Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes im Orient (3, Orientalische Periode / 1926)

§ 22. Die Epigonen der Mischna und die Amoräer 
Ein Genosse und Mithelfer des Jochanan bei der Bearbeitung der 
Mischna und nicht selten auch sein Opponent in der Akademie war 
sein Schwager Simon ben Lakisch, der unter dem abgekürzten Na 
men Resch Lakisch bekannt ist. Das Leben dieses Amoräers war voll 
von Abenteuern. In seiner Jugend irrte er, von Not verfolgt, von Ort 
zu Ort und produzierte sich eine Zeitlang sogar in einem Zirkus als 
Tierbändiger, da er sich durch riesige Kraft und große Gewandtheit 
auszeichnete. Jochanan, ein alter Schulfreund des Resch Lakisch, ret 
tete ihn schließlich aus dem Elend und Landstreicherleben, indem er 
ihm seine schöne Schwester zur Frau gab. Resch Lakisch kehrte nun 
zur Gelehrtentätigkeit zurück und erwarb sich bald als einer der 
scharfsinnigsten Gesetzesausleger hohen Ruhm. Im Besitze einer her 
vorragenden dialektischen Begabung, behielt er sogar in den Disputa 
tionen mit seinem in hohem wissenschaftlichen Rufe stehenden 
Schwager häufig die Oberhand. Fortan hing er an der Wissenschaft 
mit Leib und Seele. „Wenn du der Wissenschaft für einen Tag un 
treu wirst — pflegte er nicht selten zu sagen —, so wird sie dir mit 
doppelter Untreue heimzahlen“. Trotz all dieser hervorragenden 
Eigenschaften gelang es Resch Lakisch indessen nicht, eine selbstän 
dige Stellung in der Öffentlichkeit zu erlangen, und er blieb zeit 
seines Lebens nur ein Gehilfe des Jochanan. Dies mag vielleicht durch 
sein schroffes Wesen zu erklären sein, von dem er sich zu Zusam 
menstößen mit dem Patriarchen (§ 21) und anderen einflußreichen 
Persönlichkeiten hinreißen ließ. Möglich ist es aber auch, daß das 
Mißtrauen des Gelehrtenkollegiums gegen Resch Lakisch durch man 
che seiner freidenkerischen Aussprüche erregt wurde. So sprach er 
sich z. B. einst dahin aus, daß das ganze „Buch Hiob“ nur eine 
„Parabel“, d. i. eine didaktische Dichtung, sei, der gar keine wirk 
liche Begebenheit zugrunde liege; er behauptete ferner, daß alle Be 
griffe von der Engelwelt „aus Babylonien herübergebracht“, d. i. den 
Persern entlehnt seien, und daß die Anerkennung einer neben Gott 
bestehenden himmlischen Hierarchie dem Geiste des ursprünglichen 
Judaismus fremd sei. — Der Tod des Resch Lakisch soll, wie die 
Sage wissen will, die Folge einer heftigen akademischen Disputation 
mit Jochanan gewesen sein. In der Hitze der Debatte soll nämlich 
Jochanan seinen Schwager durch eine schroffe Redewendung so sehr 
verletzt haben, daß dieser aus Kummer bettlägerig wurde und bald 
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