabe war
nicht leicht, ja unlösbar, da das innerste Wesen der Ananitenlehre
und dann auch des Karäertums gerade die Verleugnung der ge-
schichtlichen Evolution bildete — ein Starrsinn auf dem Gebiete der
Dogmen und der Bräuche, eine verknöcherte Altgläubigkeit und vor
allen Dingen das Bestreben, die Anforderungen des Lebens ganz dem
Buchstaben der Schrift oder seiner Auslegung unterzuordnen. Nach-
dem sich der karäische Zweig von dem allnationalen Stamme losge-
rissen hatte, war er unausbleiblich dem Verdorren geweiht: wurde
ihm doch dadurch der Zufluß lebendiger, aus dem geschichtlichen
Nährboden des Judaismus hervorquellender Säfte von vornherein
gänzlich abgeschnitten. Zwar sollte das Karäertum noch einige Jahn-
hunderte aus der Kraft seines antitalmudischen Protestes und aus dem
von ihm ausgehenden Zauber einer vermeintlichen Restauration des
biblischen Judaismus gewisse Vorteile ziehen; sobald jedoch die Un-
lösbarkeit dieser beiden Aufgaben, der negativen wie der positiven,
klar zutage trat, war auch der Prozeß der Erstarrung, wie er jeder
sich an den Buchstaben klammernden und sich gegen die dynami-
schen Mächte im geschichtlichen Leben auflehnenden Altgläubig-
keit zum Verhängnis werden muß, in keiner Weise mehr auf-
zuhalten.
§ 71. Die Religionsphilosophie Saadias; Rationalisten und Mystiker
Das karäische Schisma, das der jüdischen Nation, rein quanti-
tativ betrachtet, einen gewissen Blutverlust brachte, gereichte der Ent-
wicklung des jüdischen Denkens nur zum Nutzen. Eine lange nicht
mehr dagewesene Opposition brachte in die talmudische Orthodoxie
Leben und spornte die geistige Schaffensenergie an. Zugleich mit
der islamitischen Theologie, die inzwischen die Gipfel einer univer-
salen Religionsphilosophie erklommen hatte, trieb auch die karäische
Protestbewegung das jüdische Denken auf den Weg der Forschung
und der Selbstprüfung. Diese geistige Regsamkeit äußerte sich auf
den verschiedensten Gebieten des literarischen Schaffens, doch das
bedeutsamste ihrer Ergebnisse war die Bereicherung des Judaismus
durch eine neue, die philosophische Auffassung der Religion.
Der talmudische Judaismus wies, wie schon hervorgehoben, eine
sehr wesentliche Lücke auf: das Fehlen einer dogmatischen Theolo-
525
Die arabisch-jüdische Renaissance
gie in Form eines festgefügten Systems. Die Dogmatik blieb in dem
gleichen Maße unbeachtet und vernachlässigt, in dem die religiöse
Praxis gehegt und gepflegt wurde. Neben dem strengen System von
Gesetzen und Bräuchen, die jeden Lebensschritt fest vorzeichneten,
herrschte im Bereiche der Dogmen und Glaubensformen größte Sy-
stemlosigkeit. Die prägnanten Formeln der Halacha waren von einem
bunten Kranze wildwuchernder Haggadasentenzen umrahmt, die in
keiner Weise verbindlich waren und nicht selten einander widerspra-
chen: auf der einen Seite also eine aufs peinlichste ausgebaute Diszi-
plin des Gesetzes, auf der anderen — völlige Verwirrung in den
Grundbegriffen des Glaubens. Während das Gesetz mit den Mitteln
des Verstandes geformt wurde, blieb eben der Glaube in der Gewalt
des jedem Eingriff der kühl abwägenden Analyse abholden Gefühls-
lebens. Sogar an dem von Philo von Alexandrien seinerzeit unternom-
menen Versuch, ein Dogmensystem auf der doppelten Grundlage der
Vernunft und des Gefühls zu errichten, war der offizielle Judaismus
achtlos vorübergegangen. Diese Disharmonie machte sich besonders
in jener Epoche fühlbar, als sich der Talmud praktisch auszuwirken
begann, als die Gaonen auf jede beliebige Frage der religiösen Praxis
Bescheid zu geben wußten und doch nicht in der Lage waren, die in
der Seele des Gläubigen sich erhebenden Zweifel zu bannen. Hier er-
schien nun als Helferin in der Not die arabische Theologie, jener
„Kalam“, der auf dem Wege begrifflicher Erwägung und dialekti-
scher Vertiefung die Lösung der letzten Probleme des Glaubens und
der Gotteserkenntnis anstrebte. Die mohammedanische Theologie er-
blühte bekanntlich auf dem Boden der von dem Koran verkündeten
Prädestinationslehre, die sich mit dem Prinzip der göttlichen Ge-
rechtigkeit und der gerechten Vergeltung als unvereinbar erwiesen
hatte. Die Rationalisten des Islam, die Mutaziliten (die „Abgefalle-
nen“), lehnten daher die Prädestinationslehre ab und proklamierten
als Grundlage der religiösen Ethik das Prinzip der Willensfreiheit
oder der „freien Wahl“, die allein, wie sie meinten, die Verantwort-
lichkeit des Menschen für seine Handlungen begründen könne. Hier-
aus entsprang ein ganzes System religionsphilosophischer Grundauf-
fassungen, die immer weiter vom Traditionalismus weg zum Ration
nalismus führten und der alten aristotelischen Philosophie überaus
nahekamen. Seit dem IX. Jahrhundert wurde Bagdad zum Mittel-
punkt dieser philosophischen Schule, deren extremste Richtung den
5a6
§ 71. Die Philosophie Saadias; Rationalisten und Mystiker
arabischen „Kalam“ mit der griechischen Metaphysik zu verbinden
suchte (dieser Schule entsproß bekanntlich der arabische Den-
ker Alfarabi, der Zeitgenosse und zum Teil Gesinnungsgenosse des
Gaon Saadia). Außer dem Prinzip der Willensfreiheit verfochten die
Mutazililen die Auffassung von der absoluten Einzigkeit Gottes und
dem abstrakten Charakter seines Wesens; neben dem Glauben an die
Offenbarung galt ihnen auch die vernunftgemäße Gotteserkenntnis
als unerläßliche Pflicht, da sie in der Vernunft die einzige Quelle des
ungetrübten Glaubens erblickten. Alle diese aus den Lehren Aristo-
teles’, Platos, Philos und der Mutaziliten herrührenden Elemente des
philosophischen Denkens wurden nun von dem enzyklopädischen Geist
des Saadia Gaon, der sein Wissen gleichzeitig aus jüdischen, griechi-
schen und arabischen Quellen schöpfte, zu einer organischen Einheit
verschmolzen. Die Frucht dieser Vermählung universaler mit nationalen
Ideen war das erste religionsphilosophische System des Judaismus,
das Saadia in seinem Traktat „Glaubenslehren und Beweisführun-
gen“ („Kitab al-amanat wal-itikadat“, wie der arabische Titel, oder
„Emunoth we’deoth“, wie der Titel in der hebräischen Übersetzung
lautet) zur Darstellung gebracht hat.
Das von Saadia Gaon errichtete theologische System setzte sich vor
allem die Versöhnung von Vernunft und Glauben zum Ziele. Sein Ver-
fasser ging an die Erfüllung einer großen Aufgabe, an die sich seit
der Zeit des Philo von Alexandrien niemand mehr heranzuwagen ge-
traut hatte: es galt das philosophische Denken in dem Umkreis des
Judaismus heimisch zu machen. Hierbei war die Aufgabe, die sich
Saadia stellte, noch viel umfassender als die des Philo: während näm-
lich der Denker von Alexandrien nur den biblischen Judaismus mit
philosophischem Geiste durchdringen wollte, ging das Bestreben des
babylonischen Gaon darauf, dies auch in bezug auf den talmudischen
Judaismus zu vollbringen. Saadia trat zugleich gegen zwei für das
wahre religiöse Empfinden höchst gefährliche Extreme in die Schran-
ken: gegen den Aberglauben der Mystiker und den Unglauben der
Freidenker. Mit der Ansicht eines zeitgenössischen arabischen Schrift-
stellers, wonach es nur zwei Arten von Menschen geben könne: solche,
die nachdenken, ohne zu glauben, und solche, die glauben, ohne nach-
zudenken, konnte er sich durchaus nicht befreunden. Vielmehr lebte
Saadia der Überzeugung, daß wahres Wissen auch zu wahrer Reli-
giosität führe, wie auch umgekehrt. „Mein Herz ist voll Kummer —
527
Die arabisch-jüdische Renaissance
schreibt er in dem Vorwort zu dem Traktat „Glaubenslehren“ —, da
ich über manche Spielarten von vernünftigen Wesen nachdenke, und
meine Seele ist voll Unruhe über das Los unseres Volkes, der Kinder
Israel. Sehe ich doch viele glaubenserfüllte Männer um mich herum,
deren Glauben nicht lauter ist und deren Ansichten (Dogmen) der
Klarheit entbehren; (andererseits) gibt es auch viele Leugner, die
darauf stolz sind, alles zu vernichten, und sich über die Überzeu-
gungstreuen erhaben dünken, dabei jedoch selbst nur Irrende sind.
Ich sah, wie die einen im Meere des Zweifels untergehen, während
die anderen in dem Abgrund des Irrtums versinken, und doch fehlt
es an einem Schwimmer, der sie aus der Untiefe herauszöge. Da mich
nun Gott mit einer Gabe begnadet hat, die diesen Menschen zum
Heile gereichen könnte, sehe ich es als meine Pflicht an, ihnen nütz-
lich zu sein und sie auf den rechten Weg zu weisen, wiewohl ich
gestehen muß, daß auch meine Weisheit nur unvollkommen ist“.
Saadia unterscheidet drei verschiedene Erkenntnisquellen: i. die
Sinneswahrnehmung oder die unmittelbare Empfindung; 2. die Ver-
standeswahrnehmung auf Grund einer Kombination der Empfindun-
gen, und 3. die Schlußfolgerung gemäß der inneren logischen Not-
wendigkeit Ihnen fügt, wie er meint, die Religion noch eine vierte
Quelle hinzu: die prophetische Offenbarung oder die von Geschlecht
zu Geschlecht tradierte wahre Überlieferung. Der Glaube an die Re-
alität bildet dagegen keine selbständige Erkenntnisquelle sondern
einen Restandteil der verstandesmäßigen Erkenntnis: so glauben wir
denn auch an das, was nicht sinnfällig ist, dessen Existenz aber, dem
Gesetze der Kausalität zufolge, als notwendig erachtet wird. Nehmen
wir also die Äußerungen einer unsichtbaren Kraft wahr, so müssen wir
auch an die Existenz dieser Kraft glauben, denn das Erschaffene ist
ohne einen Schöpfer undenkbar. Nur ganz willkürliche Vorstellungen
von den unsichtbaren Ursachen der Erscheinungen könnten zum Aber-
glauben verleiten, wie z. B. die mythische Vorstellung, die Mond-
finsternis sei darauf zurückzuführen, daß die Mondscheibe von
irgendeinem Riesendrachen verschlungen werde. Eine solche Leicht-
gläubigkeit kann aber durch klares philosophisches Denken wohl über-
wunden werden. Nur ganz törichte Menschen lehnen die Philosophie
als eine Verführerin zu Ketzerei und zu Unglauben ab. In Wahr-
heit könne aber das die Grenzen der Vernunft nicht überschreitende
philosophische Denken für den Glauben nur fördernd sein und die
528
§ 71. Die Religionsphilosophie Saadias
offenbarten Wahrheiten nur noch mehr bekräftigen. Gott hat uns
der Offenbarung als des Inbegriffs der vorverkündeten Wahrheiten
teilhaftig werden lassen, doch ist unsere Vernunft wohl in der Lage,
diese Wahrheiten auf Grund von Beweisführungen zu erhärten.
Dieser allgemeinen Einleitung läßt Saadia eine in zehn Abschnitte
zerfallende Darstellung des inneren Grundgehaltes seines religions-
philosophischen Systems folgen. Im ersten Abschnitt sucht er nach-
zuweisen, daß die Welt infolge der der Materie anhaftenden Grund-
eigenschaften nicht von ewig her, wie es die Materialisten glauben,
existieren konnte, sondern in einem bestimmten Moment auf gött-
lichen Ratschluß, dem auch die Materie ihre Existenz verdankt, er-
schaffen worden sei. Der Schöpfer des Weltalls ist bei aller Mannig-
faltigkeit seiner Äußerungsweisen absolut und einzig, und bei seinem
schöpferischen Werke ließ er sich von einem bestimmten Zwecke
leiten (2. Abschnitt, in dem zugleich der christliche Begriff des Gott-
menschen widerlegt wird). Die Krone der Schöpfung sei der Mensch,
der, dank der ihm innewohnenden vernünftigen Seele, mit der Gabe
ausgestattet ist, die Wahrheit zu erkennen und das Gute vom Bösen
zu unterscheiden. Indessen empfindet die Seele nur eine unklare Sehn-
sucht nach der Gottheit; wohl ist sie die allgemeine Quelle der reli-
giösen und sittlichen Motive, doch entbehrt sie des festbestimmten
Maßes, um im praktischen Handeln das Wahre und Gute zu treffen.
Dies der Grund, warum Gott den Menschen die Offenbarung (am
Sinai) zuteil werden lassen mußte, d. i. jenen Inbegriff von Geboten
und Gesetzen, die die seelische Tätigkeit auf bestimmte segensreiche
Zwecke hinzuleiten vermögen (3. Abschnitt). Doch ist dem Menschen
der freie Wille gegeben: er hat die Freiheit, die offenbarten Gebote
zu erfüllen oder zu übertreten; hieraus entspringen die Begriffe vom
Verdienst, von der Tugend und der Sünde (4-—5. Abschnitt). Die
guten, die gottgefälligen Taten läutern und erheben die Seele, dagegen
wird sie durch die bösen Taten verdunkelt und befleckt (6. Abschnitt).
Dem im Weltall herrschenden sittlichen Prinzip wäre es wohl ange-
messen, wenn die Gerechten der Glückseligkeit teilhaftig würden, die
Sünder aber infolge ihrer Abirrung vom rechten Wege Schaden näh-
men; da jedoch hienieden keine restlose Vergeltung dem Verdienste
gemäß anzutreffen sei, so sei die endgültige gerechte Vergeltung erst
im künftigen Leben zu gewärtigen. So sei der Tod nicht der Ab-
schluß des Daseins, sondern nur der Übergang zu einer anderen Art
34 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
529
Die arabisch-jüdische Renaissance
Leben: die gerechten Seelen gelangen an die Stätte der Glückseligkeit
und des Friedens, während die sündhaften friedlos im Weltall her-
umirren müssen. Als folgende Etappe auf dem Schicksalswege der
Seele gilt Saadia die mit dem Erscheinen des Messias verknüpfte To-
tenauferstehung (Abschnitte 7—8)1). Diese faßt er ganz im Sinne
der talmudischen Lehre auf, derzufolge nach der Verbüßung der
Sünden im Jenseits auch die leiblichen Hüllen der Toten zu neuem
Leben erwachen werden (Abschnitt 9). Der letzte Teil des Systems
ist den Fragen der Ethik gewidmet; hierbei werden die ausschlag-
gebendsten menschlichen Gefühle und Leidenschaften einer Analyse
unterzogen, und es wird der Beweis geführt, daß das seelische und
das körperliche Leben unter der Kontrolle bestimmter religiöser Ge-
setze stehen müsse, die es allein in Gleichgewicht und Harmonie hal-
ten können.
Auch das religionsphilosophische System Saadias vermochte frei-
lich nicht, den geschichtlich gewachsenen Judaismus in allen seinen
Teilen mit dem ungebundenen philosophischen Denken in Einklang
zu bringen. Doch gelang es Saadia zweifellos, über die Grundprin-
zipien der jüdischen Religion Klarheit zu verbreiten und sie der ra-
tionalistischen Denkungsart näher zu bringen. Sein System unterwarf
der Herrschaft der logischen Analyse ein Gebiet, wo sich ehedem
nur dunkle Gefühle und Ahnungen geregt hatten. Mit Saadia reichte
gleichsam der talmudische Judaismus selbst der Philosophie, jener
„griechischen Weisheit“, die er früher so schonungslos bekämpft
hatte, die Hand zum Frieden. Was dem jüdisch-hellenistischen Den-
ker Philo nicht geglückt war: die Vermählung des Nationalen mit
dem Universalen, und sei es auch nur in den erlesensten Geistern der
Nation — das sollte Saadia, der in einer von Elementen des Hellenis-
mus durchtränkten Atmosphäre der jüdisch-arabischen Renaissance
lebte, wenigstens zum Teil gelingen. Schon allein der von ihm
angebahnten freien Erörterung der religiösen Dogmen kam für die
ganze weitere Evolution des Judaismus eine nicht hoch genug einzu-
1) Hierbei sucht Saadia auf Grund der dunklen Andeutungen des Daniel-
buches auch die Zeit des Erscheinens des Messias genau zu berechnen. Soviel man
aus seinen, auch in seinem Danielkommentar wiederkehrenden Berechnungen ver-
stehen kann, setzte er als Beginn- der Erlösung Israels das Jahr 968 fest, doch
scheint der Verfasser selbst diesen Aufstellungen nur den Wert von Mutmaßun-
gen beigemessen zu haben.
§ 71. Die Religionsphilosophie Saadias
schätzende Bedeutung zu. So stellt denn das System des Saadia einen
Wendepunkt auf diesem Entwicklungswege dar. Nach dem Westen
verpflanzt, gab es einen mächtigen Antrieb für die geistige Entwick-
lung der Juden im arabischen Spanien. Zunächst fand der Traktat
„Glaubenslehren und Beweisführungen“ in seiner arabischen Ur-
sprache Verbreitung, um sodann, nachdem er im XII. Jahrhundert
von dem jüdisch-spanischen Gelehrten Jehuda ibn Tibbon ins He-
bräische übertragen worden war, auch über das arabische Sprach-
gebiet hinaus weit und breit bekannt zu werden.
Indessen stand Saadia auch im Morgenlande nicht vereinsamt da.
Besaß er auch keine Gesinnungsgenossen in dem konservativen Mi-
lieu der babylonischen Gelehrtenkollegien, so waren außerhalb dieser
Hochburgen des offiziellen Judaismus Träger philosophischer Ideen
durchaus keine Seltenheit mehr. So erwarb sich ein Zeitgenosse des
Saadia, der in Kairuwan wirkende Arzt Isaak Israeli (§ 68), hohen
Ruhm durch seine arabisch abgefaßten Werke „Von den Defini-
tionen“ und „Von den Grundelementen“. In dem zweiten dieser Werke
(in dem „Sefer ha’jessodoth“, wie der Titel in der mittelalterlichen
hebräischen Übersetzung lautet) wird im Geiste des Aristoteles das
Problem der Form und der Materie im Zusammenhang mit anderen
metaphysischen Fragen behandelt. Als Arzt und Naturforscher stützt
sich Israeli auf allerlei seinem Fachgebiet entlehnte Beweisgründe,
was später zu der spitzen Bemerkung des Maimonides Anlaß gab:
„Israeli ist wohl ein Arzt, doch kein Philosoph“; diese Meinung wird
freilich von den neueren Geschichtsschreibern der Philosophie, die
in dem „Buche von den Grundelementen“ die ersten Grundlagen des
mittelalterlichen arabisch-jüdischen Aristotelismus wiederzuerkennen
glauben, in keiner Weise geteilt. Der Tradition Rechnung tragend,
bemüht sich Israeli im Gegensatz zu Aristoteles, das biblische Prin-
zip der Erschaffung aus dem Nichts (ex nihilo) zu beweisen. Ein
anderer Zeitgenosse des Saadia, David Almokamez, verfaßte gleich-
falls religionsphilosophische Werke, die im der jüdischen Welt-
anschauung angepaßten Mutazilitengeiste gehalten waren. Nach den
erhaltengebliebenen Fragmenten dieser Werke zu urteilen, gingen sie
auf dieselben Probleme ein, die in dem Traktat des Saadia behandelt
wurden. Die Persönlichkeit des Almokamez ist indessen in Dunkel
gehüllt: manche glauben, er sei ein Karäer gewesen, während an-
dere der Meinung sind, daß er sich zeitweilig sogar zum Christen-
34*
53i
Die arabisch-jüdische Renaissance
tum bekannt hätte. Er war anscheinend aus Babylonien gebürtig,
doch hatte er um die Mitte des X. Jahrhunderts seinen Wohnsitz in
Kairuwan.
In dem Bereiche des religiösen Denkens ist Saadia der Repräsentant
der mittleren Linie und nimmt eine Stellung mitten zwischen dem
linken und dem rechten Flügel ein: zwischen extremem Freidenker-
tum einerseits und überschwenglichem Mystizismus andererseits. In
jenem Zeitalter der geistigen Gärung tauchten nämlich unter den
Gebildeten Freidenker auf, die nicht nur die talmudischen Sagen einer
ätzenden Kritik unterzogen, sondern nicht einmal vor den biblischen
Überlieferungen Halt machten. So trat in dem Mutterlande aller
Ketzereien, in Persien, in der ersten Hälfte des IX. Jahrhunderts der
Gelehrte Hiwwi al-Balchi auf, der in seinem Werke nicht weniger als
zweihundert Einwände gegen die biblischen Überlieferungen zusam-
mengestellt hat. Hiwwi war ein konsequenter Rationalist, der die Mög-
lichkeit übernatürlichen Geschehens in Abrede stellte und dafür ein-
trat, daß die von solchen Geschehnissen, den sogenannten „Wundern“,
handelnden biblischen Erzählungen in Übereinstimmung mit dem ge-
sunden Menschenverstände gedeutet werden müßten. So sei z. B. der
Zug der Israeliten durch das Rote Meer dadurch zu erklären, daß
Moses die Zeit der Ebbe und Flut nicht unbekannt war; auch das
„himmlische Manna“ sei durchaus nicht als etwas Wunderbares auf-
zufassen, da derartige, von den Arabern mit dem gleichen Namen be-
zeichnte, genießbare Niederschläge auch jetzt noch in der Wüste
keine Seltenheit seien. Der Skeptizismus des Hiwwi scheint sich in-
dessen nicht allein auf die Leugnung der Wunder beschränkt zu
haben; er verwarf vielmehr auch die Vorstellung von Gott selbst als
einem im Tempel wohnenden, Opfergaben, feierliche Andachten und
Lobpreisungen heischenden Wesen. „Was sollen dem Schöpfer der
Welt eine Stiftshütte mit Vorhängen, brennende Lampen, eine im
Lobgesang erklingende Stimme, Backwerk und Weihrauch, was sollen
ihm aus Mehl, Wein und Früchten bestehende Weihgaben, da er sich
ja nicht nährt und auf Beleuchtung u. dgl. nicht angewiesen ist?“
Auch gegen die Idee der Auserwähltheit des Volkes Israel erhob Hiwwi
Einwendungen: „Wie könnte Gott die Völker in sein eigenes und ihm
fremde einteilen und davon reden, daß nur das Volk Israel sein Erb-
teil sei?“ Die ketzerischen Ansichten des Hiwwi blieben nicht ohne
Zustimmung und fanden sogar in manchen jüdischen Schulen Baby-
532
§ 71. Die Religionsphilosophie Saadias
loniens Verbreitung. Die Talmudtreuen wie die Karäer bekämpften
diese Auswüchse des Freidenkertums mit gleichem Eifer. Zu den lite-
rarischen Gegnern des Hiwwi gehörte auch Saadia, der zur Wider-
legung der von den Ketzern geltend gemachten Einwürfe einen be-
sonderen Traktat schrieb. Indessen sind uns weder die Werke des
Hiwwi noch die polemischen Schriften des Saadia und der anderen
Opponenten erhaltengeblieben; die Spuren dieses ganzen Kampfes
sind nur in einer Reihe von polemisch zugespitzten Bemerkungen über
die Irrlehre des Hiwwi zu finden, die in den „Glaubenslehren“
des Saadia wie auch in den Werken späterer Schriftsteller (nament-
lich in denen des Abraham ibn Esra) eingestreut sind, sowie in aus
Anlaß dieser Polemik angeführten Stellen aus dem „unerhörten“
Buche. Die Leidenschaftlichkeit, mit der man noch lange Zeit nach
dem Tode des Hiwwi seine Auffassungen bekämpfte, ist ein untrüg-
liches Zeugnis dafür, wie groß die Aufregung sein mußte, als seine
Ideen in der Literatur zuerst bekannt wurden.
In direktem Zusammenhang mit diesem Kampfe stand, wie es
scheint, auch die Schrift eines anonymen Ketzers, von der erst vor
kurzem bedeutende Bruchstücke in der Genisa von Kairo aufgefunden
worden sind. Der Verfasser deckt eine Reihe offensichtlicher Wider-
sprüche in der Bibel auf, deren Hervorhebung auf diejenigen, denen
der ganze Bibeltext als von Gott selbst offenbart galt, einen nieder-
schmetternden Eindruck machen mußte. Neben in den verschiede-
nen biblischen Büchern zutage tretenden Widersprüchen chronologi-
schen und formellen Charakters betont der Verfasser das tiefe innere
Mißverhältnis, in dem die einzelnen Teile zueinander stehen, sowie jene
in der Bibel nicht seltenen Stellen, deren Tendenz dem religiös-sittlichen
Empfinden direkt zuwiderläuft. So verhieß z. B. Gott Abraham, seine
Nachkommenschaft zu segnen und zahlreich zu machen, um alsbald
zu verkünden, daß diese Nachkommenschaft 43o Jahre lang Sklaven-
dienste tun würde; dem Wahrsager Bileam befahl Gott zunächst, sich
mit den Leuten des Balak auf den Weg zu machen, und sandte dann
selbst einen Engel aus, der Bileam unterwegs dem Verderben preis-
geben sollte; dem König David befiehlt Gott, eine Volkszählung zu
unternehmen, straft aber später das Volk um dieser königlichen Sünde
willen mit einer Seuchenplage; dem Propheten Hosea befiehlt Gott
gar, ein unzüchtiges Weib in sein Haus aufzunehmen — ziemt sich
denn aber so etwas für einen Verkünder des göttlichen Wortes und
533
Die arabisch-jüdische Renaissance
einen Lehrer der Sittlichkeit? Bei der Vorherrschaft der dogmatischen
Bibelauffassung schien schon allein die Aufwerfung solcher Fragen
die Grundfesten der Religion zu gefährden. So mußte denn der un-
bekannte Skeptiker, der diese gefährliche Waffe führte, dabei aber,
wie aus seinen eigenen Worten zu ersehen ist, in den Kreisen der
Gaonen und der Talmudisten verkehrte, an seinem eigenen Zweifel
irre werden. Das strenge Regime des Gesetzes brachte eben den For-
schungsdrang der wissensdurstigen Geister, diese ersten Regungen
einer naiven „Bibelkritik“ unerbittlich zum Schweigen.
Den Gegenpol dieser Gedankenrichtung bildete die Mystik. Zwar
machte sich der um die talmudische Haggada wuchernde Mystizismus
schon lange vor dem Hervortreten des philosophischen Rationalismus
breit, aber erst dieses Sichhervorwagen der streitbaren Vernunft ver-
lieh dem Mystizismus den Charakter einer reaktionären Strömung. Die
Rationalisten lehrten nämlich, daß alle biblischen Wendungen, denen
zufolge Gott mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet erscheint,
nur im Sinne von bildlichen Ausdrücken zu verstehen seien, da Gott
seinem Wesen nach übersinnlich und mit den menschlichen Sinnen
unerfaßbar sei. Dieser mit dem innersten Geiste des Judaismus über-
einstimmenden Auffassung traten nun die unbelehrbaren Buchstaben-
gläubigen entgegen, die in einer solchen freien Ausdeutung der alt-
ehrwürdigen Texte eine Gefährdung der heiligen Bücher und eine
Unterwühlung des im Volke verbreiteten Glaubens an die haggadi-
schen Erzählungen erblickten. Damit ihnen jedoch nicht die Materiali-
sierung oder die Vermenschlichung der Gottheit zum Gegenvorwurf
gemacht würde, hüllten sie ihre Vorstellungen von dem göttlichen
Wesen in den dichten Schleier einer nebelhaften Symbolik ein. Vom
Symbolismus schritt man aber unaufhaltsam zur phantastischen Theo-
sophie weiter. So erstand die „Geheimlehre“ zu neuem Leben, deren
erste Anfänge in Form der Lehre vom himmlischen „Wagen“ (Mer-
kaba) bis in die Zeit der Mischna zurückreichten. Die Anhänger dieser
Theosophie verbreiteten alte und neuerdings entstandene apokryphi-
sche Bücher, in denen Gott als eine Gestalt mit Gliedern von über-
weltlicher Größe dargestellt wurde und die himmlischen Hallen, der
göttliche Thron sowie die ihn umgebenden, von dem Metatron an-
geführten Engelscharen auf das eingehendste ausgemalt wurden. Diese
Werke schrieb man in willkürlicher Weise der Verfasserschaft der
alten Weisen zu, etwa der der Tannaiten R. Ismael und R. Akiba, die*
534
§ 71. Die Religionsphilosophie Saadias
wie es hieß, die Offenbarung der Geheimnisse des himmlischen Lebens
unmittelbar den Engeln verdankten. So kamen in der gaonäischen Zeit
allerhand konfuse mystische Bücher in Umlauf wie: „Schiur koma“,
„Hechaloth“, „Otioth de’Rabbi Akiba“ und andere. Manche davon
handelten insbesondere von den Geheimnissen des Lebens im Jen-
seits, von Hölle und Paradies, deren Schilderung dabei heiligen Män-
nern, die sie angeblich selbst in Augenschein genommen hätten, in
den Mund gelegt wurde („Chibut ha’keber“, „Maasse de’Rabbi Josua
ben Levi“). Diese haggadischen Apokryphen umnebelten den Geist der
glaubensseligen Gelehrten und mehrten den Aberglauben im Volke.
Die der Geheimlehre kundigen Männer galten dem gemeinen Volk als
Heilige; man glaubte an ihre Macht, Wunder zu wirken, durch Be-
schwörungen oder Talismane („Kameoth“) Krankheiten zu heilen und
die Zukunft vorauszusagen.
Unter den apokryphischen Schriften jener Epoche verdient be-
sondere Beachtung ein Werk, das sich durch einen tieferen meta-
physischen Gehalt auszeichnete und in noch viel späterer Zeit bei den
Gelehrten in hohem Ansehen stand. Es war dies das „Buch der Schöp-
fung“ (Sefer Jezira), das dem Erzvater Abraham zuteil gewordene
Offenbarungen zum Inhalte hatte. Das Werk bringt ein verworrenes
theosophisches System zur Darstellung, das sich auf die Lehre von
den „Sefiroth“ oder den von der Gottheit ausgehenden schöpferi-
schen Potenzen gründet; diese Potenzen werden hierbei als durch
die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets versinnbildlichten
„Wege der Weisheit“ dargestellt. Neben manchen tiefsinnigen meta-
physischen Gedanken treten uns hier ganz und gar unvollziehbare
Vorstellungskomplexe entgegen. Die phiionische Emanationslehre ist
hier von den Spekulationen der Gnostiker durchsetzt. In den Krei-
sen der Talmudisten galt indessen das „Buch der Schöpfung“ aus
unerfindlichen Gründen als ein Erzeugnis der alten Weisheit; sogar
ein so ausgesprochener Rationalist wie Saadia, der vielleicht mit
der Autorität dieses Werkes nur seine eigene Kosmologie decken
wollte, schrieb dazu einen Kommentar.
Neben den Rationalisten und den Mystikern gab es noch allerlei
vermittelnde Gedankenströmungen, von denen die einen mehr diesen,
die anderen mehr jenen zuneigten. Während Saadia das der Religion
eigentümliche Element des Wunderbaren auf dem Wege eines Kom-
promisses der Vernunft näher zu bringen suchte, glaubte Samuel ben
535
Die arabisch-jüdische Renaissance
Chophni, sein späterer Amtsnachfolger in Sura, bei der Erklärung der
biblischen Wunder auf jedes Kompromiß verzichten zu dürfen. So
behauptet er z. B., daß das in der Episode von der Hexe zu Endor
Erzählte als einfaches Zauberwerk aufzufassen sei: weder sei der
Prophet Samuel auf erstanden, noch hätte er irgend etwas voraus-
gesagt, vielmehr hätte die Hexe dem Saul alles nur vorgespiegelt, um
ihn irrezuführen; ebenso betrachtet Ben Chophni die Erzählungen von
den Zwiegesprächen zwischen der Schlange und Eva oder zwischen
Bileam und der Eselin nur als Sagen oder bestenfalls als Visionen.
Überhaupt — meinte er — könne es uns nicht zur Pflicht gemacht
werden, die der Vernunft widersprechenden Worte der Alten ohne Be-
denken als Wahrheit hinzunehmen. Wenn Gott in den natürlichen
Lauf der Dinge je eingegriffen hat, so höchstens zu dem Zweck, um
durch seine wahren Propheten irgendeine neue Wahrheit zu ver-
künden (die Sinaioffenbarung u. dgl.). Dieser Auffassungsweise des
Ben Chophni trat indessen sein Schwiegersohn, der letzte Gaon von
Pumbadita, Hai, mit Nachdruck entgegen. Er suchte zu beweisen, daß
Gott nicht nur durch die Vermittlung der biblischen Propheten seine
Wunder zu vollbringen vermochte, sondern auch durch die Gerechten
aller Generationen, so daß auch ein Rabbi Akiba, ein Rabbi Ismael
und auch die anderen Verfasser der obenerwähnten Apokryphen mit
der Gabe des Hellsehens wohl begnadet sein konnten. Die „Ver-
irrungen“ seines Schwiegervaters erklärte Hai damit, daß jener sich
viel zu viel mit „fremdem (arabischem) Schrifttum“ abgegeben hätte.
Es wäre jedoch falsch zu glauben, daß Hai selbst der Mystik ge-
huldigt hätte; manchen galt er sogar als ein Anhänger des arabischen
„Kalam“, und doch schien es ihm in seiner offiziellen Stellung als
Gaon, an den man sich aus allen Enden der Welt mit Anfragen
wandte, nicht angebracht, gegen den Volksglauben anzukämpfen, ge-
schweige denn die biblischen Sagen in rationalistischem Geiste umzu-
deuten. Stieß er auf eine Schwierigkeit, so zog er es im Bewußtsein
der Machtlosigkeit des menschlichen Verstandes eher vor, die Legende
in ihrem wörtlichen Sinne einfach hinzunehmen, als ihr künstlich
einen ihrem Geiste fremden Sinn unterzuschieben.
So wurde schon im Zeitalter der Gaonen jener große Widerstreit
zwischen Rationalisten und Mystikern angebahnt, der späterhin in
Europa unaufhörlich weitergeführt werden und so einen Jahrhunderte
536
§ 72. Exakte Wissenschaften, Geographie, Chronographie
währenden Streit der Parteien und der Geistesströmungen im Gefolge
haben sollte (Maimonidismus und Kabbala, später Aufklärung und
Chassidismus).
§72. Das jüdisch-arabische Schrifttum: exakte Wissenschaften,
Geographie, Chronographie
Der Zeitraum zwischen dem X. und XII. Jahrhundert ist im
Morgenlande und im arabischen Spanien ebenso durch das Gepräge
einer jüdisch-arabischen Kultur charakterisiert wie die letzten vor-
christlichen Jahrhunderte durch den Stempel der jüdisch-hellenisti-
schen Kultur. Die Ähnlichkeit dieser beiden Zeitperioden besteht so-
wohl darin, daß der arabischen Sprache jetzt in Literatur und Leben
neben der hebräisch-aramäischen die gleiche Rolle zufiel, wie sie ehe-
dem die griechische gespielt hatte, als auch darin, daß Juden und
Araber nunmehr ganz so mit vereinten Kräften an der geistigen
Wiedergeburt des Morgenlandes beteiligt waren, wie dies ehedem bei
den Juden und Griechen in Alexandrien und an anderen Orten der
hellenistischen Diaspora der Fall gewesen war. Der seit dem IX. Jahr-
hundert unter dem Kalifen ALMamun einsetzenden, arabischen lite-
rarischen Renaissance konnten die Juden schon aus dem Grunde nicht
fern bleiben, weil hierbei viele Elemente des alten jüdischen Hellenis-
mus zu neuem Leben erstanden. Gleich den syrischen Christen ver-
pflanzten jetzt auch die Juden Elemente des weltlichen Wissens auf
arabischen Boden. Man übertrug die Werke der griechischen Mathe-
matiker und Naturforscher, die des Euklid, Hippokrates und Galenus
ins Arabische und auf dem Gebiete der Philosophie die Werke des
Aristoteles und des Plato. Der Jude Sahl al-Tabari (aus Tabaristan,
um 83o), ein hervorragender Arzt und Mathematiker, übersetzte das
berühmte Werk des griechischen Astronomen Ptolemäus ins Ara-
bische, das bei den Arabern unter dem Namen „Almagest“ bekannt
war und bis Kopernikus als Handbuch der Kosmographie in allge-
meinem Gebrauch stand. Sahl, der den Titel „Rabban“ (Rabbi, Rab-
banite) führte, galt bei seinen Zeitgenossen als der führende Meister
auf dem Gebiete der Geometrie. Sein Sohn, Ali ben Sahl, wurde durch
seine in arabischer Sprache geschriebenen Werke über Medizin und
Hygiene berühmt; später trat er zum Islam über und bekleidete ein
hohes Amt am Hofe des Kalifen Mutasim und seines reaktionären
537
Die arabisch-jüdische Renaissance
Nachfolgers Mutawakil. Auch zu dem weiteren Ausbau der Algebra
und der euklidischen Geometrie trugen die jüdischen Mathematiker
nicht wenig bei. Das Schaffen der jüdischen Mathematiker und Astro-
nomen, das im Kalifat von Bagdad seinen Anfang genommen hatte,
gelangte später im arabischen Spanien zu höchster Entfaltung.
Die beliebteste aller Wissenschaften aber war bei den Juden die
Medizin, die damals den ganzen Bereich der Naturkunde umfaßte.
Der obenerwähnte Arzt und Philosoph Isaak Israeli aus Kairuwan
war auch noch Mathematiker, Astronom und Naturforscher. Von
diesem enzyklopädischen Geiste pflegte man zu sagen, daß er alle
„sieben Wissenschaften“ beherrsche. Der von Israeli auf spätere
Ärztegenerationen ausgeübte Einfluß war so nachhaltig, daß man ihn
mit gutem Rechte als einen der Schöpfer der mittelalterlichen Medizin
bezeichnen kann. Er war der Verfasser einer Reihe von Abhandlungen
über verschiedene Arten von Fieber, über Harnkrankheiten, Gegen-
gifte, Ernährungshygiene und überdies der Autor eines allgemeinen
Handbuches der Heilkunde. Die arabisch geschriebenen Werke Israelis
wurden später ins Hebräische und Lateinische übertragen und ge-
nossen im Mittelalter hohen wissenschaftlichen Ruhm. Sein Schüler
Dunasch ben Tamim oder Abusahl (um 900—970), der Leibarzt am
Hofe des Fatimidenkönigs in Kairuwan war, schrieb gleichfalls über
astronomische und philosophische Fragen. Eines seiner astronomischen
Werke besteht aus drei Teilen und handelt von den Eigenschaften der
himmlischen Sphären, von den Gestirnbahnen und von astronomischen
Berechnungen. In der von Dunasch befürworteten Rangordnung der
Wissenschaften nehmen Mathematik, Astronomie und Musik die nied-
rigste Stufe ein, die Naturwissenschaft und die Medizin die mittlere,
während die höchste der Metaphysik und der Theologie zugewiesen
wird. Von den Schriften des Dunasch haben sich nur Bruchstücke
seines zu dem theosophischen „Buch der Schöpfung“ verfaßten Kom-
mentars erhalten, der von manchen übrigens nicht ihm, sondern sei-
nem Lehrer Isaak Israeli zugeschrieben wird. Die mittelalterlichen
Schriftsteller erwähnen Dunasch auch noch als Verfasser einer Ab-
handlung zur hebräischen Sprachkunde.
Weniger bedeutend waren die Leistungen der Juden auf dem Ge-
biete der Geographie, auf dem sie den Arabern erheblich nachstanden.
Unter den Muselmanen, bei denen es religiöse Vorschrift war, die
Wallfahrt nach Mekka (Chadsch) zu unternehmen, taten sich nämlich
538
§ 72. Exakte Wissenschaften, Geographie, Chronographie
viele reisende Schriftsteller hervor, die die von ihnen bereisten
Länder sowie die Sitten und Bräuche der dort lebenden Völker aufs
eingehendste zu schildern pflegten. Daher die Fülle der von den ara-
bischen Geographen verfaßten „Bücher der Straßen und Länder“. Die
jüdischen Gelehrten hingegen begaben sich nur selten auf Reisen,
während es den reisenden jüdischen Kaufleuten meist an der Gabe
fehlte, ihre Beobachtungen in Büchern zusammenzufassen. Zwar war
man in den jüdischen geistigen Zentren über jene Diasporaländer, die
der Macht der Gaonen unterstanden und sich an diese durch ihre
Boten mit Anfragen wandten, wohl unterrichtet, über die in weite
Fernen verschlagenen Volksteile besaß man aber nur höchst ver-
worrene Nachrichten. So war man in solchen Fällen auf Gerüchte
oder auf die Erzählungen zufällig durchziehender Wanderer ange-
wiesen, die nicht selten Wahrheit und Dichtung bis zur Unkenntlich-
keit miteinander verwoben. Einer dieser Wanderer, der sich Eldad
haDani (Eldad aus dem Stamme Dan) nannte und gegen Ende des
IX. Jahrhunderts auftauchte, übte durch seine phantastischen Er-
zählungen von in fernen Ländern lebenden Juden einen beson-
deren Zauber auf die Gemüter aus. Er erzählte nämlich, es hätten
sich im Herzen Afrikas, in dem Goldlande Chawila oder Kusch (Äthi-
opien), noch vier Stämme aus den zehn alten Stämmen Israels, die
seit der Zeit der assyrischen Invasion als verschollen galten, unver-
sehrt erhalten und zwar Dan, Naftali, Gad und Asser; er berichtete
ferner, daß diese Stämme dort in Zelten hausten und von Ort zu Ort
wanderten, ihren eigenen König besäßen, überaus tapfer seien und
mit den umgebenden Stämmen in fortwährenden Fehden lägen; auch
wußte er zu berichten, daß diese Nachkommen der alten Israeliten im
Besitze von Büchern der Heiligen Schrift seien, daß sie aber ihre
mündlichen religiösen Überlieferungen dem Jünger Mosis, Josua,
verdankten, und daß ihre einzige Umgangssprache das Althebräische
sei. Eldad gab vor, selbst aus diesem Märchenlande gebürtig und dem
Stamme Dan entsprossen zu sein, woher sich, wie er sagte, auch sein
Beiname, „der Danite“, herschriebe. Er sprach die Sprache seiner
angeblichen Stammesgenossen, die hebräische, doch waren viele
seiner Redewendungen den Zuhörern völlig unverständlich. Aber Eldad
wußte auch noch viel Merkwürdigeres zu erzählen. Jenseits des von
den vier Stämmen beherrschten Gebietes sei nämlich, so erzählte er,
ein durch den Fluß Sabbation oder Sambation von diesem Gebiete ge-
539
1
Die arabisch-jüdische Renaissance
trenntes Land gelegen, das von den Leviten aus der Nachkommen-
schaft Mosis, den „Bne Mosche“, bewohnt sei. Es seien dies glück-
liche Menschen und ein gesegnetes Land. Die „Bne Mosche“ lebten in
prächtigen Häusern, besäßen weitausgedehnte Äcker und Gärten, be-
schäftigten sich mit der Thora und erreichten alle ein hohes Alter.
Von der übrigen Welt seien sie gänzlich abgeschieden, da ihr Land
keinem Fremden zugänglich sei; sechs Tage in der Woche wüte näm-
lich an ihren Grenzen der Steine und Sand speiende Sambation, und
nur am Sabbat komme er zur Ruhe. Die Angehörigen der vier den
„Bne Mosche“ benachbarten Stämme könnten sich mit diesen nur
vom gegenüberliegenden Ufer her verständigen. Eldad hätte aber auch
die übrigen sechs von den israelitischen zehn Stämmen in den fernen
Ländern Asiens aus eigener Anschauung kennengelernt: in den men-
schenarmen Gegenden Mediens und Persiens, in Armenien, in dem
Chasarenlande und in Arabien; die einen (Buben, Ephraim und die
Hälfte des Manassestammes) führten das Nomadenleben von Be-
duinen, während die anderen (Issachar, Sebulon, Simon und die zweite
Hälfte des Stammes Manasse) sich einer friedlichen und bodenstän-
digen Existenz erfreuten.
Die Erzählungen des Eldad über die Juden von „Kusch“ mochten
in phantastischer Verhüllung einen Bericht über das Leben der Ur-
ahnen der heutigen „Falaschas“ in sich bergen, jener nach Abessinien
ausgewanderten Juden, die in ihrer ganzen Lebensführung sich von
ihren im Kalifat ansässigen Stammesgenossen in der Tat stark unter-
schieden. Die religiösen Sonderbräuche der fernen Brüder erweckten
das Interesse der rechtskundigen Talmudisten. Bei dem Gaon von
Sura Zemach lief (um 890) aus Kairuwan eine Anfrage ein, ob man
wohl den Erzählungen des Eldad, die „soviel Seltsames“ enthielten,
Glauben schenken solle. Der Gaon antwortete, es bestehe kein Grund,
an der Glaubwürdigkeit der Mitteilungen des Eldad über die ver-
schlagenen und in völliger Unabhängigkeit lebenden zehn Stämme zu
zweifeln, da auch im talmudischen Schrifttum manche Hinweise dar-
auf zu finden seien; die Abweichungen in den Bräuchen und Sitten
könnten gleichfalls nicht wundernehmen, da die Juden jener fernen
Länder sich schon längst von ihren Brüdern in Palästina losgerissen
hätten und so der von den babylonischen Akademien in den letzten
Jahrhunderten erlassenen Vorschriften völlig entbehrten. Lange zog
Eldad, seine Wundermär in die Lande tragend, in Maghreb, Baby-
54o
§ 72. Exakte Wissenschaften, Geographie, Chronographie
lonien und sogar in Spanien umher. Überall bezauberte er seine Zu-
hörerschaft durch die Erzählungen von einem irgendwo im Lande der
Äthiopier bestehenden freien israelitischen Reiche, von den geheimnis-
vollen „Nachkommen Moses’“ und von dem sie von der übrigen Welt
trennenden wunderbaren Strome Sambation, mit dem die Yolkslegende
schon längst vertraut war1). Über den eigentlichen Zweck seiner
Reisen ließ sich der Wanderer nicht eindeutig aus: während er die
einen glauben machen wollte, er hätte sich zum Zwecke des Handels
in die weite Welt hinausgewagt, wäre aber später infolge Schiffbruchs
Wilden in die Hände gefallen, versicherte er die anderen, daß der ur-
sprüngliche Zweck seiner Reise „die Verbreitung der trostvollen Bot-
schaft unter allen zerstreuten Söhnen des Volkes Israel“ gewesen sei.
Diese Tendenz, an die Existenz der zehn Stämme glauben zu machen
und dadurch messianische Hoffnungen zu erwecken, lag in der Tat
allen phantastischen Erzählungen des Eldad zugrunde. So lauschte
man ihnen denn allenthalben mit heller Begeisterung, hielt sie in
schriftlichen Aufzeichnungen fest, ließ ihnen die weiteste Verbreitung
im. Volke zuteil werden und beeilte sich, diese Aufzeichnungen so-
gleich nach dem Aufkommen der Buchdruckerkunst an verschiedenen
Orten in Buchform herauszugeben („Sefer Eldad ha’Dani“, Mantua
i48o, Konstantinopel i5i6, Venedig i544 usw.), um so den Mär-
tyrern des Mittelalters neuen Mut einzuflößen. Seitdem verknüpfte
sich in der Phantasie des Volkes die uralte Legende von dem irgendwo
am Ende der Welt bestehenden freien jüdischen Reiche immer un-
zertrennlicher mit der sehnsuchtsvollen Hoffnung auf das kommende
Reich des Messias.
Was die Historiographie anbelangt, so stand sie bei den Juden
um diese Zeit auf einer sehr niedrigen Stufe und wurde nicht ein-
mal in der damals üblichen Form der Chronographie gepflegt. Man
kümmerte sich weder um eine fortlaufende Aufzeichnung der zeit-
geschichtlichen Ereignisse noch um die Zusammenstellung der bei den
christlichen und muselmanischen Schriftstellern jener Zeit so be-
liebten „Chroniken“. Nur hie und da begegnen uns Hinweise auf
1) Über den Sambation oder den „Sabbatstrom“ haben schon Josephus Flavius
(Jüd. Krieg, VII, 5) und Plinius (Hist. Natur. XXI, 2) geschrieben; auch im tal-
mudischen Schrifttum blieb er nicht unerwähnt. Von dem Fluß und den jenseits
des Flusses lebenden „Bne Mosche“ erzählen überdies noch die an den Koran
anknüpfenden muselmanischen Überlieferungen.
54i
Die arabisch-jüdische Renaissance
„Gedenkbücher“ der babylonischen Akademien, in die man wohl die
Chronik des akademischen Lebens sowie die Namen der den Aka-
demien vorstehenden Gaonen und anderer hervorragender Gelehrten
einzutragen pflegte. Gleich den alten Talmudisten legten auch die
neuen nur wenig Wert auf die Abfassung von die alten und
jüngsten Ereignisse der nationalen Geschichte festhaltenden Zeit-
büchern. Die Geschichte hatte für sie eben nur als Fachmän-
ner der Rechtskunde Interesse, in dem Maße nämlich, als sie zur
Feststellung der Kontinuität der „mündlichen Lehre“ unentbehrlich
zu sein schien. So raffte man sich gegen Ende des IX. Jahrhunderts
(um 884) in der Akademie von Sura dazu auf, eine „Reihenfolge der
Tannaiten und Amoräer“ (Seder tannaim we’amoraim) zusammen-
zustellen, in der die Chronologie durch eine Aufzählung der Namen
der Hauptschöpfer des Talmud, unter Hervorhebung des einem jeden
von ihnen in der Hierarchie der Autoritäten zukommenden Ranges,
ersetzt wurde. Hundert Jahre später verfaßte das Haupt der Aka-
demie von Pumbadita eine ausführlichere Chronographie des Talmud,
die bis zur Epoche der letzten Gaonen reichte. Diese Chronik ver-
dankt ihre Entstehung (um 986) einem Zufall. Das Haupt der Ge-
meinde von Kairuwan, der berühmte Gelehrte Jakob ben Nissim,
wandte sich nämlich an den Gaon Scherira mit einer schriftlichen
Anfrage folgenden Inhalts: Auf welche Weise kam die Mischna zur
Entstehung, war sie auch vor Jehuda ha’Nassi schriftlich fixiert oder
wurde sie bis zu seiner Zeit nur mündlich überliefert? Wie ist der
schriftliche Talmud entstanden? In welcher Ordnung folgen die nach-
talmudischen Generationen der Saboräer und Gaonen aufeinander?
In seinem ausführlichen, aramäisch abgefaßten Antwortschreiben
(Iggereth R. Scherira Gaon) gibt Scherira auf die ersten dieser Fra-
gen, die mit der religiösen Tradition zusammenhingen1), nicht ganz
klaren Bescheid, erteilt aber genaue Auskunft über die chronologische
Reihenfolge der Tannaiten und Amoräer, der Saboräer und Gaonen,
und berichtet auch manches über die Exilarchen. Dieses nur aus Na-
men und Jahreszahlen zusammengesetzte „Sendschreiben“, in das nur
hie und da kurzgefaßte Charakteristiken der einzelnen geschichtlichen
Persönlichkeiten eingeflochten sind, wäre nur ein recht unzuläng-
liches Mittel für die Erforschung des „gaonäischen Zeitalters“, wenn
es nicht durch die zitierten (§§ 60 und 63), auf Grund der Erzäh-
1) S. Anhang, Note 3.
542
§ 73. Massora, Nikkud, Grammatik, Midrasch und Piut
lung des Nathan haBabli niedergeschriebenen farbenreichen Schilde-
rungen der Lebensführung der Exilarchen und Gaonen aufs glück-
lichste ergänzt würde. Diese Schilderungen des nach Kairuwan ver-
schlagenen Bagdader Gelehrten aus dem IX. Jahrhundert sind eine
schriftliche Wiedergabe des Berichts, den er den afrikanischen Juden
über den Aufbau der Selbstverwaltung und das akademische Leben in
Babylonien erstattete. Ihm hat die Geschichtsschreibung auch die
Nachrichten über die Exilarchen Ukba und David ben Sakkai sowie
über den zwischen diesem und Saadia Gaon entbrannten Streit
zu verdanken. Nach einem unlängst aufgefundenen arabischen Bruch-
stück zu urteilen, war das Buch Nathans ursprünglich arabisch ab-
gefaßt, erhalten hat es sich jedoch (wenn der uns bekannte Text nicht
selbst ein Torso ist) nur in hebräischer Sprache unter dem Titel „Se-
der ha’jeschiboth“ (Der Aufbau der Akademien), unter dem es auch
den Drucken der aus späterer Zeit stammenden Chronographie „Ju-
chassin“ beigegeben zu werden pflegte.
§ 73. Massora, Nikkud, Grammatik, Midrasch und Piut
Unter der Einwirkung der arabischen Sprachwissenschaft einer-
seits und der karäischen Rückkehr zur Bibel andererseits kam eine
neue Wissenschaft zur Entfaltung: eine mit der grammatischen Er-
forschung des Bibeltextes und der Feststellung seiner genauen Lesart
zusammenhängende hebräische Sprachkunde. Jenes „Suchen in der
Schrift“, das die ersten Karäer, die Ananiten, um der neuen Auslegung
des Gesetzes willen begonnen hatten, verwandelte sich im Laufe der
Zeit in das natürlichere Streben, sich der unmittelbaren grammati-
schen Bedeutung des Bibeltextes zu vergewissern. Dadurch veranlaß-
ten aber die Karäer ihre Widersacher, die Talmudtreuen, denen das
„geschriebene Gesetz“ bis dahin nur als Stoff für halachische oder
haggadische Konstruktionen diente, gleichfalls das biblische Schrift-
tum als einen sich selbst genügenden Wissenszweig zum Gegenstand
spezieller Forschungen zu machen.
Vor allem galt es, den Bibeltext zu sichten und zu ordnen. Der
Text der heiligen Bücher wurde nämlich von altersher ohne die im
Hebräischen die Vokale ersetzenden Zeichen (Vokalisation) geschrie-
ben. Die Regeln für das Lesen dieses fast ausschließlich aus Kon-
sonanten bestehenden Textes wurden aber als mündliche Überliefe-
543
Die arabisch-jüdische Renaissance
rung bewahrt und waren unter dem Namen Massora (Tradition) be-
kannt; jeder sachkundige Vorleser oder Abschreiber der Bibel sowie
die Schriftkundigen überhaupt waren mit diesen Regeln wohlvertraut.
Hingegen war das Lesen der Bibel ohne Vokalzeichen für das Volk
überaus beschwerlich; nicht wenige Irrtümer und Widersprüche in
der Erklärung vieler biblischer Wendungen waren nur auf diesen
Mangel zurückzuführen. Überdies wurden die in den Schulen münd-
lich tradierten Massoraregeln häufig nicht ganz zutreffend wieder-
gegeben und hatten schon ihrer großen Zahl wegen mancherlei Feh-
ler und Abweichungen im Gefolge. Aus den Targumim (aramäische
Bibelübersetzungen) und den im Talmud und Midrasch vorkommen-
den Bibelzitaten kann man z. B. ersehen, daß viele Worte des bibli-
schen Textes von den Übersetzern und den Talmudisten falsch ge-
lesen wurden, so daß die entsprechenden Bibelstellen von ihnen in
einem völlig unzutreffenden Sinne verstanden werden mußten. Bei
einer solchen Lage der Dinge drohte der Urquelle des Judaismus die
schwere Gefahr einer völligen Verstümmelung. Um diese Gefahr zu
beseitigen, war es geboten, ein eindeutiges System der Vokalzeichen
auszuarbeiten und auf Grund verbürgter Überlieferungen die richtige
Lesart der Bibel ein für allemal festzusetzen. Diese Aufgabe wurde
nun im gaonäischen Zeitalter in Palästina und Babylonien zur Lösung
gebracht.
Wer der Urheber des uns geläufigen Systems der Vokalzeichen
oder des Nikkud (Punktation) gewesen sein mag, bleibt unbekannt;
vermutlich arbeiteten seit alter Zeit viele Gelehrte zugleich an die-
sem Werke. Endgültige Annahme fand ein System von Vokalzeichen
in Form von Punkten und Strichen, die man oberhalb und unterhalb
der Konsonanten setzte und die so die Vokale ersetzten1). In Babylo-
nien pflegte man diese Zeichen über den Buchstaben zu setzen; dieses
System wurde die „assyrische oder babylonische Punktation“ genannt.
In Palästina hingegen arbeiteten die Gelehrten in dem akademischen
Zentrum Tiberias ein anderes System von Vokalzeichen aus, die meist
unter die Konsonanten zu stehen kamen. Dieses sogenannte „tiberien-
sische“ System verdrängte allmählich die babylonische Punktation und
!) Eine ähnliche Reform wurde im VIII. Jahrhundert von muselmanischen
Gelehrten aus dem babylonischen Basra für das arabische Schrifttum durchge-
führt, wodurch die endgültige Lesart des Koran festgesetzt und dem Volke zu-
gleich dessen Lektüre erleichtert wurde. Aus dieser Arbeit an der Vokalisation
des Koran entstand die arabische Gramiiiatik.
544
§ 73. Massora, Nikkud, Grammatik, Midrasch und Piut
wurde allgemein gebräuchlich. In diesem Falle konnte Babylonien
gegen die Autorität des Heiligen Landes, der Urheimat der Bibel, nicht
aufkommen. Außer den Vokalzeichen wurden auch noch die Inter-
punktionszeichen sowie die Zeichen für den Tonansatz und die Skan-
dierung beim öffentlichen Vorlesen der Bibel (Taamim, Negina) fest-
gesetzt. Beim Anbringen all dieser Zeichen im biblischen Text ließ
man sich von den Überlieferungen der Massora leiten, die die gebotene
Lesart der zweifelhaften Stellen bestimmten. Nicht mit einem Schlage
gelang es wohl, die Unstimmigkeiten in der Überlieferung selbst aus
dem Wege zu räumen, doch wurde man nach und nach auch dieser
Schwierigkeit Herr: im X. Jahrhundert war bereits der gesamte he-
bräische Bibeltext auf Grund einer einheitlichen und widerspruchs-
losen Massora punktiert. So verwandelte sich die Massora aus einer
mündlichen Überlieferung in eine schriftliche und wurde, ebenso wie
ehedem die Mischna und die Gemara, in endgültig fixierter Form
der Öffentlichkeit übergeben.
Die Einführung der Punktation bedeutete eine neue Ära in der
Entwicklungsgeschichte der biblischen Wissenschaft und der hebräi-
schen Sprachkunde. Vor allem erleichterte die Punktation das Stu-
dium der Bibel in den Schulen und trug in höchstem Maße zu ihrer
Verbreitung im Volke bei. Zugleich erleichterte sie aber auch die Aus-
arbeitung einer hebräischen Grammatik und Lexikographie. Gegen
Ausgang des gaonäischen Zeitalters entwickelten sich denn auch diese
Wissenszweige zu selbständigen Wissenschaften und vermochten
dann in dem mittelalterlichen Bildungssystem den ihnen gebührenden
Platz einzunehmen. All dies bereitete den Boden für die Wiedergeburt
der althebräischen Sprache, die zunächst durch die aramäische und
sodann durch die arabische Sprache fast gänzlich aus der Literatur
verdrängt worden war. Indessen führte die Fixierung der Massora
nicht allein zu positiven, sondern zum Teil auch zu negativen Ergeb-
nissen. Wohl wurde dadurch die Willkür im Lesen des biblischen
Textes beseitigt, zugleich hielt aber die Massora in zweifelhaften oder
von den Abschreibern verstümmelten Stellen die fehlerhaften Lesarten
oder die Schreibfehler für alle Zeiten fest, da sie sich auf dunklen
Überlieferungen, die als über jede Kritik erhaben galten, gründete.
Dies der Grund, warum viele Bibelstellen bis zum heutigen Tage un-
klar bleiben, so daß sich die neuere wissenschaftliche Kritik genötigt
sieht, sich über die massoretische Tradition hinwegzusetzen und für
35 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
545
Die arabisch-jüdische Renaissance
Lesarten zu entscheiden, die den Regeln der Sprachwissenschaft, dem
logischen Sinne oder den Ergebnissen der Geschichtsforschung eher
entsprechen.
Aus der Massora und der Punktation entwickelte sich, wie bereits
angedeutet, die hebräische Grammatik. So nannten sich denn auch
die ersten Grammatiker „Punktatoren“ (Nakdanim). Die Massoreten
und Punktatoren Ben Ascher und Ben Naftali, die in der ersten
Hälfte des X. Jahrhunderts in Tiberias wirkten, gelten zugleich als
die Begründer der biblischen Grammatik. Ihr berühmter Zeitgenosse
Saadia Gaon warf sich mit dem ihm eigenen Drang zur Systemati-
sierung auch auf dieses neue Forschungsgebiet. Er verfaßte ein ara-
bisch geschriebenes „Buch über die Sprache“, in dem er, den Metho-
den der arabischen Philologie gemäß, die grammatischen Wand-
lungsformen der hebräischen Wörter herausarbeitete. Das Buch bil-
dete, wie es scheint, einen Teil seines großen Lexikons „Agron“, von
dem sich nur Bruchstücke erhalten haben, die uns indessen einen Be-
griff von den Grundprinzipien seines Systems vermitteln. Saadia setzte
als erster die Grundlagen der hebräischen Grammatik fest: er zer-
legte die Wörter in Wurzelteile und in Hilfspartikeln und führte, die
hebräischen Formen mit den arabischen vergleichend, eine Klassifika-
tion der Zeitwörter durch. In dem in beiden Sprachen geschriebenen
Vorwort zum Buche „Agron“ beklagt sich Saadia über die Vernach-
lässigung der hebräischen Sprache und ihrer grammatikalischen For-
men, die das Haupthindernis für die Ausbildung eines korrekten Sti-
les, namentlich in der schönen Literatur, aber auch für eine sach-
gemäße Bibelauffassung war. Er litt nicht wenig unter der abnormen
Sachlage, infolge deren er selbst angesichts der so sehr zurückgeblie-
benen Entwicklung der hebräischen Grammatik und Stilistik die Mehr-
zahl seiner Werke in der fremden arabischen Sprache schreiben mußte.
Der Aufruf Saadias zur Wiederbelebung der alten nationalen Sprache
fand lebhaften Anklang im Westen: sein Schüler Dunasch ben Labrat
aus Fez verpflanzte das grammatikalische System des Saadia nach
Spanien, wo seit der Mitte des X. Jahrhunderts eine Blütezeit der he-
bräischen Sprachwissenschaft einsetzte (s. Band IV). Im Zusammen-
hang mit seiner Bearbeitung der Grammatik der biblischen Sprache
legte Saadia den Grundstein für die Exegetik und damit auch für
die mittelalterliche Schule der Bibelkommentatoren. Er trat nämlich
an die Ausführung einer gewaltigen Aufgabe heran: an die Übertra-
546
§ 73. Massora, Nikkud, Grammatik, Midrasch und Piut
gung der Bibel in die damalige Weltsprache, das Arabische, und an
die Abfassung eines auf der Höhe der damaligen Wissenschaft stehen-
den Kommentars dazu. Sein Bestreben ging dahin, den unverfälsch-
ten Gehalt des „Buches der Bücher“, der von den Repräsentanten
aller drei Religionen durch einen Wust von Sagen und tendenziösen
Auslegungen verdeckt worden war, sowohl dem Judentum wie der
Umwelt wieder zugänglich zu machen. Manche Partien dieses Werkes
sind uns erhaltengeblieben, doch sind sie nur zum Teil publiziert,
zum Teil liegen sie hingegen nur in arabischen Manuskripten vor:
die später in Europa erblühende exegetische Literatur in hebräischer
Sprache hat sie allmählich in den Hintergrund gedrängt.
So streute der Orient Samen der Wissenschaft aus, die später im
Abendlande aufgehen sollten. Im Morgenlande selbst vollendete man
aber inzwischen die vor vielen Jahrhunderten begonnene haggadische
Bearbeitung der Bibel als eines Stoffes für die belehrende und erbau-
liche Predigt. Die in der byzantinischen Epoche in Palästina erblühte
Literatur der Midraschim (§ 4i) gedieh und entfaltete sich auch noch
in der arabischen Zeit. Die an biblische Motive anknüpfenden syna-
gogalen Predigten pflegte man auch jetzt zu Papier zu bringen, um
sie sodann in die entsprechenden Teile der zwei alten großen Samm-
lungen: „Midrasch Rabba“ und „Midrasch Tanchuma“ oder „Je-
landenu“ einzufügen. Neben den „Midraschim“ zum Pentateuch und
den fünf „Megilloth“, die sich aus in den Gottesdienst eingereihten
Predigten zusammensetzten, entstanden jetzt im gleichen Geiste ge-
haltene haggadische Kommentare zu manchen anderen biblischen
Büchern, wie z. B. zu den Psalmen und den Sprüchen Salomosi
(„Midrasch Schochor-tob“, „Midrasch Mischle“). Die Entstehungsge-
schichte dieser Werke läßt sich, ebenso wie die Namen ihrer Verfas-
ser, nicht näher bestimmen. Vermutlich gediehen sie eher in Palästina
als in Babylonien. Daneben tauchten haggadische Pseudographen auf,
d. h. Bücher, die irgendeinem alten Weisen in den Mund gelegt wur-
den. Solcher Art sind die Bücher „Pirke de’Rabbi Elieser“ und
„Tanna debe’Eliahu“, deren erstes mit dem Namen des Tannaiten
Elieser ben Hyrkan geschmückt ist, während der Titel des zweiten auf
irgendeine geheimnisvolle „Schule des Elias“ anspielt. Beide in rein-
stem Hebräisch geschriebenen Bücher stammen, wie aus manchen
Stellen zu ersehen ist, aus der Zeit der arabischen Herrschaft. Da-
gegen ist es nicht leicht, ihren Entstehungsort mit Genauigkeit zu
35*
547
Die arabisch-jüdische Renaissance
bestimmen; die Vermutung spricht dafür, daß wir es hier mit Er-
zeugnissen der westlichen Diaspora zu tun haben, mit denen Italiens
oder des europäischen Byzanz', wo im IX. und X. Jahrhundert das
Werk der palästinensischen Haggadisten mit regstem Eifer weiter-
geführt wurde (s. Band IV).
Nun war dies alles freilich nur eine Nachahmung altüberkomme-
ner Vorbilder. Indessen tritt uns in der arabischen Epoche auf dem
Gebiete des religiös-dichterischen Schaffens auch eine ganz neue Er-
scheinung entgegen. Neben der synagogalen Predigt ersteht jetzt eine
von gleichem Geiste getragene synagogale Dichtkunst. Die lyrische
Ausdrucksform der nationalen und religiösen Gefühle, die bis dahin
nur in der dem Gottesdienst angeschlossenen Predigt heimisch war,
wurde nunmehr zu einem organischen Bestandteil des Gottesdienstes
selbst. Außer den in alter Zeit festgesetzten Benediktionen und Ge-
betspsalmen („Berachoth“, „Tefiloth“), deren Sprechen sowohl im
häuslichen Kreise als auch bei der synagogalen Andacht vorgeschrie-
ben war, wurden jetzt neue religiöse Hymnen verfaßt, die in den
Synagogen als eine Beigabe zur Liturgie entweder nach den obli-
gatorischen Gebeten oder in den Zwischenpausen vorgetragen zu wer-
den pflegten. Man nannte diese Art der synagogalen Poesie „Piut“
(von „Poesis“, „Poetica“), ihre Urheber aber „Paitanim“. Ebenso
wie in den Midraschim fand auch hier die Begeisterung oder die
Sehnsucht der glaubenserfüllten Seele sowie die Trauer des zerstreu-
ten Volkes ihren Ausdruck. In der Form eines vertraulichen Zwie-
gesprächs zwischen Israel und seinem Gotte preisen die Paitanim die
Erhabenheit des Weltschöpfers und den alten Ruhm des auserwähl-
ten Volkes, den Lebenswandel seiner alten Erzväter und heiligen Män-
ner, die ehemalige Pracht Jerusalems und seines Tempels und be-
trauern die ganze Bitternis des Exils. In rührenden Versen werden
die von Gott für die ehemals geliebte, dann aber verstoßene „Toch-
ter Zions“ gehegten Gefühle sowie die Leiden und die Sehnsucht der
von ihrem Heimatlande losgerissenen und zum Umherirren verdamm-
ten Nation geschildert. Manchmal stellt der „Piut“ nichts als eine
gereimte Predigt dar. Die Urheber der „Piutim“ waren gewöhnlich
die „Chasanim“, die synagogalen Vorbeter oder Kantoren, weshalb
man diese lyrischen Ergüsse auch häufig „Chasanuth“ („Schöpfun-
gen der Kantoren“) nannte. So wurde der Gottesdienst, dessen Kern
die alten Gebete und die Thoravorlesungen bildeten, an den Feiertagen
548
§ 73. Massora, Nikkud, Grammatik, Midrasch und Piut
von den diesen beiden Hauptbestandteilen der Liturgie hinzugefüg-
ten Gaben der „Chasanuth“ und „Darschanuth“ umrahmt: in den
dichterischen Intermezzi trug der Kantor das vor, was der Prediger
zum Gegenstand seiner Belehrung machte.
Als erster Paitan gilt Jose ben Jose, der, wie vermutet wird, in
Palästina im VII. Jahrhundert lebte. Seine Hymnen, die schon in
dem Kreise der babylonischen Gaonen in hohem Ansehen standen,
wurden in die Liturgie des Rosch-ha’schana (in das „Mussaf“-Gebet
des zweiten Tages) und in die des Jom-Kippur (in die „Aboda“) auf-
genommen. Seine Hymnen schrieb Jose ben Jose in rhythmischer
Prosa, wobei er den Reim durch die Wiederholung irgendeines mar-
kanten Wortes am Strophenende ersetzte. Die Paitanim der folgen-
den Jahrhunderte fanden an einem eintönigen Reim besonderen Ge-
fallen und schrieben nicht selten schwerfällige, ungelenke Verse, wo-
bei sie der hebräischen Sprache neue, nur um des „Wohlklanges“
oder der Alliteration willen künstlich geschaffene Worte aufzu-
pfropfen suchten. Im VIII. und IX. Jahrhundert stand die „Kantor-
dichtung“ (Chasanuth) des Jannai und des in seinen Fußtapfen wan-
delnden Eleasar Kalir in hohem Ruhme. Die Nachwelt legte Kalir den
Ehrentitel „Fürst der Paitanim“ bei, da er so produktiv war, daß
die in den europäischen Ländern später verbreiteten „Piutim“-Samm-
lungen von seinen Hymnen und Elegien ganz voll waren. Trotz aller
Bemühungen der Forscher ist es bis jetzt nicht gelungen, Zeit und
Ort der Wirksamkeit des Kalir zu bestimmen. Man sucht seine Spuren
bald in Palästina, bald in Syrien, Babylonien, Süditalien oder Byzanz
und zwar innerhalb eines Zeitraums zwischen dem VIII. und XI.
Jahrhundert, da es überaus schwer ist, seinen Namen in einen be-
stimmten geschichtlichen Rahmen hineinzustellen1). Eine leise An-
t) Seit Rappoport und Zunz kommt der Streit der Gelehrten über Zeit und
Ort der Wirksamkeit des Kalir nicht zur Ruhe. Da er sich in den in Akros tichon -
form verfaßten Hymnen manchmal den Namen „Eleasar Kalir aus Kiriath-Sefer“
beilegt, so sucht man zu erraten, welche Stadt mit diesem Pseudonym, das soviel
wie „Stadt der Bücher“ heißt, wohl gemeint sein könnte: das akademische Ti-
berias oder irgendein anderer Ort in Palästina. Andere lesen „Kiriath-Sapor“y
d. h. „Grenzstadt“. Andere wieder leiten den Beinamen Kalir von dem Namen
der italienischen Stadt Kagliari ab und machen so den Dichter zu einem Italiener.
Der neuesten Forschung (Krauß, Studien zur byzantinisch-jüdischen Geschichte,
Wien 1914) gilt er gar als ein Bürger Konstantinopels. Am begründetsten scheint
indessen die Hypothese zu sein, die sich für das Palästina des VIII. oder IX.
Jahrhunderts entscheidet.
549
Die arabisch-jüdische Renaissance
deutung über den Schauplatz der Wirksamkeit des Kalir findet sich
in seinen Elegien (Kinoth), in denen der Dichter über das Joch
Edoms, d. i. Roms oder Byzanz', Klage führt; indessen kommt auch
dieser Anspielung keine entscheidende Bedeutung zu, da der Dichter
in seinen in die Vergangenheit zurückschauenden Versen auch die
alten Römer, die Zerstörer Judäas, im Sinne haben konnte. Ausschlag-
gebend ist vielmehr der Umstand, daß sowohl Saadia Gaon als auch
sein karäischer Zeitgenosse Karkassani die Paitanim-Geschlechter in
der folgenden Reihenordnung erwähnen: Jose, Jannai, Eleasar, wor-
aus wohl zu schließen ist, daß Eleasar Kalir (der der Überlieferung
als Jünger des Jannai gilt) im Morgenlande, und zwar noch vor dem
X. Jahrhundert gelebt hat. Seine poetischen Werke mögen in Palä-
stina, der Urheimat des Midrasch und der älteren Paitanim, entstan-
den sein. Er war der fruchtbarste Paitan dieser Zeit: sein Name kehrt
in nahezu hundertundfünfzig in der Liturgie der italienisch-byzantini-
schen und aschkenasisehen Gemeinden erhaltengebliebenen, in Akro-
stichonform verfaßten „Piutim“ wieder. Seine Hymnen erinnern meist
lebhaft an im Midraschgeiste gehaltene Predigten über biblische Text-
stellen. Überschwengliche Wendungen und ein gekünstelter Stil, ein
Übermaß an ganz willkürlichen Wortbildungen, das Geknatter der
Alliterationen und der bizarren Reime und obendrein gelehrte Anspie-
lungen auf das talmudische Schrifttum — all dies läßt die Verse
schwerfällig und ermüdend erscheinen. Von diesen „Piutim“ stechen
indessen in vorteilhafter Weise die ebenfalls dem Kalir zugeschrie-
benen Elegien ab, die am Fasttage des Tischa-be’Ab (9. Ab) gelesen
zu werden pflegen: diese innig empfundenen Ergüsse der nationalen
Trauer, in klarstem Hebräisch zum Ausdruck gebracht, üben auch
heute noch auf das Gemüt der Andächtigen eine tiefe Wirkung aus.
Es ist kaum zu glauben, daß solche Meisterwerke der liturgischen
Dichtkunst, wie „In dieser Nacht weinen und wehklagen meine Kin-
der“ („Be’leil se jibkajun“) oder „Um jene Zeit, da Jeremia über
die Gräber der Ahnen schritt . . .“ („As ba’haloch Jeremijahu . . .“),
aus derselben Feder stammen sollen, die zu Ehren der anderen Ge-
denktage nur hohl klingende „Piutim“ hervorzubringen vermochte.
Die Verfasserschaft des Kalir bezüglich dieser Gedichte bedarf noch
durchaus des Beweises. — Außer Kalir ist den morgenländischen
Paitanim auch noch Saadia Gaon zuzuzählen. Als von ihm herrührend
gelten manche in hebräischer und zum Teil in arabischer Sprache
55o
§ 73. Massora, Nikkud, Grammatik, Midrasch und Piut
erhaltengebliebene Hymnen, die jedoch wegen ihrer allzu großen Ge-
lehrsamkeit und Ungelenkigkeit keine Aufnahme in die Liturgie ge-
funden haben. Der Schöpfer des wohlgefügten religionsphiloso-
phischen Systems erwies sich als ein nur unzulänglicher religiöser
Dichter.
Die Einfügung von langatmigen „Piutim“ in die offiziell fest-
gelegte Liturgieordnung wurde durchaus nicht von allen Gesetzes-
lehrern jener Zeit ohne Widerspruch hingenommen. Manche der
Gaonen tadelten diese Neuerung, andere betonten die Unverbindlich-
keit des Vortrags der frei gedichteten Hymnen im Gottesdienst. Des-
ungeachtet erwarben sich diese Produkte der religiösen Dichtkunst
als Ergänzung zur Predigt oder als deren Ersatz nach und nach in
den Synagogen volles Bürgerrecht. In den folgenden Jahrhunderten
war es dieser Art von Poesie beschieden, im Westen zu hoher Blüte
zu gelangen und in den Werken der großen Dichter der spanischen
Schule, in denen des Ibn Gabirol, der beiden Ibn Esra und des Jehuda
Halevi, den Gipfel der Vollkommenheit zu erreichen.
Zugleich mit dem allmählich fortschreitenden Zerfall der geisti-
gen Zentren des Judentums im Morgenlande erstehen im europäi-
schen Okzident neue festgefügte Zentren der nationalen Kultur, die
aus den ehedem nur lose miteinander verbundenen Kolonien auf-
gebaut werden. Seit dem XI. Jahrhundert wendet sich der Haupt-
strom der nationalen Lebensenergie der westlichen Diaspora zu, jener
„Neuen Welt“ des frühen Mittelalters, wo auf der Trümmerstätte des
römischen Reiches die neuen christlichen Staaten erblühen. Wir trer
ten nunmehr in die europäische Periode der jüdischen Geschichte ein.
Ende des dritten Bandes
ANHANG
Ergänzungen und Exkurse
Note 1: Zur Quellenkunde und Methodologie
Der vorliegende Band umfaßt die längste Periode der jüdischen Ge-
schichte, ein volles, mit der Eroberung Jerusalems durch Rom beginnen-
des und in dessen Eroberung durch die Kreuzfahrer ausklingendes Jahr-
tausend (70—1099 d. ehr. Ära). Dieser Zeitraum umspannt die letzten
Jahrhunderte der Antike und die erste Hälfte des Mittelalters im Mor-
genlande (die Geschichte des frühen Mittelalters in Europa kommt erst im
nächsten Bande zur Behandlung). Wir gewinnen hier einen Überblick über
die Geschicke der jüdischen autonomen Zentren in vier Weltreichen: im
heidnischen Rom, im christlichen Byzanz, im sassanidischen Persien und
im arabischen Kalifat, und vermögen hierbei die allmähliche Verschie-
bung der alle diese Zentren der Reihe nach durchlaufenden nationalen
Hegemonie bis zu ihrer Verpflanzung nach Europa zu verfolgen. Schon
die Tatsache jedoch, daß für die Darstellung einer so ausgedehnten
Periode (allerdings insofern diese Darstellung nur den in dieser Zeit
ausschlaggebendsten Teil der jüdischen Welt umfaßt) im Rahmen unserer
„Geschichte“ ein einziger Band genügenden Raum bot, ist ein deutlicher
Hinweis darauf, wie dürftig die einschlägigen, uns erhaltengebliebenen ge-
schichtlichen Quellen sind. In der Tat gibt es keine andere Epoche der
jüdischen Geschichte, die ungeachtet ihres verhältnismäßig so reichen
Schrifttums dennoch so arm an geschichtlichen Quellen wäre, wie dieses,
zwischen der Zerstörung des judäischen Staates und dem Niedergange
der letzten jüdischen Zentren im Morgenlande verflossene Jahrtausend.
An der Wende des I. und II. christlichen Jahrhunderts steht Josephus
Flavius als der letzte jüdische Geschichtsschreiber. Seither kennen wir
bis in das XI. Jahrhundert hinein, von wenigen fragmentarischen Auf-
zeichnungen und dem gegen Ende des X. Jahrhunderts abgefaßten „Send-
schreiben des Gaon Scherira“ abgesehen, keinen einzigen Geschichtsschrei-
ber, ja nicht einmal irgendeinen Chronisten. So sind wir denn darauf an-
gewiesen, geschichtliche Nachrichten aus der Unmenge des sonstigen jü-
dischen Schrifttums, Körnchen für Körnchen, herauszusuchen, aus einem
Haufen von Legenden, juristischen Debatten und Rechtsentscheidungen,
in dem Sonderbereiche der politischen Geschichte aber aus den Annalen
oder Staatsakten der umgebenden Völker, ohne daß es uns möglich wäre,
sie mit Chroniken national-jüdischen Ursprungs zu konfrontieren.
Es möge hier ein Überblick über den Befund der Quellen folgen,
555
Anhang
die für jede einzelne der in diesem Bande behandelten Epochen in Be-
tracht kommen.
Für die Geschichte Palästinas in der Zeit des heidnischen und des
christlichen Rom und für die Geschichte des babylonischen Zentrums un-
ter der persischen Herrschaft stellt der Talmud im selben Maße die ent-
scheidende Hauptquelle dar, wie die Bibel für die älteste Periode und die
Schriften des Josephus Flavius für die griechisch-römische Zeit. Während
indessen die Bibel umfangreiche Partien geschichtlichen Inhalts in sich
schließt und das Werk des Josephus Flavius sogar in allen seinen Teilen
nichts anderes als eine auf alten Quellen und auf den unmittelbaren Er-
lebnissen des Verfassers selbst beruhende Historiographie ist, wird im
Talmud nicht einmal der wichtigsten Ereignisse der für ihn zeitgenös-
sischen Epoche direkt Erwähnung getan. Unerwähnt bleiben hier so fol-
genschwere Ereignisse wie der Aufstand des Bar Kochba, die Proklamie-
rung des Christentums zur Staatsreligion des römischen Reiches und die
für die Juden daraus entstandenen Folgen, die Abschaffung des Patriar-
chats und ähnliche innere Umwälzungen; über die mit dem Namen des
Bar Kochba verknüpfte nationale Tragödie haben sich im Talmud nur
vereinzelte Sagenfragmente erhalten, in denen überdies nicht einmal die
einzelnen Momente des Falles von Jerusalem unter Titus und des Falles
von Betar unter Hadrian genau auseinandergehalten werden. Auch über
die politische Lage der Juden im persischen Babylonien gibt uns der
babylonische Talmud nur höchst verworrene Nachrichten, so daß diese
ganze Epoche, wenigstens was die äußeren Geschicke der Nation anbelangt,
in fast völliges Dunkel gehüllt bleibt. Während das talmudische Schrift-
tum (die Midraschim mitinbegriffen) für die Bestimmung der sozialen
Statik, für den Einblick in die Lebensführung und in die Sitten jener
Zeit überaus reichhaltigen Stoff1) gewährt, schweigt es sich über die
soziale Dynamik, d. i. über die Geschichte im eigentlichsten Sinne des
Wortes, so gut wie ganz aus. Die Führer der ihres Staates beraubten
Nation scheinen gleichsam jedes Interesse für die politischen Weltereig-
nisse, auch wenn sie in verhängnisvollster Weise auf das innere jüdische
Leben zurückwirkten, verloren zu haben. Der Geschichtsschreiber, dem
es hinsichtlich dieser an Krisen so überreichen Epochen vor allem um
die Erscheinungen der sozialen Dynamik zu tun ist, wird von einer tiefen
Enttäuschung ergriffen, wenn er in den hundert Bänden des talmudischen
Schrifttums nichts als dunkle Anspielungen auf die Erlebnisse der ersten
fünf Jahrhunderte der christlichen Ära findet und sie vergeblich nach
chronologischen Anhaltspunkten durchsucht. Unwillkürlich erfaßt ihn
ein Gefühl der Beschämung bei dem Gedanken, daß eine Nation, die der
Welt in der Bibel die ersten großen Musterbeispiele aller Historiographie
1) Dieser Stoff ist von S. Krauß in den drei Bänden seiner „Talmudischen
Archäologie“ (Leipzig 1910—1912) in ein einheitliches System gebracht worden.
Bedauerlicherweise steht die Veröffentlichung des für uns wichtigsten Teiles seines
Werkes, der „Politischen Altertümer“ (s. Vorwort zu seinen „Synagogalen Alter-
tümern“, Wien 1922) noch immer aus.
556
Anhang
gegeben hatte, nunmehr die Kraft eingebüßt hat, ihre Erlebnisse sogar
in schlichten Chroniken festzuhalten. Erklärt sich doch das Fehlen dieser
Chroniken nicht dadurch, daß sie verschollen, sondern dadurch, daß sie
nie geschrieben worden sind; das erhaltengebliebene Schrifttum weiß
jedenfalls über solche annalistische Werke nichts auszusagen. So sieht
sich denn der Geschichtsschreiber genötigt, die spärlichen und einseitigen
Notizen zu Rate zu ziehen, die in den Büchern der römischen Geschichts-
schreiber, der byzantinischen Chronographen und der kirchlichen Schrift-
steller verstreut und überdies in den römisch-byzantinischen Gesetzes-
büchern zu finden sind. All dies mußte in traurigster Weise auf die wis-
senschaftliche Geschichtsschreibung zurückwirken, in der die Darstellung
des „talmudischen Zeitalters“ mit Erzählungen über die Gesetzeslehrer und
die Wirksamkeit der palästinensischen und babylonischen Schulen ausge-
füllt ist, wobei die Wandlungen im politischen und sozialen Leben des
Volkes nur hier und da beiläufig Erwähnung finden. Die Geschichte von
vier Jahrhunderten wird so zu einer Sammlung von „Lebensbeschreibun-
gen der Synagogenväter“, der Tannaiten und Amoräer, die sich um den
Aufbau der „mündlichen Lehre“ mühen und an der Wende des V. und
VI. Jahrhunderts ihrem Werke durch den Akt des Talmudabschlusses die
Krone aufsetzen.
Noch trostloser war es bis in die jüngste Zeit hinein um die Kennt-
nis der viele Jahrhunderte umfassenden Epoche des arabischen Kalifats
bestellt. Unerwähnt blieb in dem jüdischen Schrifttum sogar ein so be-
deutsames geschichtliches Ereignis wie die Eroberung Palästinas durch die
Arabet im Jahre 638 und ihr weiterer siegreicher Zug durch den ganzen
Orient, ein Ereignis, welches das Los des Judentums auf viele Jahrhun-
derte hinaus entscheidend bestimmte. Auch die Zeit der drei östlichen
Kalifate: der Oma jaden, der Abbassiden und der Fatimiden, wird von
dem damaligen jüdischen Schrifttum völlig mit Schweigen übergangen
und nur beiläufige, in den Sendschreiben oder Entscheidungen der
Gaonen eingestreute Bemerkungen machen es möglich, über die autonome
Verwaltung der jüdischen Gemeinden jener Epoche sowie über die Wirk-
samkeit des einen oder anderen Exilarchen oder Gaon Näheres zu erfah-
ren. Das geschichtliche Dunkel, das sich über diese undurchsichtigen Jahr-
hunderte ausbreitet, aus denen uns nur einsam ragende Gestalten, wie die
eines Saadia Gaon oder anderer Vertreter der arabisch-jüdischen Renais-
sance entgegenleuchten, wird auch von den muselmanischen Chronisten
und Geographen nur in höchst unzulänglicher Weise gelichtet. Im Jahre
1860 sammelte allerdings S. Pinsker die in dem karäischen Schrifttum
verstreuten geschichtlichen Fragmente („Likkute kadmonioth“), die gegen
Ende des XIX. Jahrhunderts noch von A. Harkavy durch neuentdeckte
Manuskripte (Bruchstücke aus den Werken des Anan und des Karkassani)
ergänzt wurden; dieser dürftige Stoff wirft indessen nur auf einzelne
Momente dieser dunklen Epoche ein helleres Licht. Erst in den letzten
Jahrzehnten gelang es, dank der Entdeckung der „Genisa“ in Kairo, über
die Lage der Juden in Palästina und Ägypten im X. und XI. Jahrhundert
Anhang
sowie über die dortigen provisorischen autonomen Zentren vieles in Erb
fahrung zu bringen, wodurch eine geschichtliche Epoche, die bis dahin
völlig ereignislos zu sein schien, in ihrer inhaltlichen Fülle erschlossen
werden konnte.
Wie kann nun der Geschichtsschreiber bei einer solchen Dürftigkeit
und Einseitigkeit des Stoffes seiner Aufgabe gerecht werden? Es bleibt
ihm nichts anderes übrig, als den Mangel an Stoff durch dessen intensive
Verarbeitung auszugleichen. Es gilt, in der Unmenge des im talmudischen
und gaonäischen Schrifttum angehäuften Materials statischen und dogma-
tischen Charakters die verschütteten Spuren der geschichtlichen Dynamik
auf dem Wege sorgfältiger Analyse aufzudecken und sie sodann mit den
in den nicht jüdischen Quellen hie und da verstreuten Stoffteilchen ähn-
licher Beschaffenheit zu vergleichen und zu kombinieren. So kann z. B.
durch die Konfrontierung der talmudischen Sagen über Titus, Trajan,
Hadrian, Bar Kosiba (Bar Kochba) und R. Akiba mit den fragmentari-
schen Nachrichten der römischen Historiker: des Tacitus, Suetonius, Dio
Cassius, über den in Dunkel gehüllten Zeitraum zwischen dem Falle Jeru-
salems und dem Falle Betars (70—138) einiges Licht verbreitet werden.
Für die Darstellung der darauffolgenden Epoche des heidnischen Rom
sind einige Anhaltspunkte in den Werken der ältesten Kirchenväter: des
Justin Martyr, des Origenes und Tertullian zu finden. Den ersten Jahr-
hunderten des christlichen Rom entstammen eine Reihe von Kirchen-
chroniken: die des Eusebius, Sokrates und Sozomenus, die über im jü-
dischen Schrifttum unerwähnt gebliebene und für die nationale Ge-
schichte überaus wichtige historische Geschehnisse allerlei Nachrichten bie-
ten (z. B. über den galiläischen Aufstand im Jahre 351 und über den
Versuch einer Restauration des Jerusalemer Tempels unter Julian Apo-
stata); reichhaltigen Stoff für die Erforschung dieser Epoche geben fer-
ner der Kodex des Theodosius und die Werke der Kirchenväter: des
Hieronymus, Ambrosius, Johannes Ghrysostomus und Augustin. Was das
VI. und den Anfang des VII. Jahrhunderts anbelangt, eine Epoche, über
die sich in der jüdischen Literatur auch nicht die leiseste Andeutung fin-
det, so sind wir hier ausschließlich auf die Nachrichten im justiniani-
schen Kodex und auf die byzantinischen Chronographen: Malalas, Pro-
copius und Theophanes angewiesen. Für die arabische Epoche, von der
Mitte des VII. bis zum Ausgang des XI. Jahrhunderts, kommt als Paral-
lele zu den dürftigen Notizen im gaonäischen Schrifttum die arabische
Literatur in Betracht: der Koran und die mohammedanische Ilaggada
(Hadith), die Chronisten (Vakidi, Beladhori, Tabari u. a.) sowie die ara-
bischen Geographen des X. und XI. Jahrhunderts. Stünden uns diese
aus nichtjüdischen Quellen geschöpften Nachrichten nicht zur Verfügung,
so hätte die äußere Geschichte des Judentums jener fernen Epochen über-
haupt nicht geschrieben werden können; in den Fällen, wo man diese
Nachrichten nicht durch Konfrontierung mit jüdischen Quellen zu kon-
trollieren vermag, bleibt nichts anderes übrig, als das darin enthaltene ten-
denziöse Element auf dem Wege der immanenten Kritik zu eliminieren.
558
Anhang
Die Einseitigkeit der nur dem geistigen Lebensinhalt der Nation Be-
achtung schenkenden jüdischen Quellen trübte die den Tatsachen ent-
sprechende geschichtliche Fernsicht und ließ die Vorstellung von einem
„Volke des Buches“ erstehen, das nach dem Verluste seines Staates diesen
angeblich ganz durch die Schule ersetzte. Die gesetzestreuen Geschichts-
schreiber halten in ihren Werken an diesem Standpunkt noch bis zum
heutigen Tage fest. So läßt W. Jawitz in den vier der „talmudischen und
gaonäischen Epoche“ gewidmeten Bänden seiner „Geschichte Israels“
(Toldoth Israel, Band VI—IX, Krakau 1907/London 1920) das idyl-
lische Bild eines Volkes vor uns erstehen, das sich in den Akademien
drängt und durch den Mund seiner Gelehrten weise Sentenzen verkün-
det, die der Geschichtsschreiber denn auch aufs sorgsamste in ein System
zusammenfaßt. Einem anderen Geschichtsschreiber aus der jüngsten Zeit,
Isaak Halevi (Doroth ha’rischonim, B. I—III, 1897—191^) verwandelte
sich die Geschichte des Talmud unter der Hand in einen Fall der tal-
mudischen Kasuistik, und so suchte er den schwierigen Problemen dieser
Geschichte, als wären es verschlungene Halachoth, auf dem Wege wag-
halsiger logischer oder gar sophistischer Konstruktionen beizukommen.
Er ist ein ausgesprochener Feind jener evolutionistischen wissenschaft-
lichen Methode, die von J. H. Weiß in seiner die „Geschichte der münd-
lichen Lehre“ behandelnden großangelegten Monographie (Dor dor
we’dorschow, Wien 1871—1883) und von Graetz in seiner klassischen
„Geschichte der Juden“ zur Anwendung gebracht worden ist. Obwohl bei
Weiß das Fehlen eines umfassenden geschichtlichen Fernblicks unver-
kennbar ist, so ist ihm als Verfasser einer nur speziellen Monographie die-
ser Mangel durchaus nicht zum Vorwurf zu machen, vielmehr ist es bei
einem Talmudisten schon an und für sich als Fortschritt zu betrachten,
daß er sich folgerichtig an die von Graetz inaugurierte Grundauffassung
zu halten wußte. Graetz selbst ist es aber als hohes Verdienst anzurech-
nen, daß er bei dem Zustand, in dem die Geschichtswissenschaft um die
Mitte des XIX. Jahrhunderts, als er den hier in Betracht kommenden IV.
und V. Band seiner „Geschichte“ schrieb, noch verharrte, nicht versäumt
hat, aus dem chaotischen Dogmen- und Sagenstoff des talmudischen und
gaonäischen Schrifttums die darin verschütteten Körnchen der nationalen
geschichtlichen Überlieferung ans Licht zu ziehen und sie mit Hilfe der
fragmentarischen Nachrichten der nicht jüdischen Chroniken auf ihre
Richtigkeit hin zu prüfen. Hinter den „Bergen der Halacha“ und den ver-
schlungenen Arabesken der Haggada blieb dem feinhörigen Geschichts-
schreiber der Pulsschlag des politischen und sozialen Lebens nicht
verborgen. Und doch vermochte auch er von der scholastischen Grund-
auffassung, wie sie dem Geschichtsschreiber von dem vorliegenden ge-
schichtlichen Stoffe unwillkürlich aufgedrängt wird, nicht ganz loszu-
kommen. Zwischen den zwei entgegengesetzten, im Vorwort zum V. Band
seiner „Geschichte“ formulierten (von uns in der Einleitung zum
I. Band, S. XXXI, zitierten) Grundauffassungen schwankend, entscheidet
er sich bei der Errichtung des allgemeinen Geschichtsrahmens schließlich
559
Anhang
doch für das durch die Tradition geheiligte scholastische Prinzip: die von
ihm vorgenommene Periodisierung richtet sich nach den vier Tannaiten-
generationen, den fünf Amoräergeschlechtern, den drei Jahrhunderten
des Gaonats usf. So trägt denn auch seine Darstellung mehr der Ge-
schichte der Literatur als der des Volkes Rechnung.
Es ist deshalb nur natürlich, daß mit der fortschreitenden Verdrän-
gung des Dogmatismus durch den Historismus die Geschichtsschreiber
sich von der den Quellen anhaftenden Einseitigkeit immer mehr frei
zu machen wissen und sich durch das Dickicht dieses „dunklen Konti-
nents“ der jüdischen Geschichte hindurch ihren Weg bahnen. Als Weg-
weiser dient uns hierbei die Grundanschauung, der der Talmud als ein
Werkzeug der nationalen Zucht, die ganze akademische Verfassung des
Palästina und Babylonien jener Zeit aber vor allen Dingen als ein Surro-
gat der alten Synhedrien und der sonstigen Zentralorgane der Selbstver-
waltung gilt. Mit einer solchen Richtschnur in der Hand läuft der Ge-
schichtsschreiber keine Gefahr, sich in den um den Hauptbesitz der jüdi-
schen Geschichte wild wuchernden Wäldern der Scholastik zu verirren.
Dieser Hauptgehalt unserer Geschichte ist die eigengesetzliche Evolution
des Volksganzen, das seine geistige Kultur den im fortwährenden Wandel
begriffenen Zeitumständen wohl anzupassen weiß. So ist es nur begreif-
lich, daß es uns bei einer solchen Grundansicht vor allem darum zu tun
wari auch an der leisesten Äußerung der selbständigen Volkstätigkeit,
wie an den Elementen der äußeren Volksgeschichte überhaupt, nicht acht-
los vorüberzugehen. Fast unüberwindliche Schwierigkeiten türmen sich
auf dem durch dieses geschichtliche Wüstenland führenden Wege, auf
dem unsere Ahnen uns künftigen Wanderern nicht einen einzigen Mei-
lenstein hinterlassen haben, und doch sind die Bemühungen der For-
scher der jüngsten Zeit nicht fruchtlos geblieben. So hat die eingehende
Analyse der Gesetzgebung des christlichen Rom von der Zeit des Kaisers
Konstantin bis Justinian, die wir dem Werke Justers (Les juifs dans
Fempire romain, 1914) verdanken, die staatsrechtliche Stellung der Ju-
den in diesem Zeitalter, der die älteren Geschichtsschreiber nur sehr
wenig Beachtung schenkten, in gar mancher Hinsicht geklärt. Über die
Geschichte der letzten Jahrhunderte der orientalischen Periode, nament-
lich über das Zeitalter des Saadia Gaon, haben die von S. Schechter in
der Genisa von Kairo gemachten Entdeckungen ein helles Licht verbreitet
(Saadyana, Cambridge 1908). Weitere Publikationen aus dieser Samm-
lung schadhafter Urkunden finden sich in den Werken von L. Ginzherg
(Geonica, vol. I—II, New-York 1909), S. Poznanski (Babylonische
Geonim im nachgaonäischen Zeitalter, Berlin 1914) und in dem von
Jakob Mann (The Jews in Egypt and in Palestine under the Fatimid
Caliphs, vol. I—II, Oxford 1920—1922). Die von Schechter und Mann
publizierten Dokumente ermöglichen es dem Geschichtsschreiber, einen
Einblick in die im X. und XI. Jahrhundert sich vollziehende Neube-
lebung der provisorischen jüdischen Zentren in Palästina und Ägypten
zu gewinnen (es kommen hier vor allem die Schriftstücke in Betracht,
56o
Anhang
die sich auf den zwischen Ben Meir und Saadia entbrannten Streit um
die Hegemonie Palästinas beziehen, sowie die den Bewerber um das
Exilarchat Daniel ben Asarja betreffende „Chronik des Ebjatar“ und
ferner der Briefwechsel des ägyptischen Gaon Schemarja ben Elchanan
und des palästinensischen Salomo ben Jehuda mit ihren Zeitgenossen).
Poznanski hat überdies unsere Kenntnisse in bezug auf die Epigonen des
babylonischen Gaonats im XII. Jahrhundert nicht unwesentlich bereichert
(dieser Stoff wird indessen erst in dem das Morgenland behandelnden
Kapitel des IY. Bandes dieser „Geschichte“ seine Bearbeitung finden).
Allein auch nach allen diesen Entdeckungen ist der Wissensdurst
des gewissenhaften Geschichtsschreibers noch lange nicht gestillt. In dem
Bereiche dieser tausendjährigen Periode klafft auch jetzt manche Lücke
und viele schwerwiegende Probleme harren noch ihrer Lösung. Unsere
scholastisch eingestellten Geschichtsschreiber waren gewohnt, diese Lücken
durch die Behandlung literarischer Erzeugnisse unbestimmten Datums
auszufüllen, so die sich auftuenden Abgründe gleichsam mit einem Papier-
gerüst überdeckend; in dem Bewußtsein jedoch, daß diese scheinbare
Leere lediglich auf die Zurückhaltung der Zeitgenossen zurückzuführen
ist, vermögen wir uns mit dem Fehlen von Leben und Bewegung in man-
chen Zeitabschnitten unserer Geschichte in keiner Weise abzufinden. So
bleiben denn für die Historiographie der behandelten Periode die fol-
genden Abschnitte in Dunkel gehüllt und die folgenden Probleme noch
immer ungelöst: i. die politische Lage der Juden in Palästina und der
römischen Diaspora von der Zeit der Antonine bis zu der des Kaisers
Diokletian, diesen mitinbegriffen (i38—312); 2. die offizielle Stellung
der palästinensischen Patriarchen in dieser Zeitperiode und namentlich
die Abschaffung des Patriarchats unter Theodosius II. in dem Zeitraum
zwischen den Jahren 4i5—429; 3. die Zeitperiode zwischen der Re-
gierung Theodosius II. und Justinians in Byzanz (43o—Ö2o) sowie die
zwischen der Regierung des Justinian und des Heraklius (568—632), ins-
besondere aber die Haltung der Juden bei der Besetzung Palästinas durch
die Perser; 4- die politische Lage der Juden im Babylonien der Sassa-
niden (III.—VII. Jahrhundert); 5. die Eroberung Palästinas durch die
Araber und das Jahrhundert des Omajadenkalifats (638—7Öo); 6. die
rechtliche und soziale Lage der Juden im Abbassidenkalifat, die innere
Gemeindeautonomie ausgenommen, über die wir durch das gaonäische
Schrifttum hinlänglich unterrichtet sind. Bei einer solchen Beschaffen-
heit der Quellen hat der Geschichtsschreiber unsägliche Schwierigkeiten
zu überwinden, um auf diesem unübersichtlichen Gelände auch nur ver-
einzelte Wegweiser, in Form von aus den heterogensten und durchaus
nicht immer zuverlässigen Quellen geschöpftem Tatsachenmaterial, auf-
pflanzen zu können — doch wie oft sieht er sich hierbei an einem toten
Punkt angelangt.
Es bleiben somit als einzige Hoffnung nur noch die seit einiger Zeit
in Palästina in Angriff genommenen Ausgrabungen, die bereits manche
Ergebnisse gezeitigt haben (vgl. unten, Note 2), sowie die Entdeckung
36 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Yolkes, Bd. III
56i
Anhang
neuer „Genisoth“ von der Art der in Kairo auf gefundenen in den
Ruinen Palästinas, Babyloniens, Ägyptens und Maghrebs. Die auf diesem
ganzen Gebiete im Laufe des behandelten Jahrtausends unaufhörlich wü-
tenden Kriege haben gewiß nicht wenig Denkmäler der alten Kultur
und des dahingeschwundenen Lebens endgültig vernichtet, doch wird sich
wohl noch manches aus dem Innern der Erde und den uralten Trümmer-
haufen ans Tageslicht bringen lassen. Wohl dem Geschichtsschreiber der
kommenden Zeit, dem es vergönnt sein wird, das in Erfahrung zu brin-
gen, was uns, allen unseren Bemühungen zum Trotz, noch immer ver-
schlossen bleibt!
Note 2: Zur Epigraphik
Wenn die Bücher schweigen, gilt es, die Steine zu befragen. Indessen
waren die Juden von uraltersher gegen die Verewigung geschichtlicher
Ereignisse und des Andenkens geschichtlicher Persönlichkeiten in steiner-
nen Denkmälern. Den wenigen Funden, die bis jetzt aus den uralten
Ruinen zutage gefördert worden sind, kommt eher eine archäologische
denn eine historische Bedeutung zu; es sind dies spärliche Überreste
zerstörter Synagogen mit Inschriften, auf denen die Namen ihrer Er-
bauer verzeichnet sind, Grabschriften an den Gräbern von Privatperso-
nen oder Gemeindehäuptern, deren Namen jedoch mit keinerlei ge-
schichtlichen Ereignissen in Zusammenhang stehen, u. dgl. m. Bis jetzt
sind derartige Überreste und Inschriften viel häufiger in dem Gebiete
der römisch-byzantinischen Diaspora als in den jüdischen Hauptzentren
Palästina und Babylonien zur Entdeckung gekommen. (Die Epigraphik
der östlichen Diaspora wird in den Werken von: Schürer, Gesch. III,
47—5o, Ausg. 1909, Oehler, Epigraphische Beiträge, Monatsschr. f.
Gesch. u. Wiss. d. Judent. 1909, S. 292 ff., und Juster, Les juifs dans
Tempire romain, I, 120—123, 188—209 behandelt; die der weströmischen
Diaspora und namentlich der Stadt Rom in dem Buche von N. Müller,
Die jüdischen Katakomben zu Rom, Leipzig 1912, und auch in seinem
posthumen Werke: Inschriften der jüd. Katakomben am Monteverde zu
Rom, 1919.) So gewinnen denn die erst vor kurzem in Palästina ent-
deckten Synagogenüberreste und Inschriften, die die früher zutage ger
förderten spärlichen epigraphischen Daten in nicht unwesentlichen
Stücken ergänzen, eine ganz besondere Bedeutung.
Die in den letzten fünfzehn Jahren in Palästina (von Macalister,
R. Weill und den dort in der Nachkriegszeit tätigen englischen, ameri-
kanischen und jüdischen Archäologen) geleiteten Ausgrabungen brach-
ten eine Reihe von synagogalen Inschriften und Grabschriften ans Licht,
von denen an zwanzig aus dem II.—VI. Jahrhundert der christlichen Ära
stammen. Von den synagogalen Inschriften ist nur eine einzige, und
zwar in griechischer Sprache abgefaßte, in Jerusalem auf gefunden wor-
den; diese in eine Tafel eingegrabene Inschrift lautet: „Der Hiereus und
Archisynagogus Theodotus, ein Sohn und Enkel von Archisynagogen, er-
562
Anhang
baute die Synagoge zum Yorlesen der Thora und zur Verrichtung der
Andacht, und an diese anschließend ein Hospiz für Zugereiste“. Da nach
der Zerstörung Jerusalems durch Titus dort lange Zeit hindurch keine
Synagogen bestehen konnten, die Inschrift jedoch ein sehr hohes Alter
verrät, so vermutet man, daß hier von einer von griechischen Juden (aus
Alexandrien oder Antiochia) noch zur Zeit des Bestehens des Tempels
errichteten Synagoge die Rede ist1). Nicht ausgeschlossen erscheint es
indessen, daß diese Synagoge in einem jener lichten Zwischenräume der
späteren römisch-byzantinischen Zeit erbaut worden ist, als die Regie-
rung den Juden den zeitweiligen Aufenthalt in Jerusalem nicht ver-
wehrte (oben, § 20, gegen Ende). Es mochte hier ein Hospiz für Rei-
sende bestanden haben, so daß die Synagoge wohl an den Gasthof ange-
schlossen war, nicht aber umgekehrt. Eine andere in den Ruinen einer
Synagoge in Obergaliläa aufgefundene griechische Inschrift weist sogar
ein Datum auf: sie ist von den Andächtigen des jüdischen Bethauses zu
Ehren „unseres Herrn, des automatischen Kaisers Septimius Severus“ und
der Kaiserin Julia Domna (197) gestiftet. Es fanden sich überdies zwei-
sprachige Inschriften auf Synagogensäulen in Emmaus und Gaza. Auf
der einen der Säulen haben sich die Schlußworte des Hauptgebetes
„Schma“ in griechischer Sprache: „Eis Theos“ (Gott ist einzig) erhalten
sowie die hebräischen Worte der diesem Gebet folgenden Benediktion
„Baruch schemo“ usw. Auf einer, anderen Säule sind nur Darstellungen
jüdischer religiöser Embleme zu sehen: ein siebenarmiger Leuchter, ein
Horn oder eine Trompete, ein Palmenzweig und eine Zitrone (Menora,
Schofar, Lulab, Etrog).
Die aufgefundenen griechischen Inschriften zeugen davon, mit wel-
cher Zähigkeit die palästinensischen Juden sogar noch in der römisch-
byzantinischen Zeit an der griechischen Sprache festhielten. Die Mehr-
zahl der entdeckten Inschriften ist indessen in hebräischer oder aramäi-
scher Sprache abgefaßt. In der Gegend von Safed (Zefath) haben sich
einige hebräische Inschriften auf den Gesimsen der Synagogenportale er-
halten, in denen die Namen der Erbauer der Synagogen oder der Spen-
denstifter unter Hinzufügung des Segensspruches: „Möge an dieser Stätte
der Friede walten“ (Jehi schalom be’mokom ha’se) eingegraben sind. In
den aus späterer Zeit stammenden galiläischen Inschriften dieser Art tritt
uns immer häufiger die aramäische Sprache entgegen; meistens kehrt hier
die Formel wieder: „Dechir le’tob“ („Es möge in Güte gedacht werden“ die-
ses oder jenes Erbauers oder Stifters). In der Gegend von Jericho ist vor
kurzem unter den Trümmern der Stadt Noar (En-Dok), wo im VI. Jahr-
hundert eine jüdische Gemeinde bestand, eine Reihe von Mosaiksteinen
auf gefunden worden, die aus dem Fußboden einer Synagoge stammen
und mit gleichlautenden, das Andenken der Schutzherren dieser „heili-
gen Stätte“ (Atra kadischa) verewigenden Inschriften versehen sind. In
!) Zu der „Inschrift des Theodotus“ s. R. Weill und T. Reinach in REJ.,
1920, t. LXXI, pp. 3o u. 46 ff.
36*
563
Anhang
einer griechischen Inschrift unbestimmten Datums, die in Zippora neben
einer aramäischen Inschrift von der erwähnten Art entdeckt worden ist,
werden die Namen der Schutzherren der Synagoge aufgezählt: des Ge-
lehrten („des Scholastikers“) Gelasius und der Archisynagogen von Sidon
und Tyrus, was für das Bestehen jüdischer Gemeinden in den ehemals
phönizischen Städten zur byzantinischen Zeit in unzweideutiger Weise
Zeugnis ablegt. Jüdische Namen oder Embleme auf weisende griechische
Inschriften kamen außerdem in dem einstmals philistäischen Asdod sowie
in Transjordanien ans Licht.
Außer diesen im Jahre 1920 von S. Klein veröffentlichten synagogalen
Inschriften (Jüdisch-palästinensisches Corpus Inscriptionum, Berlin-Wien;
nachträglich ergänzt in den Publikationen der Jerusalemer Universität:
„Jedioth ha’machon le’madae ha’jahaduth“, II, 2 3—48, Jerus. 1926)
liegt noch eine Sammlung früher zusammengestellter Grabschriften vor,
die der in die ersten Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung fallen-
den palästinensischen Periode entstammen. Diese umfangreiche Samm-
lung (172 Nummern im ersten Teil des erwähnten Corpus Inscriptionum
von Klein) ist jedoch ihrem Inhalte nach recht unergiebig. Es sind dies
Bruchstücke von Inschriften auf Ossuarien (Totengebeine-Behälter) sowie
auf vereinzelten Grabdenkmälern, die in der Umgegend von Jerusalem,
in Jaffa und an anderen Orten Judäas zutage gefördert worden sind. Den
entzifferten Namen kommt keine geschichtliche Bedeutung zu, wiewohl
manche Altertumsforscher hier und da die Namen der letzten Vertreter
des Boethosäer-Priestergeschlechts und die wenig bekannter Gesetzeslehrer
aus der Zeit zwischen dem II. und V. Jahrhundert wiederzuerkennen
glauben. Bedeutsamer ist für die Geschichtsforschung die Tatsache, daß es
in diesen Jahrhunderten in Jaffa einen jüdischen Friedhof gab. Freilich
drängt sich auch sonst die Annahme auf, daß nach der Verschiebung des
Zentrums aus Jerusalem nach Jabne eine jüdische Gemeinde in der Jabne
nahegelegenen Hafenstadt Jaffa bestehen mußte, doch scheint sich diese
Gemeinde sogar nach der Erhebung des Bar Kochba, als das nationale
Zentrum sich bereits weiter nach Galiläa verschoben hatte, hier erhalten
zu haben. Höchst bemerkenswert ist die Fülle der in griechischer Sprache
abgefaßten Grabschriften nicht nur in Jaffa, sondern auch in der Um-
gegend von Jerusalem. Auf manchen Grabmälern sind sowohl griechische
als auch hebräische Inschriften angebracht. Neben rein hebräischen Namen
treten uns in den griechischen Inschriften auch hellenische entgegen, wie
Justos, Julianos u. dgl., deren Träger anscheinend aus der Diaspora her-
gekommen waren. Manchmal wird die griechische Inschrift mit dem he-
bräischen Schlußwort „Schalom“ beschlossen, dem zuweilen das gleich-
bedeutende griechische „Eirene“ (Friede) beigefügt ist. Wahrzeichen in
Form des siebenarmigen Leuchters und des Palmenzweiges sind in der
Totenstadt von Jaffa durchaus keine Seltenheit. Dies alles zeugt davon,
daß der Prozeß der kulturellen Absonderung, ungeachtet der von den
Gesetzeslehrern Judäas und Galiläas im Zeitalter der Mischna inaugurier-
ten strengen Zucht, in einem nur sehr langsamen Tempo vor sich ging.
564
Anhang
Sowohl in den geschäftlichen Beziehungen wie auch in den amtlichen
Schriftstücken lief die griechische Sprache, ebenso wie später die ara-
bische, der aramäischen Umgangssprache und der hebräischen Schrift-
sprache gar häufig den Rang ab1).
Note 3: Der Prozeß der Verwandlung der „mündlichen Lehre * in eine
schriftliche
Um das Jahr 986 kam es zwischen zwei Gaonen, dem von Afrika
und dem von Babylonien, zu jenem bedeutsamen Briefwechsel, von dem
oben im Text ($ 72) bereits die Rede war. Der Rosch-Jeschiba von Kai-
ruwan, Jakob bar Nissim, richtete nämlich an seinen Kollegen in Pumba-
dita, den Gaon Scherira, eine Reihe heikler geschichtlicher Fragen, die
die Talmudgelehrten am liebsten unerörtert zu lassen pflegten: „Wann
ist die Mischna niedergeschrieben worden? Ist es wirklich so, daß ihre
Niederschrift von den Männern der Großen Synagoge (nach Esra und
Nehemia) in Angriff genommen worden war und daß die Gelehrten der
nachfolgenden Generationen diese Niederschrift nur nach und nach wei-
terführten, bis Rabbi (Jehuda ha’Nassi) erschien und sie zum Abschluß
brachte? Wenn dem aber so wäre, so müßte ja die Mischna zum größten
Teile aus anonymen Lehrsätzen bestehen, während doch (wie es im Tal-
mud heißt) die anonymen Lehrsätze der Mischna auf R. Meir (d. i. auf
den Tannaiten aus späterer Zeit) zurückzuführen seien und auch die
Mehrzahl der in ihr mit Namen erwähnten gelehrten Talmudisten nur
Jünger des R. Akiba waren . . . Aus welchem Grunde mochten nun
unsere alten Meister, wenn bis zum Lebensende des Rabbi von der
Mischna tatsächlich nichts aufgezeichnet wurde, in der Mehrzahl (der
Entscheidungen) den Späteren den Vorrang abgetreten haben?“ Dem
folgten Fragen über die Ordnung der Hauptteile der Mischna, über die
Zeit der Abfassung der Tosephta, der Baraitoth und der Gemara, d. i.
des ganzen Talmud. — Aus dem ausführlichen Antwortschreiben des
Gaon Scherira ist zu ersehen, daß ihm die Lösung all dieser geschicht-
lichen Rätsel nicht wenig Mühe verursachte. Schon aus der Aufwerfung
dieser Fragen geht hervor, daß es an einer festen Tradition in dieser
Hinsicht fehlte, so daß der höchste offizielle Repräsentant des Talmudis-
mus auf die hier und da im Talmud verstreuten Anspielungen angewie-
sen war und daher auch in seiner Antwort die Unklarheit der ihm zu
Gebote stehenden Quellen, ja ihre Widersprüche nicht zu überwinden
vermochte. So schreibt er denn auch in seinem Antwortbrief („Iggereth
t) Neben den bereits erwähnten Inschriftensammlungen mögen hier auch die
neueren Publikationen nicht unerwähnt bleiben: das Werk von S. Krauß, „Syna,-
gogale Altertümer“, Berlin-Wien 1922, in dem viele, alte in Palästina und der
Diaspora entdeckte Synagogen beschrieben und auf den beigegebenen Illustra-
tionen dargestellt sind, sowie das von Kohl und Watzinger, „Antike Synagogen
in Galiläa“, Leipzig 1918 (Über die Bauart der Synagogen). — Zur europäischen
Epigraphik vgl. Band IV dieser „Geschichte“.
565
Anhang
R. Scherira Gaon“) an zwei Stellen, daß die Mischna von Jehuda ha’Nassi
gesichtet und vorgetragen wurde (tarzinun), an drei weiteren Stellen —
daß er sie auch niedergeschrieben hat, um uns endlich die folgende Über-
raschung zu bereiten: „Ihr fragt, wie die Mischna und der Talmud nie-
dergeschrieben worden seien. Der Talmud und die Mischna sind aber
gar nicht niedergeschrieben, sondern nur vorgetragen worden, und un-
sere Meister achteten darauf, daß man sie nicht auf Grund von geschrie-
benen Texten, sondern mündlich studiere, denn es heißt (Tr. Temura,
14 b): ,Mündliche Aussprüche dürfen nicht schriftlich festgelegt werden“4.
Diese in der für die Geschichte des Talmud maßgebendsten Quelle
offen zutage tretenden Widersprüche sind nicht, wie manche glauben
(so neuerdings B. Levin in seiner kritischen Ausgabe des „Sendschreibens
des Scherira“, Jaffa 1914), einfach darauf zurückzuführen, daß den uns
vorliegenden Drucken des Buches zwei verschiedene Lesarten zugrunde
liegen. Der wahre Grund liegt vielmehr in der blinden Anbetung jener
Fiktion der „Mündlichkeit“ des Talmud, die alle konservativ eingestellten
Talmudgelehrten aufrechtzuerhalten suchten, indem sie die Momente des
Abschlusses sowohl der Mischna als des Talmud, wie sie in deren Fixie-
rung in schriftlichen Denkmälern zum Ausdruck kam, in jeder Weise
zu vertuschen bestrebt waren. Der alte Fluch, der auf dem Akt des Nie-
derschreibens mündlicher Traditionen und ihrer Verwandlung in eine
zweite Thora lastete, beunruhigte nämlich das Gewissen derjenigen, die
diesen Akt vollzogen hatten und sich später seine segensreichen Folgen
zunutze machten. Einerseits führte man freilich zur Rechtfertigung die-
ses Aktes das unwiderlegbare Argument an, daß ohne eine schriftliche
Fixierung der ganzen, im Laufe von Jahrhunderten angehäuften Riesen-
menge der „Traditionen“ und Gesetzesauslegungen diese vom Volke nicht
hätten bewahrt werden können, andererseits suchte man jedoch diese
Eigenmächtigkeit in jeder Weise zu verschleiern und die Fiktion einer
nur mündlichen Überlieferung der Mischna und des Talmud, sogar in
der auf deren Abschluß folgenden Zeit, in den Geistern unerschüttert zu
erhalten. So interpretierte man denn das Wort „Abschluß“ im Sinne
einer Sichtung und Vereinheitlichung der verschiedenen Versionen der
Überlieferungen und Deutungen — ein Werk, das angeblich in den Schu-
len des R. Jehuda ha’Nassi und Rab Aschi auf dem Wege einer lediglich
mündlichen Zusammenfassung oder Redaktion vollbracht wurde. Diese
Zwiespältigkeit, die auch in dem „Sendschreiben des Scherira“ zum Aus-
druck kommt, stiftete später in den Geistern eine immer größer werdende
Verwirrung. Während der jüngere Zeitgenosse des Scherira, der in Spa-
nien wirkende Samuel ha’Nagid, wie auch später Maimonides in ihren
Einleitungen zum Talmud ohne Umschweife erklärten, daß die Mischna
in der Form eines Buches niedergeschrieben worden sei, behauptete der
große Kommentator Raschi, daß sie auch nach ihrem Abschluß nur
mündlich gelehrt zu werden pflegte; der konservative Rabbiner des XVII-
Jahrhunderts, Jakob Chagis, verstieg sich aber zu der Behauptung (in
seinem Buche „Ez-Chaim“), daß weder die Mischna zur Zeit des Jehuda
566
Anhang
ha’Nassi noch die Gemara zu der des R. Aschi, sondern daß beide« in
viel späterer Zeit niedergeschrieben worden seien. An dieser sonderbaren
Meinung fanden in neuester Zeit S. D. Luzzato („Kerem Chemed“, i838,
S. 62 ff.), ja sogar der Geschichtsschreiber Graetz (im IV. Bande seiner
„Geschichte“, Note 35) besonderes Gefallen. Mit ungetrübtem Blick ging
hingegen an die Sache der maßgebendste Geschichtsschreiber des talmudi-
schen Schrifttums, J. H. Weiß (Dor dor we’dorschow, II, Kap. 22, ge-
gen Ende) heran, der die Sinnwidrigkeit der Ansicht von einer nur münd-
lichen Redaktion der Mischna in klarster Weise dargetan hat. Nunmehr
tritt sogar der gesetzestreue Geschichtsschreiber W. Jawitz (Toldoth
Israel, YI, Note i4) dafür ein, daß die Mischna in der Zeit des Jehuda
ha’Nassi niedergeschrieben worden sei, wobei er freilich die in dem
„Sendschreiben des Scherira“ klaffenden Widersprüche auf höchst ver-
schlungenen Wegen zu beheben und auch die sich gegenseitig ausschlie-
ßenden Meinungen des Maimonides und des Raschi miteinander in Ein-
klang zu bringen sucht, wohl um deswillen, um keiner der als unfehlbar
geltenden rabbinischen Autoritäten irgendwie zu nahe zu treten.
Die Fiktion einer mündlichen Systematisierung der Mischna und der
Gemara in einem fortgeschrittenen Stadium ihrer Entwicklung vermag
überhaupt der Erwägung des gesunden Menschenverstandes, wonach der
Stoff der mündlichen Lehre ohne dessen Fixierung in einem schriftlichen
Denkmal nie hätte gesammelt und geordnet werden können, in keiner
Weise standzuhalten. Wie hätte auch ein nur mündlich tradierter Text
von solch großem Umfange im Laufe von Jahrhunderten in den Aka-
demien Palästinas und Babyloniens so eingehend kommentiert werden
können, wie dies in den beiden Talmuden, die jeden Mischnasatz auf alle
erdenkliche Weise hin und her wenden, tatsächlich geschieht? Und
auch abgesehen davon kann das Aufkommen der späteren Ergänzungen
zur Mischna, der Tosephta und Baraita, d. i. eines in dem Bestand der
kanonisierten Mischna nicht miteingeschlossenen Stoffes, nur dann er-
klärlich erscheinen, wenn man die Tatsache einer vorher niedergeschrie-
benen Mischna zum Ausgangspunkt nimmt. In der gleichen Weise kam
die Niederschrift der Jerusalemer Gemara am Ende des IY. und der
babylonischen am Ende des Y. Jahrhunderts zustande. Indessen wäre es
durchaus falsch zu glauben, daß die so umfangreiche geschriebene Mischna
des Jehuda ha’Nassi und der riesengroße Talmud des Rabina und des
Rab Aschi mit einem Schlage zur Entstehung kamen; vielmehr bedeutete
die Verwandlung der mündlichen Lehre in eine schriftliche einen lang-
wierigen, nur allmählich fortschreitenden Prozeß. Zunächst zeichneten
wohl die gelehrten Tannaiten und Amoräer lange Zeit hindurch die ver-
schiedenen Überlieferungen und Deutungen für den eigenen Gebrauch
auf, um sie als Leitfaden für die akademischen Vorträge und bei der Er-
örterung der umstrittenen Fragen in den Gesetzgebungskollegien zu be-
nützen. Hinweise auf eine solche Abfassung halachischer Sammelwerke
von der Art der Mischna noch unter den Vorgängern des Jehuda ha’Nassi
sind ja im Talmud selbst zu finden. So wird z. B. im Talmud die „alte
567
Anhang
Mischna“ (Mischna rischona) zu der „Mischna des R. Akiba“ (Sanhedrin
27 b, Nasir 34b, Tosephta Arachin 5, i5 u. sonst) in Gegensatz gebracht,
woraus zu entnehmen ist, daß irgendein Mischnakodex noch vor der Zeit
des R. Akiba im Gebrauch war, so daß die Redaktion des R. Akiba im
Verhältnis zu der älteren Redaktion mit gutem Recht als eine „spätere
Mischna“ bezeichnet werden konnte. Eine alte, im Namen des palästinensi-
schen Amoräers des III. Jahrhunderts R. Jochanan tradierte Überliefe»
rung teilt das ganze mischnaitische Schrifttum in folgender Weise unter
den Jüngern des Akiba auf (Sanhedrin 86 a): „Alle anonymen Teile un-
serer Mischna rühren von R. Meir her, die anonymen Teile der Tosephta
— von R. Nehemia, Sifra — von R. Jehuda (ben Ilai), Sifre — von R.
Simon (ben Jochai) und alle insgesamt wandeln sie hierbei in den Fuß-
tapfen des R. Akiba“. Diese Überlieferung war so weit verbreitet, daß sie
sogar von dem Kirchenschriftsteller des IV. Jahrhunderts Epiphanius in
seinem Buche über die Ketzereien (i5, 2 u. 33, 9) wiedergegeben wird,
indem er vier verschiedene Bücher des Deuterogesetzes („Deuterosis“ —
eine buchstäbliche Übersetzung des Wortes „Mischna“ oder „Mischne-
Thora“) unterscheidet: das Deuteronomium Moses’ oder das biblische,
sodann das des R. Akiba, das des R. Juda (ha’Nassi) und endlich das
der rätselhaften „Söhne des Asmonai“; hiermit wird, wenn man von der
letzten, augenscheinlich entstellten Bezeichnung absieht, eine Kontinui-
tät der Redaktionen der talmudischen Mischna von Akiba bis zu Jehuda
ha’Nassi von einer neuen Seite bestätigt. Es ist zu vermuten, daß die Ka-
nonisierung der Mischna die folgenden Stufen durchlief: zur Zeit de9
Synhedrion von Jabne mußte zunächst die „alte Mischna“, wohl noch
Jerusalemer Ursprungs, der Mischna des R. Akiba den Rang abtreten,
worauf R. Meir in Galiläa die Mischna einer neuen Redaktion unterzog,
während seine Mitarbeiter ergänzende oder parallellaufende Halachoth-
sammlungen zusammenstellten, bis endlich R. Jehuda ha’Nassi alle diese
Mischnaredaktionen zu einer Einheit zusammenfaßte, indem er den paral-
lelen Sammlungen, die auch noch später ergänzt wurden (die Schulen
des Chija und Uschaja, die Redaktoren der Tosephta, der Baraita usf.),
keine Beachtung schenkte. In derselben Weise, auf dem Wege einer all-
mählichen Aufschichtung, wird sich wohl auch die Redaktion der Gemara
in Palästina und in Babylonien vollzogen haben. Die verschiedenen Ge-
setzeslehrer machten zu ihrem Privatgebrauch allerlei Notizen, die später-
hin, bei der endgültigen Redaktion, reichlich ausgenutzt wurden: sonst
hätte sich der Riesenstoff der Gemara auf keine Weise im Gedächtnis
erhalten können.
In freimütigster Weise, ohne die geringste Scheu vor der Zerstörung
frommer Fiktionen, brachten Samuel ha’Nagid und Maimonides die ganze
Frage durch die von ihnen ausgesprochene Vermutung zur Entscheidung,
daß seit der Zeit Esras und der „Männer der Großen Synagoge“ die Ge-
lehrten die von ihnen vernommenen Überlieferungen und Deutungen
jeder für sich auf zeichneten, d. h. daß die sogenannte „mündliche Lehre“
von jeher in vielfachen, allerdings nur den Eingeweihten bekannten Ab-
Anhang
Schriften Vorgelegen hätte. Der gleichen Auffassung neigte offensicht-
lich der Gaon von Kairuwan, Jakob ben Nissim, in seiner oben ange-
führten Anfrage zu, auf die indessen der Gaon Scherira, der altehrwür-
digen Fiktion Rechnung tragend, eine nur unschlüssige Antwort zu er-
teilen vermochte. Scherira hat freilich insofern recht, als der Talmud
tatsächlich auch noch zu seiner Zeit in den Schulen mündlich gelehrt
wurde, da den Studierenden oder wenigstens einem Teil von ihnen die
Abschriften, auf Grund derer ihre Meister den Unterricht betrieben, nicht
zur Verfügung standen, doch werden die Studierenden sicherlich selbst
ihre Notizen und Aufzeichnungen zu Papier gebracht haben. Die geringe
Verbreitung der Mischna- und Gemaraabschriften verlieh der Fiktion der
Mündlichkeit einen gewissen Schein von Glaubwürdigkeit. Die überaus
seltenen halachischen Sammlungen wurden in konfidentieller Weise von
Hand zu Hand gegeben, wodurch sich auch die ihnen im Zeitalter der
Mischna beigelegte Bezeichnung „Geheimrollen“ (Megillath setarim) er-
klären mag. Daß allerlei Abschriften von Halachothaufzeichnungen („Pin-
kossim“) und Haggadothsammlungen („Sifre de’agadata“) noch vor dem
Abschluß des Talmud, ja vor dem der Mischna in der Tat in Umlauf
waren, erfahren wir aus dem Text dieser Werke selbst (Palästin. Talmud,
Tr. Kilajim I und Maaseroth II; Babyl. Talmud, Baba mezia 116 a,
Baba bathra 52 a, Sanhedrin 46 b)1).
Note 4: Die das Patriarchat betreffenden Dekrete aus den Jahren
415 und Ü29
(zu § 36)
Das talmudische Schrifttum übergeht mit völligem Stillschweigen so-
gar ein so bedeutsames Ereignis der jüdischen Geschichte wie die unter
Kaiser Theodosius II. erfolgte Abschaffung des palästinensischen Patri-
archats. Es liegen uns als einzige, recht unvollständige und einseitige
Nachrichtenquelle hierfür nur die darauf bezüglichen Dekrete aus den
Jahren 4i5 und 429 vor, von denen namentlich das erste der Unklarheit
seines Inhaltes wegen besonderer Auslegung bedarf. Dieses Dekret sei
hier in seiner Ursprache und ungekürzt wiedergegeben (es ist an den
Präfekten Palästinas, Aurelianus, gerichtet):
„Quoniam Gamalielus existimavit se posse impune delinquere, quo
magis est erectus fastigio dignitatum, illustris auctoritas tua sciat, nostram
t) Aus der neuesten einschlägigen wissenschaftlichen Literatur möge hier die
letzte Ausgabe des Werkes von H. L. Strack, Einleitung in Talmud und Midras,
5. ganz neu bearbeitete Auflage, München 1921, erwähnt sein. Vgl. auch noch
L. A, Rosenthal, Über den Zusammenhang, die Quellen und die Entstehung der
Mischna, I., 2. u. 3. Teil, Berlin 1918; Albeck, Untersuchungen über die Redak-
tion der Mischna (1923). — Die vollständigste der deutschen Talmudübersetzun-
gen ist die von L. Goldschmidt: Der Babylonische Talmud, bis 1925 8 Bände
(Berlin).
5 6,9
Anhang
serenitatem ad virum illustrem magistrum officiorum direxisse praecepta,
ut ab eo codicilli demantur honorariae praefecturae, ita ut in ea, sit
honore, in quo ante praefecturam fuerat constitutus, ac deinceps nullas
condi faciat synagogas, et si quae sint in solitudine, si sine seditione
possint deponiy perficiat, et ut inter Christianos nullam habeat copiam
judicandi; et si qua inter eos ac judaeos sit contentio, a rectoribus
provinciae dirimatur. Si Christianum vel cujuslibet sectae hominem
ingenuum servumve Judaica nota foedare temptaverit, vel ipse vel quis-
quam Judaeorum, legem severitati subdatur. Mancipia quoque christianae
sanctitatis si qua apud se retinet, secundum Gonstantinianam legem ec-
clesiae mancipentur“ (God. Theod. XVI, 8, 22).
Das Dekret beruft sich auf zwei uns nicht erhaltengebliebene Erlasse:
1. auf die Urkunde, durch die Gamaliel die Titular-Präfektur verliehen
worden war, und 2. auf den an den Magister officiorum ergangenen
Befehl, demzufolge dem Patriarchen wegen seiner Verfehlungen im Amte
das erwähnte Ehrendiplom entzogen werden sollte. Der Amtsmißbrauch
aber, den er sich zuschulden kommen ließ, bestand darin, daß er keinen
Anstand nahm, in rechtswidriger Weise neue Synagogen bauen zu lassen,
Rechtsstreitigkeiten zwischen Juden und Christen zu schlichten, vielleicht
auch Nichtjuden „mit dem judäischen Zeichen (der Beschneidung) zu
besudeln“ sowie christliche Sklaven in seinen Diensten zu halten. In dem
Dekret vom Jahre 4i5 tritt zum ersten Male die Degradierung des Pa-
triarchen in Erscheinung. Vor allem werden in dem Erlaß seinem Namen
die ehedem üblichen Ehrenbezeichnungen „clarissimus“ oder „illustris“
(wie z. B. in den Dekreten aus den Jahren 392, 3g6 und 397, God.
Theod. XVI, 8, 8—13) nicht beigefügt, ja es wird darin nicht einmal
seiner Patriarchenwürde Erwähnung getan, vielmehr wird er kurzweg
Gamalielus genannt. Ferner wird dem Patriarchen die Titular-Präfektur
entzogen, der sich wohl auch seine Vorgänger, und zwar schon in heid-
nischer Zeit, erfreuten (denn schwerlich werden es die christlichen Kaiser
gewesen sein, die der Stellung der jüdischen Patriarchen neuen Glanz
verliehen, wie Juster, Les juifs dans l’empire romain, I, 397, treffend
hervorhebt). Überdies wird für Gamaliel, ungeachtet dessen, daß er „in
der Würde, die er vor der Präfektur innehatte“, d. i. in der Patriarchen-
würde, belassen wird, in bezug auf das gesetzliche Verbot, demzufolge
die Juden keine christlichen Sklaven besitzen durften und sie der Kirche
freigeben mußten, keinerlei Ausnahme gemacht. Endlich kommt in die-
sem Dekret, insofern dem Patriarchen für die Rechtsprechung in Streit-
sachen zwischen Juden und Christen (sogar in einem schiedsgerichtlichen
Verfahren?) Strafe angedroht wird, die Schmälerung der jüdischen Auto-
nomie kraß zum Ausdruck. Es war dies alles aber nur ein Vorspiel zu
der vierzehn Jahre später erfolgten endgültigen Beseitigung des Pa-
triarchats.
Der die Synagogen betreffende Teil des Dekrets enthält eine nicht
ganz eindeutige Stelle, nämlich das Satzglied: „si quae sunt in solitudine,
si sine seditione possint deponi, perficiat“, eine Stelle, die ich oben
570
Anhang
im Text in Abweichung von der üblichen Auffassung übersetzen zu müs-
sen glaubte. Gewöhnlich wird sie nämlich in dem Sinne aufgefaßt, daß
die dem Gesetze zuwider neu erbauten Synagogen (entsprechend der einen
Bedeutung des Wortes deponere) zerstört werden mußten, falls sie sich
in öden Ortschaften befanden und ihre Zerstörung keine Empörung unter
den Juden hervorzurufen drohte (vgl. Juster, op. cit. I, hgo; Lucas, Zur
Geschichte der Juden im IV. Jahrhundert, Berl. 1910, S. 63—64). Bei
dieser Interpretation wird vorausgesetzt, daß der Auftrag, die gesetz-
widrig erbauten Synagogen zu zerstören, an den Präfekten erging, an
den der Erlaß gerichtet war1). Diese Auffassung läuft darauf hinaus,
daß es dem Präfekten vorgeschrieben wurde, Gamaliel fortan an der Er-
richtung neuer Synagogen zu verhindern, während die in öden Ortschaf-
ten erbauten oder wenig besuchten Synagogen von dem Präfekten oder
gar vom Patriarchen selbst, falls keine Empörung von seiten der Juden
zu gewärtigen wäre, zerstört werden sollten. Zutreffender scheint mir
indessen die oben im Texte (§ 36) vorgeschlagene Deutung zu sein:
„Fortan soll er (der Patriarch) keine neuen Synagogen bauen, die aber
(deren Bau bereits in Angriff genommen ist), die sich in einsamen Ge-
genden befinden, darf er, wenn sie ohne Empörung (von seiten der
christlichen Bevölkerung) erhalten werden können (deponi), zu Ende
bauen lassen (perficiat)“. Dies sollte mit anderen Worten heißen, daß
neue Synagogen in Zukunft nicht mehr errichtet werden, hingegen solche,
deren Bau bereits in Angriff genommen war, nur in dem Falle zu Ende
gebaut werden durften, wenn die Baustätte in einer öden Ortschaft ge-
legen war, so daß man von den ortsansässigen Christen, die sogar altehr-
würdige heidnische Tempel und jüdische Synagogen, vor allem aber dem
Gesetze zuwider neu erbaute zu zerstören pflegten, keine Empörung zu
gewärtigen hatte. Das ganze Dekret hat (abgesehen von der den Patri-
archen durch die Entziehung des Präfektentitels treffenden Degradie-
rung) nicht den Charakter einer Strafmaßnahme, sondern den einer War-
nung: fortan (deinceps) ist es dem Patriarchen verboten, neue Syna-
gogen erbauen zu lassen, in Streitsachen zwischen Juden und Christen
!) Noch viel weiter geht in seiner Auslegung dieser Stelle der bekannte
Forscher Prof. E. Täubler, der mir auf meine Anfrage die folgenden, eingehend
begründeten Erwägungen in freundlichster Weise zur Verfügung stellte: „Gesetz
ist: neue Synagogen sollen nicht erbaut, bestehende nicht zerstört werden (Cod.
Th. XVI, 8, 21, 2 5, 26, 27). Die Variante unseres Gesetzes lautet: Synagogen
in verlassenen Ortschaften oder nicht mehr benutzte Synagogen (in solitudine
macht beide Bedeutungen möglich) genießen den Schutz des Gesetzes, das Sy-
nagogen zu zerstören verbietet, nicht; der Patriarch soll durch das Gesetz nicht
das Recht haben, sich ihrer entweder vom Statthalter oder von der Stadtverwal-
tung gewünschten Beseitigung in den Weg zu stellen; er, zu dessen Kompetenz
die cura templorum gehört, soll die gewünschte oder begonnene Zerstörung per-
fizieren, d. h. gegen jüdischen Einspruch, wenn sich dieser nicht geradezu in
eine seditio auswächst, amtlich gutheißen". Der Sinn der in Frage kommenden
Stelle des Dekrets besteht somit in der Verschärfung der Repressalien: „Keine
neuen Synagogen und sogar amtliche Billigung der Zerstörung verlassener".
Anhang
Recht zu sprechen, einen Nichtjuden der Beschneidung zu unterziehen
oder einen christlichen Sklaven zu besitzen, — alles unter Androhung
harter Strafen im Falle einer künftigen Übertretung; in bezug auf die
in die Vergangenheit zurückreichenden Gesetzesübertretungen hingegen
wird die Anwendung der von den entsprechenden Gesetzen vorgeschrie-
benen Strafen (z. B. der im Gesetze vom Jahre 339 die an einem
Andersgläubigen vorgenommene Beschneidung angedrohte Todes- oder
Deportationsstrafe) hierin nicht angeordnet. Bei meiner Auffassung
stütze ich mich auf die Möglichkeit, das Wort „deponere“ in zweifacher
Weise zu deuten: im Sinne von „liegen lassen“ (erhalten) oder „zer-
stören“, indem ich der Interpretation des Gesetzes die erste Wortbedeu-
tung zugrunde lege; dementsprechend glaube ich, daß auch das Wort
„perficiat“ am Schluß des in Frage kommenden Satzteiles nicht anders
als in dem gewöhnlichen Sinne von „zu Ende führen“ (hier in dem
gleichfalls häufigen, speziellen Sinne von „einen Bau zu Ende führen“),
„vollenden“, „vervollkommnen“ aufzufassen sei, nicht aber in dem von
„ein Zerstörungswerk vollbringen“ oder „ein Gesetz erfüllen“.
Bei der Abwägung jedes hier in Betracht kommenden Für und Wider
fällt noch folgendes besonders schwer ins Gewicht. In dem in der Biblio-
thek des Vatikan auf gefundenen und von G. Haenel herausgegebenen alten
lateinischen Summarium des Theodosianischen Kodex (Antiqua sum-
maria Codicis Theodosiani ex codice Vaticano edidit G. Haenel, Lipsiae
i834) lautet nämlich die Wiedergabe der umstrittenen Stelle unseres
Gesetzesartikels folgendermaßen (S. 61): „Novas fieri synagogas prohibet,
in solitudine factas imperfectas compleri“, was soviel heißt wie: Es wird
verboten, neue Synagogen zu bauen, solche aber, die in öden Gegenden
erbaut und noch nicht vollendet sind, (dürfen) zu Ende gebaut werden“.
Daß vor dem Worte „compleri“ der Kürze halber ein eine Erlaubnis,
nicht aber ein Verbot bedeutendes Wort weggelassen ist, erhellt daraus,
daß, da nach dem Summarium das Dekret von unvollendeten Bauten
handelt, der im Dekret stehende Vorbehalt: si sine seditione possint de-
poni, sinnwidrig wäre, wenn man ihn als eine das Verbot einschränkende
Bedingung verstehen wollte („deponi“ könnte ja in diesem Falle weder
„erhalten“ noch „zerstören“ bedeuten), dagegen ist dieser Vorbehalt
durchaus sinngemäß, wenn er die Erlaubnis einschränkt, die bei den
Christen Ärgernis erwecken könnte.
Aus den oben, § 35, erwähnten Zwischenfällen ist ersichtlich, daß
eine Empörung in der Tat nur von den Christen, nicht aber von den
Juden zu gewärtigen war. Kaum war das Dekret des Theodosius II. vom
i5. Februar 42 3 über die Zurückerstattung der den Juden weggenom-
menen Synagogen sowie über die den jüdischen Gemeinden zu gewäh-
rende Entschädigung ergangen, als die Bischöfe, mit dem Einsiedler
Simeon dem Styliten an der Spitze, ihrer Entrüstung über die der Kirche
zugefügte Schmach in ungehaltenster Weise Ausdruck gaben, so daß die
Gefahr eines Aufruhrs oder wenigstens einer Judenhetze in unmittel-
bare Nähe rückte. Diese Gefahr zu bannen, waren auch die beiden Dekrete
572
Anhang
vom Jahre 423 (vom April und Juni) bestimmt, in deren einem mit
nicht mißzuverstehender Deutlichkeit eingeschärft wird: „synagogas nul-
lus occupet, nullus incendat“, während im anderen in aller Bestimmtheit
das Prinzip zum Ausdruck kommt: ut nec novas unquam synagogas per-
mittantur extruere nec auferendas sibi veteres pertimescant (neue Syna-
gogen dürfen nicht erbaut, die alten nicht weggenommen werden).
Die wegen der Synagogen sich häufenden Konflikte waren nur einer
der vielen Anlässe zur Beseitigung des Patriarchats, einem Akte, dem die
byzantinischen Machthaber eine besonders wichtige Bedeutung beimaßen.
Die im Jahre 4i5 dem Patriarchen erteilte Rüge war gleichsam nur ein
Warnungssignal; der bald darauf erfolgte Tod des Gamaliel ermöglichte
es dem Kaiser, dem Patriarchat den Gnadenstoß zu versetzen. So be-
deutete denn der Erlaß vom Jahre 429 nicht nur eine offizielle Be-
kanntgabe der Tatsache des Erlöschens des Patriarchengeschlechts (post
excessum patriarcharum) sondern auch die Proklamierung der Aufhebung
des Patriarchats als einer autonomen Institution.
BIBLIOGRAPHIE
Quellen- und Literaturnachweise
Im folgenden gebrauchte Abkürzungen: Bacher, ABA. = W. Bacher,
Die Agada der babylonischen Amoräer, 1878 (2. Aufl. 1913); idem, APA. =
W. Bacher, Die Agada der palästinischen Amoräer, B. I—III, 1892—1899; idem\,
AT. = W. Bacher, Die Agada der Tannaiten, B. I—II, i884, 1890; Bialik,
Agada = Bialik-Rawnitzki, Sefer ha’Agada I—VI, 1908—1911 (Krakau-Odessa);
BT. = Der Babylonische Talmud; CIG. = Corpus inscriptionum graecarum, Ber-
lin, ersch. seit 1828; CIL. — Corpus inscriptionum latinarum, Berlin, seit 1853;
Cod. Just. — Codex Justinianus, ed. Krüger, Berl. 1877 (ed. Mommsen, 1908);
Cod. Th. = Codex Theodosianus, ed. Haenel, Lips. 1842 (ed. Mommsen, 1905);
Derenbourg, Palestine = Derenbourg, Essai sur l’histoire de la Palestine d’apres
les Talmuds etc. Paris 1867; Graetz = H. Graetz, Geschichte der Juden, B. IV—V
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des Judentums; Neubauer, Chronicles = Mediaeval jewish Chronicles, ed. by
Ad. Neubauer, vol. I—II, Oxford 1888, 1895; Nöldeke, Tabari = Geschichte
der Perser und Araber zur Zeit der Sassaniden aus der Chronik) des Tabari,
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Patrologia latina, ed. Migne, Paris i844—1861; PT. = Der Palästinensische
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1880—1926; Reinach, Textes = Textes d’auteurs grecs et romains relatifs au judaisme,
Paris 1895; Schürer = Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter
Jesu Christi, B. I—III, 4- Aufl., Lpz. 1901—1909; Strack, Einl. = Strack, Ein-
leitung in den Talmud und Midras, 5. neubearbeitete Aufl. München 1921; Weiß,
Dor = J. H. Weiß, Dor dor we’dorschow, B. I—III, Wien 1876—1883.
§ 2. (Die politische Lage unter den Flaviern)
Tacitus, Histor. II, 2, 81 (über Berenike); Suetonius: Titus, 7; Domitianus, 12;
Dio Cassius, Hist. Rom. LXVI, i5—18; LXVII, i4; LXVIII, 1 (alle Fragmente
zusammengestellt bei Reinach, Textes, ipöf., 333). Eusebius, Historia Eccle-
Bibliographie
siae III, 12, 19—20, 32 (Hegesippus). — BT. Gittin, 56b; Midrasch: Bereschith
rabba X, Wa’jikra rabba XXII (vom Tode des Titus); Debarim rabba, II, i5
(über die Deputation in Rom). — CIG. Nr. 361 (die Inschrift zu Ehren der
Berenike). Madden, Coins of the Jews, i48— IÖ9 (Münzen Agrippas II.); idem,
History o£ the jewish coinage, 183—199 (über die für die jüdische Geschichte in
Betracht kommenden römischen Münzen); Soloweitschik, Die Welt der Bibel, Bil-
deratlas, Abb. 285—288 (Berl. 1926, Jüd. Verlag). — Mommsen, Römische Ge-
schichte V, 538—542; Derenbourg, Palestine, chap. 20; Graetz B. IV, 10—11,
23, 106—112, 39if. — Schürer I, 635—661; III, 117L; Juster I, 224f.; II,
i85, 282—286 (fiscus). Berliner, Geschichte d. Juden in Rom I. 106—109 (i8g3);
Büchler, The economic conditions of Judaea after the destruction of the second
Temple, London 1912 (über die jüdischen Gemeinden in Judäa in den Jahren
70—135).
S 3. (Jochanan ben Sakkai)
Mischna: Rosch ha’schana IV, 1, 3, 4; Sukka III, 12; Schekalim I, 4; Edu-
joth VIII, 7; Jadaim IV, 3; Aboth II, 7; Aboth de Rabbi Nathan IV. — Tosephta,
ed. Zuckermandel, S. 82, 212 (ibid. Index s. v. Jochanan ben Sakkai). — BT.:
Rosch ha’schana 3i; Sota 4o; Berachoth 28; Baba bathra 17; Sukka 28; Cha-
giga i4- — Zu den sonstigen einschlägigen talmudischen Notizen vgl.: Weiß, Dor
II, Kap. 5—7; Graetz IV, Kap. 1; Bacher, AT. I, 22—42; Jawitz, Toldoth VI,
Kap. 1; Bialik, Agada II, i3—16.
SS 4—5. (Das Synhedrion von Jabne)
Mischna: Edujoth, passim; Rosch ha’schana II, 8—9; Kelim V, 4- — To-
sephta, s. Index s. v. Gamaliel II., Joschua ben Ghananja etc. — Midrasch: De-
barim rabba II, i5. — BT.: Berachoth 27—28; Rosch ha’schana 2 4—2 5; Baba
kamma 83; Erubin 43; Aboda sara 10; Makkoth 24. — Bacher, AT. I, 73—95,
123—187; Bialik, Agada II, 18—35. Weiß II, Kap. 8—10; Graetz IV, 27—60
u. Noten 4—6; Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Ent-
wicklung, SS 8, 9, 36; Jawitz VI, Kap. 2.
S 6. (R. Akiba und seine Mitstreiter)
Mischna: Aboth III, i3—16; Aboth de’Rabbi Nathan VI; Ohaloth XVI, I. —
Tosephta, s. Index s. v. Akiba, Ismael etc. — BT.: Ketuboth 62; Jebamoth 16
u. auch sonst. Vgl. Weiß II, Kap. 11—12; Jawitz VI, Kap. 4; Graetz IV,
49—60 u. Noten 7—8; Bacher, AT. I, 232—342; Bialik, Agada II, 38—45.
S 7. (Die Feldzüge des Trajan und die Erhebung der Diaspora)
Dio Cassius, Hist. Rom. LXVIII, 32; Eusebius, Hist. Eccl. IV, 2; idem,
Chronicon i64—165 (ed. Schoene); Appianus, De bellis civilibus II, 90 (Reinach,
Textes, i53f., 196L). Megillath Taanith, $ 12; Seder olam, Kap. 3o. BT.
Taanith 18; Midrasch Echa I, 48. Über die zitierten talmudischen Notizen handeln
ausführlich: Derenbourg, Palestine, Kap. 2 4; Jawitz VI, Kap. V. Über die alexan-
drinischen Papyri vgl.: Wilcken, Zum alexandrinischen Antisemitismus (Abhandl. d.
Sächs. Ges. d. Wiss. B. XXXVII, Lpz. 1909); Bludau, Die Juden in Alexandria,
91—94, ioö—m (1906); Reinach, Textes, 218—226; idem in REJ. t. LXXIX,
p. i34—137 (1924). — Schürer I, 661—670; Mommsen V, 397—401, 542ff.;
Graetz IV, 112—119 u. Note i4; Juster II, 185—190; Renan, Les Evangiles,
chap. 23 (P. 1877). — S. Bibliographie zu SS 8—9.
5-5
Bibliographie
SS 8—9. (Die Erhebung des Bar Kochba)
Dio Cassius, Hist. Rom. LXIX, 11— 15; Spartianus, Vita Hadriani, i4; Ju-
stinus Martyr, Apologia I, 3i, 47; idem, Dialogus cum Tryphone, 52; Appianus,
Syriacus über, 5o; Eusebius, Hist. Eccl. IV, 6—8; idem, Chronicon II, 166—169;
Hieronymus, Adversus Rufinum III, 31; idem, Gomment. in Jesaiam I, 5 u.
II, 9. — Reinach, Textes, IÖ2, 197—201, 32 6, 335, 342f. — Über die auf den
Krieg bezüglichen Inschriften: Darmesteler, Notes epigraphiques (REJ. I, 42—55);
Offord, Roman inscriptions relating to Hadrians jewish war (Proceedings of
the Society of biblical archaeology, vol. XX, pp. 55—69, 189—197, Lond. 1898).
Über die Münzen: Graetz IV, Note 3o; Schürer I, Beilage 4; Soloweitschik, Die
Welt der Bibel, B. 1926 (die Münzen des Bar Kochba und des Hadrian: S. 78
u. 182). — Mischna: Taanith IV, 6—7; Seder olam, 3o. — BT.: Gittin, 57—58;
Rosch ha’schana 26; Sanhedrin i4, 74, 97; Aboda sara 17—18. Midrasch rabba:
Bereschith 61—64; Echa II, 5. Bialik, Agada II, 45—5i. Über die sonstigen
talmudischen Nachrichten vgl.: Rapoport, Erech millin s. v. Adrianus; Derenbourg,
Palest., chap. 2 4; Graetz IV, Noten i4, 16, 17; Jawitz VI, Kap. 6—7. — Momm-
sen V, 544ff-,* Munter, Der jüdische Krieg unter Trajan und Hadrian (1821);
Schlaiter, Die Tage Trajans und Hadrians (Beiträge zur Förderung christl. Theo-
logie, 1897); Henan, L’Eglise chretienne, chap. 11 et appendices I (tendenziöse
Darstellung); Schürer I, 670—701; Juster II, 190—194.
S§ 10—11. (Der neue Glaube und die Evangelien)
Die Evangelien, Apostelgeschichte, Apostelbriefe, Offenbarung des Johannes. —
Justinus, Dialogus, SS 17, 38, 47, 48; Origenes, Adversus Celsum I, 2; Eusebius,
Hist. Eccl. III, if. — Anspielungen im Talmud: Aboda sara 16, 17, 27, 28:;
Berachoth 28—29; Sabbat 116; Tosephta Chullin II, 6. Vgl.: Derenbourg, Pa-
lestine, chap. 26; Weiß II, Kap. 1; Graetz IV, Kap. 4 u. Note 11; Jawitz VI,
89—98; Elbogen, Gottesdienst SS 8—36; Herford, Christianity in Talmud and
Midrasch (Lond. 1903); Strack u. Billerbeck, Kommentar zum N. Testament aus
Talmud und Midrasch, B. I—II (1922—1924). — Pf leiderer, Das Urchristentum,
B. II—IV (1887!.); idem, Die Entstehung des Christentums, 1905; Ed. Meyer,
Ursprung d. Christentums, B. I: Die Evangelien (1921); Harnack, Mission
und Ausbreitung des Christentums, B. I, 55 ff. (1906); Renan, Les Evangiles
(1877); L’Eglise chretienne (1879); Duchesne, Histoire ancienne de l’Eglise, vol.
I, chap. 8—10 (Paris 1907). Hoenicke, Das Judenchristentum im I. u. II. Jahr-
hundert (B. 1908); Klein, Der älteste christliche Katechismus und die jüdische
Propaganda-Literatur (B. 1909). Marmorstein, L’Epitre de Barnabe et la po-
lemique juive (REJ. 1910, t. LX, p. 213); Köhler, New Testament (Jew. Enc.
IX, 2 46); Revelation of John (ibid. X, 390); Gilyonim (ibid. V, 668); Didache
and Didascalia (ibid. IV, 585—59 4).
S 12. (Die letzten Apokalypsen)
Gunkel, Das IV. Buch Esra und die Apokalypsen des Baruch, in Kautzsch’s
Apokryphen u. Pseudepigraphen d. A. T., B. II, 331—457 (vgl. ibid. B. I,
2i3—225); Violet, Die Apokalypsen d. Esra und Baruch (Lpz. 1924); Fuchs,
Das Leben Adam und Evas (Kautzsch, ibid. II, 5o6—528); Bloß, Die Sibyllinen
IV—V (ibid. II, 201—217). — Schürer III, 3o5—338, 396—399, 460—467, 579
—592; Volz, Jüdische Eschatologie von Daniel bis Akiba (1903); Klausner,
Messianische Vorstellungen im Zeitalter der Tannaiten (1903); idem, Sefer Ba-
ruch („Ha’schiloach“, VIII, 2 36—2 03); Ginzberg, Baruch-Apokalypsis (Jew. Enc.
II, 549); Bacher AT. passim.
576
Bibliographie
S i3. (Der biblische Kanon und die Apokryphen)
Außer den im Text angeführten Belegen siehe noch die einschlägigen Talmud-
stellen bei: Weiß, Dor II, Kap. io; Schürer III, 188—192, 420—423, 435,
441; Graetz IV, Note i3; Strack, Einleitung in das A. T. einschließlich Apo-
kryphen und Pseudepigraphen (1906). — Vgl. noch die Artikel: Bible Canon u.
Bible Translations in Jew. Enc. und Kautzsch, Apokryphen etc. B. I, Einleitung.
§ i4- (Die Historiographie des Josephus Flavius)
Über die verschiedenen Ausgaben des Josephus s. B. II dieser Geschichte, S.
565. — Literatur: Schürer I, 74—106; Niese, Der jüdische Historiker Josephus
(Historische Zeitschrift, 1896, B. LXXVI); Bloch, Die Quellen des Flavius Jo-
sephus (1879); Destinon, Die Quellen des Josephus in den Jüdischen Altertümern,
Buch XII—XVII (1882); Büchler, Les sources de Josephe (REJ. 1896—1897);
Laquer, Der jüdische Historiker Flavius Josephus (1920); Weber, Josephus und
Vespasian (1921); Juster I, 7—13 (mit ausführlicher Bibliographie).
S i5. (Die Juden in der römischen Literatur)
Reinach, Textes, pp. 137—147 (Plutarch), 290—323 (Juvenal, Tacitus u. a.). —
Berliner, Gesch. d. Juden in Rom I, Kap. 4; Hild, Les juifs devant l’opinion
romaine (REJ. XI, 18 u. 161); Vogelstein u. Rieger, Gesch. d. Juden in Rom
I, 100—108 (1895); Radin, Jews among greeks and romans, 317—327 (Phila-
delphia 1915).
S 16. (Die Lage unter den Antoninen)
Digesta XLVIII, 8, 11 u. L, 2, 3 (Edikt des Antoninus Pius über die Be-
schneidung und des Septimius Severus über die Dekurionen) im Corpus juris
civilis, ed. Mommsen-Krüger (B. 1908). Justinus, Apologia I, 47, 53; idem,
Dialogus XVI. Capitolinus, Antoninus Pius V, 4 (• • • atque judaeos rebellantes
contudit per praesides et legatos — eine Anspielung auf die „Rebellion" unter
Antoninus Pius); Ammianus Marcellinus XXII, 3 (die Äußerung des Marc Aurel);
Spartianus, Septimius Severus IX, 5 u. XIV, 6 (über die Züchtigung der Ju-
däer; vgl. im Bilderatlas von Soloweitschik, Abb. 293, die aus diesem Anlaß ge-
schlagene römische Münze, andererseits aber die bei S. Klein, Jüdisch-palästi-
nisches Corpus inscriptionum, Wien 1920, S. 81 wiedergegebene synagogale In-
schrift zu Ehren des Severus). Reinach, Textes 343—346, 353. — BT.: Rosch
ha’schana, 19; Sabbat, i3. PT.: Taanith III—IV. Midrasch: Echa rabbathi V,
10. Zu den sonstigen talmudischen Nachrichten vgl.: Graetz IV, 171, 190, 207!.
u. Noten 20, 23. — Mommsen, Röm. Gesch. V, 4o6, 546, 549; Juster I, 226,
265—268; II, 194L, 243.
§S 17—18. (Das Synhedrion in Galiläa)
Midrasch rabba: Schir ha’schirim I, 16 (über das Kollegium zu Uscha; vgl.
die Parallelstelle in BT. Berachoth 63 b, wo das offenbar anachronistische „Jabne"
durch „Uscha" zu ersetzen ist). — Über den Patriarchen Simon b. Gamaliel: BT.
Sota 49; Baba kamma 83; Horajoth i3 u. sonst. — Über Meir und Elischa:
BT. Erubin i3; Chagiga i4—15; Aboda sara 18; Berachoth 10; Sanhedrin 38.
— Über Simon b. Jochai: BT. Sabbat 33; Meila 17; Midrasch rabba: Bereschith,
Kap. 79. — Weiß II, Kap. i4—18; Jawitz VI, Kap. 8 und Exkurse 10 u. 13;
Bacher, AT. B. II; Bialik, Agada II, 51-^66.
37 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
Bibliographie
§ 19. (Jehuda ha’Nassi und die Mischna)
BT.: Sanhedrin 91 u. Aboda sara 10 (über die Beziehungen zu Kaiser An-
toninus; vgl. Midrasch Bereschith rabba, Kap. 76); Baba kamma 82—83; Baba
mezia 85; Baba bathra 8; Ketuboth io3—io4 u. sonst. — Rapoport, Erech millin,
s. v. Antoninus; Krauß, Antoninus und Rabbi, Wien 1910; Ziprinowitz, Antoninus
we’Rabbi („Ha’schiloach“ XXIII, 246). — Über die Mischnasammlung: Weiß II,
Kap. 19—22; Jawitz VI, Kap. 9—10; Graetz IV, Kap. 12; Frankel, Darke
ha’Mischna, Kap. 3—4 (1859); Strack, Einl. Kap. 3—4; idem, Ausgewählte
Mischnatraktate, Text und Übersetzung (es liegen vor die Traktate: Berachoth,
Sabbat, Pessachim, Joma, Sanhedrin, Makkoth, Aboth, Aboda sara, 1909—1915);
Mischnajoth, hebr. Text mit deutsch. Übersetzung herausg. v. Sammter, Hoff-
mann u. Banet, B. I, II, IV (Seraim, Moed u. Nesikin), 1887, *89$, I92°*
§ 20. (Die politische Lage im III. Jahrhundert)
Lampridius, Heliogabalus III, 5; XXVIII, 4; idem, Alexander Severus
XXIX, 2 (Reinach, Textes, 346—3 5o). Origenes, In Josuam Homiliae 17, 1
(PG. XII, 910); Hieronymus, In Danielem Comment. 9, 34 (PL. XXV, 570).
— BT.: Sanhedrin 26 (R. Jannai und die Schemitaverordnung); PT.: Terumoth
VIII; Midrasch: Bereschith rabba, Kap. 63 (über Diokletian). — Graetz IV, 213,
223—224, 279 f., Note 23; Jawitz VII, 102, 175 f.; Juster I, 226, 246; II, 23,
25; Büchler, The political leaders of the jewish community of Sepphoris in the
II. and III. centuries. London 1909 (Jew’s College).
§ 21. (Die Patriarchen in Tiberias)
Origenes, Epistolae ad Africanum, cap. i4 (PG. II, 84 über den Patriarchen).
— PT.: Sanhedrin II, 2; BT.: Sanhedrin 7; Sota 49; Erachin 17. — Midrasch:
Bereschith rabba 78, i5 u. 80, 1. — Weiß III, Kap. 7 u. 10; Jawitz VII, io3 f.
(unzuverlässige Chronologie der Patriarchen); Graetz IV, Noten 22—23; Büchler,
op. cit., Index s. v. Parnas, Patriarch; Marmorstein, L’opposition contre le pa-
triarche Juda II (REJ. 1912, t. LXIV, p. 59—66).
§ 22. (Die Epigonen der Mischna und die Amoräer)
Über R. Chanina b. Ghama: BT. Aboda sara 10; Kidduschin 71; Ketuboth
io3; Berachoth 33; PT. Taanith IV, 2. — Über R. Chija und seine Schule:
BT. Sanhedrin 5; Sukka 20; Ketuboth io3; Chullin i4i- — Über R. Josua b.
Levi: Aboth VI, 2; PT. Terumoth VIII, 4; Sabbat XIV, 4 u. XVI, 1; Midrasch:
Bereschith rabba XCIV, 5. — Über R. Jochanan u. Resch Lakisch: BT. Baba
mezia 64 u. 84; Baba kamma 117. — Weiß, B. II, Kap. 2 3—2 0 u. B. III,
Kap. 5, 6, 8, 9; Graetz IV, Kap. i4 u. 17; Jawitz VI, Kap. 11 u. VII, Kap. 3;
7s. Halevi, Doroth ha’rischonim II, 19—356 (Frankf. 1901). Strack, Einl. 74—77,
i33—139.
§ 2 3. (Die Haggadisten als Apologeten)
Justinus: Apologia, Dialogus cum Tryphone (PG. ed. Migne, t. VI); Gold-
fahn, Justinus Martyr und die Agada (MS. B. XXIII, 1873); Origenes, Contra
Celsum (in dem von der Preuß. Akad. d. W. herausgegebenen Werke: „Die grie-
chischen Kirchenschriftsteller“, Berl. 1899); Keim, Celsus’ „Wahres Wort“ (Zürich
1873); Reinach, Textes, 165—169 (Bruchstücke aus Celsus); Freimann, Die Wort-
führer des Judentums in den ältesten Kontroversen zwischen Juden und Christen
(MS. 1911, Nrn. 9—10 u. 1912, Nrn. 1—4); Tertullianus, Adversus Judaeos (PL.,
t. II); Nöldechen, Tertullians „Gegen die Juden“ (Harnack, TU. B. XII, 1894);
578
Bibliographie
v. Harnack, Mission u. Ausbreitung des Christentums I, 57—60; II, 84—96; idem,
Geschichte der altchristlichen Literatur, B. I—II (i8g3, 1904); Renan, L’Eglise
chr6tienne, 221—227, 259, 265, 271, 365, 379; idem, Marc Aurel, 346, 354,
366.
§ 2 5. (Die oströmische Diaspora)
CIG. IV, Nrn. 9894—9926: Monumenta Judaica; CIL. VIII, Nrn. 1205,
7i5o, 7i55, 7Ö3o, 842 3, 8499; ibidem, Supplementum Nrn. 12457, 12509,
125i 1, i4io2, i4io4, 16701; Oehler, Epigraphische Beiträge zur Gesch. d. Ju-
den (MS. 1909, S. 292f., 443f., 524 f.); Ricci, Palaeography (Jew. Enc. IX,
473—475); Schürer III, i3—23; Mommsen, Röm. Gesch. V, 422, 433. Cypri-
anus, Adversus Judaeos (Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum III, ed.
Academiae, Wien); v. Harnack, Gesch. d. altchristl. Lit. B. II, zweite Hälfte (Cy-
prianus); Monceaux, Colonies juives dans l’Afrique romaine (REJ. 1902, t. XLIV,
p. 1—22); Krauß, Cappadocia (Jew. Enc. III, 558—509); idem, Synagogale Alter-
tümer, §§ 2 3, 2 4, 27, 28 — über das römische Asien und Afrika (1922).
§ 26. (Das neupersische Babylonien)
Justi, Geschichte des alten Persien, 1879; idem, Die Herrschaft der Sassani-
den (in Grotes „Weltgeschichte“, B. I, i884); Nöldeke, Tabari; idem, Aufsätze
zur persischen Geschichte (1887); Mommsen, Röm. Gesch. V, Kap. 9; Graetz IV,
Kap. i5—16; Funk, Die Juden in Babylonien I, 66—78 (Berl. 1902); idem,
Monumenta Talmudica, B. I (Wien 1913); Nachrichten über die politische Lage
finden sich in BT.: Sabbat na, Sanhedrin 74b, Baba kamma 117 a, Jebamoth
63b u. sonst.
§ 27. (Die Exilarchen)
Neubauer, Chronicles II, 71—75: „Seder olam sutta“; ibidem I, 27ff. (Ig-
gereth R. Scherira). Über die Resch-Galuta im BT.: Sanhedrin 5a u. 38a, Git-
tin 67, Jebamoth 63, Baba kamma 59, Baba bathra 55a, Pessachim 4ob, Sab-
bat 54—55. PT. Ketuboth XII, 3 u. Kilaim IX, 3—4- Midrasch: Bereschith
rabba XXXIII, 3. S. noch Monumenta Talmudica Nrn. 4o2—422. Funk, Juden
in Babylonien I, 3i—4i; Bacher, Exilarch (Jew. Enc. V, 288).
§§ 28—29. (Rah und Samuel. Die Amoräer)
Über die sich auf Rab, Samuel und die Amoräer dieser Epoche beziehenden
zahlreichen Halachoth und Haggadoth s. Heilprin, Seder ha’doroth II, die ein-
schlägigen nach den Namen alphabetisch geordneten Artikel (ergänzte Ausgabe in
drei Bänden von Maskileison, Warschau 1877). Bacher, ABA., passim; Weiß
III, Kap. 12—14; Jawitz VII, Kap. 1, 2, 4; Halevi, Doroth ha’rischonim II,
162—2 Ö2 (scholastische Geschichtsschreibung); Graetz IV, Note 39; Hoff mann,
Mar Samuel (Lpz. 1873); Melamed, Rabban schelkol bne ha’gola (Lebensbeschrei-
bung des Rab, Wilno 1913); Judelewitz, Ghaje ha’jehudim bi’sman ha’Talmud:
Nehardea (Wilno 1905).
§ 3i. (Das christliche Rom. Konstantin der Große)
Codex Theodosianus XVI, 8, 1—5; XVI, 9, 1—2. Eusebius, Historia Ecclesiae
VIII—X; idem, Vita Constantini III, 11, 18—20 u. IV, 27. He feie, Concilien-
geschichte, B. I, 32 6—328, 767, 770 (über das Nicäische Konzil); Duchesne,
Histoire de l’Eglise II, chap. 2—6 (P. 1907); Juster I, 168, 2Ö2, 260; II,
71—72, 196.
5 79
37*
Bibliographie
S 32. (Der Aufstand in Galiläa. Hillel II.)
Cod. Th, XVI, 8, 6—7; Epiphanius, Adversus haeresem II, 4—12. Über die
sich auf den Aufstand beziehenden Quellen s. außer den im Text erwähnten noch
bei Graetz IV, 3i4ff- u. Noten 3o—3i; Vogelstein u. Rieger, Gesch. d. Juden
in Rom I, i55; Krauß, Patricius (Jew. Enc. IX, 56i). — Über Hilleis Kalender:
Schürer I, Beilage 3; Ideler, Handbuch der Chronologie I, 573ff.; Mahler,
Handbuch der jüdischen Chronologie, Lpz. 1916.
§ 33. (Julian Apostata)
Außer den im Text erwähnten Quellen s. Reinach, Textes, 206—210, 353—
354; Hertlein, Juliani imperatoris quae supersunt, t. II, Lpz. 1876; Adler, Ju-
lian and the Jews (JQR. 1893, t. V, 591—652); idem in Jew. Enc. VII, 390—
3gi; Duchesne, op. cit. II, chap. 9; Juster I, 38, 159, 247L (mit Bibliographie);
Lucas, Zur Geschichte der Juden im IV. Jahrh., 79—85 (B. 1910).
S 34. (Theodosius II. und die Kirchenväter)
Cod. Th. VII, 8, 2; III, 7, 2; IX, 7, 5; XII, 1, 99; XIII, 5, 18; XVI, 7, 3
u. 8, 8—9. Vgl. Cod. Just. I, 9, 4~~7 (De judaeis et coelicolis). Ambrosius,
Epistolae, Nrn. 4o—4i (PL. t. XVI, p. 1101—1121). J. Chrysostomos, Logoi kata
Joudaion (PG. t. XLVIII, p. 843—942; vgl. ibidem, 8i3—838 und t. LII, 479—
528); idem, Predigten wider die Juden (in Usener-Lietzmanns Religionsgeschicht-
lichen Untersuchungen, Bonn 1911); Lucas, op. cit., 7—11.
S 35. (Die Zeit Theodosius II.)
Cod. Th. XVI, 8, 8-29; XVI, 7, 3 u. 9, 3-5; II, 1, 10 u. 8, 26; VIII, 8.
8; IX, 45, 2; XII, 1, i58, i65; XV, 5, 5; XVI, 5, 44-46. Vgl. d. ergänzt.
Cod. Just. I, 9, 9—19. — Socrates, Historia Ecclesiae VII, 13—17, 36 (über die
Judenhetzen in Antiochia und Alexandrien sowie über den Messias auf Kreta);
Theodoretus, Hist. Eccles. III, 1; Evagrius, Hist. Eccles. I, i3 (Simeon der
Stylite u. a.); Theophanes, Chronographia (PG. t. CVIII, p. 223—227). —
Hieronymus, Opera (PL. tt. XXIII—XXX, namentlich in den Kommentaren: zu
Zephanja 1, 15; zu Jesaja 22, 17; zu Ezechiel 9, 3; zu Daniel 6, 4 sowie in den
Epistolae). — Augustinus, Tractatus adversus judaeos (PL. t. XLII, p. 5i—64).
Lietzmann, Das Leben des heiligen Symeon Stylites, § i3o (Harnack, TU. B.
XXXII, Lpz. 1908). Lucas, op. cit. 11—16, 20—24. Monceaux, Colonies juives
dans l’Afrique romaine (REJ. t. XLIV, p. 2 3—2 5).
S 36. (Die letzten Patriarchen)
Außer den im Texte erwähnten Quellen s. Cod. Th. XVI, 8, 11—13 u. Cod.
Just. I, 9, 8—17. Juster I, 390, 397L, 470; Lucas, o. c. 5i—56, 121. Graetz
IV, Noten 21—22; Krauß, Les divisions administratives de la Palestine (REJ. t.
XLVI, p. 23o-232).
S 37. (Die Diaspora im christlichen Morgenlande)
Hieronymus, Epistolae, Nr. 129; Ghrysostomus, Reden wider die Juden (PG.
1. c.); Synesius, Epistolae, Nr. 4 (Wien 1792; auch in Epistolographi Graeci,
ed. Hercher, Paris 1870; s. noch Juster II, 32 4—32 5: kritische Analyse des
Briefes). — Cod. Theod. XIII, 5, 18 (de naviculariis). Lucas, o. c., passim;
Monceaux, 1. c. REJ. t. XLIV, pp. 3—7, 22—27; Rachmuth, Die Juden in Nord-
afrika bis zur Invasion der Araber (MS. 1906, B. L, S. 38—58).
58o
Bibliographie
§ 38. (Die Zeit des Justinian)
Die byzantinischen Chronographen in der Ausgabe: Corpus scriptorum hi-
storiae byzantinae (Bonn i83i— i84o); Malalas, Chronographia, 389, 396, 445 f.,
455, 486, 488; Procopius, Historia arcana, Kap. 11 u. 28; idem, De aedificiis
V, 7 u. VI, 2; idem, Bellum Vandalorum II, 9; Theophanes, Chronographia, 274,
355, 356, [\ii, 456; Chronicon Paschale I, 619, 646, 699. Bruchstücke aus der
syrischen Chronik des Dionysos über die Zeit des Phokas finden sich in: Chabot
(REJ. t. XXVIII, p. 29off.). — Über die Samaritaner in: Neubauer, Chronique
samaritaine, Paris 1893; Adler-Seligson, Nouvelle chronique samaritaine (REJ.
t. XLIV—XLVI); Montgomery, The Samaritans, Philad. 1907. — Cod. Just. I,
5, 12 u. 5, 21; Novellae Justiniani, Nrn. Sg, 45, i3i, i46. — Diehl, Justinien et
la civilisation byzantine (Paris 1901); Graetz Gesch. V, i4—2 4 u. Noten 5—6;
Krauß, Byz. 1—22, 55—62; Juster I, 283, 356, 369—377, 399—408, 442—45o;
II, 91. io3, 123, 245f.
§ 39. (Aufstand unter Heraklius)
Antonini Placentini Itinerarium, cap. V (Corpus script. latin. t. XXXIX,
p. 162, Wien; vgl. Munk, Palestine, 608—613, Paris 1881). Eutychius Alexan-
drinus (Ibn-Batrik), Annales II, 2i3, 220—223, 2 4i—247» 34o (PL. ed. Migne
— lateinische Übersetzung nach dem arabischen Originaltext); Theophanes, Chrono-
graphia I, 463, 5o4; Bar-Hebraeus (Abul-Faradsch), Chronicon syriacum, 96;
Joseph ha’Kolien, Emek ha’bacha, 17—18 (Krakau 1895); Graetz V, 24—29 und
Note 8; Krauß, Byz. 2 4—35.
S 4o. (Der palästinensische Talmud)
Tosephta, ed. Zuckermandel, 1881; Mechilta, ed. Friedmann, Wien 1870;
Siphra, ed. Weiß, Wien 1862; idem, ed. Friedmann, Breslau 1915; Siphre, ed.
Friedmann, Wien 1864; idem, ed. Horowitz, Lpz. 1917. Talmud Jeruschalmi,
B. I—IV, Krotoschin 1866; Frankel, Mebo ha’Jeruschalmi, Breslau 1870; Weiß
II, Kap. 23—25 u. III, Kap. 19—21; Bacher, APA. B. I—III, passim; D. Hoff-
mann, Zur Einleitung in die halachischen Midraschim, B. 1887; Strack, Einl.
Kap. 5, 8, 16; M. Schwab, Le Talmud de Jerusalem traduit etc., vol. I—XI,
Paris 1878—1890; Wünsche, Der Jerusalemische Talmud in seinen haggadischen
Bestandteilen übertragen, Zürich 1880. Über andere deutsche Übersetzungen der
einzelnen Traktate s. Strack, Einl., Kap. XIV: Literatur.
S 4i- (Der Midrasch und die Patristik)
Midrasch rabba, B. I—V (Warschau 1877); Midrasch Tonchuma, ed. S. Buber
(Wilno i885); Pesikta rabbaihi, ed. Friedmann (Wien 1880); Pesikta de'Rab
Kahana, ed. Buber (1868). Der Midrasch rabba und noch einige andere Midra-
schim sind in der deutschen Übersetzung von August Wünsche in der „Bibliotheca
Rabbinica“, 1881—1910, erschienen. — Zunz, Gottesdienstliche Vorträge der Ju-
den (2. Aufl. 1892); Bacher, APA., passim. Ginzberg, Die Haggada bei den
Kirchenvätern, Berl. 1900 (auch MS. 1898—1899); Rahmer, Hebräische Tradi-
tionen in den Werken des Hieronymus (Breslau 1861 u. MS. i865—1868);
Krauß, The Jews in the works of the Church Fathers (JQR. 1892—1894); idem,
Church Fathers (Jew. Enc. IV, 80—86).
$ 42. (Babylonien unter den Sassaniden)
Neubauer, Chronicles I, 34—35 (Iggereth R. Scherira), i84 (Seder tannaim
we’amoraim); ibid. II, 75—76 (Seder olam sutta). Nöldeke, Tabari, passim; idem,
58l
Bibliographie
Aufsätze zur persischen Geschichte 97—134; Justi, Gesch. d. alten Persien, 180—
197. — BTJoma 10a; Ketuboth 61 a; Taanith 22 a, 2 4 b; Baba bathra 8 a,
10b; Sanhedrin 27a, 38—39; Sebachim 19 a, 116 b u. sonst (über die politische
Lage). Graetz IV, 337—347, 372ff.; V, 1—14 u. Noten 1—3; Is. Halevi, Doroth
ha’rischonim III, 1—63 (1897); Funk, Die Juden in Babylonien II (1908);
idem, Haggadische Elemente in den Homilien des Aphraates; Aphraates Homilien
aus dem Syrischen übers. (Harnack, TU. B. III, Lpz. 1888).
S§ 43—45. (Der Babylonische Talmud)
Heilprin, Seder ha’doroth (die Artikel über die im Texte erwähnten Amoräer);
Iggereth R. Scherira in Neubauers Chronicles I, 28—32; Weiß III, Kap. i5—20;
Bacher, ABA., passim; idem, Tradition und Tradenten in den Schulen Palästinas
und Babyloniens (Lpz. 1914); Funk, Jud. in Bab. B. II; Jawitz VIII, Kap. 1,
3, 5—7; Strack, Einl. Kap. 6, 7, 10, 12, i3. — Die erste vollständige Ausgabe
des Babyl. Talmud im Originaltext ist in Venedig in den Jahren IÖ20—1023 er-
schienen. — Deutsche Übersetzungen: L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud,
B. I—VIII, 1897—1912; Wünsche, Der Bab. Talmud in seinen haggadischen
Bestandteilen, B. I—IV, 1886—1889.
§ 46. (Die wirtschaftlichen Verhältnisse)
Krauß, Talmudische Archäologie B. II, 83—110, 3i6—38i (Lpz. 1911);
idem, The Jews in the works of the Ghurch Fathers (JQR. 1894, vol. I, 226—
228); Funk, Gesch. d. Juden in Babylonien I, i4—22; Weiß, Dor III, 312—315;
Bialik, Agada V, 35—46, 97—101, io4—108; Judelewitz, Nehardea, 4—14 (Wilno
1905); Büchler, The economic conditions of Judaea after the destruction of the
second Temple, Lond. 1912 (Titel zum Teil irreführend: die kurzgefaßte Schrift
behandelt nur die jüdischen Siedlungen in Judäa in der Zeit zwischen den Jahren
73—135); Juster II, chap. 22 (die wirtschaftlichen Verhältnisse in der römisch-
byzantinischen Diaspora).
§ 47* (Das Familienleben)
Krauß, Arch. III, i32—239; Bialik, Agada V, 47—80; Weiß III, 3ioff.;
Herschberg, Ha’ischa be’sman ha’talmud („Heatid“ IV, 1—52; B. 1912); idem,
Minhage erussin (ibid. V, 75—10 4); Fassei, Mosaisch-rabhinisches Givilrecht
(i854); Frankel, Grundlinien des mosaisch-talmudischen Eherechts (1860).
S 48. (Die Schule)
Krauß, Arch. II, 2 0—54; Bialik, Agada III, 37, 38, 82—n5, 124—126;
V, 72—73; Funk, op. cit. I, Kap. 5; Judelewitz, Nehardea, Kap. 12; Bacher,
Aramaic language (Jew. Enc. II, 69—72).
§ 49- (Die Gemeindeverfassung)
Bialik, Agada V, 109—140, 187—220; Krauß, Arch. III, 63—74; idem,
Ha’kerach be’Talmud („Heatid“ III, 1—5o); idem, Synagogale Altertümer, Kap.
II: Gemeinden und Synagogen (Wien-Berlin 1922); Schürer, Gesch. II, 497—
5o5; Funk, o. c. I, Kap. 2; idem, Monumenta talmudica, 72—74; Weinberg, Orga-
nisation der Gemeinden in der talmudischen Zeit (MS. 1897, 588f., 639ff.);
Juster I, 409—485 (Organisation de la communaute).
§ 5o. (Religiöse Lebensführung)
Bialik, Agada III, 02—66, 153—174, 195—2o5, 2 33—2 47; V, n3—n5; VI,
48—75; Krauß, Arch. III, 121—129; idem in JQR. 1894, p. 233—237 (St.
582
Bibliographie
Jerome); Schürer II, 5o6—536; Juster I, 456f.; Gezow, Al naharoth Babel,
(Warschau 1887); Judelewitz, o. c. Kap. 6 u. 9; Joel, Der Aberglaube und die
Stellung des Judentums zu demselben (Breslau i883); Blau, Das alt jüdische Zau-
berwesen (Budap. 1898); Scheftelowitz, Die altpersische Religion und das Ju-
dentum, Gießen 1920 (viele interessante Parallelen).
§ 5i. (Die Zeit des arabischen Kalifats)
Werke über die allgemeine Geschichte dieser Epoche: Aug. Müller, Der Islam
im Morgen- und Abendlande, B. I—II, Berl. 1885; Dozy, Essai sur l'histoire
de l’islamisme, Paris 1879; A. Kremer, Kulturgeschichte des Orients unter den
Chalifen, Wien 1875—1877; Nöldeke-Schwally, Geschichte des Koran, 2. Aufl.
B. I—II (1909, 1919); Goldzieher, Muhammedanische Studien, B. I—II, Halle
1889—1890, Huart, Histoire des Arabes, t. I—II, Paris 1912—1913, Muir, The
Califate, its rise, decline and fall (Lond. 1892). Wüstenfeld, Geschichte der
Fatimiden-Chalifen (Gotting. 1881); Lane-Poole, History of Egypt in the Middle
Ages (2. ed. London 1914).
§ 52. (Die Juden in Arabien)
Glaser, Geschichte und Geographie Arabiens bis zu Mohammed, B. II (Berl.
1890); Müller, Islam I, Kap. 1; Wellhausen, Reste arabischen Heidentums (Skizzen
und Vorarbeiten, B. III, Berl. 1887); idem, Medina vor dem Islam (ibid. IV,
Berl. 1889); Caetani, Studia di storia orientale, t. I: L’Arabia praeislamica (Milan
1911); Nöldeke, Tabari 174 ff.; Dussaud, Arabes en Syrie avant l’Islam (P. 1907);
Huart, Histoire des Arabes I, chap. 1—5; Hirschfeld, Les juifs de Medine (REJ.
tt. VII u. X); Duchesne, Massacres des chr6tiens-himyarites (REJ. t. XX, 220 ff.);
/. Halevy, Examen des sources relatives ä la persecution des chretiens par le
roi juif des Himyarites (REJ. tt. XVIII u. XXI); Graetz V, Kap. 3 u. Note 10;
R. Leszynsky, Die Juden in Arabien zur Zeit Mohammeds, Kap. 1 (Berl. 1910).
§§ 53—54- (Mohammed und die Juden)
Der Koran mit Kommentaren in den deutschen Übersetzungen von Ullmann
und Henning, in den englischen — von Palmer und Rodwell. — Muselmanische
Überlieferungen in den Büchern von Ibn-Hischam, Al-Vakidi, Tabari; Wellhausen,
Mohammed in Medina (Vakidi’s Kitab al-Maghazi in deutscher Übersetzung, Berl.
1882); idem, Skizzen IV u. VI (1889, 1899); Müller, Islam I, Kap. 2—4; Huart,
op. cit. I, chap. 6—7; Sprenger, Das Leben und die Lehre des Mohammed, B. I,
19, i5o— 153; B. III, 91, i55, 568 (Berl. 1865); Geiger, Was hat Mohammed
aus dem Judentum auf genommen (i832, 2. Aufl. 1902); Graetz V (4. Aufl.
1909), Kap. 4; Leszynsky, Die Juden in Arabien, Kap. II ff.; Jewin, Ha’Koran
(„Ha’schiloach“, B. XLIII, Jerusalem 1925).
§ 55. (Die ersten Kalifen)
Müller, Der Islam I, Kap. 5 ff.; Krimski, Geschichte der Sassaniden und die
Eroberung des Iran durch die Araber, Moskau ipoö (russisch); Mjednikoff, Pa-
lästina von der Zeit seiner Eroberung durch die Araber bis zu den Kreuzzügen,
nach arabischen Quellen, Petersburg 1897—1903 (russisch); Wellhausen, Skizzen
VI, 5i ff.; De-Goeje, Memoire sur la conquete de la Syrie (Leyden 1900); Hart-
mann, Palästina unter den Arabern (Lpz. 1915); Le-Strange, Palestine under the
Moslems (Lond. 1890); Graetz V, 108—116 u. Note 11; Neubauer, Chronicles I,
35, 62, 187 (über den Kalifen Ali und über Bostanai nach dem „Sendschreiben
des Scherira“ und anderen Chroniken); Schechter, Saadyana 74—78, Cambridge
583
Bibliographie
1903 (aus der Genisa stammende Schriftstücke über Bostanai); Tykocinski, Bo-
stanai rosch-ha’gola (Sammelwerk „Debir“, Berl. 1923, B. I, 145—179 — eine
ausführliche Erörterung der umstrittenen Frage); Krauß, Erez Israel be’tkufath
ha’geonim („Ha’schiloach“, B. XLII, 1924).
§ 56. (Das Kalifat der Omajaden)
Wellhausen, Das arabische Reich und sein Sturz (Berl. 1902); Huart, op.
cit. I, chap. 11; Hartmann, o. c. 18—28; Goldzieher, Muhammedanische Stu-
dien II, 28—87; Mjednikoff, op. cit. I, 704—719 u. II, 272, 618—626 u. sonst
— Nachrichten arabischer Schriftsteller; Graetz V, IÖ2—160 u. Noten i4—15
(ergänzt durch den der hebräischen Ausgabe von Rabinowitsch, B. III, von Har-
kavy beigefügten Exkurs, der die auf die Sekte des Abu-Isa u. a. Sekten bezüg-
lichen Auszüge aus Karkassani enthält); Pinsker, Likkute kadmonioth 5—2 6 (Wien
1860: Nachrichten über die Sekte aus arabischen Quellen); Krauß, Byz. 38—4o
(über Zonarias).
§§ 07—58. (Das Kalifat von Bagdad)
Mjednikoff, op. cit. I, 779 f.; II, 238, 243, 286, 320, 395, 486, 564, 657,
702, i3o7f., i329f., j362, i364 (Exzerpte aus den arabischen Schriftstellern:
Abu-Jussuf, Al-Jakubi, Tabari, Atir, Maverdi u. a.). — Müller, Der Islam II,
passim; Dozy, Hist, de lTslamisme, chap. 8; Huart, Hist, des Arabes I, chap.
i3— 14; Weil, Geschichte der Chalifen II, 162, 353 f.; Muir, The Galifate etc.,
519 f.; Le-Strange, Bagdad under the Abbasside Galifate (Oxford 1900); Streck,
Babylonien nach den arabischen Geographen (Leyden 1900).
§ 59. (Die Juden im internationalen Handel)
Ibn-Khordadbe, Le livre des routes et des provinces (Journal Asiatique 1865,
t. Y, 512—515; cf. ibid., t. XX, p. i63). Die übrigen arabischen Geographen
(Mukadassi, Fakih, Istahar, Haukal) finden bei Mjednikoff II, passim, Streck,
op. cit. und Le-Strange, Palestine, chap. 3, 8, 9, eingehende Berücksichtigung.
— Harkavy, Teschuboth ha’geonim, Berl. 1887; Winzberg, Geonica: Geniza Studies,
vol. II (New York 1909).
§ 60. (Die Exilarchen und Gaonen)
Iggereth R. Scherira (Neubauer I, 35— 41); Nathan ha’Babli (ibid. II, 83—88):
Bacher, Exilarch (Jew. Enc. V, 292—293); Goldzieher, Renseignements de source
musulmane sur la dignite de Resch-galuta (REJ. i884, t. VIII, 121—I2Ö); Ginz-
berg, Geonica I, 22—62; II, 69, 83, 96, io4; Harkavy, Teschuboth ha’geonim,
80—81, 276* 389; Weiß, Dor IY, Kap. 2; Graetz V, Kap. 5 u. Noten 12—13;
Eppenstein, Beiträge zur Geschichte des gaonäischen Zeitalters, Berl. 1913, S. 7—11
(auch in MS. 1908); Jawitz IX, Exkurs 5 (1922).
§§ 61—62. (Das Karäertum)
Pinsker, Likkute kadmonioth, Wien 1860; Harkavy, Likkute kadmonioth II,
Petersburg 1903 (Bruchstücke aus dem „Sefer ha'mizwoth“ des Anan; deutsche
Ausgabe gleichen Inhalts: Studien und Mitteilungen aus d. Kaiserl. Bibliothek zu
Petersburg, B. VIII); idem, Studien zur Geschichte des Karäertums (in der russ.
Monatsschrift Woss’chod 1896—1898); Graetz V, Note 17 mit Ergänzungen von
Harkavy (nachträglich erweitert in der hebräischen Ausgabe von Rabinowitsch,
t. III, Anhang); Weiß IV, Kap. 5—11; Poznanski, Anan et ses öcrits (REJ.
1902—1903, tt. XLIV—XLV); Goldzieher, Muhammedanische Studien II (Hadith
und Sunna).
584
Bibliographie
S 63. (Das Gaonat. Saadia)
Iggereth Scherira (Neubauer I, 35— 4o); Seder olam sutta, ibid. 78—83 (der
Bericht des Nathan ha’Babli); Isr. Friedländer, The arabic original of the report
of Nathan ha’Babli (JQR. 1905); Schechter, Saadyana (1903); Harkavy, Sichron
la’rischonim (Bruchstücke aus dem „Sefer ha’galuj“ des Gaon Saadia, Peters-
burg 1891); Ginzberg, Geonica I, 1/4—22, 62—66; II, passim; Weiß IV, Kap.
12—16; Eppenstein, Beiträge, 65— 148: Saadia Gaon, sein Leben und seine Schrif-
ten (Berl. i9i3; vgl. noch MS. 1911); Jawitz IX, Kap. 4—6 (Lond. 1922);
Bacher, Gaon in Jew. Enc. V, 567, 572.
S 64- (Das letzte Jahrhundert der babylonischen Hegemonie)
S. 1. Rapoport, Toldoth R. Hai Gaon (Neue Ausg. „Tebuna“, Warschau
1913); Weiß IV, Kap. 17, 18 u. 19; Efrati, R. Hai Gaon („Ha'schiloach“,
1914, t. XXX); Ginzberg, Geonica, passim; Ibn-Daud, Sefer ha’Kabbala (Neu-
bauer I, 66 f.: über das Erlöschen des Gaonats und Exilarchats); Schechter,
Saadyana 43, 58—62, ii7ff.
S 65. (Palästina vor der Fatimidenzeit)
Die Berichte der arabischen Schriftsteller (insbesondere die des Mukadassi)
in den erwähnten Werken über Palästina von Mjednikoff und L&-Strange, passim;
Über den Kampf um die Hegemonie: Schechter, Saadyana, 7—28 u. 127—131;
Bornstein, Machlokoth schel Saadia Gaon u. Ben Meir (Sefer ha’jobel le’kobod
Sokolow% Warschau 1904). — Mann, The Jews in Egypt and in Palestine under
the Fatimide Caliphs, vol. I, 42—70 (Oxford 1920—1922).
§§ 66—67. (Palästina und Ägypten unter den Fatimiden)
Wüstenfeld, Geschichte der Fatimiden (1882); Lane-Poole, History of Egypt
in the Middle Ages 2. ed. 1914; Mjednikoff, Palästina II, passim; Neubauer,
Chronicles I, 67!. (Ibn-Daud), n6f. (Sambari); Schechter, Saadyana, Nr. 38,
p. 80—n4 (Megillath Ebiatar); Bacher, Das Gaonat in Palästina und das Exil-
archat in Ägypten (JQR. vol. XV, 79—96); Mann, op. cit. I, 16, 4o, 70—280;
II, passim (zahlreiche aus der Genisa stammende Urkunden); Eppenstein, Bei-
träge, i49, 173.
§ 68. (Maghreb, Kairuwan)
Ibn-Daud, Sefer ha’kabbala (Neubauer I, 67 ff.): die Sage von den vier Ge-
fangenen; Halevi, Doroth ha’rischonim III, 283—3o3; Poznanski, Ansche Kai-
ruwan (Harkavy-Festschrift, 1908, S. i64— 220); Eppenstein, Beiträge, i49f-,
174 f.; S. /. Rapoport, Toldoth R. Chananel Gaon (ed. „Tebuna“, Warschau
1913); Weiß IV, Kap. 19; Mann, op. cit. I, 17, 27, 2Ö2 f.; II, i63.
§ 69. (Das gaonäische Schrifttum)
Sammlungen gaonäischer Responsen: Schaare Zedek (1792); Schaare Teschuba
(1858); Teschuboth geone misrach u’maarab (ed. Müller, Berl. 1888); Teschu-
both ha’geonim (ed. Harkavy, Berl. 1887); Ginzberg, Geonica II: Geniza Stu-
dies (New York 1909); Müller, Mafteach le’tschuboth ha’geonim (Berl. 1891);
Scheeltoth de’Rabbi Achai (Wilno 1867); Halachoth Gedoloth, ed. Hildesheimer
(Berl. 1888—1892). — Weiß IV, Kap. 20 u. passim; Ginzberg, op. cit. I,
72—200 (eine umfassende Zusammenstellung der gaonäischen Literatur).
S 70. (Rabbaniten und Karäer)
Pinsker, Likkute kadmonioth, Beilagen: die karäische Polemik gegen die Rab-
baniten (insbesondere S. i3—43); Schechter, Saadyana, p. 29—36, 4i f.; Poznanski,
585
Bibliographie
The karaites literary opponents of Saadia Gaon (JQR. vol. XVII—XIX); idem,
The antikaraites writings of Saadia Gaon (ibid. vol. X); Eppenstein, Beiträge,
73—78; Steinschneider, Die arabische Literatur der Juden (1902).
§ 71. (Die Religionsphilosophie)
Saadia Gaon, Emunoth we’deoth (Lpz. 1864); Guttmann, Die Religionsphilo-
sophie des Saadia (Gött. 1882); Schreiner, Der Kalam in der jüdischen Literatur
(Berl. 1895); Neumark, Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters I,
107—144, 4i2—438 (Berl. 1907); Bernfeld, Daath Elohim I, n3—133 (Warschau
1898); Weiß IV, Kap. 15; Schechter, Geniza specimens (JQR. t. XIII, 345—374);
Poznanski, Chiwi-al-Balchi („Ha’goren“ t. VII, 1907); D. Kohane, Schaaloth ati-
koth (ibid. t. V, 1905); Malter, Saadia Gaon, his life and works (Philad. 1921).
§ 72. (Die jüdisch-arabische Literatur)
Steinschneider, op. cit. (1902); idem, Geschichtsliteratur der Juden, Nr. i3
u. 18 (1905); Eldad hadani, ed. Epstein, Preßburg 1891 (neu aufgelegt in
„Sifruth ha’historia“ von A. Kahan, 21—29, Warschau 1922); Iggereth R. Sche-
rira Gaon, ed. Neubauer, Ghronicles I, 3—46 (in einer hebräischen Übersetzung
aus dem Aramäischen mit Erläuterungen herausgegeben von Kahan, 1. c. 73—112);
B. Lewin, Iggereth R. Scherira Gaon (textkritische Ausgabe), Jaffa 1914 u.
verbesserte Aufl., Haifa 1921.
§ 73. (Massora, Grammatik, Piut)
Weiß IV, Kap. 2 3—2 4 (Massora); Bacher, Die Massora (Winter-Wünsches
„Jüdische Literatur“ II, 121—i32); idem, Die Anfänge der hebräischen Gram-
matik (Lpz. 1895); Zunz, Gottesdienstliche Vorträge, passim; idem, Literatur-
geschichte der synagogalen Poesie (i865); Landshut, Amude ha’aboda I, 27—44,
85—88, 102—io4; Eppenstein, Beiträge, 2 4—64 (Synagog. Poesie, Massora);
Elbogen, Der jüdische Gottesdienst, §§ 39—41; Davidsohn, Ozar ha’schira weha’piut,
vol. I, New York 1926; idem, Machsor Jannai, N. York 1919.
Namen- und Sachregister
52 2.
267,
Abaji — 298 f., 373.
Abba Areka — s. Rab.
Abba bar Kahana — i63.
Ab-beth-din — i2if., 473, 482, 5o3.
Abbahu aus Caesarea — i6if., i65.
Abbassiden — 427 ff., 5o4-
Abdallah ben Saba — 4i5.
Abd al Malik - 4i6f.
„Abele Zion“ (Karäer) — 489,
Aberglauben — 369 ff., 517.
Abessinien — 385 f., 529.
Absonderung — i5, ii3, 149,
417, 43if., 434f-, 495, 564.
Abu-Isa (Isaak Obadja) — 421 f.
Abu-Jussuf — 429 ff.
Abu-Kariba — 387. *
Abulfaradsch Furkan — 52 4-
Abu-Saad — s. Tustari.
Achai, Gaon — 473, 5i2.
Acher (Elischa) — 16, 126 f., i34-
Ackerbau — 201, 3i5ff., 444-
Adiabene — 48 f.
Advokaten — 2 35, 32 5.
Aelia Capitolina — i4, 62, 147, 216,
4o8 (Anm.).
Afrika (Nordafrika) — 49 f-, 175,
180 f., 242 f., 255 f., 265, 377,
418, 443, 5o6 f.
Agada — 29. S. Haggada.
Agoranomen — 190, 192, 198,
35o.
Agrippa II. — 21 f., 80, n3.
Ägypten — 49 f-, 238 f., 253 f., 377,
4i2, 439, 493 ff.
Akademien (in Babylonien) — 193 ff.,
200f., 296f., 4i5, 448 f., 471,
5nf., 567, 569.
Akademien (in Palästina) — 28f., I24f.,
i35, i5i, iÖ7f., 161, 278 f., 49of.,
5o3, 567, 569.
323,
Akbariten, Sekte — 465 f.
Akiba, R. - 39, 4iff-, 57 f64 f.,
126, 368, 534ff., 565, 568.
Akko — 489.
Akylas aus Pontus — 10 4-
Alexandrien — 5o f., 179, 238 f.,
2 53 f., 4i2f., öooff.
Alfarabi — 527.
Alfassi, Isaak — 509.
Ali, Kalif - 4oi, 4i3f.
Al-Mamun — s. Mamun.
Al-Mansur — s. Mansur.
Almohaden — 510.
Almokamez, David — 531.
Almoraviden — 509.
Al-Raschid — s. Raschid.
Ambrosius, Bischof — 229!.
Am-ha’arez — i34, 200, 3oo, 345 f.
Ami, R. — 160 f.
Amoräer (babyl.) — 194, 20of., 297ff.
Amoräer (paläst.) — i4i, i54ff-,
278 f.
Amram, Gaon — 518.
Anan ben David — 458, 519, 557.
Ananiten — 46of. S. Karäertum.
Anastasius, Kaiser — 2 58 f.
Antiochia — 177, 23of., 237, 2Öi f.,
253, 258, 266, 295.
Antitalmudisten — 456 ff., 520 f. S.
Karäertum.
Antoninus Pius, Kaiser — 116.
Aphraates, Bischof — 291.
„Apokalypse des Johannes“ — 85.
Apokalypsen — 88 f., 102 f., 424f-
Apokryphen — 101 f., 535 (myst.).
Apologetik — i64f-, 168 ff., 181. S.
Polemik.
„Apostelbriefe“ — 82 f.
Apostel (der Patriarchen) — IÖ2, 161,
217, 224, 245f.
587
Namen- und Sachregister
„Apostelgeschichte“ — 80.
Araber — 272, 377, 383 ff. S. Ara-
bien, Islam.
Arabien — 382 ff., I\i2.
Arabisches Kalifat — s. Kalifat.
Arabische Sprache — s. Sprache.
Aramäische Sprache — s. Sprache.
Arbeit, Arbeiter — 196 f., 3i6 (Lohn-
arbeiter).
Arcadius, Kaiser — 2 34 f-, 2 45 f.
Archiferekites — 2 63, 273.
Archisynagogus — i45, 178, 273, 348,
357, 562.
Archonten — 178, 273, 348.
Ardeschir — i85f., 193.
Arianer — 228, 239.
Arsaciden — i83 f., i85.
Artaban IV. — 185, 193.
Aschi, Rab — 3oi f., 566.
Asketismus — 462, 522.
Assi, R. — 160 f.
Assimilation — i5. S. Absonderung,
Sprache.
Astrologie — 370.
Astronomie — 197, 537
Äthiopien — s. Abessinien.
Auferstehung der Toten — 369 f., 53o.
Aufstände — 48 f., 54, 56 ff., 117,
218 f., 232 (Anm.), 259 f., 266,
268 ff., 293 f.
Augustin, Kirchenvater — 242 f., 2 56.
Autonomie — 11, i5f., 26, i48f.,
187 ff., 210, 235, 244 ff-, 289, 378,
420, 446 ff., 5oi f.
Aziz, al (Kalif) - 49 4.
Babylonien (das parthische und persi-
sche) — 17, 48 f., 123 f., 160,
182 ff., 209, 253, 289 ff.
Babylonien (das arabische, Irak) —
378 f., 4i3 ff., 4i8f., 444 f.
Bagdad (Kalifat) — 428 f., 442 f., 446
(Stadt), 5oi f.
Baraita — i54f-, 565, 568.
Bar Kappara — i42.
Bar Kochba — 57 f., 73, 169, 564-
„Barnabasbrief“ — 87.
Baruch-Apokalypse — 98 f.
Basra — 443. S. Bagdad.
Ben Asai — 46, 97, 126.
Ben Ascher — 546.
Benjamin Nahawendi — 464 f-
Benjamin von Tiberias — 2 68 f.
Ben Meir, Gaon — 490, 5o3, 56o.
Ben Naftali — 546.
Ben Soma — 46, 97, 126.
Berenike, Prinzessin — 21 f., 80.
Beruria — 128 f.
Beschneidung — 63, 116, 119, 214,
247, 387, 46i.
Betar (Beth-Ther) — 60 f.
Beth-din — 26, 28, 120, 35i, 444 f.
S. Synedrion.
Beth-Hillel — 28. S. Hilleliten.
Beth-Schammai — 28. S. Schammaiten.
Bibel, Bibelkanon — 98 ff. S. Massora.
Bibelübersetzungen — io3 f., 175, 24i,
262 f., 546 f.
Bibelwissenschaft — 543 f. S. Massora.
„Bne-Mosche“ -- 5/io.
Boreion (Afrika) — 2 56, 265.
Bostanai, Exilarch — 4*4 L, 4i9 (Bo-
stanaiden).
Byzanz — 208 f., 257 f., 272, 288 f.,
4i8, 423, 439, 569 ff.
Caesarea (am Meere) — 18, 147, 161,
167, 259, 266, 407.
Caracalla, Kaiser — 143 f.
Celsus — 171 f.
Chacham — 121 f.
Chaibar — 384, 4oo, 4o2 f., 4i2.
Chananel, Gaon — 509, 5i4.
Chanina (der Babylonier) — 12 3.
Chanina bar Chama — i55f.
Chanina ben Teradion — 66.
Chanoch ben Moses — 507.
Chanukafest — 363.
Chasan — 357 (Synagogenaufseher),
449 (Kantor), 548 f.
„Chasanuth“ — s. Piut.
Chasaren —- 492.
Chija bar Abba — 160 ff.
Chija, R. — i35, 157, 189, 568.
Chisda, R. — 202.
Chosroi I. Anoscharvan — 295.
Chosroi II. — 296 f.
Christentum — 24, 3i, 68 ff., i64f-,
168 f., 180 f., 207 f., 386, 388.
S. Kirchenkonzile, Kirchenväter.
588
Namen- und Sachregister
Christus — s. Jesus.
Chronographie — S. Historiographie.
Chuschiel, R. (von Kairuwan) — 507 f.
Commodian, Bischof — 181.
Commodus, Kaiser — 119.
Constantius, Kaiser — 215 f.
Cypern — 5o f.
Cyprian, Bischof — 181.
Cyrenaika — 49, 2 56. S. Afrika, Ma-
ghreb.
Cyrene — 49 f-, 2 54.
Cyrill, Bischof — 289 f.
Dajanim — 161, 35o f., 447, 455 f.,
482. S. Richter, Gerichtswesen.
Damaskus — 4i6f., 487, 489. S. Sy-
rien.
Dämonismus — 371 f., 517. S. Aber-
glauben, Mystik.
Daniel al Kumissi — 465.
Daniel ben Asarja, Exilarch — 5o4-
David ben Daniel, Exilarch — 5o5 f.
David ben Hiskia — 5o3.
David ben Sakkai, Exilarch — 475 f-
Decurionat — 119, i58, 214, 262.
„Deuterosis“ (Mischna) — 44 (Anm.),
137, 263 f., 281 (Midrasch), 568.
„Dhimmi“ — 418, 427, 44o, 498.
Dhu-Nowas, Jussuf — 388 f.
Dialektik — s. Kasuistik.
Diaspora — 47 ff-, 86, 177 ff., 210,
241, 261 ff., 445, 502.
„Didache“, „Didascalia“ — 87.
Diocaesarea — s. Zippora.
Diokletian, Kaiser — i45f., 211.
Diospolis — s. Lydda.
Disputationen, religiöse — 4o, 166, 175,
180 f., 243, 291 f., 497-
Dogmatik, religiöse — 216, 363, 517,
52 5 ff.
Domitian, Kaiser — 2 3 f., 3i, 38 f.
Dunasch ben Tamim (Abusahl) — 538.
Ebioniten — 71, 2 43 (Anm.).
Ebjatar, Gaon — 5o5 f., 56i.
Edessa — 228 (Anm.), 229, 2Öi
(Anm.), 290 (Anm.).
„Edom“ (Rom) — 58, 90, i64, 2 44,
282, 4a4f-, 55o.
Ehe, Ehegesetze — 32 6 ff., 5i6.
Elagabal, Kaiser — i44-
Elchanan ben Schemaria — 5o3.
Eldad ha’Dani — 539 f*
Eleasar ben Arach, R. — 29, 32.
Eleasar ben Asarja, R. — 35.
Eleasar ben Pedat, R. — 160.
Elias ha’Kohen, Gaon — 5o3 ff.
Elieser ben Hyrkan — 32 f., 72, 547-
Elieser me’Modain — 60.
Elischa ben Abu ja — s. Acher.
„Emir al Omra“ — 437.
Ephraem Syrus — 2 53 (Anm.), 286 f.
Epigraphik — 22, 5i (Anm.), 55, 61,
180, 562 ff.
Epiphanius, Bischof — 217, 243, 568.
Esra, IV. Buch — 89 f.
Ethik — 29, 44, 162 f., 196, 276 f.,
629 f., 53o.
Europa — 38o, 38i, 443, 492, 509 f.,
5i8, 547 ff., 55i, 555.
Eusebius, Kirchenvater — 167, 213,
2i5, 286.
Evangelien — 7 4 ff-
Exegetik — 546 f. S. Bibel.
Exilarchat (in pers. Zeit) — 17, i35,
i85, 188 ff., 199, 292 f., 296, 302.
Exilarchat (in arabischer Zeit) — 378,
4i4f-, 4i9 f-, 447 ff., 458, 472 f-,
48o, 484 f., 5oi ff. (Ägypten), 5o6,
557.
Fadian, Ibn - 438.
Falaschas54o.
Familienleben — 326 f. S. Ehe.
Fatimiden — 439, 493.
Feiertage — 38, 221 f., 23of., 36i ff.,
548 f.
Filastin — 486 f., 489. S. Judäa.
„Fiscus judaicus“ — 20, 23, 25. S.
Steuer.
Flavius Clemens — 2 4, 39.
Flavius Josephus — s. Josephus.
Fostat — 4i3, 494. S. Kairo.
Frankreich — 4*8, 443, 492.
Frau — 326 f., 332 f., 337. S. Ehe.
Freidenkcrtum — 16, 126 f., 532. S.
Rationalismus.
Galiläa — i4, n6f., 120 f., 2i8f.,
248 (Anm.), 267, 4o6, 4*6 (Ur-
duun), 487, 489, 563 f.
589
Namen- und Sachregister
Gamaiiel II., Patriarch — 3o f72.
Gamaliel III., Patriarch — 147 f.
Gamaiiel V., Patriarch — 249.
Gamaliel VI. (der Letzte) — 247 f-,
24g, 25o (Anm.), 569 ff.
„Gaonäische Sendschreiben'4 (Respon-
sen) — 455, 5nf., 555, 565 f.
Gaonen — 878, 4i5, 420, 447 f-,
452 ff., 472 f., 48of., 484 f., 5o3 f.
(paläst.), 5o8 (Kairuwan), 5nff.
Gelehrsamkeit, Gelehrte — 200, 3oo,
343 f., 348. S. Schulwesen, Talmud.
Gemara — 279 f., 3oi f., 347, 567.
S. Talmud.
Gemeinde, Gemeinderat — 178, 2 44f-,
273, 347 ff. S. Autonomie.
Geographie — 538 f.
Gerichtswesen — 2 45, 247, 260, 264
(Anm.), 35of., 455 f., 477. S. Da-
janim, Richter.
Geschichtsschreibung — s. Historiogra-
phie.
Gesetzeslehrer — 28, 63 f., 124, i33,
i5of., 194 ff-, 200, 3oof. S. Tan-
naiten, Amoräer, Gaonen.
Gtiosis, Gnostiker — 97, 126, 166, 535.
Gottesdienst — 36 f., 72 f., 262, 282,
358 f., 548 ff. S. Liturgie.
Grammatik — 545.
Griechische Sprache — s. Sprache.
Griechische Weisheit (Bildung) — 16,
3i, 121, 126, 149, 161L, 342, 436,
53o.
Grundbesitz — 3i5. S. Ackerbau.
Hadrian, Kaiser — 53 ff., 57, 70, 116.
Haggada — 29, 44, 96, 162 ff., 195 f.,
275 f., 280, 282, 299, 307, 3nf.,
363 f., 391, 5i2, 526. S. Midrasch.
Hai, Gaon — 482 f., 5i4L, 536.
Haifa — 489.
Hakim, al (Kalif) — 495 f.
Halacha — 29, 44, 122, i2Ö, 137 f.,
i53, 280, 307 f. S. Talmud, Mischna,
Gaonen.
„Halachoth gedoloth“ — 5i3.
Handel — 190, 198, 254, 321 f., 442 f.
(Internat. Handel), 487.
Handwerk — 320 f., 444- S. Industrie.
Harun al Raschid — s. Raschid.
Hebräische Sprache — s. Sprache.
Hebron — 61.
Hedschas — 384* S. Arabien.
„Hedschira“ — 498 (Anm.).
Hegemonie, nationale — 17, i23ff.,
251 f., 378 f., 476, 485, 490 f.,
5ooff., 5o6, 555.
Heidentum — 20, 24, 4o, 56, mf.,
i44, 171L, 212, 223, 383 (arab.).
Heliogabal — s. Elagabal.
Heraklius, Kaiser — 2 68f., 407.
Hieronymus, Kirchenvater — 2 4o f.,
251, 281, 287 f.
Hillel II., Patriarch — 220 f., 224.
Hilleliten — 28, 32 f., i35.
Himjariten (arab. Reich) — 385 f.
Hiskia, Exilarch — 48o (Anm.), 484 f.
Historiographie — 107 f., i32, 541 f.,
555 ff., 562 ff.
Hiwwi al Balchi — 532 f.
„Hohelied“ — 35, 99 f.
Hölle (Gehenna) — 368 f., 535.
Honorius, Kaiser — 2 34, 2 45 f.
Hormizd IV. — 295.
Huna, R. — 201.
Huna-Mari, Exilarch — 293 f.
Industrie — 32 4L S. Handel, Wirt-
schaft.
Inschriften — s. Epigraphik.
Irak — 2 83. S. Babylonien (das ara-
bische).
Isawilen, Sekte — 422, 458.
Islam — 377, 4o4 ff•, 417, 526. S. Ara-
ber, Koran, Mohammed.
„Ismael“ (Araber) — 384, 391, 395,
424 f-
Ismael ben Elischa, R. — 45, 66, 534 ff.
Ispahan — 293, 421.
Israeli, Isaak — 5o8, 531.
Italien — 492, 507. S. Rom.
Jabne — 10, 2Öf., 3o ff., ii5, 120,
167, 564.
Jafet ben Ali — Ö2i.
Jaffa — 19, 2 5, 564-
Jahrmärkte (Jaridim) — 322 f.
Jakob ben Nissim, Gaon — 5o8 f., 542,
565, 569.
Jamnia — 19. S. Jabne.
Namen- und Sachregister
Judenchristen — 3i, 4o, 46, 70 f., 75,
86, 166 f. S. Minäer.
Judenhaß — 111 f. (heidnisch.), 212 f.
(christ.), 497 (muselm.). S. Evange-
lien, Kirchenväter, Koran.
Judenhetzen — 229, 287, 289 f. (Alex-
andrien), 395 f.
Judenzeichen — 417, 431 f., 441,
495 f.
Judghaniten, Sekte — 422, 458.
„Jüdische Altertümer“ des Josephus —
108.
„Jüdischer Krieg“ des Josephus — 107.
Julian Apostata, Kaiser — 222 f., 282,
Jannai (Paitan) — 549-
Jannai, R. — 157.
Jasid I., Kalif - 4i6.
Jasid II., Kalif - 4i8, 423.
Jathrib — 384, 387, 391. S. Medina.
Jehuda ben Hai — 120, i3o, i32, 568.
Jehuda ben Jeheskel, R. — 202.
Jehuda ha’Nassi (Rabbi) — 118, i33ff„
189, 192, 565 ff.
Jehuda II. Nessia — i46, i48ff.
Jehuda III. — iÖ2.
Jehudai, Gaon — 5i3.
Jeremia, R. — 278.
Jerusalem (heidnische Stadt) — 11, 14,
18, 45, 53 f., 62, 71, 116, 147,
167, 562, 564-
Jerusalem (christl. Stadt) — 2i6f.,
224f-, 233, 24i f-, 265, 268, 563
Jerusalem (muselman. Stadt) — 377,
38o, 393, 407 ff., 4i6 f., 439,
487 f., 5o3 f., 5o5 f.
Jeschiba (Metibta) — 193, 200. S. Aka-
demien, Gaonen.
Jesdegerd I. — 291 f.
Jesdegerd II. — 292 f.
Jesdegerd III. — 4i3.
Jesus Christus — 71, 76 ff., 169 f.,
173 f., 391.
Jochanan bar Napacha — i5i, 157 f.
Jochanan ben Sakkai — 2Öf.
Johannes Chrysostomus, Kirchenvater —
23of., 246, 2Ö2, 281.
Jom-Kippur — 36i, 887 (Aschura),
393, 517 (Kapporoth), 549-
Jona, R. — 278.
Jose ben Abun — 279.
Jose ben Chalafta — i3o, i32.
Jose ben Jose — 549-
Jose ben Kisma — 66.
Joseph al Bassir — 52 4-
aus Tiberias — 217.
Julian ben Sabara — 261.
Justin I., Kaiser — 389.
Justin Martyr — 168 f.
Justinian, Kaiser — 260 f.
Justus (Samaritaner) — 259.
Justus von Tiberias — 109
Juvenal — ii2f.
Kainuka, Benu (Stamm) — 384, 390,
398 f.
Kairo (Fostat) — 494, 5oo f., 557.
Kairuwan — 4i8, 498, 5o6 f.
„Kalam“ — 02 6 f.
Kalender — 27 f., 33 f., 197, 199,
220 f., 490 f., 5o5 f., 519.
Kalifat — 377 f., 4o6 f., 436 f., 479 f
482, 486f., 489, 493f. (Fatimiden).
Kalir, Eleasar — 549 f-
Kalla (akad. Versammlungen) — 194,
3o2, 34of., 453 f.
Kantor — 357 f., 548 f.
Kappadocien — 178, 186, 199.
Karkassani, Jakub — 421, 466 f., 469,
557.
Karthago — 180, 26b.
Kasuistik — 4s f., i2Ö, i3i, 195, 202,
298 f., 309 f.
Kavad (Kabad) — 294 f.
Ketuba — I2Ö, 33i, 334. S. Ehe, Frau.
„Kezaza“ — 328.
„Kiblah“ — 393, 397, 4o8, 4go.
Killis, Jakub -
Kinder — 3
Schulwesen.
Kirchenkonzile
Joseph
Joseph ben Chi ja, R. — 297.
Josephus Flavius — io5ff., 555.
Juda ben Baba — 66 f.
Judäa — 11 f., 18 f., 52, 56 f., n5,
i46, 2 48 (Anm.), 4o6, 4i6 (Filastin),
481, 489. S. Jerusalem.
Judaismus — 63, 162 f., 3o8 f., 3i3.
387 f., 525 ff. S. Bibel, Talmud, Mi-
drasch, Religionsphilosophie.
Familienleben,
mmm
Namen- und Sachnegister
Kirchenväter — 229 ff., 285 f., 558.
Kleinasien — 86, 178. S. Kappadocien.
Kodex des Justinian — 264, 312.
Kodex des Theodosius — 257, 264
(Anm.), 312, 569 ff.
Kodifikation des Talmud — 5i2 f.
Kohanim (Priester) — 12, 27, i35.
„Kohelet“ — 35, 100.
Kohen-Zedek, Gaon — 474 f-
Kommunisten (Zendiken) — 294 f.
Konstantin, Kaiser — 207, 211 f., 290
(Anm.).
Konstantinopel — 213, 2 58, 549 (Anm.).
Konstantius — s. Constantius.
Koran — 391 f., 4n, 433. S. Islam,
Mohammed.
„Kos-akorin" — 329.
Kreta — 2 4o.
Kreuzzüge — 38o, 445, 5o4 ff -
Ktesiphon — 48, 185, 290, 4i3.
Kufa — 4i3, 4i5f., 419.
Kuraisa, Benu (Stamm) — 384, 390,
4oo f.
Landpacht — 3i9f.
Lehrer — 161, 338, 343.
Levi bar Chama — i63.
Literatur — s. Mischna, Talmud, Mi-
drasch, Apokryphen, Apokalypsen,
Historiographie, Religionsphilosophie,
Liturgie.
Liturgie — 195, 358 f., 5i8, 548 ff.
S. Gottesdienst.
Lydda — 19, 32, i56, i64, 167, 219.
Machusa (Machosa) —■ 184, 201, 227,
2 53, 290, 293 f., 295, 297 ff.
Maghreb — 5o6 f.
Magier (persische) — i85f., 199,
292 f.
Mamun, al (Kalif) — 432 f., 473 f.
Manichäismus — 292.
Mansur, al (Kalif) — 428.
Marc Aurel, Kaiser — 118, i33.
Mar-Huna, Exilarch — 189.
Mar-Isaak, Gaon — 4*5.
Markttage — 32 2.
Mar-Sutra, Exilarch — 298 f.
Martyrologie — 64 f.
Mar-Ukba, Exilarch — 199.
Masaka (Caesarea) — s. Kappadocien.
Massora — 543 f.
Mathematik — 537 f.
Mawerdi, al — 439 f.
Mazdaismus — s. Parsismus.
Mazdak — 294.
Meborach, Nagid — 5o2, 5o5.
„Mechilta" — 275 f.
Medina (Jathrib) — 390, 392 f., 398 f.
Medizin — 197, 2 5o (Anm.), 531, 538.
Meir, R. - 120 ff., 124 ff., 565, 568.
Mekka — 385, 397, 4i6, 488.
Menasche al Kazaza — 494*
Meschwi (Sekt.) — 466.
Messias, Messianismus — 24, 57, 70f.,
72, 81, 92, 97, i56, 199, 226, 240,
2 63 (Messianologie), 387, 421 ff.,
492, 498, 53o, 54i.
Midrasch-Hag gada — 280 ff., 547, 55o.
Midrasch-Halacha — 275 f.
„Midrasch rabba“, „Midrasch Tanchu-
ma" — 283 f., 547.
Militärdienst — i44, 2 35, 244-
Minder — 4o, 72 ff., i64f., 243
(Anm.).
Mischehen — 215, 229. S. Assimila-
tion, Absonderung.
Mischna — i3, i5, 28, 44, 12 5,
i37 ff., i53 f., i94 f., 565 ff.
Mohammed — 390 ff., 433, 497-
Moizz, al (Kalif) — 493 f.
Monogamie — 33o. S. Familienleben.
„Moschee des Omar“ (Aksa, Sachra) —
409, 416, 4a5.
Muawija, Kalif — 4i5f.
Muktadir, al (Kalif) — 438.
„Mukza“ — i36, 309.
Mündliche Lehre — i3, 42 f., i36f.,
i54, 459, 565 ff. S. Mischna, Tal-
mud, Massora.
Munizipaldienst — s. Decurionat.
Münzen — 22, 59.
Muschkaniten, Sekte — 422.
Muselmanen (Muslimen) — 393f., 395.
S. Islam, Kalifat, Koran, Mohammed.
Mustansir, al (Kalif) — 499-
Mutadid, al (Kalif) — 438.
Mutawakil, al (Kalif) — 433 f.
Mutaziliten — Ö2Öf., 53i.
Mystik — 46, 88 f., 97, i3i, 424f-,
534 ff.
592
Namen- und Sachregister
Nachman bar Isaak — 3oo.
Nachman bar Jakob — 200.
Nadhiriten (Stamm) — 384, 3go, 899.
Nagid (in Ägypten) — 5oi ff.
Nahar-Pakod — 12 3.
Nassi — s. Patriarch.
Nathan der Babylonier — 121 f., 189.
Nathan ha’Babli — 448, 453, 543.
Nationalismus — i5, 20 (Anm.), i3i,
3nf. S. Autonomie, Nomokratie,
Absonderung.
Natronai I., Gaon — 42 3 (Anm.).
Natronai II. — 470.
Navicularier (Reeder) — 2 04, 2Ö9, 32 5.
Nazareth — 267.
Neapolis — s. Sichern.
Nedschran — 388.
Nehardea — 49, 123, i84, 187, 197,
201.
Nerva, Kaiser — 24.
Neues Testament — 7 4 f• S. Evangelien,
Apostelgeschichte, Apostelbriefe, Apo-
kalypse des Johannes.
Nicäa (Konzil) — 2i3f.
Nikkud (Punktation) — 544 f.
Nisibis — 49*
Nissim ben Jakob, Gaon — 509, 5i4-
Nomokratie — 12, i5f., 3o8 f., 5i5f.
Odenath — 178, 186.
„Offenbarung des Johannes“ — s. Apo-
kalypse des J.
Omajaden-Kalifat — 4i5ff., 425, 427.
Omar ben Katab, Kalif — 4o6 f., 42 4.
Omar II., Kalif — 417, 42 3.
„Omarpakt“ — 4n, 429, 431, 495.
Onkelos (Targum) — 105.
Origenes, Kirchenvater — i47f-, 167,
174.
Othman, Kalif — 4i3.
Palästina (röm.) — nf., 19 f., 52 f.,
115, i45f.
Palästina (Byzanz) — 208 f., 216 f., 2 48
(Anm.), 249, 2Ö7f., 272 f.
Palästina (arab.) — 272, 377, 4o6 f.,
416, 439, 443 f., 486 f., 5o3 ff.
Palmyra (Tadmor) — 178 f.
Papa bar Ghanan — 3oo.
Paradies (Gan-Eden) — 368 f., 535.
„Parnass“ — 348 f. S. Archonten.
Parsismus — i85f., 292 f., 36i, 372
(Anm.).
Parthien — 182 f.
Passahfest — 2i3, 262, 36i f., 46i.
Patriarchat — i4> 3off., i2iff., i33f.,
i48f., 212, 220 f., 224, 233,
2 45 ff., 5o3, 56g ff.
Patricius (Natrona) — 218, 219 (Anm.).
Paulus, Apostel — 82 f.
Peroz — 293.
Persien (das Sassanidische) — i85f.,
268 f., 289 ff.
Persien (das arabische) — 4*3 f., 421 f.
„Pessikta“ (Midrasch) — 283 f.
Philo von Alexandrien — 465, 527.
Philosophie — s. Religionsphilosophie,
Griechische Weisheit, Renaissance.
Phokas, Kaiser — 266.
„Pidion schebuim“ — 355, 5oi.
„Pilpul“ — 298, 34o. S. Kasuistik.
Pinchas ben Jair — i35.
Piut — 548 ff.
Plinius der Jüngere — 69.
Plutarch — n3.
Polemik (religiöse) — i64f-, 170,
172 f., 232, 5ig.
Polygamie — 33o. S. Ehe, Familien-
leben.
Prediger, Predigt — 281 f., 35g, 547 ff-
S. Midrasch.
Proselytismus — 212, 215, 2 36, 247,
417.
Prostitution — 33o.
„Pseudepigraphen“ — 101 f.
Pumbadita (das pers.) — 184, 202, 295,
297 ff.
Pumbadita (das arabische el-Anbar) —
4i5, 423, 428, 452 f., 471 f-,
48i f., Ö22.
Punktation — s. Nikkud.
Purimfest — 236 f., 363.
Quellenkunde — 555 ff., 562 ff.
Quietus (Kitos) — 5o f.
Rab (Abba-Areka) — 191 ff., 48o.
Raba — 298 f.
Rabba bar Nachmeni — 297.
Rabbaniten — 5igff.
38 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. III
5p3
Namen- und Sachregister
Rabbi — s. Jehuda ha’Nassi.
Rabina bar Huna — 3o3.
Radi, al (Kalif) - 438 f.
Ramleh (Ramla) — 417, 487.
Raschid, Harun-al (Kalif) — 429 f.
Rationalismus — 432 f., 52Öf., 535f.
Recht — 198 (Staatsrecht), 201, 3i4ff-,
481 ff., 5n ff.
Religionsphilosophie — 02 5 ff.
Religiöses Lehen — 356 ff., 5i5ff.
Renaissance (arabische) — 432, 436,
445, 537 ff.
Resch Lakisch — i5i,
Richter — i5of., 35of., 472. S. Da-
janim, Gerichtswesen.
Ritualmordlüge — 237 (Anm.).
Rom (Staat) — 18 f., i3o, i58, 267.
Rom (Stadt) — 22, 39, 86, 89, i43f.,
i56.
Rosch-Gola (Resch-Galuta) — 187 ff.,
5o6. S. Exilarchat.
Rosch-ha schana — 196 (Anm.), 361,
549.
Rosch-Jeschiba (Reseh-Metibta) — 193,
200, 448 f., 452 f. S. Gaonen.
Ruf us — s. Tine jus Rufus.
Saadia Gaon — 38o, 475 ff., 491 f-,
5i3f., 519 f., 527 ff., 535, 546,
550.
Saba, Sabäer — 385.
Sabbat — 63, n3, 180, 214, 2 54 f-,
282, 293, 3o9f., 359 f., 387, 46o,
464, 467 f.
Saboräer — 3o5.
Sadaka, Wesir — 499-
Sahl al Tabari — 537.
Sahl ben Mazliach — Ö21 f.
Sainab — 4o3 f.
Salmon ben Jeruchim — Ö20 f.
Salomo ben Jehuda ha’Kohen — 5o3.
Samaria (Sebaste) — 167.
Samaritaner — 60, 146, 2 58 f.
„Sambation“ — 53g f.
Samuel bar Nachmeni — i63.
Samuel ben Chofni, Gaon — 483,
535 f.
Samuel ibn Adija — 386.
Samuel Jarchinai — 192, 197 f.
Sassaniden — i85f., 289 f., 4i3.
Schabur I. — 186 f., 198.
Schabur II. — 227, 289!.
Schammaiten — 28, 32 f.
Schebuothfest — 362, 461.
„Schechita“ — 451.
Schemaria ben Elchanan — 496 (Anm.),
5o2, 507.
Schemita — i35, i44-
Scherira, Gaon — 419, 481 f., 5i5, 54a
(„Sendschreiben“), 565 ff.
Schiffahrt — s. Navikularier.
Schiiten — big, 457.
Schila, R. — 192.
Schreibkunst (Bücher, Kopisten) —
346 f.
Schulwesen — i5o, 161, 335 ff., 569.
S. Akademien, Kalla, Lehrer.
„Sefer Jezira“ — 535, 538.
Sekten — 3i, 71, 2 43 (Judenchristen),
421 ff. (Isawiten), 460 (Ananiten),
465 ff., 518 ff. (Karäer).
Selbstverwaltung — s. Autonomie, Pa-
triarchat, Exilarchat.
Sepphoris — s. Zippora.
Seren — s. Zonarias.
Septuaginta — io3 f., 263. S. Bibel-
übersetzungen.
Severus, Alexander (Kaiser) — 144 f•
Severus, Julius (Feldherr) — 59 f.
Severus, Septimius (Kaiser) — 119, 563.
„Sibyllinische Bücher“ — 94 f.
Sichern — 19, 2Ö9f.
Simeon der Stylite — 237 f., 572.
Simlai, R. — 162 f.
Simon ben Gamaliel, Patriarch — 117,
120 f.
Simon ben Jochai — 117, 120, i3of.,
42 4-
Simon Kajara — 5i3.
Simon ben Lakisch — s. Resch Lakisch.
„Siphra“ und „Siphre“ — 275 f.
Sklaven — 2i4f-, 236, 247, 317L
Sophisten — 43- S. Kasuistik.
Sophronius, ehr. Patriarch — 4o8 f.
Soziale Fürsorge — 354 f*
Spanien — 418, 4s3, 5o6 f.
Sprache (arab.) — 379, 435, 445,
5i4f., 547.
Sprache (aram.) — io5, 139, 280, 3o5,
336, 347 (syrisch), 5i5, 563 f.
Namen- und Sachregister
Sprache (griech.) — 3i, io3 f., x3g,
149, i58, 162, a63, 563 f.
Sprache (hebr.) — 139, 336, 5i4,
543 f., 549, 563 f.
Sprache (italien.) — 2 63.
Sprache (pers.) — 336.
Sprachwissenschaft — 543 ff.
Staatsdienst — 2 44, 262, 429, 433,
436, 438, 494 f.
Steuern (röm.) — 20, 119, 144, i5if.,
190, 224, 248, 320 f. (röm. und
pers.).
Steuern (arab.) — 4nf-, 429 f., 44o,
451 f., 489.
Sukkothfest — 362.
Sunna — 417, 457-
Sura (pers.) — i84, ig3f., 202, 2g5,
3oi f.
Sura (arab.) — 4i5, 4a8, 452 ff.,
471 f., 48o, 522 f.
Synagoge — 5o, 161, 228 f., 23of.,
235, 237 f., 247 f., 262 f., 282,
35y ff., 417, 43i, 44i, 5oo, 562 f.
Synesius, Bischof — 254.
Synhedrion — 11, 26 f. (Jabne), 3o ff.,
120 ff. (Uscha), i34f., i5of., 248,
273, 455, 5o3f.
Syrien — n5, 237, 377, 4iO, 422 f.,
‘ 443, 489.
T acitus — 111 f.
Taima (Arabien) — 385.
Taja (Araber) — 32 3, 383.
Talmud (geschichtl. Bedeutung) — 3o6 f.
Talmud, Babylonischer — 194, 3o4 ff.,
452 f., 427 f., 5i 1 ff., 565 ff.
Talmud, Palästinensischer — i58, 194,
280 f., 5i5, 565 ff.
Tannaiten — i5, 124, i4i. S.
Mischna.
Tarphon, R. — 43, 46, 169 (Anm.).
Taschfin, Jussuf ibn — 509.
Tertullian — 175 f., 180 f.
Theodosius I. — 228 f.
Theodosius II. — 235 f., 247, 569 ff.
Thoravorlesungen — 262 f., 357
Tiberias — i5, 19, i48f., IÖ7, 161,
218 f., 268 f., 273, 487 (Tabaria),
488 f.
Tiflisiten (Sekte) — 466.
Tinejus Rufus („Tyrannos-Rufus“) — 67.
Titus, Kaiser — 20 f.
Todesengel — 372:
Tosephta — i54f., 273 f., 565.
Trajan, Kaiser — 2 5, 48 f., 53, 69.
Traumdeutung — 371.
Türken (Seldschuken) — 43g, 5o4.
Tustari, Abu Nasr Harun — 498 f.
Tustari, Abu Saad Ibrahim — 498 f.
Ukba, Exilarch — 474*
Unterricht — s. Schulwesen.
Urduun (Galiläa) — 416, 487 f., 489.
Ursicinus — 218.
Uscha — 120, 124 f-, i36.
Uschaja, R. — 157, 568.
Valens, Kaiser — 228.
Valentinian, Kaiser — 228.
Vergeltung im Jenseits — 91, 96, 367 f.,
529.
Verlobung, Vermählung — s. Ehe.
Verus Lucius (Feldherr) — 118.
Vespasian, Kaiser — 20.
Viehzucht — 316.
Vokalisaiion — 543 f.
Volksglauben — 369 ff., 517. S. Aber-
glauben.
Walid I., Kalif - 417.
Willensfreiheit — s. Ethik.
Wirtschaft — 3i4ff. S. Ackerbau,
Handel, Handwerk, Industrie.
Wissenschaften, exakte — 34a, 537 f.
S. Griechische Weisheit, Astronomie,
Medizin.
Wucher — 125, 323 f. (Ribbith), 5i6.
Zahir, al (Kalif) - 498.
Zauberei — 373 f.
„Zehn Stämme“ (verschollene) — 539 f.
Zelotismus — i3f.
Zemach, Gaon — 54o.
Zendiken — s. Kommunisten.
Zeno, Kaiser — 2 58.
Zenobia — 179.
Zippora (Sepphoris) — 19, i36f., i55,
157, 2i8f., 563.
Zonarias (Seren) — 4a3f.
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