Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes im Orient (3, Orientalische Periode / 1926)

Palästina im III. Jahrhundert 
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dem Schatze des Patriarchen bezogen zu haben. Man nannte ihn zu 
weilen: „Jochanan aus dem Patriarchenhause“ (debe Nessia). 
Jochanan war einer der Hauptschöpfer des sogenannten „palä 
stinensischen Talmud“. Die Mischna bedeutete ihm bereits eine zweite 
Thora, und jeder ihrer Ausdrücke schien ihm eine Analyse, eine Er 
läuterung, eine Ausdeutung zu erheischen. Aus solchen Ausdeutungen 
zog er die weitestgehenden Schlüsse sowohl wissenschaftlichen als 
auch praktischen Charakters. Nicht selten benutzte er zur Erläuterung 
des Mischnatextes die ihn vielfach ergänzenden „äußeren Mischna- 
joth“ oder die „Barajta“, um auf Grund solcher Kollationierung die 
verschiedenartigsten Konstruktionen aufzubauen. Für die Fälle, wo 
der Mischnatext divergierende Ansichten mehrerer Tannaiten enthielt, 
stellte er Regeln auf, auf Grund derer die ausschlaggebende Meinung 
leicht zu erkennen war. Dies gebot unabweisbar die gesetzgeberische 
Praxis. Wissensdurst und der Wunsch, sich für das öffentliche Le 
ben vorzubilden, lockten in die von Jochanan in Tiberias geleitete 
Schule große Scharen von Zuhörern nicht nur aus Palästina, sondern 
auch aus dem fernen Babylonien herbei. 
Den Rechtsentscheidungen des Jochanan verschaffte die Vollzugs 
gewalt des Patriarchen praktische Geltung. Den Bemühungen beider 
gelang es unter anderem, die liturgische Ordnung in den Synagogen 
neu zu regeln. Bei all seiner Wertschätzung der altehrwürdigen Autori 
täten war Jochanan in der Praxis jedem engstirnigen Konservativis 
mus durchaus abhold; gar oft kam er den freiheitlichen Bestrebungen 
des Patriarchen Jehuda II. bereitwilligst entgegen: so gestattete er in 
gewissen Fällen das Erlernen der griechischen Sprache, wie er denn 
überhaupt die griechische Weisheit schätzte, wobei er freilich alle die 
Gefahr der Assimilation außer acht lassenden freidenkerischen 
Anschauungen entschieden verurteilte. Die despotische Herrschaft 
Roms erfüllte ihn mit Entrüstung: er pflegte Rom mit dem Raubtier 
der Daniel-Apokalypse zu vergleichen, dessen eiserne Zähne und kup 
ferne Krallen dazu da seien, alle Völker der Erde zu zerfleischen. Er 
suchte seine Volksgenossen davon abzuhalten, als Mitglieder in die 
städtischen Räte einzutreten, wohin die römischen Behörden gern ver 
mögende Leute beriefen, um auf diese Weise die öffentlichen Kassen 
aufzufüllen. „Beruft man dich in die Boule (Rat) — pflegte er zu 
sagen — so denke an die Jordangrenze“ (d. h. flüchte dich jenseits 
des Jordan).
	        
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