Die Entstehung des Christentums
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der Nation in gar keinem Zusammenhang. Die Religion ist dem Men
schen, nicht aber dem Volke gegeben; sie soll kein Werkzeug der
gesellschaftlichen Zucht sein. Der ganze von der jüdischen Geschichte
zurückgelegte Weg ist ein Weg der Sünde, ein Weg der Verleugnung
des Himmelreiches um des irdischen Reiches willen. Es gilt, einen
neuen Weg zu betreten, es gilt, den Menschen ohne die Vermittlung
des Kollektivs Gott unmittelbar nahe zu bringen. Diese Umwälzung
naht heran, das „Himmelreich“ steht vor der Tür. Bald wird auch
der Messias erscheinen, aber nicht, um die Nation zu erretten, son
dern um die menschliche Seele zu erlösen. Er wird eine neue Offen
barung verkünden und die glaubenerfüllte Persönlichkeit zu neuem
Leben erwecken. — So sprach der „Vorläufer“ des Messias, ihm
folgte bald der „Messias“, der Erlöser, selbst, und dann kamen die
Apostel des neuen Glaubens. Seine ersten Verkünder waren bestrebt,
das Vermächtnis der individuellen Religiosität innerhalb des Juden
tums selbst zu erfüllen; ihre Nachfolger gingen aber weiter: sie
glaubten, die Zeit sei gekommen, die universalistische Potenz des Ju
daismus in Aktualität umzusetzen, sei es auch durch Preisgabe seiner
geschichtlichen nationalen Form, ja sogar auf dem Wege eines dog
matischen Kompromisses mit der Weltanschauung des Heidentums.
In der Entwicklung des ursprünglichen Christentums sind drei
verschiedene Phasen zu unterscheiden: i. die Phase der Vorbereitung
und des persönlichen Asketismus; 2. die Phase der Offenbarung und
des inneren Bruches mit dem nationalen Judaismus; 3. die Phase der
Propaganda und der formellen Lossagung vom nationalen Judentum.
Die erste Phase repräsentierte Johannes der Täufer, die zweite Je
sus Christus, die dritte der Apostel Paulus. Johannes verkündete das
Herannahen des „Himmelreiches“, Jesus brachte vom Himmel eine
Lehre „nicht von dieser Welt“ herab, und Paulus zog daraus die prak
tischen Konsequenzen für diese Welt.
Die ersten zwei Gestalten scheinen vielen eher Ideensymbole als
geschichtliche Persönlichkeiten zu sein. Doch folgt ihre reale Existenz
aus dem ganzen Zusammenhang der Tatsachen und der Stimmungen
dieser Epoche, und ihre Wirksamkeit steht mit dem geschichtlichen
Prozeß durchaus in Einklang. Die Gestalten des Johannes und des
Jesus verlieren sich ebenso in dem Nebel von Legenden wie die
Gestalten vieler Glaubenslehrer, die keine schriftlichen Denkmäler
ihrer Wirksamkeit hinterlassen haben. In klareren Umrissen tritt uns