W eltgeschichte
jüdischen Volkes
Band II
SIMON DUBNOW
Weltgeschichte
des jüdischen Volkes
Von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart
In zehn Bänden
ORIENTALISCHE PERIODE
Band II:
Alte Geschichte
JÜDISCHER VERLAG / BERLIN
-
SIMON DUBNOW
Die alte^SHeschichte
s des jüdischen Volkes
ORIENTALISCHE PERIODE
Vom Beginn der griechischen Herrschaft in Judäa
bis zu dessen Zerstörung durch die Römer
%
Autorisierte Übersetzung aus dem Russischen
von
Dr. A. Steinberg
N
JÜDISCHER VERLAG / BERLIN
Inhaltsverzeichnis
Seite
ERSTES BUCH: DIE GRIECHISCHE HERRSCHAFT.
Ptolemäer und Seleucidien
(332—i4o vor der christlichen Ära)
§ i. Allgemeine Übersicht.................................. n
Erstes Kapitel. Die macedonischen Eroberungen und die Ptolemäer-
herrschaft (332—198)
§ 2. Alexander von Macedonien und die Diadochenkämpfe . 17
§ 3. Die ersten Ptolemäer...............................2 3
§ 4- Die Begründung der Seleucidenherrschaft in Judäa . . 3o
§ 5. Selbstverwaltung und innere Verhältnisse...........35
Zweites Kapitel. Judäa unter der Seleucidenherrschaft (198—168)
§ 6. Das hellenistische Asien und der Hellenismus in Judäa 39
§ 7. Seleucus IV. und Antiochus Epiphanes. Der innere Zwie-
spalt (Jason).........................................44
§ 8. Menelaus und die inneren Wirren....................49
§ 9. Die religiösen Verfolgungen........................53
Drittes Kapitel: Der Hasmonäeraufstand und die Freiheitskriege
(167—UO)
§ 10. Der Verlauf des Aufstandes bis zur Tempelrestauration
.(i65).........................................59
§ 11. Die Kriege des Juda Makkabäus bis zum Friedensschluß
im Jahre i63...................................65
§ 12. Demetrius I., Alcimus und der Tod Judas (160) ... 71
§ i3. Jonathan und der Freischärlerkrieg bis zum Waffenstill-
stand im Jahre 157....................................77
§ i4- Die Wirren in Syrien; das Hohepriestertum Jonathans 81
§ i5. Der Befreiungskrieg bis zur Wahl Simons des Has-
monäers zum Fürsten Judäas (i45—i4o) .... 85
Viertes Kapitel. Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenisti-
schen Diaspora
§ 16. Poesie und Philosophie (Das „Hohelied“ und „Kohelet“) 91
§ 17. Die „Weisheit“ des Ben Sirah...................... . 98
§ 18. Die Literatur in der Zeit der Verfolgungen; das Buch
„Daniel“.......................................io4
§ 19. Die griechischen Schriftsteller über die Juden; die.grie-
chische Thoraübersetzung 109
ZWEITES BUCH: DAS UNABHÄNGIGE JUDÄA UNTER DEN
HASMONÄERN (i4o—63 vor der christlichen Ära)
§ 20. Allgemeine Übersicht............................121
Erstes Kapitel. Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus (1 UO—l OU)
§ 21. Der Fürst-Hohepriester Simon.................... 126
5
§ 22. Jochanan-Hyrkanus und die Erweiterung des Herr-
schaftsbereiches Judäas.................................i33
§ 2 3. Die innere Verfassung. Das Synhedrion..............i3g
§ 24. Die politischen Parteien der Pharisäer ^und Sadduzäer . i43
§ 2 5. Der Bruch des Jochanan-Hyrkanus mit den Pharisäern . 1/1.7
Zweites Kapitel. Die Könige Aristobulus /. und Jannäus und die
Königin Salome (10U—67)
§ 26. Der König Juda-Aristobulus.........................i5i
§ 27. Alexander-Jannäus und seine Kriege.................i54
§ 28. Die Erhebung der Pharisäer. Der Bürgerkrieg . . . 167
§ 29. Die letzten Kriege des Alexander-Jannäus............162
§ 3o. Die Königin Salome-Alexandra und die Herrschaft der
Pharisäer..........................................i65
Drittes Kapitel. Der Bruderkampf der Hasmonäer und die Einmi-
schung Roms (67—63)
§ 3i. Aristobulus und der Bruderkampf....................170
§ 32. Die Einmischung Roms. Pompejus in Syrien und Judäa 175
§ 33. Die Einnahme Jerusalems durch Pompejus (63) . . 180
Viertes Kapitel. Das innere Leben Judäas und die Diaspora
§ 34. Judäa und die Diaspora.............................i84
§ 35. Der Kulturkampf zAvischen den Sadduzäern und den
Pharisäern.........................................187
§ 36. Die Sekte der Essäer...............................200
§ 37. Die Literatur in Judäa. Die ältesten Apokryphen . . . 2o5
§ 38. Das jüdische Zentrum in Ägypten....................212
§ 3g. Die jüdisch-hellenistische Literatur...............216
DRITTES BUCH: DAS RÖMISCHE PROTEKTORAT. DIE
LETZTEN HASMONÄER UND DIE DYNASTIE DES HERODES
(63 vor der christlichen Ära bis 6 der christlichen Ära)
§ 4o. Allgemeine Übersicht...............................229
Erstes Kapitel. Die Regentschaft Hyrkans II. und der Antipatriden
(63—40)
§ 4i. Aufstandsversuche; Gabinius und Crassus...........2 34
§ 42. Judäa unter Julius Caesar.........................237
§ 43. Die Erhöhung des Herodes........................2 4o
§ 44. Cassius und Antonius. Die Antipatriden als Tetrarchen 2 44
Zweites Kapitel. König Antigonus (U0—37 vor der christlichen Ära)
§ 45. Die Parther und die Thronbesteigung des Antigonus . . 2 48
§ 46. Der Widerstreit der zwei Könige und der Untergang des
Antigonus .............................................. 254
Drittes Kapitel. Der König Herodes I. (37—4 vor der christlichen
Ära)
§ 47. Die Beseitigung der Hasmonäer......................260
§ 48. Herodes, Antonius und Kleopatra....................264
§ 4g. Herodes und Octavianus Augustus....................267
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
§ 5o. Die Hinrichtung der Mariamme und der letzten Has-
monäer..............................................270
§ 5i. Neugründungen und Bauten...............................274
§52. Äußere und innere Politik...............................280
§ 53. Der Familienzwist und die Hinrichtung der Söhne der
Mariamme............................................284
§ 54. Die Verschwörung des Antipater, der Beginn des Auf-
ruhrs und der Tod des Herodes................................290
Viertes Kapitel Die Nachfolger Herodes I. und die Zeit der Wirren
(U vor der christlichen Ära bis 6 der christlichen Ära)
§55. Archelaus und der Aufruhr in Jerusalem.................297
§ 56. Der Aufstand und die Anarchie in Judäa..............300
§ 57. Die Erben des Herodes in Rom...........................3o3
§ 58. Die Regierung des Archelaus und seine Verbannung . . 3o6
Fünftes Kapitel Das geistige Leben in Judäa
§ 59. Das Parteiwesen; das gelehrte Pharisäertum .... 309
§ 60. Die Reform der mündlichen Lehre (Hillel) . . . . 3i3
§ 61. Die Apokryphen und Apokalypsen......................321
Sechstes Kapitel Die Weltdiaspora
§ 62. Ägypten und Cyrenaica..................................334
§ 63. Die Diaspora in Kleinasien, Syrien und Mesopotamien . 33g
§ 64. Die Anfänge der Diaspora in Europa: Griechenland und
Rom.................................................345
§ 65. Das literarische Schaffen in der Diaspora..............35o
VIERTES BUCH: DIE RÖMISCHE HERRSCHAFT UND DER
UNTERGANG DES JUDÄISCHEN STAATES
(6—70 der christlichen Ära)
§ 66. Allgemeine Übersicht...................................365
Erstes Kapitel Die römischen Procuratoren und die herodianischen
Tetrarchen (6—39)
§ 67. Die Verwaltung der Procuratoren und die Selbstverwaltung 371
§ 68. Der römische „Census“ und die ersten Procuratoren . . 375
§ 69. Die Volksunruhen unter Pilatus.........................378
§ 70. Die Tetrarchien des Philippus und des Herodes-Antipas 381
§ 71. Der Aufstieg des Agrippa...............................385
Zweites Kapitel Die Ünruhen unter Caligula und der König
Agrippa /. (38—UU)
§ 72. Die Judenhetze in Alexandrien......................388
§ 73. Der Befehl des Caligula und die Wirren in Judäa . . 396
§ 74. Die Regierung Agrippas I. (4i—44)..................$99
Drittes Kapitel Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
(UU —66)
§ 75. Die Nachfolger Agrippas I. und die neuen Procuratoren 4o5
§ 76. Die Zusammenstöße unter dem Procurator Cumanus . 4o8
§ 77. Die Procuratoren Felix und Festus................. . 4n
7
I Inhaltsverzeichnis
§78. Agrippa II. und die Hohepriester.....................4i6
§ 79. Albinus und Florus; der Beginn des Aufstandes (66) . /j.19
§ 80. Agrippa II. und der Kämpf der Parteien...............42 3
§ 81. Der Sieg über Cestius Gallus.........................43o
§ 82. Die Nationalitätenkämpfe in Palästina und Ägypten . . 432
Viertes Kapitel. Der nationale Krieg und der Untergang des judäi-
schen Staates (66—73)
§ 83. Die Regierung der nationalen Verteidigung
84. Der
Krieg
436
in Galiläa.................................441
§ 85. Die Zelotenherrschaft in Jerusalem...................... 448
86. Die
87. Die
§93.
Belagerung Jerusalems..........................453
Einäscherung des Tempels.......................458
§ 88. Die Einnahme der Oberstadt und die Zerstörung Je-
rusalems ....................................................462
§ 89. Der Jubel der Sieger................................. 465
§ 90. Der Fall der letzten Festungen........................467
Fünftes Kapitel. Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
§91. Die Neugruppierungen innerhalb der pharisäischen Partei 471
§92, Der Niedergang des Sadduzäertums und die Umwand-
lung des Essäertums..........................................477
Das pseudo-biblische Schrifttum....................481
94. Die nationalen Kämpfe in der Diaspora: Ägypten, Sy-
rien, Rom................................................
95. Die Propaganda des Judaismus und die Proselyten .
96. Die Diaspora imPartherreiche: Babylonien undAdiabene
97. Philo von Alexandrien.................................5o8
Sechstes Kapitel. Die Entstehung des Christentums
Die Krise der national-religiösen Denkungsart .
Johannes der Täufer . . . 527
Josua von Nazareth.................................531
101. Die Lehre „nicht von dieser Welt“..................
102. Die ursprüngliche jüdisch-christliche Gemeinde .
103. Der Apostel Paulus und der Bruch mit dem Judentum
Die Spaltung zwischen Juden- und Heidenchristen .
Anhang, Ergänzungen und Exkurse
Zur Quellenkunde und Methodologie....................565
Sadduzäer und Pharisäer..............................571
Note 3: Die Essäersekte........................
Note 4- Der damascenische „Neue Bund“....................
Note 5: Die Entstehung des Christentums im Lichte der politi-
schen Geschichte Judäas......................................579
Note 6: Zur Geschichte der Juden in Alexandrien .
BIBLIOGRAPHIE. Quellen- und Literaturnachweise
GENEALOGISCHE TABELLEN.......................................597
NAMEN- UND SACHREGISTER......................................5g8
98.
99-
100.
§ 104.
Note 1
Note 2
485
494
5o3
523
536
543
547
552
584
587
Erstes Buch
Die griechische Herrschaft
Ptolemäer und Seleuciden
(332—i4o vor der christlichen Ära)
§ 1. Allgemeine Übersicht
Im Laufe des ersten Jahrtausends seines geschichtlichen Werde-
gangs, zwischen dem XIII. und IV. Jahrhundert vor der christlichen
Ära, lebte das jüdische oder israelitisch-hebräische Volk ausschließlich
unter den Völkern des Orients. Es kam mit allen großen orientalischen
Monarchien in Berührung, die nacheinander über die damalige gesit-
tete Welt herrschten: mit Ägypten, Assyrien, Babylonien, Persien. Bald
unterlag es den kulturellen Einflüssen dieser Reiche, bald leistete es
ihnen Widerstand, bis es schließlich selbst als ausgeprägter national-
kultureller Typus eine feste Form gewonnen hatte. Im zweiten Jahr-
tausend seines geschichtlichen Daseins, vom IV. Jahrhundert ange-
fangen, sieht sich indessen das jüdische Volk bereits in eine andere
internationale Umgebung versetzt. In den Staaten Vorderasiens und
Ägyptens, die von den aus dem Westen gekommenen Eroberern ge-
gründet worden waren, umdrängen es von allen Seiten die Einwande-
rer aus Europa oder seine orientalischen Nachbarn, die sich mehr oder
weniger den Neuankömmlingen angeglichen hatten. Zunächst werden
Judäa und die Diaspora in den Verband der griechischen Staaten ein-
gegliedert, die auf den Trümmern der ehemaligen persischen Mon-
archie errichtet worden waren (die Ptolemäer- und Seleucidenreiche),
um dann in das über alle Teile der alten Welt ausgebreitete Netz des
römischen Imperiums zu geraten. Diese neue Periode, die Periode der
Hegemonie des Okzidents im Orient, setzt mit der Zerstörung der
persischen Monarchie durch Alexander von Macedonien (332 v. d.
ehr. Ära) ein und dauert bis zur Auflösung des römischen Imperiums
(IV. und V. Jahrhundert n. d. ehr. Ära).
Während einer Reihe von Jahrhunderten kamen auf weit von-
einander entfernten Küsten des Mittelmeeres zwei einander durchaus
fremde Kulturen zur Entfaltung: die hebräische und die griechische,
die eine an der Grenze Asiens und Afrikas, die andere an der von
Asien und Europa. Kleinasien und die östliche Küste des ägäischen
Die griechische Herrschaft
Meeres — dies war die Geburtsstätte der griechischen Kultur. Zur
selben Zeit reifte die israelitische Kultur in Kanaan und die ägäische
Kultur in Kleinasien, auf den jonischen Inseln und auf der Insel
Kreta. Die von Kreta gekommenen Philister waren somit eine Ab-
splitterung der ägäischen Welt, ein Splitter, der im XII. Jahrhundert
an das Küstenland Palästinas verschlagen worden war und dem jun-
gen Organismus des Volkes Israel eine empfindliche Wunde beige-
bracht hatte. Indessen ist dieser Volksteil seiner ursprünglichen Kultur
allmählich entfremdet worden und ging im Laufe der Zeit gänzlich
in der eingeborenen Bevölkerung der palästinischen Grenzlande auf,
während das eigentliche griechische Volk noch lange Zeit außerhalb
des Gesichtskreises des hebräischen Volkes blieb. Die Schöpfer des
Buches der Genesis im israelitisch-judäischen Beiche des IX. und VIII.
Jahrhunderts mochten kaum eine Ahnung davon gehabt haben, daß
zur gleichen Zeit in Kleinasien und Griechenland das Genesisbuch des
Homer, des kollektiven Schöpfers der griechischen Bibel, der Ilias
und Odyssee, zur Entstehung gelangte; aber auch der griechische Dich-
ter des VIII. Jahrhunderts Hesiod verfaßte seine „Theogonie“ (die
Göttergeschichte), ohne etwas von der biblischen Kosmogonie zu wis-
sen, die allerdings zu jener Zeit noch der letzten Redaktion erman-
gelte. Die judäischen Propheten des VI. Jahrhunderts redeten von den
„Söhnen Javans“, d. i. von den Griechen der jonischen Inseln1), als
von einem fernen Volke, das mit Phönizien Handel treibt und auf den
Märkten Asiens Sklaven aufkauft (Ez. 27, i3 und 19; vgl. Joel 6, 6
und Sach. 9, i3). Die persische Monarchie, deren Grenzen sich so-
wohl über Judäa als auch über das griechische Kleinasien erstreck-
ten, mußte diese Kulturzentren natürlicherweise einander näher brin-
gen; allein diese Annäherung machte nur langsame Fortschritte. Der
griechische Geschichtsschreiber Herodot, der im V. Jahrhundert eine
Reise durch den Orient machte, kennt die Judäer nur als die das „Ge-
setz der Beschneidung haltenden Syrer“. Und doch war es gerade das
Jahrhundert der kulturellen Konsolidierung sowohl in Judäa als in
Griechenland, das Zeitalter Esras und Nehemias in Jerusalem und das
des Perikies in Athen. Die Hellenen und die Judäer trennte weniger
die geographische als die kulturelle Entfernung voneinander: beide
Völker standen auf der gleichen Höhe der Kultur, aber an ihren polar
entgegengesetzten Enden.
D Auch die Perser jener Zeit nannten alle Griechen „Javana“, Jonier.
O- W C0 K- tr ö
§ 1. Allgemeine Übersicht
Der ganze Gegensatz: Jerusalem und Athen tritt mit besonderer
Deutlichkeit in diesem goldenen Zeitalter der griechischen Geschichte
hervor. In Jerusalem befestigt sich die Theokratie, in Athen dagegen
die weltliche Demokratie; jedoch ist die wohlversorgte Volkswirtschaft
im freien Athen auf Sklavennot und -arbeit begründet, während die
Sklaverei im bescheidenen Haushalt Judäas nur eine unbedeutende
Rolle spielt. Noch greller erscheint der Gegensatz auf dem Gebiete
der Religion und der Sitten. In Judäa — ein strenger Monotheismus,
als Verfassung — die göttliche Thora, die Reglementierung des ge-
samten gesellschaftlichen und privaten Lebens um der Erhaltung der
von Gott auserkorenen Nation in der Mitte der heidnischen Welt wil-
len; in Griechenland — ein ungebundener Polytheismus, eine bunte
Mythologie, die die Gottheit in den Kreis der irdischen Leidenschaf-
ten bannt, lockere Sitten sowohl oben auf dem Olymp wie auch hie-
nieden auf Erden. Dort der über die Natur erhabene Weltschöpfer
Jahve; hier Zeus, Apollo, Dionysos-Bacchus, Demeter, Aphrodite und
eine Unmenge Gottheiten beiderlei Geschlechts, die ganz in der Natur
aufgehen. Dort das Reich des religiösen Gesetzes, der unerbittlichen
sittlichen Pflicht, stetige geistige Vervollkommnung als Sinn und
Gehalt des Lebens, das Wissen als Mittel der Gotteserkenntnis, ^,die
Heiligung des Lebens“ als ein sittliches Dogma, somit Reichtum an
ethischer Kultur und Unzulänglichkeit auf ästhetischem Gebiete; hier
das Leben um des Lebens willen, ein Kultus der Schönheit, bildende
Kunst, Wissenschaft und Philosophie zur Rereicherung des Geistes,
das entscheidende Überwiegen des ästhetischen Prinzips über das
ethische. Dort die schriftkundigen Soferim, hier die redegewandten,
leutseligen Sophisten. Wohl versuchte Sokrates, der große Rürger von
Athen, die rohen Auswüchse des Polytheismus zu mildern und dem
Kultus des „Rechten und Guten“ zum Siege über den Kultus der
Schönheit zu verhelfen; in seiner Lehre, wie auch in der späteren Me-
taphysik des Plato und Aristoteles, ist der ausgesprochene Hang zum
Monotheismus nicht zu verkennen, so daß der griechische Genius sich
auf den geistigen Höhen oft genug mit dem Genius des Judentums
berührt1). Indessen blieben in Griechenland die Lehren des verurteil-
ten Atheners Sokrates, ebenso wie die des Aristoteles, der der Verur-
teilung wegen Gottlosigkeit kaum entgangen war, ein Erbteil einiger
U Noch vor Sokrates erhob seine Stimme gegen die Vielgötterei der Philo-
soph Xenophanes (Eleatische Schule), der der Mythologie des Homer und Hesiod
i3
Die griechische Herrschaft
weniger auserlesener Geister, während die Thora in Judäa seit den
Tagen Esras zum Gemeingut der Yolksmassen geworden war. Zwi-
schen Hellenen und Juden bestand ein unaufhebbarer Gegensatz so-
wohl in der ganzen Geistesverfassung und Weltauffassung als auch
in ihrer Lebensführung, in ihrem Wollen und Werten.
Nun erhebt sich aber eine geschichtliche Welle von ungeheurem
Ausmaß und treibt diese beiden Strömungen, die bis dahin gesondert
ihren eigenen Ufern zueilten, aufeinander zu. Der große griechische
Eroberer Alexander von Macedonien errichtet auf den Trümmern der
persischen Monarchie ein neues Weltimperium, das bald darauf unter
seine Heerführer aufgeteilt und in ausgiebigster Weise mit Griechen
besiedelt wird. Unter den Nachfolgern Alexanders, den Seleuciden
und Ptolemäern, bedecken unzählige griechische Kolonien das ganze
Gebiet Vorderasiens und des nördlichen Afrika. Die griechische Kul-
tur verbreitet sich rasch im ganzen Orient, eignet sich ihrerseits Ele-
mente der orientalischen Lebensführung an und verwandelt sich so
aus der hellenischen in die „hellenistische“* 1) Kultur. Die auf einer
niedrigen Kulturstufe stehenden einheimischen Völkerschaften unter-
lagen dem Hellenisierungsprozeß und vermischten sich mit den Er-
oberern, während die Völker mit einer mehr widerstandsfähigen Kul-
tur zwar von dem orientalischen Hellenismus mehr oder minder be-
einflußt wurden, jedoch kräftig genug waren, um ihrerseits auf ihn
zurückwirken zu können. Diese Art der Wechselwirkung war. es, der
auch die geistig gestählte judäische Nation sich nicht zu entziehen
vermochte.
Die Einwirkung des Hellenismus auf das Judentum machte sich in
Judäa selbst und in der Diaspora außerhalb Judäas, die sich zu jener
Zeit weit ausbreitete und das ganze unter griechischer Herrschaft ste-
hende Gebiet umfaßte, nicht in gleicher Weise geltend. Besonders
die Idee eines einheitlichen, die Welt vernünftig regierenden Wesens entgegen-
setzte; allein auch diese „Irrlehre“ fand in der griechischen Gesellschaft keinen
Anklang.
1) Seit Droysen, dem Verfasser der klassischen „Geschichte des Hellenis-
mus“ (1877), ist es üblich geworden, die „hellenistische“ Kultur von der „helleni-
schen“ zu unterscheiden, indem man diesen Ausdruck zur Kennzeichnung der abend-
ländisch-griechischen Kultur verwendet, während jener zur Kennzeichnung der ge-
mischten orientalisch-hellenischen Kultur dient, die sich nach der Eroberung des
Orients durch Alexander von Macedonien und der Errichtung der „hellenistischen“
Staaten entfaltete.
i4
§ 1. Allgemeine Übersicht
tiefgreifend war der Prozeß der Verschmelzung der Kulturen im
Ägypten der Ptolemäer, wo im III. Jahrhundert eine bedeutende jü-
dische Kolonie mit dem geistigen und industriellen Zentrum in dem
hellenisierten Alexandrien aufblühte. Die Begegnung der beiden Kul-
turen, der griechischen und der jüdischen, vollzog sich hier vorerst
in friedlicher Weise. Die Juden eigneten sich die griechische Sprache
an, welche, die frühere internationale aramäische Sprache allmählich
verdrängend, zu ihrer Umgangs- und Schriftsprache wurde; die Ge-
bildeten fanden an den Werken der griechischen Literatur Gefallen,
und gleichzeitig machte die ins Griechische übertragene Thora den
Hellenen die Schätze des jüdischen Geistes zugänglich. Neben dieser
gegenseitigen geistigen Annäherung der gebildeten Juden und Grie-
chen machte auch die Hellenisierung der breiten Volksmassen auf dem
Gebiete der materiellen Kultur Fortschritte. Die Griechen, die Nach-
folger der Phönizier, und die Juden der Diaspora wurden zu Haupt-
triebkräften des orientalischen Handels, und der internationale Han-
delsverkehr begünstigte wie immer den Kosmopolitismus. In der neu-
entstandenen internationalen Kulturmischung trat besonders deutlich
das hellenistische Element hervor, und so gingen auch die von dem
allgemeinen Strom mit elementarer Kraft fortgerissenen jüdischen
Massen vieler ihrer nationalen Eigenheiten verlustig. Vielen behagte
nur zu sehr das freie, durch religiös-sittliche Vorschriften nicht ge-
fesselte Leben der Griechen, sie fühlten sich von dem Kultus der
Schönheit und des Genusses, als dem Kontrast zum jüdischen sittli-
chen Rigorismus, besonders angezogen, wie denn überhaupt gerade
das verführerisch wirkte, was dem nationalen Geiste des Judentums
direkt entgegengesetzt war. So wurde das Bedrohliche des Zusam-
mentreffens beider Kulturen nur zu offenkundig.
Die Gefahr wurde mit besonderer Schärfe in Judäa erkannt, das
um das Jahr 200 v. d. ehr. Ära, nach hundertjähriger Herrschaft der
ägyptischen Ptolemäer, unter die griechisch-syrische Gewalt der Se-
leuciden, der Gebieter „Asiens“, geraten war. Die Einwirkung des
syrischen Hellenismus in Judäa äußerte sich in der Neigung eines
gewissen Teiles der judäischen Gesellschaft zum äußerlichen Glanze
der griechischen Lebensführung. Es bildet sich in Jerusalem eine
starke Partei der Hellenisten, der Parteigänger der Assimilation. Die Le-
bensführung der Neuerer widerspricht jedoch dem Geiste des Judaismus
und ruft die Empörung der treu zum Volkstum haltenden Chassidäer
iö
Die griechische Herrschaft
hervor. Anzeichen eines bedrohlichen Zwiespaltes machen sich bemerk-
bar. Die Hellenistenpartei gewinnt immer mehr an Macht und geht
so weit, daß sie Hohepriester aus ihrer Mitte (Jason, Menelaus) an die
Spitze des Volkes stellt, die im Bunde mit dem syrischen Despoten
Antiochus Epiphanes sich eine gewaltsame Hellenisierung Judäas zum
Ziele setzen. Der Widerstand des besten Teiles des Volkes ver-
leitet Antiochus zu grausamer Verfolgung der jüdischen Religion. Eine
Zeit religiösen Märtyrertums bricht an . . . Nun gelangt aber die
ganze Macht des nationalen Geistes zum Durchbruch: es kommt zum
Aufstand der Patrioten unter Anführung der heldenhaften Familie der
Hasmonäer (168). Zunächst zielt diese Bewegung auf Befreiung von
der religiösen Bedrückung ab, später aber, als sie immer weiter um
sich greift und immer mehr an Macht gewinnt, versucht sie auch die
politische Befreiung der Nation. Der achtundzwanzig jährige helden-
mütige Kampf der Hasmonäer führt schließlich zur politischen Un-
abhängigkeit Judäas (i4o). Die Nation entledigt sich des fremdlän-
dischen Jochs und der Judaismus geht als Sieger aus dem Kampfe
mit dem allgewaltigen Hellenismus hervor. An die Stelle der Theokratie,
die vier Jahrhunderte lang unter fremder Gewalt bestanden hatte,
tritt ein freier Staat, in dem der Kampf der weltlichen Politik mit den
theokratischen Überlieferungen ausgetragen werden soll.
Dies ist in großen Zügen das Ergebnis der zwei Jahrhunderte lan-
gen Epoche der griechischen Herrschaft. Über drei Weltteile herrschte
die weltbezwingende hellenische Kultur; an vielen Orten gelang es
ihr, Reiche und Völker ihrer Individualität zu berauben. Mitten in den
wogenden Fluten lebte indessen in seiner engbegrenzten Heimat und in
den Ländern der „großen Diaspora“ ein Volk, gegen das die entfesselten
Elemente vergeblich anstürmten. Der Judaismus nahm den Fehdehand-
schuh seines Rivalen auf und schien dem Hellenismus gleichsam sa-
gen zu wollen: „Ich bin unnachgiebig, denn ich bin älter und mäch-
tiger als du; du bezwingst die Welt, ich aber begnüge mich mit der
Herrschaft über eine einzige kleine Nation. Es kommt jedoch eine
Zeit, da die von dir niedergerungene Welt sehnsuchtsvoll und bestürzt
zu mir eilen wird mit der Frage: Was ist Wahrheit?“ . . .
Erstes Kapitel
Die macedonischen Eroberungen und
die Ptolemäerherrschaft
(332—198)
§ 2. Alexander von Macedonien und die Diadochenkämpfe
Nachdem König Philipp von Macedonien das Werk der Vereini-
gung des zersplitterten Griechenland unter Anführung Macedoniens
zu Ende geführt hatte, ging sein großer Sohn an die Verwirklichung
des großzügigen Planes der Errichtung einer einheitlichen Weltmon-
archie in Europa, Asien und Afrika unter griechischer Hegemonie.
In einer Reihe von Kämpfen auf den Schlachtfeldern Kleinasiens
(namentlich bei Issus im Jahre 333) wurde die Macht Persiens ge-
brochen und seiner zweihundertjährigen Vorherrschaft in Asien ein
Ende gesetzt. Der griechische Eroberer unterwarf ein Land nach dem
anderen. Von Syrien rückte Alexander gegen Phönizien und das süd-
liche Küstenland Palästinas vor. Nach einer Belagerung von sieben
Monaten ergab sich ihm die Industriestadt Tyrus und noch schneller,
nach zwei Monaten, die belagerte Küstenstadt Gaza (332). Auf seinem
eiligen Vormarsche gegen Ägypten, die Küste entlang, konnte Alexan-
der im Inneren Palästinas nicht Halt machen. Noch vor der Ein-
nahme von Tyrus betraute er seinen Heerführer Parmenion mit der
Unterwerfung des südlichen Syrien und Palästinas, vom Libanon bis
zum Toten Meer. Der Auftrag wurde leicht zur Ausführung gebracht.
Jerusalem ergab sich dem macedonischen Eroberer ohne Kampf. Der
Übergang von der persischen Herrschaft zur griechischen vollzog sich
hier glatt und nichts schien auf die Folgen dieser geschichtlichen Um-
wälzung hinzudeuten. Jedenfalls ist der Geschichtsschreibung nichts
Näheres darüber bekannt geworden, was sich in Judäa in diesem
Übergangsmoment abgespielt hat. Mehr weiß darüber nur die Volks-
2 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
*7
Die macedonischen Eroberungen und die Ptolemäerherr Schaft
legende zu berichten. Was sie berichtet, ist wohl interessant, doch
kaum glaubwürdig: ein Körnchen Wahrheit verliert sich hier in einer
Fülle von Auswüchsen der Phantasie, teils poetischer, teils politisch-
tendenziöser Art, die lebhaft an die Heldensagen von Alexander von
Macedonien (die sogenannten „Alexandreen“) in den anderen Litera-
turen des Morgen- und Abendlandes erinnern.
Weiteste Verbreitung fand eine jüdische Sage1), derzufolge Alex-
ander während der Belagerung von Tyrus an den judäischen Hohe-
priester Jaddua eine Botschaft geschickt haben soll mit der Auf-
forderung, sich den Macedoniern zu unterwerfen und ihnen Verstär-
kungen zur Verfügung zu stellen. Der Hohepriester weigerte sich je-
doch, der Aufforderung Folge zu leisten, indem er sich darauf berief,
daß er durch seinen Eidesschwur dem persischen König zur Treue
verpflichtet sei. Dies soll Alexander verstimmt haben, und nach der
Einnahme von Tyrus und Gaza zog er eiligst gen Jerusalem, um des-
sen Einwohnerschaft zu züchtigen. Angesichts der nahenden Gefahr
entschloß sich der Hohepriester, sich dem Sieger zu fügen. Um den
Zorn Alexanders zu beschwichtigen, zog Jaddua aus Jerusalem in
prunkvollem Tempelgewande und in Begleitung der geistigen Wür-
denträger und der Jerusalemer Notabein dem König entgegen. Als
Alexander, der auf einen so feierlichen Empfang nicht vorbereitet
war, die judäische Deputation sich nahen sah, entbot er als erster dem
Hohepriester seinen Gruß. Den Feldherren aus dem Gefolge des Kö-
nigs erschien dieses Verhalten befremdend, und einer von ihnen, Par-
menion, wandte sich an Alexander mit der Frage, warum denn der
mächtige Weltbezwinger den judäischen Hierarchen zuerst begrüße,
ohne dessen Ehrenbezeugung abzuwarten. Der König erwiderte: „Nicht
ihn habe ich angebetet, sondern Gott, dessen höchste Priesterwürde
er bekleidet. Diesen Hohepriester habe ich in demselben Gewände
schon im Traume gesehen, als ich zu Dios in Macedonien mich be-
fand. Und da ich schon überlegte, wie ich Asien unterjochen könne,
riet dieser mir, nicht zu zögern, sondern wacker (über den Hellespont)
überzusetzen, und sagte mir auch den Sieg über die Perser voraus.“
Darauf nahm Alexander den Hohepriester bei der Hand, zog in Je-
rusalem ein und brachte Jahve auf dem Tempelaltar ein Opfer dar.
!) Die Sage ist bei Josephus (Ant. XI, 8) und in veränderter Form im Tal-
mud (Traktat Joma, 69; Megillath Taanith, Kap. IX) wie auch im Midrasch (Wajihra
rabba, Kap. XIII am Schluß) erhalten geblieben.
§ 2. Alexander von Macedonien und die Diadochenkämpfe
Am darauffolgenden Tage tat er den Judäern kund, daß sie unbe-
helligt ihren alten Gesetzen und Sitten gemäß leben dürften, nur soll-
ten die bis dahin den Persern entrichteten Abgaben von nun an dem
macedonischen Statthalter gezahlt werden; im Sabbatjahre (Sche-
mita), wenn die Felder brach liegen, sollten sie jedoch von jeglicher
Abgabe befreit bleiben. Die gleichen Vergünstigungen versprach er
auch den in Babylonien und Medien lebenden Juden zuteil werden
zu lassen. Überdies soll Alexander den Judäern vorgeschlagen haben,
junge Leute in sein Heer zur Beteiligung an seinen Feldzügen einzu-
reihen, wozu sich viele auch in der Tat bereit erklärt hätten1).
Aus diesen Volksüberlieferungen ist nur ein Schluß mit Sicher-
heit zu ziehen, daß nämlich das erste Zusammentreffen der Judäer
mit den griechischen Eroberern friedlich verlaufen ist. In seinem Be-
streben, die griechische Zivilisation nach dem Orient zu verpflanzen,
vermied Alexander der Große, zu Gewaltmaßnahmen zu greifen,
suchte vielmehr die neue Ordnung der Dinge mit der eingebürgerten
in Einklang zu bringen. Demgemäß bekundete er allerorten seine Ach-
tung für Religion und Sitten der untergebenen Völker. Nicht anders
verhielt er sich auch den Judäern gegenüber.
Das von den Griechen eroberte Judäa wurde in die syro-palästi-
nische Provinz eingegliedert, die von den Griechen den Namen Coele-
syrien (NiederSyrien) erhielt und sich vom Libanongebirge südwärts
längs des Jordan hinzog. In einem der ehemaligen Sitze der persischen
Satrapen, in der Stadt Samaria, residierte zu jener Zeit der griechische
1) In den obenerwähnten talmudischen Überlieferungen erscheint als der vor
Alexander auf tretende Repräsentant Jerusalems der Hohepriester Simon der Ge-
rechte (Simon ha’zaddik), während der König vor allem darum angegangen wird,
die Bemühungen der Feinde Judäas, der Samaritaner, um die Zerstörung des Jerusa-
lemer Tempels zunichte zu machen; Alexander soll nicht nur der Fürbitte der Je-
rusalemer stattgegeben, sondern ihnen noch überdies erlaubt haben, den Tempel
der Samaritaner auf dem Berge Gerisim zu zerstören. Weiter ist in den Bericht
des Josephus Flavius die Episode von dem Ränkespiel des Samaritanerführers San-
ballat und seines Schwiegersohnes, des Priesters Manasse, eingeflochten. Ungeachtet
dessen, daß diese Episode hier zweifellos einen Anachronismus darstellt, da sie sich
auf das Zeitalter Nehemias bezieht (Band I, § 77), ist das Hervortreten der Sa-
maritaner sowohl in dem Bericht des Josephus als auch in den talmudischen Über-
lieferungen nicht einfach als Zufälligkeit anzusehen. Allem Anscheine nach hängt
es irgendwie mit den unten angeführten Erzählungen des Curtius und des Eusebius
über die Züchtigung der Samaritaner durch Alexander zusammen, sowie mit den
viel späteren, von der poetisch verklärenden Sage in eine frühere Epoche verlegten
Ereignissen aus der Hasmonäerzeit, als Jochanan-Hyrkanus den samaritanischen Tem-
pel auf dem Berge Gerisim tatsächlich der Zerstörung preisgab (unten, § 22).
2*
I9
Die macedonischen Eroberungen und die Ptolemäerherrschaft
Regent dieser Provinz namens Andromachus. Eine in den späteren
Chroniken1) erhalten gebliebene, nicht ganz klare Nachricht besagt,
die Samaritaner hätten sich gegen Andromachus verschworen, ihn ge-
fangen genommen und lebendig verbrannt. Alexander soll sich zu je-
ner Zeit in Ägypten aufgehalten haben. Nach seiner Rückkehr ließ er
die Anstifter der Erhebung exemplarisch bestrafen und siedelte in
Samaria Macedonier an (331). Den Judäern dagegen, die seine Herr-
schaft anerkannten, war er gewogen und soll ihnen sogar manche
der den aufrührerischen Samaritanern gehörenden Grenzgebiete über-
lassen haben.
Von geschichtlicher Tragweite war ferner die Gründung der Stadt
Alexandrien an der ägyptischen Küste des Mittelmeeres durch Alexan-
der. In dieser Stadt, die bald die Hauptstadt Ägyptens und das hel-
lenische Kulturzentrum des Orients werden sollte, ließen sich neben
den Griechen auch Judäer nieder. Die Übersiedlung der Judäer nach
Alexandrien begann indessen erst unter den Nachfolgern Alexanders,
als Judäa Ägypten ein verleibt wurde (unten, § 3).
Nachdem Alexander ganz Westasien und Nordafrika, alle Länder
von den Grenzen Indiens bis Ägypten, erobert hatte, ging er daran,
sein Riesenimperium im Inneren zu organisieren. Jedoch mitten in
dieser Arbeit wurde der große Eroberer zu Babylon in seinem 33. Le-
bensjahre (32 3) vom Tode ereilt. Nun setzten die langwierigen Kriege
der Diadochen, d. i. der macedonischen Heerführer oder „Strategen“
ein, die den Anspruch auf das Erbe Alexanders erhoben und seine
sich über drei Erdteile erstreckende Monarchie unter sich aufteilten.
Als erster befestigte der macedonische Feldherr Ptolemäus Lagi (Sohn
des Lagos) seine Macht im Orient. Von der neuen Hauptstadt
Alexandrien aus regierte er über Ägypten, mit dem er später auch
Judäa und einen Teil Coelesyriens vereinigte. Judäa nahm er dem
Statthalter Coelesyriens, Laomedon, im Jahre 320 weg. Wenn man
der Erzählung eines späteren griechischen Verfassers1 2) Glauben
1) Bei dem römischen Geschichtsschreiber Quintus Curtius, in der von ihm in
sagenhafter Form wiedergegebenen Biographie Alexanders (Historiae Alexandri
Magni IV, 5, 9; 8, 9) und einiges in der „Chronik“ des Geschichtsschreibers der
christlichen Kirche, Eusebius.
2) Agatharchides, ein Geograph des II. Jahrhunderts v. d. ehr. Ära. Auf ihn
beruft sich Josephus in den „Altertümern“ (XIII, 1, 1) und in der Schrift „Gegen
Apion“ (I, 22). Jedoch bleibt diese Episode von Diodor von Sizilien in seiner Be-
schreibung des Krieges vom Jahre 320 unerwähnt (Diodor, XVIII, 43).
§ 2. Alexander von Macedonien und die Diadochenkämpfe
schenken soll, gelang es dem Ptolemäus nur darum, sich Jeru-
salems zu bemächtigen, weil er in die Stadt an einem Sabbattage ein-
drang, als die frommen Einwohner, um die Sabbatruhe nicht zu ent-
weihen, keinen bewaffneten Widerstand leisteten. Indessen läßt sich
die Eroberung des schwachen Judäa viel einfacher dadurch erklären,
daß es der Übermacht des ägyptischen Strategen von vornherein nicht
gewachsen war.
Zur selben Zeit faßte der älteste Feldherr Alexanders, der Ober-
stratege Asiens, Antigonus, den Plan, sich zum Selbstherrscher ganz
Yorderasiens zu machen und die übrigen Prätendenten von dort zu
verdrängen. Dies veranlaßte die anderen Feldherren, gegen ihn eine
Koalition zu bilden, an deren Spitze sich Ptolemäus und der spätere
Herr Babyloniens Seleucus stellten. Die Verbündeten errangen den
Sieg bei der palästinischen Hafenstadt Gaza (312), wodurch es dem
Seleucus möglich wurde, die Obergewalt in der babylonischen Satrapie
an sich zu reißen. So bildete sich im Mittelpunkt des ehemaligen per-
sischen Reiches das Reich der Seleuciden, deren*Ära gewöhnlich als
vom Jahre 3i2 beginnend gilt. Die mit der Tatsache der Befestigung
der griechischen Oberherrschaft in Asien in Zusammenhang stehende
seleucidische Zeitrechnung bürgerte sich später sowohl bei den asiati-
schen Griechen als auch bei den Juden ein und blieb so im Laufe vie-
ler Jahrhunderte vor und nach der christlichen Ära in Gebrauch. Diese
Zeitrechnung, die vornehmlich in schriftlichen Verträgen und offizi-
ellen Urkunden Anwendung fand, wurde bei den Juden die „Zeit-
rechnung der Verträge“ (Minj an schtoroth) genannt.
Die Diadochenkämpfe fanden mit der Schlacht bei Gaza noch
nicht ihren Abschluß. Antigonus und sein Sohn Demetrius Polyorketes
erneuerten ihre Anstrengungen zur Schaffung eines einheitlichen Rei-
ches im Orient. Von neuem bildete sich eine Koalition gegen sie, mit
Ptolemäus und Seleucus an der Spitze, die nach langwierigen Kämp-
fen in der Schlacht bei Ipsus in Kleinasien einen glänzenden Sieg er-
rang (3oi). Antigonus selbst fiel in dieser Schlacht, und so wurde
dem zweiundzwanzig jährigen Kampf um das Erbe des Alexander ein
Ende gesetzt. Der Hauptsieger bei Ipsus war Seleucus, der aus diesem
Anlaß den Beinamen Nikator („Sieger“) erhielt. Seine sich über Ba-
bylonien, Persien und Medien erstreckende Herrschaft dehnte sich
nunmehr auch über ganz Nordmesopotamien oder Syrien und einen
bedeutenden Teil Kleinasiens (Phrygien u. a.), der Geburtsstätte der
21
Die macedonischen Eroberungen und die Ptolemäerherrschaft
orientalisch-griechischen Zivilisation, aus. Im Laufe eines halben Jahr-
hunderts schufen die Seleuciden aus den künstlich zusammenge-
schweißten Teilen Vorderasiens, vom Indus bis zum Libanon, eine
weitausgedehnte Monarchie, die man im Altertum kurzweg „Asien“
nannte. Zur Abrundung ihres Herrschaftsbereiches bedurfte es nur
noch der Angliederung von Coelesyrien, d. i. Palästinas mit Phöni-
zien und Judäa, die noch unter der Gewalt der ägyptischen Ptolemäer
verblieben waren. Um den Besitz dieser Provinzen stand noch ein
langer Kampf zwischen den beiden Dynastien bevor, die nun den
ganzen Orient unter sich aufgeteilt hatten.
Was ging nun in Judäa während dieser dreißig Jahre fortdauern-
den Kämpfe vor, die zum Teil seinen Landbereich oder seine Grenz-
gebiete zum Schauplatze hatten? Welchen Eindruck machte auf das
bisher abgesondert, in kultureller Zurückgezogenheit lebende Volk
dieser Zusammenbruch ganzer Reiche, diese urplötzliche Verschiebung
der Welthegemonie, dieses Eindringen einer neuen Macht, des Helle-
nismus in die Lebensgeschicke des Orients? Wir erfahren darüber
nichts aus den erhalten gebliebenen Urkunden, ganz verworren und
unartikuliert berichtet davon die spätere Volkslegende (in den oben
erwähnten Überlieferungen von Alexander). Nur aus einer alten, an-
derthalb Jahrhunderte später entstandenen jüdischen Apokalypse
dringt ein ferner Nachhall jener weltumwälzenden Ereignisse zu uns.
Die „Vision“ des Daniel (Kap. 8, i—8 und 19—22) ist es, in der
der Übergang der Macht von Persien an Macedonien und die Ver-
zweigung der macedonischen Herrschaft zur symbolischen Darstel-
lung gelangen: „Es erschien mir ein Gesicht — heißt es dort —, da
war ich mit meinem Sehen in der Burg Susa, in der Landschaft Elam,
am Flusse Ulaj ... Da hob ich meine Augen empor und schaute,
und siehe, ein einzelner Widder stand dem Fluß gegenüber und er
hatte zwei Hörner, und die zwei Hörner waren hoch, und das eine war
höher als das andere, und das höhere wuchs zuletzt empor. Ich schaute
den Widder stoßen nach Westen und nach Norden und nach Süden,
und kein einziges Tier hielt ihm stand, und niemand errettete aus
seiner Gewalt, und er tat, was er wollte, und wurde groß. Und ich
gab acht, und sieh, ein Ziegenbock kam vom Westen daher über die
ganze Erde, ohne die Erde zu berühren, und der Bock hatte ein an-
sehnliches Horn auf seiner Stirn. Und er kam bis zu dem Widder mit
den zwei Hörnern, den ich dem Fluß gegenüber stehen sah, und rannte
22
§ 3. Die ersten Ptolemäer
gegen ihn an in der Wut seiner Kraft. Und ich sah ihn nahe an den
Widder herankommen, da ergrimmte er gegen ihn, und er stieß den
Widder und zerbrach die beiden Hörner, und der Widder hatte nicht
Kraft, ihm standzuhalten; und er warf ihn zu Boden und zertrat ihn,
und niemand errettete den Widder aus seiner Gewalt. Und der Zie-
genbock wurde außerordentlich groß, wie er aber am mächtigsten
war, brach das große Horn ab, und vier andere kamen an seiner
Stelle nach den vier Winden des Himmels ... Da verkündete mir
(Gabriel): Der Widder, den du sahst mit den zwei Hörnern, bedeutet
die Könige von Medien und Persien, und der Bock ist der König von
Griechenland, und das große Horn, das er auf seiner Stirn hat, ist
der erste König (Alexander der Große). Und daß, als es abbrach, vier
an seine Stelle traten, bedeutet: vier Reiche werden aus seinem Volke
erstehen, aber ohne seine Kraft.“ Diese vier Reiche bildeten sich in
der Tat nach dem Siege der Koalition bei Ipsus: das Reich der Ptole-
mäer in Ägypten, der Seleuciden in Syrien-Mesopotamien, des Lysi-
machus in Thracien und einem Teile Kleinasiens und der Antigoniden
in Macedonien.
Während der dreißig Jahre ununterbrochener Kriege (332—3oi)
war das jüdische Volk nur Zuschauer der Ereignisse, sah zu, wie
ringsum der Kampf der Kriegsriesen wütete, wie „das Gesicht der
Erde sich veränderte“, litt auch selbst nicht wenig unter den Unbilden
des Kriegsgewitters, das sein Land verheerte, blieb jedoch bei allen
diesen Umwälzungen selbst ganz untätig. Als sich dann die Kriegs-
stürme gelegt hatten, sah es sich in der Gewalt des neuägyptischen
Ptolemäerreiches, während die jüdische Diaspora Vorderasiens sich
nun innerhalb der Grenzen des weit ausgedehnten Seleucidenreiches
befand, das auf den Trümmern der persischen Monarchie errichtet
worden war.
§ 3. Die ersten Ptolemäer
Mit der ägyptischen Herrschaft fanden sich die Judäer sehr bald
ab, da diese, was wenigstens die erste Zeit betrifft, ihre innere Frei-
heit nicht mehr beeinträchtigte als die frühere persische Herrschaft.
Ptolemäus /. Lagi, genannt Soter, der während der Diadochenkämpfe
sich Jerusalems bemächtigt und viele Gefangene von dort nach Ägypten
weggeführt hatte, erwies sich nach Beendigung der Kriege als ein
friedliebender Herrscher, der den Lebensbedürfnissen der unterworfe-
23
Die macedonischen Eroberungen und die Ptolemäerherrschaft
nen Nationen in jeder Weise Verständnis entgegenbrachte. In Judäa
wurde die bestehende Selbstverwaltungsordnung belassen, nur manche
ihrer Formen wurden, wie es scheint, einer Änderung unterzogen. An
der Spitze des Volkes verblieb der Jerusalemer Hohepriester, der Judäa
mit Hilfe eines Ältestenrates (griechisch: „Gerusia“) verwaltete. Der
Hohepriester galt als offizielles Oberhaupt des judäischen Volkes
(„Ethnarch“), das vor der ägyptischen Regierung die Verantwortung
trug. Er war unmittelbar verpflichtet, dem königlichen Fiskus alljähr-
lich die von den Judäern entrichteten Abgaben zuzuführen, die sich in
der Mitte des III. Jahrhunderts auf zwanzig Talente Silber (etwa
achtzigtausend deutsche Goldmark) beliefen. Im ersten Jahrhundert
der griechischen Herrschaft bekleideten das Hohepriesteramt nachein-
ander (dem Zeugnis des Josephus zufolge) die folgenden Mitglieder
der alten Zadokiten-Dynastie: der bereits erwähnte Zeitgenosse Alex-
anders des Großen, Jaddua, dessen Sohn Chonia I. (Onias), dessen
Söhne, Simon I. und Eleasar, und deren Oheim Manasse (unter den
beiden ersten Ptolemäern), endlich des Simon Sohn Onias II. (unter
Ptolemäus III.).
Hatte sich so in Judäa selbst die innere Ordnung beinahe unver-
ändert erhalten, so hatte außerhalb dessen Grenzen gar vieles ein neues
Gesicht bekommen. Das wichtigste Ereignis war die Bildung eines be-
deutenden jüdischen Mittelpunktes in der Hauptstadt des neuen Ägyp-
ten, in Alexandrien. Die erste Ansiedlung der Judäer in dieser Stadt stand
mit den zwanzig Jahre währenden Diadochenkämpfen in Zusammen-
hang. Nach den beiden Eroberungen Jerusalems im Jahre 32 0 und
3i2 wurden nämlich viele Judäer von den griechischen Kriegern ge-
fangen genommen und dem Kriegsrecht gemäß nach Ägypten weg-
geführt, wo die Krieger zu friedlichen Kolonisten wurden, ihre Ge-
fangenen aber zu ihren Hörigen oder Sklaven. Aber auch von Ptole-
mäus selbst, der durch Zwangsmaßnahmen seine neue Hauptstadt zu
bevölkern trachtete, wurden massenhaft Judäer in Alexandrien ange-
siedelt. Überdies mochten gar viele Einwohner Judäas in den un-
sicheren Kriegsjahren freiwillig ihre Heimat verlassen haben, um in
der neuen Küstenstadt am Mittelmeere, dem zukünftigen Brennpunkt
des Welthandels, Zuflucht zu suchen. Diese Einwanderung wurde von
Ptolemäus I. begünstigt: wie die Sage berichtet, soll er sogar judäische
Krieger mit der Bewachung fester Städte in Ägypten betraut haben.
Vielleicht wirkte hier eine alte Tradition aus der Zeit der persischen
24
§ 3. Die ersten Ptolemäer
Herrschaft nach, als man den judäischen Einwanderern Grenzgebiete
zuzuweisen pflegte und aus ihnen sogar eine große militärische Ko-
lonie in der Gegend von Elephantine zur Bewachung der Grenzen bil-
dete1). In Alexandrien selbst siedelten sich die Juden dicht beieinan-
der in eimem besonderen Viertel an, um sich mit den Einheimischen
nicht zu vermischen. Dessenungeachtet machte sich die Einwirkung
der griechischen Kultur auf diese neue jüdische Kolonie sehr bald
bemerkbar. Den einheimischen ägyptischen Kopten fernstehend, tra-
ten die Juden um so eher in nähere Beziehungen zu den gebildeten
und gewerbetreibenden Griechen. Die aramäische Sprache, die ehe-
dem die Umgangssprache der ägyptischen Juden gewesen war, wurde
nach und nach von der griechischen Sprache verdrängt, in die man,
bald sogar die wichtigsten heiligen Bücher des jüdischen Volkes über-
tragen mußte.
Nur eines unterließ oder versäumte Ptolemäus I. zugunsten der
Juden zu veranlassen: die Freilassung jener Einwohner Judäas, die
während der Diadochenkämpfe von seinen Truppen von dort nach
Ägypten verschleppt worden und zu den Kriegern, die sie gefangen
genommen hatten, in ein Hörigkeitsverhältnis geraten waren. Selbst
ein Krieger, der im Laufe von zwei Jahrzehnten um Palästina ge-
kämpft hatte, vermochte Ptolemäus Lagi es nicht, an dem von der
Sitte geheiligten Rechte der Krieger zu rütteln, demzufolge sie befugt
waren, eine bestimmte Anzahl der im unterworfenen Lande Gefan-
genen als ihre Leibeigenen zu behandeln. Den Befreiungsakt vollzog
nach dem Zeugnis eines alten Verfassers erst der Sohn und Nachfol-
ger des ersten Ptolemäers, Ptolemäus 11. Philadelphus (285—247)*
der mehr Staatsmann als Krieger war. Durch einen besonderen Erlaß
befahl er allen, die an den syrischen Feldzügen seines Vaters teilge-
nommen und auf dem Durchzug durch Judäa dessen Einwohner als
Gefangene nach Alexandrien oder in andere Städte Ägyptens gebracht,
1) S. Band I, § 80. Nach den Funden von Elephantine ist es heute nicht
mehr möglich, alle in dem „Aristeasbrief“ (12—14, 22) erhalten gebliebenen und
von Josephus (Ant. XII, 2, 2—5) nacherzählten Berichte über die Entstehung der
jüdischen Kolonie in Alexandrien einfach als „tendenziöse Erfindung“ abzutun. Die
Kolonisierung Ägyptens unter den Griechen war eine direkte Fortsetzung der Ko-
lonisierung unter den Persern. Aus dem pseudepigraphischen, von einem alex-
andrinischen Juden zwei Jahrhunderte nach der Begründung der alexandrinischen
Kolonie verfaßten „Aristeasbrief“ hören wir den Widerhall einer geschichtlichen
Überlieferung heraus, die sich in dieser Kolonie erhalten hatte und durch apolo-
getische Zutaten nur weiter aus geschmückt wurde.
25
Die macedonischen Eroberungen und die Ptolemäerherrschaft
sowie denen, die die Gefangenen als Sklaven gekauft hatten, diese un-
verzüglich gegen ein bestimmtes Lösegeld freizugeben. Die Zahl der
auf Grund dieses Erlasses freigelassenen Judäer war so groß, daß die
von der Staatskasse zu dem erwähnten Zwecke verausgabten Lösegel-
der, die mit zwanzig Drachmen pro Kopf berechnet wurden, zu einer
Riesensumme anwuchsen1). Der Gunst, die Ptolemäus II. den Juden
in der Diaspora erwiesen hatte, lagen übrigens politische Erwägungen
zugrunde: unter diesem König begann nämlich jener Kampf zwischen
den Seleuciden und Ptolemäern um Coelesyrien oder Palästina, der
sich bis zum Anfang des nächsten Jahrhunderts hinziehen sollte, so
daß der ägyptische König ein Interesse daran hatte, die Bevölke-
rung Judäas, das einen Teil des umstrittenen Coelesyrien bildete, für
sich zu gewinnen und sie durch allerhand Vergünstigungen der syri-
schen Dynastie abspenstig zu machen. Es war dies weniger Menschen-
freundlichkeit als politische Weitsicht, die sich durch die damaligen
internationalen Verhältnisse im Orient bestimmen ließ, wie es die
späteren Ereignisse auch tatsächlich bewiesen haben.
Im Verhältnis Judäas zur ägyptischen Oberhoheit entstand eine
Komplikation unter dem dritten König aus dem Hause der Lagiden,
Ptolemäus Euergetes (246—221). Schon in den ersten Jahren seiner
Regierung verschärfte sich aus dynastischen Gründen der Kampf zwi-
schen den Seleuciden und Lagiden. Der Versuch, beide Dynastien
durch die Ehe des syrischen Königs Antiochus II. Theos mit Bere-
nike, der Tochter Ptolemäus II., auszusöhnen, schlug fehl und hatte
nur eine Familientragödie zur Folge. Die dieser diplomatischen Ehe
wegen verstoßene erste Gattin des Antiochus, Laodike, ermordete ihren
Gatten, und bald darauf fiel auch Berenike der Rache ihrer Feinde
zum Opfer* 2). Ptolemäus III. rächte den Tod seiner Schwester durch
!) Der im „Aristeasbrief“ (22—2 5) angeführte Erlaß des Ptolemäus Phila-
delphus kann seinen Grundzügen nach als echt angesehen werden, wie in den voran-
gehenden Bemerkungen bereits hervorgehoben wurde. Zweifelerregend ist nur die
übertriebene Zahl der Freigelassenen, die auf Grund des Lösegeldbetrages berech-
net ist (zirka 200 000 Mann). Bei Josephus (Ant. XII, 2, 3) wird dieser Erlaß in
veränderter Form erwähnt und auch die Zahl der Freigelassenen geht nicht über
die bescheidenere Zahl von „etwas weniger als Hunderttausend“ hinaus.
2) Auf dieses wie auf die darauffolgenden Ereignisse spielt die „Vision des
Daniel“ (11, 6) an: „Und nach Verlauf von Jahren werden sie (die Ptolemäer und
Seleuciden) sich vereinigen und die Tochter des Königs des Südens (Ägyptens)
zieht zum König des Nordens (Syriens), um Frieden zu schaffen, aber die Kraft
des Arms bleibt nicht fest und dahingegeben wird sie und ihr Geleite, ihr Knabe und
ihr Gatte“.
§ 3. Die ersten Ptolemäer
Einfälle in das seleucidische „Asien“, während Seleucns II., der Nach-
folger Antiochus II., Palästina mit Krieg überzog. Wiederum wurde
Judäa zum Schauplatz des Kampfes der beiden Rivalen. Um diese
Zeit scheint sich zum ersten Mal in einem gewissen Teil der höheren
Volksschichten Judäas eine revolutionäre Hinneigung zu den Seleu-
ciden bemerkbar zu machen. Dadurch läßt sich vielleicht das befrem-
dende Verhalten des damaligen Jerusalemer Hohepriesters Onias 11.
erklären, der sich plötzlich weigerte, die unter seiner persönlichen
Verantwortung alljährlich zu entrichtenden Abgaben an Ägypten abzu-
führen. Es mag sein, daß er, sei es infolge einer ihm von den Ptole-
mäern zugefügten Kränkung oder infolge verlockender Versprechungen
der Seleuciden, sich auf die Seite der Partei geschlagen hatte, die die
syrische Herrschaft der ägyptischen vorzog. Diese Partei verfügte aber
anscheinend nur über einen noch recht unbedeutenden Anhang; die
Mehrzahl des Volkes hatte, wie es scheint, nichts gegen die Herrschaft
der Ptolemäer, die Judäa die innere Freiheit sicherte, einzuwenden.
Die Weigerung des Onias, die üblichen Abgaben zu entrichten, rief
den Zorn des Ptolemäus Euergetes hervor. Der König schickte seinen
Gesandten Athenion nach Jerusalem mit der Forderung, den festge-
setzten Tribut unverzüglich zu entrichten, und drohte, widrigenfalls
die judäischen Ländereien unter die griechischen Soldaten aufzutei-
len; allein der Hohepriester ließ sich dadurch nicht einschüchtern.
Sein Trotz konnte unheilbringend für Judäa werden, und so steigerte
sich der Unwille des Volkes gegen den aufrührerischen Hohepriester
und seine das Vaterland gefährdende Partei. Ein Bürgerkrieg drohte
auszubrechen, noch ehe die ägyptische Strafexpedition Zeit gehabt
hätte, das Land zu erreichen. Da aber trat ein Mann auf den Plan,
dem es gelang, seine Heimat aus ihrer gefahrvollen Lage zu be-
freien.
Es war dies der Neffe des Onias, Joseph ben Tobia, ein Mann
von Tatkraft und Verstand, aber auch von großer Skrupellosig-
keit. In dem Konflikt des Hohepriesters mit der ägyptischen Regie-
rung ergriff Joseph die Partei der letzteren. Er erschien vor seinem
hochbetagten Oheim, machte ihm im Namen des erregten Volkes Vor-
würfe und riet ihm, nach Ägypten zu gehen und von Ptolemäus Ver-
gebung zu erflehen. Onias erwiderte, daß er eher bereit sei, auf Amt
und Würde zu verzichten, als sich nach Alexandrien zu begeben. Da
verlangte Joseph, der Oheim möge nun ihm die Erlaubnis erteilen,
27
Die macedonischen Eroberungen und die Ptolemäerherrschaft
statt seiner mit dem König in Alexandrien persönlich zu verhandeln.
Nachdem Onias darauf eingegangen war, berief Joseph eine Volks-
versammlung in den Tempel; hier gelobte er feierlich, die Angelegen-
heit zu schlichten und den König von der Treue der Judäer zu über-
zeugen. Gleichzeitig sicherte er sich auch das Wohlwollen des ägyp-
tischen Gesandten Athenion, dem er in jeder Weise gefällig war und
den er vor dessen Abreise nach Alexandrien auch noch reich zu be-
schenken nicht versäumte, so daß er auf seinen Beistand am Hofe
mit Gewißheit rechnen durfte.
Der eigentliche Plan des Joseph bestand darin, unter dem Vor-
wand der Tilgung der Steuerschulden die Pacht der königlichen Ab-
gaben, die ehedem unmittelbar vom Hohepriester entrichtet zu werden
pflegten, für sich selbst zu gewinnen. Nachdem er sich bei seinen
reichen Freunden in Samarien das Geld für die Reise geliehen und
die nötigen Vorbereitungen getroffen hatte, begab sich Joseph nach
Ägypten. Unterwegs traf er mit den Obersten und Ältesten der palä-
stinischen Städte zusammen, die alljährlich nach Alexandrien gingen,
um für sich die Steuerpacht in ihren Gauen zu erlangen. Die reichen
Pächter behandelten Joseph mit Geringschätzung, während sein Sinn
darauf gerichtet war, Steuerpächter wie sie zu werden und so selbst
zu Macht und Reichtum zu gelangen. Noch ehe Joseph in Alexandrien
angelangt war, gelang es dem schon früher heimgekehrten Athenion,
Ptolemäus zu seinen Gunsten zu stimmen, und so wurde Joseph als
treuer Parteigänger der ägyptischen Regierung bei Hofe gut aufge-
nommen. Durch sanfte Schmeichelreden verstand er es, vor dem Kö-
nige die Handlungsweise des Onias als harmlose „Launen eines Grei-
ses“ auszulegen und ihn von der tiefen Ergebenheit des jüdischen Vol-
kes zu überzeugen. Ein gern gesehener Gast am Hofe, ging nun Jo-
seph an die Verwirklichung seines finanziellen Planes. Am Tage der
Versteigerung der Steuerpacht, als die griechischen Pächter die Preise
für die Pacht in Coelesyrien, Phönizien, Samarien und Judäa anga-
ben, erklärte Joseph, daß er für alle Steuerbezirke eine doppelt so
große Pachtsumme zahlen wolle, als die von den anderen Pächtern
genannte, die 8000 Talente betrug. Auf die Frage des Königs, welche
Bürgschaft denn Joseph als Sicherung für die Zahlung bieten könne,
gab der gewandte junge Mann zur Antwort, daß die zuverlässigsten
Leute im ganzen Reiche für ihn als Bürgen einstehen könnten: es
seien dies der König und die Königin von Ägypten. An dem verwege-
nen
erb
son
ma
Ma
tre:
anc
Eil
mi
ku]
voi
ten
In
ha'
ein
nu
Ab
Sk
nij
m(
nie
M;
ni<
Hi
Vc
§ 3. Die ersten Ptolemäer
nen Worte fand der König Gefallen. Joseph wurde jede Bürgschaft
erlassen und er wurde zum Hauptsteuerpächter nicht nur für Judäa,
sondern auch für ganz Palästina ernannt.
Als Finanzagent zeigte sich Joseph bald des Vertrauens des Ptole-
mäus durchaus würdig. Nachdem ihm der König einen zweitausend
Mann starken Kriegertrupp für den Fall einer zwangsmäßigen Ein-
treibung der Abgaben mitgegeben hatte, begab sich Joseph von Alex-
andrien in seinen Steuerbezirk. Höhnisch empfingen die heidnischen
Einwohner der Stadt Askalon den neuen jüdischen Pächter, der nun
mit der Würde eines Beamten bekleidet war, und verweigerten ihm
kurzweg die festgesetzten Abgaben. Da befahl Joseph, zwanzig der
vornehmsten Bürger der Stadt als Anstifter des Aufruhrs hinzurich-
ten, und übergab ihren eingezogenen Besitz dem königlichen Fiskus.
In derselben Weise verfuhr er auch in einer galiläischen Stadt, dem
halb-griechischen Skythopolis (Beth-Schean). Die Züchtigung hatte
eine abschreckende Wirkung, so daß alle anderen Städte, durch die
nun Joseph mit seiner Garde zog, ohne Widerspruch die verlangten
Abgaben entrichteten. Der neue Steuereinnehmer bereicherte die
Staatskasse und sandte auch von Zeit zu Zeit dem König und der Kö-
nigin kostbare Geschenke, wodurch seine offizielle Stellung sich im-
mer mehr befestigte. Zugleich ließ er auch seinen eigenen Vorteil
nicht außer acht: sein Reichtum nahm immer mehr zu und seine
Macht in dem weiten Steuerbezirk stand derjenigen eines Statthalters
nicht viel nach. In Judäa drängte Joseph den Hohepriester in den
Hintergrund, indem er selbst ein einflußreicher Mittler zwischen dem
Volke und der ägyptischen Regierung wurde.
Zweiundzwanzig Jahre lang verwaltete Joseph ben Tobia die
Steuereintreibung in Coelesyrien und Judäa und übte so einen be-
deutenden Einfluß auch auf die Gesamtverwaltung dieser ägyptischen
Provinzen aus. Worin sich dieser Einfluß namentlich im politischen
Leben Judäas äußerte, bleibt unbekannt. Die erhalten gebliebenen Ur-
kundenberichte über Joseph sind überreich an anekdotenhaften Zü-
gen und Anachronismen1); es unterliegt jedoch keinem Zweifel, daß
1) Siehe den ausführlichen Bericht in den Ant. des Josephus (XII, 4), wo die
Persönlichkeiten Ptolemäus III. und V. in der ganzen Episode nicht auseinander-
gehalten werden. Dies berechtigt uns jedoch nicht dazu, die ganze Erzählung als eine
Dichtung zu behandeln (wie es einige Geschichtsschreiber seit Droysen tun), denn
nur aus dieser Episode läßt sich eine ganze Reihe von Ereignissen dieser und der
29
Die macedonischen Eroberungen und die Ptolemäerherr Schaft
der Kern dieser Episode geschichtlichen Charakter hat Das in Judäa
eingeführte Verfahren der Steuereintreibung war nicht nur auf den
Aufbau der Verwaltung im Lande, sondern auch auf seine wirtschaft-
liche Entwicklung von Einfluß. Die Steuerpacht bereicherte viele der
daran beteiligten Agenten, der Kapitalismus gelangte zur Entfaltung,
die internationalen Handelsbeziehungen breiteten sich immer mehr aus,
die griechischen Sitten, die Luxus- und Vergnügungssucht fanden im-
mer mehr Anklang, und so wurde der Grundstein zu jener helleni-
stischen Kultur in Judäa gelegt, die in den nächsten Jahrhunderten
eine so verhängnisvolle Rolle in der Geschichte des Landes spielen
sollte.
§ 4. Die Begründung der Seleucidenherrschuft in Judäa
Der Kampf zwischen Ägypten und „Asien“ um die Herrschaft in
Coelesyrien erreichte seinen Höhepunkt unter Ptolemäus IV. Philo-
pator (221—204)» Unter diesem König begann der Verfall der Pto-
lemäerdynastie, vor allem ihre rein physische Entartung, die durch
die damals in Ägypten übliche Inzucht verursacht war (seit Phila-
delphus ehelichten die Ptolemäer ihre leiblichen Schwestern). Dage-
gen war der Dynastie der Seleuciden in Asien um die gleiche Zeit ein
starker, unternehmungslustiger Herrscher entsprossen, der von dem
Gedanken beseelt war, seinen Staat zur Weltherrschaft zu führen. Es
war dies Antiochus III. der Große (223—187). In den Jahren 219
und 218 nahm Antiochus Tyrus und Akko-Ptolemais an der palästi-
nischen Küste und eine Reihe von Städten im Inneren Palästinas ein,
darunter Samaria. Jedoch im Jahre 217 trat Ptolemäus Philopator
Antiochus entgegen und brachte ihm eine schwere Niederlage in der
darauffolgenden Epoche erklären. Einer dieser Geschichtsforscher, nämlich Well-
hausen (Isr. und jüd. Geschichte, 1907, 2 42—43), der sich auf die unbegründete
Voraussetzung stützt, daß Josephus die Zeit Ptolemäus V. und der Königin Kleopatra
im Auge gehabt hätte (die Bemerkung im Texte, daß hier von Ptolemäus III.
Euergetes die Rede sei, sieht er als eine spätere Einfügung an), betrachtet diese
ganze Episode als „unhistorisch“, da zur Zeit Ptolemäus V. Judäa schon unter der
Herrschaft der Seleuciden stand. Man könnte jedoch eher das Gegenteil annehmen:
Josephus hat diese Episode in rückschauender Betrachtung unter Eingriff in die
chronologische Ordnung angeführt, um aus der Geschichte des Joseph ben Tobia
die Charakteristik seiner Kinder, der Tobiaden, abzuleiten, die eine politische Rolle
erst bei dem Übergang der Herrschaft an die Seleuciden spielten; daher einerseits
der obenerwähnte Hinweis des Textes auf Ptolemäus III., anderseits die Anachro-
nismen, in die der alte Geschichtsschreiber unwillkürlich verfällt, vielleicht auch
infolge der Unklarheit der von ihm benutzten Quellen.
So
§ 4. Die Begründung der Seleucidenherrschaft in Judäa
Schlacht bei Raphia, nahe der Hafenstadt Gaza, bei. Zum ägyptischen
König kamen Gesandtschaften aus den coelesyrischen Städten, um
ihm als Sieger zu huldigen. Eine spätere Legende1) berichtet, Ptole-
mäus IV. sei nach diesem Siege feierlich in Jerusalem eingezogen und
trotz der Ermahnungen der Priester in die inneren Räume des Tem-
pels, die nach dem jüdischen Gesetz der Fuß eines Laien nicht betre-
ten durfte, eingedrungen, man habe ihn aber von dort ohnmächtig
hinaustragen müssen. Die Einwohner Jerusalems erblickten darin die
gerechte Strafe Gottes für den Tempelschänder. Ptolemäus wurde aber
infolge dieses Vorfalls gegen die Juden äußerst erbittert und begann
nach seiner Rückkehr nach Ägypten die dort lebenden Juden zu be-
drängen: er schränkte ihre bürgerlichen Rechte ein, verfolgte die jü-
dische Religion und ließ erst viel später von seinem grausamen Vor-
gehen ab. Diese legendäre Erzählung mag vielleicht nur einen ein-
zigen Kern der Wahrheit in sich bergen: daß nämlich unter Ptole-
mäus IV. das Verhalten der ägyptischen Machthaber den Juden gegen-
über eine Zeitlang weniger günstig war.
Dieser Umstand erklärt wohl auch die merkliche Steigerung der
Sympathien für die Seleuciden in Judäa. Um diese Zeit macht sich
nämlich in Jerusalem in noch unklarer Weise ein Widerstreit politi-
scher Parteien bemerkbar. Der Günstling des Hofes von Alexandrien,
der königliche Steuerpächter Joseph ben Tobia, stand selbstverständ-
lich ganz auf seiten Ägyptens, in seiner Familie kam es jedoch zu
Streitigkeiten, die politische Verwicklungen nach sich zogen. Joseph
hatte sieben Söhne von seinem ersten Weibe und einen, Hyrkanus,
von seiner Nichte. Die Erzählung von der Abstammung des Hyrkan
weist darauf hin, daß die losen Sitten der Hellenen sich bereits in die
jüdische Plutokratie Eingang verschafft hatten. Joseph, der oft nach
Alexandrien an den königlichen Hof kam, hatte anscheinend die la-
sterhaften Neigungen der ägyptischen Höflinge übernommen. Wäh-
rend einer Hoffestlichkeit entbrannte er in Leidenschaft für eine
schöne fremde Tänzerin und gestand dies seinem Bruder Solymius,
der mit seiner jungen Tochter nach der ägyptischen Hauptstadt ge-
kommen war. Um Joseph vor der für einen Juden gesetzwidrigen Ver-
bindung mit einem heidnischen Weibe zu bewahren, führte sein Bru-
*) Das apokryphische „Dritte Buch der Makkabäer“, wo die Ereignisse der
Epochen Ptolemäus IV. und VII. anachronistisch miteinander vermengt werden.
S. unten, § 38.
3i
Die macedonischen Eroberungen und die Ptolemäerherrschaft
der nachts, als jener trunken war, seine im zarten Alter stehende
Tochter statt der erwarteten Tänzerin ihm zu; die Frucht eben dieser
unkeuschen Verbindung war der oben erwähnte Hyrkanus. Joseph
liebte ihn mehr als alle anderen Kinder. Als Hyrkanus erwachsen und
ein weltgewandter Jüngling geworden war, sandte ihn sein Vater oft
an den Hof Alexandriens als seinen Stellvertreter in den Angelegen-
heiten der Steuerpacht. Hyrkanus wurde bald der Liebling des Königs
und seines Gefolges; rasch nahm er die Lebensgewohnheiten der hö-
fischen Gesellschaft an und verschwendete bald das Vermögen, das
zusammenzubringen seinen Vater lange Jahre mühevoller Arbeit ge-
kostet hatte. Den älteren Brüdern war Hyrkanus verhaßt. Eines Tages
versuchten sie sogar einen Anschlag auf sein Leben, es gelang ihm aber,
der Gefahr zu entrinnen, wobei er zwei von ihnen tötete. Nach dem Tode
Josephs verschärfte sich noch der Zwist in der Familie und führte
schließlich zur Bildung zweier einander feindlicher politischer Grup-
pierungen. Hyrkanus, der wahrscheinlich nach dem Tode seines Vaters
das staatliche Steuerpächteramt geerbt hatte, stand an der Spitze der
Parteigänger der ägyptischen Herrschaft. Seine Brüder dagegen, die
Tobiaden (nach dem Stammnamen des Joseph ben Tobia), hielten
zu den Seleuciden. Den Tobiaden schloß sich anscheinend auch der
neue Hohepriester Simon II. an, der Sohn jenes Onias II., der noch
unter Ptolemäus Euergetes eine anti-ägyptische Politik betrieben
hatte.
Um diese Zeit (240) starb Philopator und hinterließ einen minder-
jährigen Thronerben, Ptolemäus V. Epiphanes. Der syrische König
Antiochus der Große benützte abermals die in Ägypten entstandene
Verwirrung, um den Kampf um Coelesyrien zu erneuern. Diesmal ge-
lang es ihm, einen bedeutenden Teil dieser Provinz zu besetzen (im
Jahre 201). Die ägyptische Regierung versuchte mit Anspannung der
letzten Kräfte, dem Feinde Widerstand zu leisten. Sie sandte den
Feldherrn Skopas mit einem Söldnerheere gegen Antiochus. Skopas
brach mit seinen Horden in Jerusalem ein und belegte die Stadtfestung
mit einer Garnison. Allein auch Antiochus blieb nicht untätig. Er
sammelte ein großes Heer und zog den Ägyptern entgegen. An den
Quellen des Jordan, bei der Stadt Paneion oder Paneas (wo sich der
Tempel der griechischen Gottheit Pan befand), kam es zu einer blu-
tigen Schlacht, in der das Heer des Skopas aufs Haupt geschlagen
wurde (im Jahre 198). Antiochus vertrieb die Ägypter aus Goele-
32
§ 4. Die Begründung der Seleucidenherrschaft in Judäa
Syrien und wurde zum Beherrscher dieses ganzen Landbereiches, in-
nerhalb dessen Grenzen auch Judäa lag.
So endete der zwanzigjährige Krieg, in dessen Verlaufe Judäa
nach dem Ausdruck eines alten Geschichtsschreibers „nicht unähnlich
einem Schiff im Sturme war, das auf beiden Seiten von den Fluten
bedrängt wird. Es lag gleichsam zwischen des Antiochus Glück und
Unglück in der Mitte“1). Das erschöpfte Volk begrüßte mit Freu-
den das lang ersehnte Ende des Kriegselends. Die Einwohner Jerusa-
lems, unter denen die Seleucidenpartei schon längst die Oberhand ge-
wonnen hatte, kamen dem syrischen Eroberer mit Vertrauen entge-
gen. Als sich Antiochus III. Jerusalem näherte, empfingen ihn die
Ältesten und Notabein der Judäer vor den Toren der Stadt und ver-
sorgten sein Heer mit allem Bedarf.
Antiochus III. wußte die Sympathien der Judäer, die ihm die
Unterwerfung des Landes erleichtert hatten, voll zu würdigen. Um
diese Sympathien zu befestigen und den Judäern zu zeigen, daß die
Herrschaft der Seleuciden ihnen mehr Vorteile biete als diejenige der
Ptolemäer, verlieh ihnen Antiochus verschiedene Privilegien und Frei-
heiten. Der alte jüdische Geschichtsschreiber berichtet, daß An-
tiochus die Verleihung dieser Vorrechte in drei Erlässen kundgegeben
habe. Im ersten befiehlt der König die Auszahlung von Hilfsgeldern
an die Einwohnerschaft Jerusalems zur Wiederherstellung der in den
Kriegsjahren zerstörten Stadtteile, zur Instandsetzung des Tempels und
der ihn umgebenden Säulengänge sowie für die Bedürfnisse des Tem-
pelgottesdienstes; ferner wird es den Judäern freigestellt, die innere
Verwaltung nach eigenen Gesetzen zu gestalten; den Mitgliedern der
Gerusia, den Priestern und Schriftgelehrten wird volle Steuerfrei-
heit gewährleistet, während für die übrigen Landesbewohner die
Steuern bedeutend ermäßigt werden. Im zweiten Erlaß verbietet An-
tiochus unter anderem jedem Fremden das Betreten der inneren
Räume des Jerusalemer Tempels, in die nach dem jüdischen Gesetz
sogar den Juden, mit Ausnahme der höchsten geistlichen Würden-
träger, der Zutritt versagt war. Im dritten Erlaß endlich befiehlt der
König, in den aufrührerischen Provinzen Lydien und Phrygien (in
Kleinasien) zweitausend jüdische Familien aus Mesopotamien und Ba-
bylonien anzusiedeln, und begründet diese Maßnahme damit, daß
1) Josephus, Ant. XII, 3, 3.
3 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
33
Die macedonischen Eroberungen und die Ptolemäerherrschaft
die Juden den Beweis ihrer Ergebenheit bereits erbracht hätten und
in den unruhigen Provinzen zweifellos treue Wächter der Seleuciden-
herrschaft sein würden. Auch hier wurden den jüdischen Ansiedlern
freie Selbstverwaltung und beträchtliche Steuervergünstigungen zu-
teil*).
So war der Beginn der Seleucidenherrschaft in Judäa durch für das
Land in jeder Weise günstige Maßnahmen der neuen Macht gekenn-
zeichnet und noch kündete nichts jene Not an, von der das jüdische
Volk späterhin unter den neuen Herrschern heimgesucht werden sollte.
Erst ein späterer jüdischer Autor, dem es beschieden war, die Schrek-
ken des Begiments Antiochus IV. mitzuerleben, entwirft in Form
einer prophetischen Vision ein düsteres Bild dieser verhängnisvollen
Ereignisse (Dan. n, i3—19): „Und nochmals stellt der König des
Nordens (Antiochus III.) ein Heer auf, größer als das erste . . . und
in jenen Zeiten werden viele auf stehen gegen den König des Südens
(Ptolemäus) und Gewalttätige aus deinem Volke werden sich erheben,
daß die Weissagung sich erfülle, und zu Falle kommen. Und der Kö-
nig des Nordens wird kommen und einen Wall aufschütten und die
feste Stadt einnehmen, und die Hilfskräfte des Südens werden nicht
standhalten ... Er (der König des Nordens) faßt festen Fuß im
Lande der Pracht (Judäa) und ganz ist es in seiner Hand.“ Unter den
*) Einige Geschichtsforscher (Niese, Wellhausen u. a.) bezweifeln die Echt-
heit dieser in den „Altertümern“ des Josephus (XII, 3) angeführten Erlasse, in
denen manche Einzelheiten in der Tat wenig wahrscheinlich zu sein scheinen (so
z. B. die übertriebene Sorge um die Befolgung der lokalen religiösen Gesetze in
Jerusalem). Wir haben jedoch keinen Grund, den ganzen Inhalt der Erlasse als
Fälschung zu betrachten, die angeblich eigens dazu vorgenommen worden sei, um
die von jeher bestehenden Vorrechte Judäas zu begründen. In der Einleitung zu
diesen Schriftstücken führt Josephus die Worte des griechischen Geschichtsschreibers
Polybius an, denen zufolge Antiochus nach dem Siege über Skopas auch Unter-
würfigkeitsbezeugungen von den „in der Umgegend des Jerusalem' genannten
Tempels lebenden Judäern“ entgegengenommen habe. Es ist sehr wahrscheinlich, daß
auch die folgenden Schriftstücke derselben „Geschichte“ des Polybius entlehnt sind,
auf die der jüdische Geschichtsschreiber sich beruft und die uns nur unvoll-
kommen erhaltengeblieben ist (von den vierzig Büchern des Werkes von Polybius
sind nur fünf bis zu uns gelangt, nebst einigen Fragmenten aus den übrigen
Büchern); das Zeugnis des Polybius ist aber in diesem Falle äußerst wichtig, da
er ein jüngerer Zeitgenosse Antiochus III. war (er lebte um das Jahr 200—120 v.
d. ehr. Ära). Jetzt tritt auch Ed. Meyer in seinem neuen Werke: „Ursprung und
Anfänge des Christentums“ (Bd. II, 127. Berlin, 1921) diesen skeptisch gesinnten
Geschichtsschreibern entgegen; er stellt fest, daß die Erlasse des Antiochus mit
dem Geiste jener Zeit und mit der damaligen politischen Lage in jeder Weise über-
einstimmen.
§ 5. Selbstverwaltung und innere Verhältnisse (Simon der Gerechte)
„Gewalttätigen im Volke4 4 waren anscheinend die Anhänger der Se-
leuciden aus der Partei der Tobiaden gemeint, die „zu Fall kamen“,
d. h. sich als kurzsichtige Politiker erwiesen hatten.
Mit der Befestigung der Herrschaft der Seleuciden verlor die
ägyptenfreundliche Partei in Jerusalem, die für die Ptolemäerherr-
schaft eingetreten war, jeglichen Halt. Einer der Anführer dieser Par-
tei, der oben erwähnte Hyrkanus ben Joseph, mußte Jerusalem verlas-
sen. Er übersiedelte nach Transjordanien. Bei Hesbon, an den Grenzen
Arabiens, baute er in einem Felsen eine befestigte Burg, „Tyrus“ ge-
nannt, und unternahm mit seinen Leuten Überfälle auf die benach-
barten Araber. Sieben Jahre lang galt er als „Tyrann“ in dieser Ge-
gend. Späterhin wurde der Usurpator von der syrischen Regierung
bedroht. Durch diese Drohungen in Schrecken versetzt und keinen
anderen Ausweg erblickend, machte Hyrkanus seinem Leben durch
Selbstmord ein Ende. Sein ganzer Besitz wurde von dem syrischen
König Antiochus IV., dem Sohne Antiochus III., beschlagnahmt (175).
§ 5. Selbstverwaltung und innere Verhältnisse (Simon der Gerechte)
Die große politische Umwälzung, die sich im Orient des IV. Jahr-
hunderts v. d. ehr. Ära vollzogen hatte, änderte nur sehr wenig an der
in Judäa bestehenden Selbstverwaltung. Die Theokratie, die sich im
Zeitalter der persischen Herrschaft eingewurzelt hatte, blieb auch wäh-
rend der Ptolemäerherrschaft unerschüttert. Die Hohepriestergewalt
blieb im Geschlechte der Zadokiten erblich. Die Freiheit der Selbst-
verwaltung wurde, wie es scheint, nur noch weitgehender. Der Jeru-
salemer Hohepriester und die Gerusia wurden von den griechischen
Machthabern als die gesetzliche Regierung Judäas anerkannt. Die welt-
liche Gewalt des Hohepriesters und vor allem die fiskalischen Pflich-
ten, die er als Hauptsteuereinnehmer auf sich nehmen mußte, stan-
den allerdings nicht in Einklang mit seiner hohen geistlichen Würde;
jedoch war in der Theokratie eine derartige Vereinigung wesensver-
schiedener Funktionen nicht zu umgehen. Erst am Ende dieser Epoche
befreite das in Judäa eingeführte Steuerpachtsystem den Hohepriester
von seinen Verpflichtungen gegenüber dem Fiskus.
Es ist sehr schwer, auf Grund der in der alten Literatur erhalten
gebliebenen fragmentarischen Nachrichten über den Charakter der
politischen und geistigen Wirksamkeit des Hohepriesters in dieser
3*
35
Die macedonischen Eroberungen und die Ptolemäerherrschaft
dunklen Zeit ein Urteil zu fällen. Die Theokratie zeitigte sowohl des
Amtes würdige als auch seiner durchaus unwürdige Regenten. Die
jüdischen Quellen haben der Nachwelt nur eine einzige lichte Hohe-
priestergestalt überliefert, die sich durch segensreiche Wirksamkeit
für das Wohl der Nation bleibenden Ruhm schuf. Er hieß Simon.
In der „griechischen“ Epoche wirkten zwei Hohepriester dieses Na-
mens: der eine lebte zu Anfang der Ptolemäerherrschaft (um 3oo),
der andere gegen deren Ende, zur Zeit der Einnahme Judäas durch
die Seleuciden (um 200). Die Zusammenstellung verschiedener ge-
schichtlicher Daten legt die Vermutung nahe, daß der in der Volks-
überlieferung verherrlichte Simon, der den ßeinamen „der Gerechte“
erhielt, eben der Hohepriester Simon II., der Sohn des obenerwähn-
ten Onias II.1) ist. Im alten moralischen Traktat des Talmud „Pirke
Abboth“ wird Simon der Gerechte als einer der letzten Vertreter der
„Großen Versammlung“ (Knesseth ha’gdolah) genannt, d. h. jenes
Rates der Ältesten und Gelehrten („Soferim“), der unter Reteiligung
des Hohepriesters die gesetzgebenden Funktionen in Judäa zur Zeit
der persischen und griechischen Herrschaft ausübte. Diese Kennzeich-
nung konnte sehr wohl für Simon II., der an der Grenzscheide zwi-
schen Ptolemäer- und Seleucidenherrschaft wirkte, zutreffend sein.
Dieser Simon war in der Tat der letzte Vertreter der alten theokrati-
schen Verfassung, die drei Jahrhunderte lang in Wirksamkeit war.
Unter seinem Nachfolger Onias III. begann bereits jener Zwist in
der Familie des Hohepriesters, der zum Fall der priesterlichen Za-
dokiten-Dynastie und zur Refestigung der weltlichen Macht der Has-
monäer, der Regründer des unabhängigen jüdischen Staates, führte.
Simon II. gehörte, wie oben (§ 4) als wahrscheinlich angenom-
men wurde, zu jener politischen Partei, die die Ablösung der Ptole-
mäerherrschaft durch die der Seleuciden begrüßte und Antiochus III.
!) Josephus (Ant. XII, 2) bezieht den Beinamen „der Gerechte'‘ auf Simon I.,
worauf auch einige Historiker (Graetz u. a.) ihre geschichtlichen Konstruktionen
gründeten. Die Mehrzahl der Forscher ist jedoch der Meinung, daß es Simon II.
(nicht der I.) sein müsse, der als Held der talmudischen Legenden und besonders
der alten Schilderungen seines Zeitgenossen Ben Sirah (wo er „Simon ben Jochanan“
heißt, was mit „Simon ben Onias" identisch sein mag) erscheint. Als Gerechter
tritt der Hohepriester Simon II. auch in dem apokryphischen „Dritten Makkabäer-
buche" auf; er ist es, auf dessen Gebet hin der in den Jerusalemer Tempel ein-
gedrungene König Ptolemäus Philopator der göttlichen Strafe verfällt. Chrono-
logisch ist es durchaus wahrscheinlich, daß Simon II. schon im Jahre 217, in das
diese sagenhafte Episode verlegt wird, die Hohepriesterwürde innehatte.
§ 5. Selbstverwaltung und innere Verhältnisse (Simon der Gerechte)
bei seinem Einzuge in Jerusalem willkommen hieß. Als Antiochns,
zum Lohne für diese Ergebenheitsbezeugungen, der Einwohnerschaft
und der Tempelpriesterschaft Jerusalems verschiedene Vergünstigun-
gen zuteil werden ließ, gewann die Gewalt der Hohepriester noch mehr
an Bedeutung. Simon II. verfügte über die Geldbeträge, die Antiochus
für die Instandsetzung des Tempels, den Ausbau und die Pflege der
Hauptstadt spendete. Dem Zeugnis eines Zeitgenossen (Josua ben Sirah)
zufolge wurde der Tempel unter dem Hohepriester Simon restau-
riert und befestigt; auch die Stadtmauern wurden so stark befestigt,
daß Jerusalem nunmehr als vor jedem feindlichen Überfall gesichert
galt; überdies wurde ein großer Teich oder Kanal gegraben, „wie das
Meer an Wassermenge“, durch den das Wasser aus außerhalb liegen-
den Quellen in die Stadt geleitet wurde.
Der Gottesdienst im Jerusalemer Tempel zeichnete sich durch un-
gewöhnliche Pracht aus. Der obenerwähnte Zeitgenosse hat uns eine
sehr schöne poetische Schilderung einer Tempelfeier hinterlassen, die
die Gestalt des Hohepriesters Simon zu ihrem Mittelpunkte hat:
Wie prächtig war er, wenn er aus dem Zelt hervorschaute,
wenn er hervortrat hinter dem Vorhänge!
Wie der Morgenstern zwischen den Wolken hervor,
und wie der volle Mond in den Tagen des Festes,
und wie die Sonne, die über den Tempel des Königs emporstrahlt,
wie der Regenbogen, der in den Wolken sichtbar wird;
wie die Blüte an den Zweigen an den Tagen des (Frühjahrs)festes
und wie die Lilie an Wasserströmen . . .
Da legt er die Ehrengewänder an
und umkleidet sich mit den Prachtgewändern;
er steigt hinauf zu dem majestätischen Altar . . .
und nimmt die Stücke (des Opferfleisches) aus der Hand seiner Brüder
entgegen
und steht da über den beiden Holzstößen,
während ein Kranz von Söhnen ihn umgibt,
wie Zedernsetzlinge auf dem Libanon.
Ihn umringen alle Söhne Aarons in ihrer Herrlichkeit,
und die Feueropfer Jahves in ihren Händen,
angesichts der ganzen Gemeinde Israels.
Nun ist er zu Ende mit dem Dienst am Altar —
da blasen die Söhne Aarons, die Priester, die Trompeten,
sie blasen und lassen erschallen den mächtigen Hall,
um (das Volk) in Erinnerung zu bringen vor dem Höchsten.
Alle Sterblichen fallen da allzumal
eilends auf ihr Antlitz zur Erde,
um anzubeten vor dem Höchsten,
vor dem Heiligen Israels.
37
Die macedonischen Eroberungen und die Ptolemäerherrschaft
Der Gesang läßt seinen Klang vernehmen
und das Herz des Volkes wird erleuchtet.
Und es jubeln alle Leute des Landes ...
Als er zu Ende ist mit dem Dienst am Altar ...
steigt er herab und hebt seine Hände empor
über die ganze Gemeinde Israels:
Der Segen Jahves ist auf seinen Lippen
und des Namens Jahves rühmt er sich.
Das knieende Volk aber empfängt den Segen1).
Auch die späteren talmudischen Legenden berichten von dem hei-
ligen Lebenswandel und der segensreichen Wirksamkeit Simons des
Gerechten, sowie von den prächtigen Gottesdienstformen, die unter
ihm üblich wurden. Die Nachwelt gedachte liebevoll der verhältnis-
mäßig friedlichen Zeit, die den Stürmen des * HasmonäeraufStandes
fast unmittelbar vorangegangen war, sowie des letzten bedeutenden Ver-
treters der alten Theokratie. Im Talmud wird Simon dem Gerechten
der erste Platz unter den „Vätern der Synagoge“ zugesprochen, un-
mittelbar hinter den Helden der biblischen Periode. Ihm wird, wie
noch bemerkt sei, der folgende Ausspruch in den Mund gelegt: „Auf
drei Dingen beruht die Welt: auf der Thora, auf dem (Gottes)dienst
und auf Mildtätigkeit“* 2).
Die patriarchalisch-theokratische Ordnung, deren Repräsentant der
Hohepriester Simon II. war, geriet schon im Jahrhundert der Ptole-
mäerherrschaft, als die weltliche griechische Kultur von allen Seiten
her durch die weitgeöffneten Tore Judäas eindrang, teilweise ins
Wanken. Diese Kulturkrise reifte in der Epoche der Seleucidenherr-
schaft und sollte sich bald in eine allumfassende national-politische
Krise verwandeln.
!) Die Sprüche Ben Sirahs, Kap. 5o. Übertragen nach dem neuaufgefundenen
hebräischen Text. Vgl. unten § 17.
2) Talmudischer Traktat Abboth, I, 2.
Zweites Kapitel
Judäa unter der Seleucidenherrschaft
(198—168)
§ 6. Das hellenistische Asien und der Hellenismus in Judäa
Zur selben Zeit, als die Ptolemäer Ägypten und die palästinische
Küste des Mittelmeeres beherrschten, setzten sich die Seleuciden auf
dem Festlande in Vorderasien, in Mesopotamien, Syrien und den an-
grenzenden griechischen Landgebieten Kleinasiens fest. Dieses grie-
chisch-asiatische Reich wurde kurzweg Asien oder Syrien genannt.
Sein Begründer, Seleucus I., schlug seine Residenz in der Stadt An-
tiochia am Orontes auf, die durch den eigens angelegten Hafen Se-
leucia mit dem Meere verbunden war (auch eine andere Stadt dieses
Namens wurde damals am Tigris in Mesopotamien gegründet). Nun
war es natürlich, daß die Seleuciden, die nur den nördlichen Teil
des syrischen Küstenstriches des Mittelmeeres unter ihre Gewalt ge-
bracht hatten, sich auch des südlichen, noch unter der Ptolemäerherr-
schaft sich befindenden Küstenteiles mit den großen Häfen Phöniziens
und Palästinas: Tyrus, Ptolemais (Akko) und Gaza zu bemächtigen
suchten. Dieser Kampf um die palästinische Küste dauerte ein ganzes
Jahrhundert, bis es schließlich Antiochus III. gelang, Palästina den
Ptolemäern zu entreißen. Während es sich nach dem Meere zu immer
weiter ausbreitete, ging das Seleucidenreich aber andererseits nach und
nach sowohl seiner Besitzungen im Iran als auch in Kleinasien verlustig.
So fiel um die Mitte des III. Jahrhunderts eine ganze Gruppe kleiner
Staaten in Kleinasien ab: Pergamus, Kappadocien, Galatien, während
sich gleichzeitig jenseits des Euphrat an der Grenze Mesopotamiens
und des Iran das neue selbständige Reich der Parther bildete, eines
kriegerischen Stammes, dessen Anführer Arsaces die Dynastie der
Arsaciden begründete (um 200). Antiochus III. gelang es wohl, einige
39
Judäa unter der Seleucidenherrschaft
der abgefallenen Provinzen abermals unter die Gewalt der Seleuciden
bringen, allein nach seinem Tode errangen sie von neuem ihre Un-
abhängigkeit. Das Partherreich, zu dem nun auch der Iran und ein
Teil Mesopotamiens gehörten, wurde eine Schutzwehr für das innere
Asien gegen den Ansturm der großen hellenistischen Monarchie wie
späterhin auch gegen Rom.
Zur Zeit der Eroberung Judäas durch Antiochus IIL schien die
Seleucidenmonarchie den Höhepunkt ihrer kulturellen Entfaltung er-
reicht zu haben. Es war dies das am ausgesprochensten „hellenistische“
Reich des damaligen Morgenlandes. Sein Begründer, der Macedonier
Seleucus I., war ein leidenschaftlicher Verehrer des Hellenismus, dem
die Hellenisierung Asiens zur Richtschnur seiner gesamten Politik
wurde. Im Gegensatz zu den Ptolemäern, die sich von den ägyptischen
Glaubensformen beeinflussen ließen und ägyptische Gottheiten in ihr
Pantheon einführten (der Kultus des Osiris-Apis oder Serapis und der
Isis, die Verehrung „heiliger Tiere“ usw.), traten die Seleuciden als
Förderer der griechischen Kulte auf: dem Apollo, dem Zeus und an-
deren griechischen Gottheiten errichteten sie Tempel, wobei sie es
nicht unterließen, ihre Glaubensformen auch den Einheimischen, den
„Asiaten“, gewaltsam aufzuzwingen. Dies machte nur wenig Schwie-
rigkeiten bei den heidnischen Völkerschaften, die sich sehr leicht von
dem äußeren Glanze der griechischen Kultur blenden ließen und zu-
gleich mit den neuen Formen des täglichen Daseins auch manches von
der geistigen Lebensanschauung mitübernahmen. Syrien machte im
III. Jahrhundert den Prozeß einer intensiven Hellenisierung der ori-
entalischen Lebensführung durch, der erst später dem entgegengesetz-
ten Prozeß einer Orientalisierung der griechischen Kultur, eines Ein-
dringens orientalischer Elemente in diese Platz machte. In dieser er-
sten Periode eben wurde der Seleucidenmonarchie auch Judäa einver-
leibt, das auf diese Weise gar bald die ganze Gewalt des Ansturms
der hellenenfreundlichen regierenden Kreise zu spüren bekam.
Im Seleucidenreich war das jüdische Bevölkerungselement schon
bei der Reichsgründung vertreten, da in seinen Bestand von Anfang
an die älteste Diaspora, die babylonische, deren Zweige sich über Sy-
rien und Kleinasien ausbreiteten, aufgenommen wurde. Die Wieder-
vereinigung dieser jüdischen Kolonien mit der judäischen Metropole,
die sich nach der Unterwerfung Palästinas durch Antiochus III. voll-
zogen hatte, mußte unausbleiblich auch den Wechselverkehr ihrer Be-
§ 6. Das hellenistische Asien und der Hellenismus in Judäa
wohner fördern. In diesem ganzen Gebietsbereiche war der Jude
nunmehr von dem griechischen Element umgeben. Er kam mit dem
Griechen oder dem hellenisierten Einheimischen nicht nur in der Dia-
spora in Berührung, sondern auch in seiner eigenen Heimat, sowohl an
ihren Grenzen als auch im Inneren des Landes. Im zweiten Jahrhun-
dert der griechischen Herrschaft war Judäa von einem Kranze von
Städten umschlossen, die mit einem Gemisch von Griechen und Sy-
rern bevölkert waren. An der Meeresküste herrschte die griechische
Bevölkerung entschieden vor (die Städte Ptolemais-Akko, Jaffa oder
Jope, Gaza, Askalon u. a.). Im nördlichen Gebiet des ehemaligen Rei-
ches Israel, das von dieser Zeit an Galiläa genannt wird, verschwinden
die jüdischen Einwohner in der Masse der Griechen und Syrer. In
der Gegend zwischen Judäa und Galiläa lebte eine gemischte Bevöl-
kerung, aus Griechen, Samaritanern und Judäern bestehend, insbe-
sondere in den beiden Hauptstädten dieser Landschaft, in Samaria
und Skythopolis (Beth-Schean). In Trans Jordanien war die griechisch-
syrische Völkerschaftsgruppe gleichfalls vorherrschend (Gadara, Pella,
Gerasa, Philadelphia und andere Städte der späteren Dekapolis). Unter
diesen Umständen war auch die Verbreitung der griechischen Sprache
unter den Juden unumgänglich geworden, während sie noch in der
vorangegangenen Epoche der persischen Herrschaft aramäisch spra-
chen. Die griechische Sprache wird zur internationalen Verkehrsspra-
che in Vorderasien und Nordafrika. Handel und Gewerbe, in denen
die Griechen neben den Vätern des Warenaustausches, den Phöniziern,
nun eine hervorragende Stellung einnehmen, zwingen diese Sprache
gebieterisch sogar denjenigen auf, die sonst ihre nationale Eigenart
in jeder Weise zu erhalten bestrebt waren. Große Handelszentren, wie
das ägyptische Alexandrien, das syrische Antiochia und das babylo-
nische Seleucia am Tigris wurden gewissermaßen zu Hellenisierungs-
reservoiren. Es ist nicht genau bekannt, welche Rolle zu jener Zeit den
Juden im internationalen Handelsverkehr zufiel, der damals die Reiche
der Ptolemäer und Seleuciden, Afrika und Asien, zu einem einzigen
riesengroßen Markte vereinigte; man kann jedoch mit Bestimmtheit
annehmen, daß diese Rolle eine sehr bedeutende war, wenigstens in
der Diaspora, die sich über die großen Handelswege zwischen dem
Nil und Euphrat längs der ganzen Küste des Mittelmeeres erstreckte.
In Judäa selbst bildete die Grundlage des wirtschaftlichen Lebens
nach wie vor der Ackerbau, dessen Erzeugnisse die Hauptartikel für
Judäa unter der Seleucidenherrschaft
den Ausfuhrhandel lieferten. Jedoch tritt dem Ackerbauer jetzt auch
schon der Kaufmann und der Gewerbetreibende zur Seite. Die zahl-
reich gewordene Kaufmannschaft wirkte nur noch auf die gestrengen
Hüter der patriarchalischen Sitten abschreckend. „Zwischen Verkauf
und Kauf zwängt sich die Sünde ein“ — so sucht der alte Moralist
seine Zeitgenossen zu belehren (Ben Sirah 27, 2).
Bei einer so engen Berührung mit der hellenistischen Umwelt in
Handelsverkehr und Lebensführung vermochte auch das rigorose, sich
abschließende Judäa dem allgemeinen Hellenisierungsprozeß nicht zu
entgehen. Konnte es sich im Zeitalter der Ptolemäer der Einwirkung
dieses Prozesses noch widersetzen, so wurde mit der Befestigung der
syrischen Herrschaft der Widerstand immer schwieriger. Das jüdische
Volk sah sich mitten im Strudel der hellenistischen Zivilisation, ein-
geklemmt zwischen Ägypten und Syrien, welch letzteres sich unter der
Seleucidenherrschaft die Verwirklichung des Traumes Alexanders des
Großen von einer universalen griechischen Monarchie zum Ziele ge-
setzt hatte. Schon allein die Verbreitung der griechischen Sprache im
offiziellen und im Handelsverkehr mußte eine Hellenisierung der Le-
bensführung in gewissen Kreisen der jüdischen Gesellschaft mit sich
bringen, namentlich in den reichen Familien, wie z. B. bei den Tobi-
aden. In der ersten Zeit machte sich vor allem das Streben nach An-
eignung jener äußeren Kennzeichen der griechischen Kultur bemerk-
bar, die den durch das strenge sittliche Regime des Judaismus oder
durch den übergroßen rituellen Formalismus sich beengt Fühlenden
besonders verlockend erscheinen mußten. Ein gewisser Teil der jüdi-
schen Jugend konnte nicht umhin, an dem geselligen, lustigen Leben
der Griechen Gefallen zu finden; er fühlte sich von den verschieden-
artigen Spielen, den Theatern und Volksschauspielen, von den Leibes-
übungen und Wettkämpfen der Jünglinge in den „Gymnasien“, in
denen auch weltlicher, wissenschaftlicher Unterricht erteilt wurde, so-
wie von den Pferderennen und ähnlichen Veranstaltungen auf den
Rennbahnen unwiderstehlich angezogen. Viele hätten es gerne gesehen,
wenn Jerusalem Alexandrien oder Antiochia ähnlich geworden, wenn
an Stelle des zurückgezogenen häuslichen Lebens der Juden das freie,
gesellige Leben auf der Straße getreten wäre, wenn an öffentlichen
Plätzen Sport und allerhand Lustbarkeiten sich neben den religiösen
Zeremonien Raum verschafft hätten. Auf den ersten Blick mochte dies
Bestreben, in das jüdische Leben Abwechslung hineinzubringen, nur
§ 6. Das hellenistische Asien und der Hellenismus in Judäa
wünschenswert und jedenfalls harmlos erscheinen; es mochte schei-
nen, daß der hellenische Kult der Schönheit und des Genusses viel-
leicht mildernd auf den sittlichen Rigorismus der Juden einwirken
und ihr eintöniges, in sich geschlossenes Leben verschönern könnte.
In Wirklichkeit kam es aber ganz anders. Die Hellenisten, wie die An-
hänger der griechischen Kultur in Judäa genannt wurden, begannen
mit der Einführung harmloser griechischer Spiele und Lustbarkeiten,
endeten aber damit, daß sie den größten Teil ihrer sittlichen Vorzüge
und religiösen Traditionen einbüßten. So traten z. B. die jüdischen
Jünglinge während der öffentlichen Spiele nach griechischem Vor-
bild nackt auf, das angestammte Schamgefühl und die angeborene
Keuschheit zurückdrängend; um dem Spotte der Griechen zu entge-
hen, suchten sie die Spuren des religiösen Beschneidungsaktes auf jede
Weise zu maskieren. Blindlings das Fremde nachahmend, gingen die
Hellenisten auch in anderen Lebenssphären so weit, daß sie sich alles
spezifisch Jüdischen schämten: sie veränderten ihre Namen nach grie-
chischer Art, übernahmen griechische Sitten auch im häuslichen Le-
ben, kurz, sie verloren immer mehr ihre nationale Eigenart. Die ober-
flächliche äußere Assimilation artete in eine tiefe innere Anpassung
aus, die zur Lossagung von den politischen und geistigen Interessen
des eigenen Volkes führte.
Gegen diese Gefahr traten nun die konservativen Elemente der jü-
dischen Gesellschaft auf. Es bildete sich eine Partei von Glaubens-
eiferern, Chassidäer oder „Gottesfürchtige4‘ genannt, die das Volk
durch Anspannung der religiösen Zucht vor den Verlockungen der
fremden Kultur zu schützen suchten. Die Chassidäer, die die Politik
Esras und der Soferim fortführten, setzten dem Eindringen fremder
Sitten und Anschauungen in das jüdische Milieu den hartnäckigsten
Widerstand entgegen; gegenüber den Auswüchsen der Assimilation
trieben sie die nationale Absonderung auf die Spitze. Sie verboten es,
mit den Griechen in nähere Beziehungen zu treten, ihre Speisen zu ge-
nießen, an ihren Versammlungen, insbesondere aber an den öffent-
lichen Spielen und Lustbarkeiten, teilzunehmen. Die zahlreichen, Sab-
bat und Feiertage betreffenden Vorschriften, sowie die minutiösen,
das persönliche, Familien- und öffentliche Leben in allen Einzelhei-
ten regulierenden Sitten und Bräuche wurden aufs strengste eingehal-
ten. Der weltlichen Bildung setzte man das ausschließliche Studium
der Thora entgegen. Jedes Abweichen von den Volkssitten galt als
43
Judäa unter der Seleucidenherrschaft
nationaler Verrat, als der erste Schritt des Überlaufens in das fremde
Lager.
Unter normalen Verhältnissen hätte der Kampf der beiden Par-
teien, der Hellenisten und Chassidäer, nicht auf weitere Kreise über-
gegriffen, er hätte es nicht vermocht, das ganze Volksleben bis in
seine letzte Tiefe aufzuwühlen. Er wäre allenfalls eine innere Ange-
legenheit des Judentums geblieben und hätte ein gleiches Ende ge-
nommen, wie manche anderen Kulturbewegungen in der jüdischen
Geschichte. Da griffen aber äußere politische Ereignisse so verwir-
rend in den Kulturkampf ein, daß er bald in einen Bürgerzwist aus-
arten mußte. Eine der sich befehdenden Parteien, die hellenistische,
vermochte der Versuchung nicht zu widerstehen, die syrische Regie-
rung, die den Plan der Hellenisierung der Juden hegte, um Beistand
anzugehen. Die Parteigänger der Assimilation wurden so zur Regie-
rungspartei und dies verlieh dem Kulturkampf eine politische Fär-
bung, was gar bald schicksalsschwere Folgen nach sich zog.
§7-
§ 7. Seleucus IV. und Antiochus Epiphanes. Der innere Zwiespalt
(Jason)
Als die Einwohner Jerusalems im Jahre 198 nach dem Siege der
Syrer bei Paneion Antiochus III. nach seinem Einzuge in die heilige
Stadt ihre Huldigungen darbrachten, hatten sie allen Grund, auf bes-
sere Zeiten zu hoffen. Antiochus ließ den Judäern die ihnen auch
von den Ptolemäern eingeräumte weitgehende Autonomie und erwei-
• terte sie sogar noch durch neue Vorrechte und Freiheiten. Es war zu
hoffen, daß dem Volke unter dem Schutze des mächtigen Seleuciden-
reiches auch fernerhin Freiheit und Ruhe zuteil werden würden. Al-
lein diese Hoffnung schlug fehl. Schon wenige Jahre nach der An-
gliederung Judäas wurde die syrische Monarchie von einem harten
Schlage getroffen, der ihre Macht knickte. In seinem Drange nach
Weltherrschaft stieß Antiochus III. mit einer neuen Macht der Welt-
geschichte zusammen, mit der römischen Republik, die damals gerade
ihre militärische Kraft in den Punischen Kriegen voll entfaltete und
darauf ausging, ihre Herrschaft über ganz Vorderasien, über das weite
Reich der Seleuciden auszubreiten. Mit Hilfe der freien griechischen
Staaten Kleinasiens, die um ihre Unabhängigkeit mit den Seleuciden
rangen, brachten die Römer Antiochus III. in der Schlacht bei Ma-
44
§ 7. Seleucus IV. und Antiochus Epiphanes. Der innere Zwiespalt (Jason)
gnesia eine empfindliche Niederlage bei (190). Antiochus sah sich
gezwungen, seine Truppen aus Kleinasien zurückzuziehen, seine Kriegs-
flotte der Vernichtung preiszugeben und sich zur Zahlung einer rie-
sigen Kriegsentschädigung zu verpflichten. Zur Sicherstellung dieses
Tributs mußte er unter anderen Geiseln auch seinen Sohn, der später
unter dem Namen Antiochus Epiphanes eine so verhängnisvolle Rolle
in der jüdischen Geschichte spielen sollte, nach Rom wegführen las-
sen. Auf der Suche nach Mitteln zur Abzahlung der schwer lastenden
Kriegsschuld versuchte Antiochus einmal, die Schatzkammern des rei-
chen heidnischen Tempels zu Elymais in Mesopotamien auszuräumen,
allein die über den Anschlag auf den Tempel empörten Elymäer er-
schlugen den König mitsamt seinem Gefolge. Zutreffend wird das
Los Antiochus III. von einem zeitgenössischen jüdischen Beobachter
in folgenden Worten geschildert: „Da wendet er sein Absehen gegen
die Küstenländer (Kleinasien und Archipelagus) und nimmt viele ein,
aber ein Machthaber . . . zahlt siebenfach seinen Hohn ihm heim
(Niederlage bei Magnesia). Da wendet er sein Absehen gegen die Fe-
stungen seines Landes, aber er kommt darüber zu Fall, stürzt und
verschwindet“ (Dan. 11, 18—19). Den syrischen Thron bestieg nun
der Sohn des Antiochus, Seleucus IV. (187—175).
Der neue König hatte all die schweren Folgen zu tragen, die das
Mißgeschick seines Vaters mit sich gebracht hatte. Die auf ihm la-
stende Kriegsschuld hatte zur Folge, daß er in tatsächliche Abhängig-
keit von Rom geriet. Dies wirkte wiederum auf die Syrien unterge-
benen Völker drückend zurück: man bürdete ihnen sowohl regel-
mäßige wie auch außerordentliche Abgaben auf, die von den könig-
lichen Reamten oder von den Steuerpächtern unnachsichtig eingetrie-
ben wurden. Manchmal wagten die Beamten unter Zustimmung der *
höchsten Stellen sogar eine ähnliche Plünderung der nationalen
Schätze, wie die, zu der sich Antiochus III. im Tempel zu Elymais
hatte hinreißen lassen. Auch in Jerusalem kam es zu einem derarti-
gen Vorfall. Hohepriester war zu jener Zeit Onias III., der Nachfolger
Simons II. Unter ihm versah ein gewisser Simon aus dem Geschlechte
und der Partei der Tobiaden (§ 4) das Amt des Aufsehers oder Ver-
walters am Jerusalemer Tempel. Ein Anhänger der hellenenfreund-
lichen Partei, die von jeher den Seleuciden zugeneigt war, diente der
Tempelaufseher mitten im Zentrum der judäischen Selbstverwaltung
den Interessen der fremden Macht. Sein Diensteifer gegenüber der
45
Judäa unter der Seleucidenherrschaft
syrischen Regierung erregte den Unwillen des Hohepriesters. Es kam
zu einem Zusammenstoß zwischen Onias und Simon, der, wie es
scheint, die Amtsentsetzung Simons zur Folge hatte. Von Rachegefühl
gegen den Hohepriester getrieben, begab sich Simon zum Statthalter
von Coelesyrien und Phönizien, Apollonius Thrasäi, und hinterbrachte
ihm, daß im Jerusalemer Tempel nutzlos große Reichtümer lägen,
die dem königlichen Fiskus zugute kommen könnten1). Der Statthal-
ter erstattete Seleucus IV. darüber Rericht, und der König, der sich
in großer Geldverlegenheit befand, schickte nun seinen Reichskanzler
Heliodor nach Jerusalem niit dem Aufträge, die Tempelschätze ein-
zuziehen. Der Hohepriester machte Heliodor darauf aufmerksam, daß
der Tempelschatz aus Depositen Privater, insbesondere aus Erbschaf-
ten von Witwen und Waisen, bestehe, der königliche Gesandte war
aber unerbittlich. Er drang in das Heiligtum, um den königlichen
Auftrag auszuführen; da stellte sich ihm aber irgendein unerwartetes
Hindernis in den Weg. Die zum Phantastischen neigende Volkssage will
wissen, daß Heliodor, nachdem er die Schwelle des Heiligtums über-
schritten hatte, von der Vision eines furchtbaren Reiters und zweier
Jünglinge gebannt worden sei, die den kühnen Tempelschänder sogar
zu Roden geworfen und fürchterlich zugerichtet hätten, so daß man
ihn halbtot vor Schreck auf einer Tragbahre aus dem Tempel hinaus-
tragen mußte. So mußte der königliche Gesandte unverrichteter Dinge
Jerusalem verlassen. Der verräterische Simon ließ sich jedoch durch
das Mißlingen seines Plans nicht einschüchtern und setzte sein Ränke-
spiel gegen Onias fort. Er hinterbrachte dem König, daß die Schuld
1) Nur so läßt sich m. E. der Verlauf der Ereignisse zwischen 180 und 170
und die fortdauernd judenfeindliche Politik der beiden aufeinanderfolgenden Regie-
rungen Seleucus IV. und Antiochus IV. erklären. Der Aufseher Simon war der
erste „Tempels-Hellenist, der bei den Seleuciden Hilfe suchte; zehn Jahre später
ging Jason, nur noch entschlossener, denselben Weg. Der Hinweis des zweiten
Makkabäerbuches 3, 4, demzufolge der Vorsteher Simon „sich mit dem Hohepriester
in Sachen der städtischen Marktaufsicht (Agoranomie) entzweit“ hätte, zeugt von
dem Bestehen von Meinungsverschiedenheiten in Verwaltungsangelegenheiten. Diese
mochten in der griechenfreundlichen Gesinnung Simons ihre Ursache haben. Simon
beabsichtigte anscheinend, die Stadtverwaltung in seine Hand zu bekommen, was für
viele Demagogen jener Zeit der Weg zur Erlangung der Staatsgewalt war (wie
Ed. Meyer, Ursprung d. Christ. II, i36 treffend annimmt). Übrigens stellt der
Verfasser des Makkabäerbuches selbst einen inneren Zusammenhang zwischen dem
Verrate Simons und dem Jasons fest, und überdies auch noch verwandtschaftliche
Beziehungen zwischen Simon und dem Nachfolger Jasons, dem extremen Hellenisten
Menelaus (Kap. 4, 1—7, 23). Vgl. unten, S 8, Anmerk.
46
§ 7. Seleucus IV. unä Antiochus Epiphanes. Der innere Zwiespalt (Jason)
an dem Mißerfolg Heliodors den Hohepriester treffe, und suchte auch
sonst Onias als Feind der syrischen Regierung hinzustellen. Da begab
sich Onias persönlich nach Antiochia, um dem König den wahren
Sachverhalt darzustellen. — So ist es nur zu verständlich, wenn ein
jüdischer Verfasser die Zeit Seleucus IV. kurzweg als eine Epoche der
Erpressung kennzeichnet: „Und an seine (des Antiochus III.) Stelle
tritt, der einen Steuereintreiber schickt durch die Zierde des Reiches,
aber in einigen Tagen wird er zerschmettert, weder im Zorn (des
Volkes), noch im Krieg“ (Dan. n, 20).
Raid aber sollten für Judäa noch schlimmere Zeiten kommen. Se-
leucus wurde von seinem Minister Heliodor ermordet, und den syri-
schen Thron bestieg sein Rruder Antiochus IV. (175—164), der zu
jener Zeit aus Rom zurückgekommen war, wo er fünfzehn Jahre als
Geisel verbracht hatte. Der Thronwechsel verhieß Judäa wenig Er-
freuliches. Antiochus IV. vereinigte in seiner Person zugleich die Feh-
ler des Griechen wie des Römers: den leidenschaftlichen Hang zum
Luxus und zu gleißnerischem Prunk mit militärischer Ruhmsucht. In
syrischen Städten baute er Tempel und andere öffentliche Gebäude
nach dem Vorbilde Athens, während er in Antiochia Gladiatoren-
kämpfe nach römischem Muster einzuführen versuchte. In der Ge-
schichte haben sich zwei Beinamen des Antiochus erhalten: der offi-
zielle — Epiphanes (der Erlauchte) und der unoffizielle — Epimanes
(der Rasende, der Irrsinnige), wodurch der Gegensatz zwischen dem
äußerlichen Glanz und der inneren Verderbtheit des syrischen Mon-
archen treffend zum Ausdruck kam1). Antiochus war bestrebt, alle
ihm untergebenen Nationen mit dem glänzenden Firnis der griechi-
schen Kultur zu überziehen, und in diesem Restreben, das bei ihm
in einen krankhaften Wahn ausartete, ließ er sich durch nichts zu-
rückhalten. Der in Judäa zu jener Zeit entbrannte Hader zwischen
Hellenisten und Chassidäern gab dem syrischen Despoten Anlaß, sich
in die inneren Angelegenheiten des ihm fremden Volkes einzumischen
!) Der Beiname Epiphanes stellt eine Abkürzung des Prunknamens Theos
Epiphanes = „geoffenbarter Gott“, Gott auf Erden, dar, was mit dem üblichen
Anspruch der Könige der alten Zeit auf göttliche Würde in Zusammenhang steht.
Die Vorgänger Antiochus IV., als Nachfolger des vergötterten Alexander des
Großen, hielten sich nicht selten für gottähnlich; so wurde z. B. Antiochus II. kurz-
weg „Gott“ (Antiochus Theos) genannt. Den Beinamen „Epimanes“ legte Anti-
ochus IV. sein Zeitgenosse, der griechische Geschichtsschreiber Polybius, bei, der
auf diese Weise diesen schlimmsten Vertreter der Seleucidendynastie nach Gebühr
gekennzeichnet hat.
47
Judäa unter der Seleucidenherrschaft
und Jerusalem nicht nur die Kultur, sondern auch den religiösen Kul-
tus des antiken Heidentums aufzudrängen.
Der durch den Kulturkampf entstandene Zwiespalt trat auch in
der Familie des an der Spitze des jüdischen Volkes stehenden Hohe-
priesters zutage. Der Bruder Onias III., Josua, gehörte der Jerusale-
mer Hellenistenpartei an und war sogar einer ihrer Anführer. Er
vertauschte seinen hebräischen Namen mit dem griechischen Jason.
Ein leidenschaftlicher Anhänger des Hellenentums, suchte Jason grie-
chische Lebensführung und hellenistische Bildung in seinem Lande
einzuführen, traf abe^ auf den Widerstand der konservativen Partei.
Dies erbitterte ihn und er beschloß, seinem Bruder die Gewalt zu ent-
reißen, um dessen Amt zu übernehmen und dann mit seinen kulturel-
len Neuerungen auf offiziellem Wege, mit Hilfe der syrischen Re-
gierung durchzudringen. Außer den Parteiinteressen spielte bei Ja-
son anscheinend auch persönlicher Ehrgeiz mit: dies waren die Be-
weggründe, die ihn zum Verrat an seiner Nation trieben. Er bot dem
König Antiochus Epiphanes eine große Summe Geldes, entweder in
Form eines einmaligen Tributs oder in Form einer Erhöhung der
Gesamtsumme der alljährlich von Judäa zu entrichtenden Steuern, um
so den König zu bestimmen, ihn statt Onias in das Hohepriesteramt
einzusetzen. Überdies versprach er Antiochus, in Jerusalem ein „Gym-
nasium“, eine Anstalt für gymnastische Übungen und allerhand Sport,
sowie ein „Ephebeum“, eine Schule, in der die Jugend in kriegeri-
schem Geiste nach athenischem Muster erzogen werden sollte, ein-
zurichten. Er bat ferner den König, den Einwohnern Jerusalems das
„antiochenische Bürgerrecht“ zu verleihen, was als ehrenvoll galt und
auch mit gewissen Vorrechten verbunden war. Da diese Vorschläge
den Interessen und Wünschen des Königs durchaus entsprachen, zö-
gerte er nicht, der Bitte Jasons stattzugeben. Onias wurde seines Am-
tes entsetzt und anscheinend nach Antiochia verbannt, während sein
hellenistisch gesinnter Bruder Hohepriester wurde (174).
Nachdem sich Jason der Gewalt bemächtigt hatte, führte er in
Jerusalem sofort die geplanten, im Geiste der hellenistischen Partei
gehaltenen Neuerungen ein. Der religiöse Tempelkultus blieb aller-
dings von jedem Eingriff verschont, jedoch wurde in der Nähe des
jüdischen Heiligtums ein Tempel anderer Art errichtet, ein „Gym-
nasium“, wo der physische Kult der Spiele und des Genusses
herrschte. Die Jünglinge füllten den Spielplatz, übten sich in Fecht-
§ 8. Menelaus und die inneren Wirren
kunst, Diskuswerfen und in anderen gymnastischen Spielen und scheu-
ten sich nicht, vor der Zuschauermenge nackt aufzutreten. Sogar die
jungen Priester verließen manchmal ihren Altardienst und eilten auf
den benachbarten Platz, um an den belustigenden griechischen Spie-
len teilzunehmen. Dieses Treiben verletzte das religiöse und sittliche
Gefühl der gesetzestreuen Juden aufs tiefste. Ohne auf das Murren
der nationalen Partei zu achten, setzte indessen Jason seine Politik
der Hellenisierung des Volkes immer weiter fort. Als in Tyrus, in
Gegenwart des Antiochus, olympische Festspiele der Griechen veran-
staltet wurden, sandte auch Jason eine Abordnung jüdischer Jüng-
linge mit einer beträchtlichen Geldsumme hin, damit sie sich dort
an der Opferdarbringung zu Ehren des phönizischen Herakles be-
teiligten. Die Abgesandten brachten es jedoch nicht übers Herz, die-
sen der Beteiligung am Götzendienst gleichkommenden Auftrag zur
Ausführung zu bringen, und übergaben das Geld dem königlichen Fis-
kus zu Schiffbauzwecken.
Eines Tages, während seines Aufenthaltes in Phönizien, besuchte
Antiochus, dem Berichte des Chronisten zufolge, auch die Küsten-
stadt Jope (Jaffa) sowie das nahegelegene Jerusalem. — Jason be-
reitete ihm einen prunkvollen Empfang. Antiochus zog mit einem
Fackelzug und unter Jubelrufen der Einwohnerschaft in Jerusalem
ein. Der hohepriesterliche Usurpator tat alles Erdenkliche, um den
König, der ihm unter Verletzung der Verfassung Judäas die Gewalt
verliehen hatte, zu seinen Gunsten zu stimmen. Bald jedoch bekam
Jason zu spüren, wie unbeständig eine nur von der königlichen Laune
abhängige und unter Mißachtung des gesetzlichen Volkswillens er-
langte Macht ist.
§ 8. Menelaus und die inneren Wirren
Drei Jahre lang versah Jason das hohepriesterliche Amt. Infolge
des willkürlichen Eingreifens der syrischen Regierung in die Ange-
legenheiten der jüdischen Selbstverwaltung war das Rechtsgefühl in
den höheren Volksschichten schon so unterwühlt, daß auf die Würde
des IJohepriesters nun ein Mann Anspruch zu erheben sich erkühnte,
der nicht einmal seiner Abstammung nach dazu berechtigt war. Es
war dies Menelaus aus der einer Seitenlinie des Hohepriesterge-
schlechts angehörenden Familie der Tobiaden. Er faßte den Plan, Ja-
4 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
49
Judäa unter der SeleucidenherrSchaft
son die höchste geistliche Würde streitig zu machen1). Der neue An-
wärter war ein Parteigänger der extremen Hellenisten, die das Pro-
gramm der Assimilation auf die Spitze trieben. Er scheint aber nicht
nur von den Interessen seiner Partei geleitet worden zu sein: Herrsch-
sucht und persönlicher Vorteil waren die Triebfedern seiner Wirk-
samkeit in noch viel höherem Maße als es bei Jason der Fall war.
Er erreichte sein Ziel durch einen doppelten Verrat: an der Person
seines Vorgängers wie auch an seiner Nation. Die Urkunde berichtet,
daß Jason, von dem Vorhaben des Menelaus nichts ahnend, ihn mit
dem üblichen Tribut nach Antiochia gesandt habe. Der heimtückische
Bote verstand es, das Wohlwollen des Antiochus zu gewinnen, und
indem er sich dessen Geldgier zunutze machte, bot er ihm für das
Hohepriesteramt um dreihundert Talente Silber mehr als Jason. Me-
nelaus mag überdies dem syrischen Machthaber versprochen haben,
die Hellenisierung in Jerusalem energischer zu betreiben als es Jason
getan hatte. Der König wurde von ihm gewonnen. Jason wurde sei-
nes Amtes entsetzt und mußte nach Transjordanien, in das Ammo-
niterland, flüchten (171), während die Hohepriesterwürde einem
Manne zufiel, der nach der Aussage des Chronisten „nichts
von der Art eines wahren Hohepriesters besaß, wohl aber die Eigen-
schaften eines wütigen Tyrannen und den Grimm eines grausamen
Raubtieres“ (II. Makk. 4, 2 5).
Von unstillbarer Machtgier getrieben, hatte sich indessen Mene-
laus Antiochus gegenüber zu Versprechen hinreißen lassen, die er
hernach nicht zu erfüllen vermochte. Als der König durch den Fe-
stungshauptmann Jerusalems, Sostrates, die versprochene Geldsumme
anforderte, war Menelaus nicht in der Lage, seinen Verpflichtungen
1) Nach dem Zeugnis von II. Makk. l\, 2 3 war Menelaus ein Bruder des bereits
erwähnten Tempelaufsehers Simon, der den Versuch zur Plünderung des Jeru-
salemer Tempels unter Seleucus IV. verschuldet hatte. Wenig wahrscheinlich er-
scheint die Herleitung der Abstammung des Simon aus dem „benjamitischen“ Ge-
schlechte (ibid. 3, 4) wie auch die Vermutung der außerpriesterlichen Abstammung
des Menelaus. Zutreffender ist wohl die Annahme (auf Grund von Ant. XII, 5, I
und Bellum, I, 1,1) von seiner Zugehörigkeit zu einer Seitenlinie der „Kohanim“, den
Tobiaden, denen kein Erbrecht auf das Hohepriestertum zukam, da dieses ausschließlich
den Zadokiten Vorbehalten war. Andere, dem widersprechende Angaben des Josephus
{Ant. XII, 5), denen zufolge Menelaus ein jüngerer Bruder des Jason ^war und
ursprünglich Onias hieß, scheinen aus einer durchaus trüben Quelle geschöpft zu
sein. Welchem hebräischen Namen der griechische Name Menelaus entsprochen
haben mag, bleibt unerfindlich.
5o
§ 8. Menelaus und die inneren Wirren
nachzukommen. Daraufhin wurde er nach Antiochia zitiert, um dem
König Rede zu stehen. An seiner Stelle hinterließ er in Jerusalem
seinen Bruder, der gleich ihm einen griechischen Namen, Lysi-
machus, trug, und nahm einen Teil der kostbaren Geräte aus dem Je-
rusalemer Tempel mit sich auf die Reise. In Antiochia angelangt,
traf Menelaus den König, der gerade gegen die aufrührerischen Ci-
licier ins Feld gezogen war, nicht an und mußte sich nun vor dem
königlichen Stellvertreter Andronicus verantworten. Durch wertvolle
Geschenke aus dem mitgebrachten Tempelgerät gelang es ihm, den
habsüchtigen Würdenträger für sich zu gewinnen. Von allen diesen
Machenschaften erhielt jedoch der ehemalige Hohepriester Onias III.
Kunde, der sich zu jener Zeit gerade in Daphne, einem Vorort Anti-
ochias, aufhielt. Der empörte Greis beschuldigte Menelaus öffentlich
der Ausplünderung des Jerusalemer Heiligtums und der Bestechung
des Andronicus. Aus Furcht vor der Rache der beiden Überführten ge-
traute sich Onias nicht, Daphne zu verlassen, wo sich ein Asyl für
Verfolgte im dortigen berühmten Tempel des Apollo und der Artemis
befand. Dem Andronicus, dem Mitschuldigen der Missetaten des Mene-
laus, gelang es jedoch, Onias durch List aus dem Asyl zu locken und
ihn zu ermorden. Der Chronist fügt hinzu, daß dieser Meuchelmord
nicht nur die in Antiochia lebenden Juden, sondern sogar die dortigen
Griechen aufs tiefste empörte. Auf deren Anklage hin befahl An-
tiochus nach seiner Rückkehr aus Cilicien, Andronicus an derselben
Stelle hinzurichten, an der der greise Onias umgebracht worden war.
Dem Hauptanstifter des Frevels jedoch, Menelaus selbst, bewahrte der
König seine Gunst und beließ ihm sogar die Hohepriesterwürde. Es
wird ihm wohl gelungen sein, den König durch Geschenke und
Schmeichelreden zu besänftigen.
In Jerusalem brachen unterdessen Volksunruhen aus. Der Bruder
und Stellvertreter des Menelaus, Lysimachus, setzte die Ausplünderung
der Tempelschätze fort, um sie als Tribut nach Antiochia zu schicken.
Wahrscheinlich hat er sich sogar nicht gescheut, auch die im Tempel
deponierten Privatgelder zu entwenden. Ob all dieser Missetaten riß
dem Volke endlich die Geduld. Die wütende Volksmenge drang unter
Drohrufen gegen Lysimachus zum Tempel vor. Der gegen sie ausge-
sandten Wache begegnete sie mit Steinwürfen und verjagte sie mit
Stockhieben. Lysimachus selbst wurde bei der Schatzkammer des
Tempels erschlagen. Darauf begaben sich drei Vertreter der Jerusa-
4*
5i
Judäa unter der Seleucidenherrschaft
lemer Gerusia nach Tyrus, wo sich damals Antiochus aufhielt, um
ihm die Gründe des Volksaufruhrs auseinanderzusetzen und Menelaus
als den tatsächlichen Urheber aller Übel anzuklagen. Doch sprach der
gegen die Jerusalemer Bevölkerung voreingenommene Antiochus nicht
nur seinen Schützling Menelaus frei, sondern befahl auch, die drei
Abgesandten der Gerusia als Vertreter der judäischen Revolutions-
partei hinzurichten. Diese gräßliche Tat erregte die Judäer in höch-
stem Maße und überzeugte sie endgültig davon, daß der Kampf nun-
mehr dem Hauptfeinde gelten müsse: dem syrischen Könige selbst.
Um diese Zeit brach von neuem ein Krieg zwischen Syrien und
seinem Erzfeinde Ägypten aus. Das militärisch nicht genügend ge-
rüstete Ägypten wäre den kriegerischen Seleuciden nicht gewachsen
gewesen, wenn es sich nicht auf das mächtige Rom hätte stützen kön-
nen, das nach seinen Siegen über Karthago das nördliche Afrika in
seine Einflußsphäre einbezogen hatte. Allein gerade im Jahre
170 war Rom durch einen neuen Krieg mit Macedonien von seiner
afrikanischen Interessensphäre abgelenkt, und diesen Augenblick
nutzte eben Antiochus IV. zu einem Einfall in Ägypten. Er besetzte
das Gebiet von Pelusium, es gelang ihm aber nicht, bis Alexandrien
vorzudringen. Unterdessen verbreitete sich in Judäa das Gerücht, der
syrische König sei in dem Feldzuge umgekommen. Das Volk jubelte.
Die ägyptenfreundliche Partei in Jerusalem erhob ihr Haupt. Es
schien, als ginge die Gewaltherrschaft des seiner Stütze beraubten
Menelaus zu Ende. Durch diese Gerüchte ermutigt, eilte der flüchtige
Jason aus Transjordanien nach Jerusalem und drang an der Spitze
einer tausendköpfigen Schar in die Stadt ein. Der mutlos gewordene
Menelaus zog sich in die Jerusalemer Festung und unter den Schutz
der syrischen Garnison zurück. Jason scheint nur bei einem gewissen
Teile der judäischen Bevölkerung, die ihn als gemäßigten Hellenisten
dem gewissenlosen Usurpator und Verräter Menelaus vorzog, Unter-
stützung gefunden zu haben. Allein auch die Tage der Herrschaft Ja-
sons in Jerusalem waren gezählt. Das Gerücht von dem Tode des An-
tiochus erwies sich als falsch. Als der syrische König von den Wirren
in Jerusalem Nachricht erhielt, wandte er sich unverzüglich dorthin.
Jason mußte abermals aus der Hauptstadt nach dem Ammoniterlande
flüchten. Als er hier nicht auf genommen wurde, irrte er von einem
Lande zum andern, bis er endlich in Lacedämonien oder in Ägypten
eine Zuflucht fand, wo er denn auch in Verschollenheit starb. Inzwi-
Ö2
§ 9. Die religiösen Verfolgungen
sehen rückte Antiochus mit seinem Heere in Jerusalem ein und vergalt
der Einwohnerschaft in grausamerWeise ihren Aufruhr. Viele Juden
wurden erschlagen oder in die Gefangenschaft verschleppt. Der Tem-
pel wurde mit Hilfe des Menelaus restlos ausgeplündert. Unter ande-
rem wurden auch die drei kostbarsten Schmuckgegenstände aus dem
Innenraume des Heiligtums entwendet: der Weihrauchaltar, der
Schaubrottisch und der Leuchter. Nach vollbrachtem Zerstörungs-
werke kehrte der König nach Antiochia zurück, in den Herzen der
Judäer einen flammenden Haß gegen die syrische Gewaltherrschaft
zurücklassend. Trotz alledem blieb Menelaus an der Spitze der ihn
verabscheuenden Nation, indem er sich auf die Waffenmacht der syri-
schen Garnison stützte, die nun bedeutend verstärkt wurde.
§ 9. Die religiösen Verfolgungen
Das Seleucidenjoch lastete immer drückender auf Judäa, und viele
bedauerten den Verlust der Freiheit, deren sich das Volk unter der
Herrschaft der ägyptischen Ptolemäer erfreut hatte. In Ägypten
herrschte zu jener Zeit Ptolemäus VI. Philometor (181—i45), der
den in seinem Reiche lebenden Juden durchaus gewogen war. Es ist
wohl möglich, daß damals, als die Hellenistenpartei in Jerusalem sich
auf die der Nation feindlich gesinnte syrische Regierung stützte, die
nationale Gegenpartei den Plan faßte, das syrische Joch mit ägypti-
schem Beistand abzuschütteln. In Jerusalem verfolgte man mit großer
Aufmerksamkeit den damals ausgebrochenen Krieg zwischen Syrien
und Ägypten und freute sich über jeden Mißerfolg des Antiochus1).
Wenn sich aber auch die im Jahre 170 durch falsche Gerüchte her-
vorgerufene Freude als verfrüht herausstellte, so durften die Juden
zwei Jahre später, als der Krieg von neuem ausbrach, in der Tat die
Erniedrigung des verhaßten Tyrannen erleben. Im Jahre 168 unter-
nahm nämlich Antiochus Epiphanes einen zweiten Feldzug gegen
Ägypten, stieß aber nun auf die unüberwindliche Macht Roms, das
1) Manche Geschichtsforscher bringen das obenerwähnte Eindringen des Jason
in Jerusalem mit eben diesem Ereignis in Zusammenhang, indem sie sich auf das
Zeugnis des Verfassers von II. Makk. (Kap. 5, 1—8) stützen, der diese Episode in
die Zeit des zweiten ägyptischen Feldzugs des Antiochus verlegt. In voller Über-
einstimmung mit der Ansicht Schürers (I^, 196) über die Unzuverlässigkeit der
Angaben dieser Quelle scheint es uns geboten, an der in unserem Text dargelegten
Reihenfolge der Ereignisse festzuhalten.
53
Judäa unter der Seleucidenherrschaft
zu jener Zeit seinen Krieg mit Macedonien siegreich beendet hatte.
Die römische Regierung, die das politische Gleichgewicht im Orient
aufrechtzuerhalten bestrebt war, nahm Ägypten in Schutz, um auf
diese Weise die übermäßige Machtausdehnung der syrischen Mon-
archie zu verhindern. Als der syrische König schon an die Tore Alex-
andriens pochte, kam eine römische Gesandtschaft in sein Lager, mit
dem Feldherrn Popilius Laenas an ihrer Spitze. Popilius Laenas ver-
kündete ihm den Willen des römischen Senats: Antiochus solle seine
kriegerischen Handlungen gegen Ägypten unverzüglich einstellen,
wenn er nicht als Feind Roms gelten wolle. Der eingeschüchterte An-
tiochus erbat Bedenkzeit. Allein der Römer antwortete ihm mit fol-
gendem lapidaren Ultimatum: er zeichnete mit dem Stock einen Kreis
um ihn auf dem Sande und sagte: „Hier denke nach!“ Antiochus, der
noch vor kurzem als Geisel in Rom geweilt hatte und aus eigener Er-
fahrung wohl wußte, was eine römische Drohung bedeute, mußte sich
zum Rückzug entschließen. In gereizter Stimmung verließ er Ägyp-
ten und trat den Heimweg an.
Es ist möglich, daß Antiochus von der Freude der Jerusalemer
Bevölkerung über die von ihm erlittene Erniedrigung sowie von der
Hinneigung eines Teiles zu Ägypten Kunde erhalten hatte. Vielleicht
war es Menelaus, der ihn auch diesmal von der in der judäischen
Hauptstadt herrschenden aufrührerischen Stimmung in Kenntnis
setzte. Jedenfalls war der von seinem mißglückten ägyptischen Feld-
zug heimkehrende Antiochus von dem Verlangen erfüllt, seine Wut
an den Juden auszulassen. Er nahm sich vor, diese Provinz endgültig
zu unterjochen, ihre Selbstverwaltung abzuschaffen, um auch hier,
wie in den übrigen Provinzen seines Reiches, die Hellenisierung zu
betreiben. Zu diesem Zwecke wurde der Feldherr Apollonius mit
einem großen Heertrupp nach Jerusalem geschickt. Die Einführung
des neuen Regimes begann mit einem Blutbade. Am Sabbattage über-
fielen die Krieger des Apollonius die friedlich feiernde Bevölkerung
der Hauptstadt, erschlugen jeden, der ihnen in den Weg kam, nahmen
Frauen und Kinder gefangen, plünderten und verwüsteten die Stadt. Die
in Schrecken versetzten Einwohner verließen massenweise die der Ver-
heerung preisgegebene Hauptstadt. Ihre Häuser wurden von Griechen
und Syrern in Besitz genommen. Das unter dem alten Namen „Davids-
burg“ (Ir-David) bekannte Stadtviertel wurde in eine starke Festung ver-
wandelt, die den griechischen Namen Akra erhielt und mit einer zahl-
§ 9. Die religiösen Verfolgungen
reichen syrischen Garnison belegt wurde. Diese Zwingburg, in der je-
derzeit zügellose Kriegerbanden zur Züchtigung der Bevölkerung bereit
standen, bedeutete eine ständige, über der Hauptstadt und dem ganzen
Lande schwebende Gefahr; auch später, zurZeit der Befreiungskriege,
war sie das wichtigste Bollwerk der syrischen Gewalt in Judäa.
Die Verwüstung der Hauptstadt war nur ein Vorspiel zur gänz-
lichen Zertrümmerung der Nation. Antiochus Epiphanes sah wohl,
daß die Hauptstärke der Judäer auf der strengen Zucht beruhe, mit
der sie ihre nationale Kultur beschützten und die ihnen die Kraft ver-
lieh, jeden Hellenisierungsversuch zu vereiteln. Um die jüdische Na-
tion als eine abgesonderte Einheit vernichten und sie in der formlosen
griechisch-syrischen Masse auflösen zu können, mußte man vorerst
die innere Autonomie der Juden, ihre geistige Verfassung zerstören.
Da nun aber diese mit der Thora gleichbedeutend war, so war es un-
umgänglich, vor allen Dingen diesen allmächtigen, Religion, Sittlich-
keit und Gemeinwesen umfassenden Kodex außer Kraft zu setzen. Es
war daher nur folgerichtig, daß Antiochus nunmehr seinen Angriff
gegen das Innenleben der Nation richtete; an Stelle der Verfolgung
der Judäer tritt der Kampf gegen den Judaismus. Der König erließ
ein Edikt, das, dem Zeugnis eines alten Chronisten zufolge (I. Makk.
i, 4i)> die Forderung aufstellte, daß „alle Syrien untergebenen Völker
zu einem Volke werden und ein jeder seine besonderen religiösen Ge-
bräuche auf geben solle“. Man begann nun, eine ganz neue Ordnung in
Judäa einzuführen. Die in der Thora auf gezeichnete jüdische Ver-
fassung wurde für ungültig erklärt, die jüdische Religion im ganzen
Lande und mit ihr auch der Tempelkultus in Jerusalem von Amts
wegen aufgehoben. Die Befolgung der religiösen Gebote, insbesondere
der den Sabbat, die Beschneidung und das Speiseritual betreffenden
Vorschriften wurde bei Todesstrafe untersagt. Statt des aufgehobenen
Tempelkultes mußten sich nun die Juden an dem griechischen Staats-
kultus beteiligen. In allen Städten Judäas errichtete man heidnische
Tempel und Altäre und die Einwohner wurden dazu angehalten, dort
dem Zeus und anderen griechischen Göttern zu opfern. Besondere Auf-
seher wurden mit der Überwachung der Ausführung der königlichen Be-
fehle betraut. Wer an dem auf oktroyierten Kultus nicht freiwillig teil-
nehmen wollte, wurde mit Gewalt dazu gezwungen und im Falle hart-
näckiger Weigerung den Gerichten übergeben. Wurde jemand desFei-
ernsdes Sabbats, der Beschneidung eines Neugeborenen oder auch nur des
Judäa unter der Seleucidenherrschaft
Lesens der Thora überführt, so verfiel er kraft des königlichen Erlasses
der Todesstrafe; die Thorarollen wurden verbrannt oder entweiht.
Die Schreckensherrschaft erreichte ihren Höhepunkt, als am
iS. Kislev (Dezember) des Jahres 168 auf dem großen Jahvealtar im
Jerusalemer Tempel ein neuer Altar zu Ehren des Zeus Olympius
errichtet worden war, auf dem am 2 5. Kislev das erste heidnische Op-
fer dargebraqht wurde. Mitten in ihrem Yolksheiligtum erblickten die
empörten Juden das heidnische „Greuel des Entsetzens“ (Schikuz
meschomam), vor dem der Opfergottesdienst vollzogen wurde1). Der
Altar Jahves diente als Untersatz für den Altar des Zeus. Zeus hatte
nun den Thron Jahves bestiegen, Gott mußte gleichsam vor dem
Götzen weichen. Das hatten sogar die jüdischen Hellenisten, wenig-
stens die meisten von ihnen, wohl kaum erwartet und noch weniger
gewünscht. Die Zahl derer, die sich freiwillig von der jüdischen Re-
ligion und Nationalität lossagten, war nur sehr gering. In den mei-
sten Fällen war der Glaubensabfall nur eine Folge der Nötigung und
der fürchterlichsten Drohungen. Diese zwangsmäßige Heranziehung
der Juden zu den heidnischen Opferzeremonien wurde oft zu einer
Verhöhnung schlimmster Art. Bei den fröhlichen Festen zu Ehren des
Dionysos oder Bacchus drückte man den Juden gewaltsamerweise
Epheu- oder Weinrebenkränze aufs Haupt, die Symbole der Trunken-
heit und der Zügellosigkeit. Auch nötigte man sie, das von dem alt-
ehrwürdigen Gesetze verbotene Schweinefleisch zu essen, zum Zei-
chen ihrer Lossagung von der bisherigen abgesonderten Lebensfüh-
1) Die Wendung „Greuel des Entsetzens“ oder „verwüstendes Scheusal“ zur
Bezeichnung des Zeusaltars ist in den beiden ältesten Quellen: I. Makk. 1, 54 und
in den Visionen des „Daniel“, 11, 3i; 12, 11, anzutreffen. In der letzteren
Quelle wird die Laufbahn Antiochus IV. mit einer gewaltigen Kraft der Entrüstung
geschildert: „Und es wird auf kommen auf dem Throne ein Ungeachteter, welchem
die Ehre des Königreichs nicht zugedacht war (Antiochus IV. bestieg den Thron
statt des gesetzlichen Thronerben Demetrius, des Sohnes Seleucus IV.) und er wird
mitten im Frieden kommen und das Königreich mit süßen Worten einnehmen . . .
Und er wird seine Macht und seinen Geist wider den König des Südens erregen
(der erste Feldzug nach Ägypten) und heimziehen mit großem Gut und sein Herz
richten wider den heiligen Bund. Darnach wird er zu gelegener Zeit wieder gegen
Mittag ziehen, aber es wird ihm zum andernmal nicht geraten wie zum erstenmal.
Denn es werden Schiffe aus Kittim (die römische Flotte aus Cypern) wider ihn
kommen, daß er verzagen wird. Da wird er wider den heiligen Bund (die Thora)
ergrimmen und sich verständigen mit denen, die den heiligen Bund verlassen (die
Partei des Menelaus). Und es werden seine Statthalter daselbst stehen; die werden
das Heiligtum, die Feste, entweihen und den Tamid (das tägliche Opfer im Tempel)
abtun und ein Greuel des Entsetzens aufrichten“ (Dan. 11, 21—3i).
§ 9. Die religiösen Verfolgungen
rung. Während die einen sich der Gewalt fügten, leisteten die anderen
hartnäckigen Widerstand und mußten oft ihre Standhaftigkeit sogar
mit dem Leben büßen. So erstanden nun neben den Abtrünnigen auch
wahre Märtyrer des Glaubens.
Die Sage erzählt, daß eine Schar von Juden sich einst in einer,
Höhle in der Umgegend der Stadt verbarg, um dort das Sabbatritual
zu vollziehen; die Syrer, die davon Kunde erhalten hatten, umringten
die Höhle und metzelten alle, die sich darin befanden, unbarmherzig
nieder. Nach einer anderen Version sollen die Syrer Feuerbrände in
die Höhle geschleudert haben, so daß die Umzingelten bei lebendigem
Leibe verbrannten oder im Rauche erstickten. Von einem gelehrten
Greis mit Namen Eleasar wird berichtet, daß die königlichen Auf-
seher, nachdem es ihnen nicht gelungen war, ihn zum Genuß des
Fleisches eines Opferschweines zu nötigen, ihn zu überreden suchten,
wenigstens ein Stück eines vom jüdischen Gesetze nicht verbotenen
Fleisches angesichts des Volkes zu verzehren, als rührte es von einem
heidnischen Opfer her. Allein der fromme Greis weigerte sich in ent-
schiedenster Weise, seinen Brüdern ein Beispiel der Abtrünnigkeit zu
geben, und starb unter fürchterlichen Martern. Späterhin verherrlichte
die Volkslegende auch die Heldentat der Jüdin Hanna und ihrer sieben
Söhne, die den Heldentod für ihren Glauben starben. Der König /Vn-
tiochus soll persönlich jeden der sieben Söhne zu bewegen gesucht
haben, dem Judentum zu entsagen und zum Zeichen des Abfalls
Schweinefleisch zu genießen; alle Brüder, einer nach dem andern,
lehnten es jedoch ab, dem König zu willfahren. Sie wurden darauf in
Gegenwart ihrer Mutter in bestialischer Weise gefoltert, man riß
ihnen die Haut vom Leibe, schnitt ihnen die Glieder einzeln ab, man
briet sie lebendig auf dem Feuer, allein die heldenhafte Mutter sprach
ihren Kindern nur Mut zu und ermahnte sie, alle Martern geduldig
zu ertragen und ihren Glauben nicht zu verleugnen. Nach den Söhnen,
von denen sich der jüngste besonders standhaft gezeigt hatte, wurde
auch die Mutter hingerichtet, die ihre mütterlichen Gefühle ganz den
national-religiösen Idealen ihres Volkes geopfert hatte.
In dieser Zeit kam im Judentum zuerst jener Heroismus des Mär-
tyrertums auf, der für viele spätere Epochen der jüdischen Geschichte
so bezeichnend ist. Die Juden boten der Welt ein Beispiel dar, wie
nicht nur einzelne Persönlichkeiten, sondern auch große Volksmassen
mit vollem Bewußtsein für eine erhabene Idee zu leiden vermögen,
57
Judäa unter der Seleucidenherrschüft
ihr alle Güter dieser Welt opfern, Qualen erdulden und ihr Leben
hingeben, nur um dem treu zu bleiben, was ihnen als wahr und heilig
gilt. Lieber das Leben einbüßen, als den Sinn des Lebens — dies ist
der Wahlspruch, der von nun ab Tausende von Gläubigen und von
der Wahrheit ihres Glaubens Überzeugten dazu bewegt, um ihrer re-
ligiösen, nationalen und politischen Ideale willen am Galgen, auf dem
Schafott oder auf dem Scheiterhaufen einen qualvollen Tod zu er-
leiden. Das jüdische Märtyrertum nimmt seinen Anfang in den Ta-
gen des Antiochus Epiphanes . . .
Allein das bedrängte Volk begnügte sich nicht mit lediglich pas-
siver Resistenz. Aus seinen Reihen gingen auch Männer hervor, die
sich zum aktiven Kampfe rüsteten, zu der großen Abrechnung für die
mit Füßen getretenen Rechte der Nation, für die entweihten Heilig-
tümer, für alle Opfer der syrischen Willkürherrschaft. Diese mutigen
Patrioten, besonders aus der Partei der „Chassidäer“, verließen Jeru-
salem und die großen Städte, wo der Feind triumphierte, und wandten
sich in die Wüste, verbargen sich in den Höhlen und Bergschluchten
Judäas. Von Zeit zu Zeit kamen sie aus ihren Verstecken hervor und
schlichen sich auf Umwegen in die Städte und Dörfer. Hier fachten
die umherwandernden Volksredner die Regeisterung der Massen an,
festigten ihren Glauben und ermunterten die Zaudernden, riefen zum
heiligen Kriege gegen die heidnischen Gewalttäter auf und bereiteten
so den Roden für eine allgemeine Volkserhebung. Ganz Judäa war in
Gärung geraten. Die Tyrannei des Antiochus erweckte von neuem die
schlummernde Energie des Volkes, das während der vier Jahrhunderte
seit dem Auf stand gegen Nebukadrezzar sich das Waffenhandwerk ab-
gewöhnt hatte. Das Maß der Qualen der jüdischen Nation war übervoll
und nun schickte sie sich an, sich gegen ihre Peiniger zu erhe-
ben1).
!) Ein moderner hellenenfreundlicher Geschichtsschreiber behauptet, daß die
Juden in der Epoche des Antiochus „noch nicht reif für den Hellenismus waren“
(Wellhausen, Israelitische und jüd. Geschichte, 6. Aufl. 1907, 2 53). Der deutsche
Geschichtsforscher wiederholt hier in milderer Form den gehässigen Satz des römi-
schen Judenfeindes Tacitus (Hist. V, 8), daß Antiochus den Juden bessere Sitten
statt ihres „Aberglaubens“ beibringen wollte, um „das schlechte Volk besser zu
machen“. Diese Übereinstimmung der Ansichten entspricht aber wohl kaum den
abschließenden Betrachtungen Wellhausens im letzten Kapitel desselben Buches, wo
darauf hingewiesen wird, daß die hellenische Welt erst zwei Jahrhunderte später
für die Erfassung des jüdischen ethischen Monotheismus, allerdings in seiner christ-
lichen Form, reif geworden war.
58
Drittes Kapitel
Der Hasmonäeraufstand und die
Freiheitskriege
(167—140)
§ 10. Der Verlauf des Aufstandes bis zur Tempelrestauration (165)
Im Jahre 167 v. d. ehr. Ära bot Judäa das Bild völliger Zer-
rüttung. Jerusalem war von vielen seiner Einwohner verlassen und
ganz in der Gewalt der Griechen und der hellenistisch gesinnten
Juden aus der Partei des Menelaus. In der Burg Akra befand sich
eine starke syrische Besatzung, während im entweihten Tempel der
Jahvegottesdienst durch den Zeuskultus ersetzt worden war. Im gan-
zen Lande zogen die Beamten des Antiochus Epiphanes umher, die
Judäer zur Befolgung der böswilligen königlichen Befehle, zum Abfall
von Glauben und Nation zwingend. Und in den Wüsten und Berg-
schluchten verbargen sich die über die Gewalttaten des königlichen
Tyrannen empörten jüdischen Patrioten, jeden Augenblick bereit, die
Fahne des Aufstandes gegen die Peiniger des Vaterlandes zu entrollen.
In dieser unruhigen Zeit lebte in Modein, mitten im Gebirge zwi-
schen Jerusalem und Jaffa, ein hochbetagter Priester mit Namen
Mattathias ben Jochanan aus dem Geschlechte der Hasmonäer. Dieser
Priester sowie seine fünf Söhne: Jochanan, Simon, Juda, Jonathan
und Eleasar, gehörten der Partei der aktiven Patrioten an, die das
Volk zum bewaffneten Widerstand gegen die Bedrücker des Vater-
landes aufrütteln wollten. Eines Tages kamen syrische Beamte nach
Modem, stellten auf dem Stadtplatz einen heidnischen Altar auf und
ermahnten die Einwohner, zu Ehren des heidnischen Götzen zu op-
fern, wie es der Erlaß des Antiochus verlangte. Manche der Einwoh-
ner, die ihrer Furcht nicht Herr zu werden vermochten, waren bereit,
sich dem Befehl zu unterwerfen, jedoch die meisten weigerten sich in
entschiedenster Weise. Da wandten sich die königlichen Beamten an
Mattathias als den angesehensten Mann in der Stadt und redeten ihm
zu, den anderen mit dem Beispiel des Gehorsams voranzugehen, wo-
bei sie besonders hervorhoben, daß auch viele andere von der syri-
schen Monarchie beherrschte Völker der Vorschrift der Ehrenbezeu-
gung gegenüber der griechischen Staatsreligion bedingungslos Folge
leisteten. Der hochbetagte Priester erwiderte aber: „Mögen alle Völ-
ker, die sich im Bereiche der Herrschaft des Königs befinden, ihm
gehorchen, indem ein jeder der Religion seiner Väter untreu wird, so
wollen doch ich und meine Söhne und meine Brüder in dem mit un-
seren Vätern geschlossenen Bunde wandeln. Dem Gesetze des Königs
werden wir nicht gehorchen, daß wir von unserer Religion zur Rech-
ten oder Linken abweichen sollten!“ Als gleich darauf ein hellenistisch
gesinnter Jude an den Altar auf dem Stadtplatz trat, um darauf zu
opfern, konnte Mattathias seinen Zorn nicht mehr unterdrücken. Er
stürzte sich auf den schamlosen Verräter und schlug ihn auf der
Stelle nieder. Gemeinsam mit seinen Söhnen und einem Häuflein
tapferer Glaubenseiferer überfiel er dann den königlichen Beamten in
Modem, tötete ihn und zerstörte den heidnischen Altar (167).
Nach dieser kühnen Heldentat, die das erste Aufflammen des
Volkszornes war, konnte die Hasmonäerfamilie nicht weiter untätig
bleiben. Mattathias sammelte seine Verwandten und Parteigänger um
sich und floh mit ihnen ins Gebirge. Dort bildete er Kriegerscharen;
aus jenen Haufen von Patrioten und Chassidäern, die im Lande um-
herzogen und von Zeit zu Zeit in Plänkeleien mit den Syrern gerieten,
bisher aber mangels einer festen Organisation und einheitlicher mili-
tärischer Leitung noch nicht imstande gewesen waren, einen richtigen
Freischärlerkrieg zu führen. Auch die übermäßig strenge Befolgung
der rituellen Bräuche seitens der Chassidäer stand einer erfolgreichen
Kriegführung im Wege. Es kam vor, daß die Syrer die wandernden
Haufen der Juden mit Absicht am Sabbattage überfielen und sie ver-
nichteten, nur weil sich die Juden aus übertriebener Frömmigkeit
nicht entschließen konnten, am geheiligten Ruhetage mit bewaffneter
Hand dem Feinde entgegenzutreten. Mit Rücksicht auf die gefahr-
vollen Zeiten beschlossen nun die Hasmonäer, auch am Sabbattage die
Waffen nicht aus der Hand zu legen. Ihre Truppen wurden immer
zahlreicher, da Tausende von Patrioten herbeiströmten, von dem
Wunsche beseelt, für Glauben und Freiheit zu kämpfen. Die Krieger-
60
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
§ 10. Der Verlauf des Aufstandes bis zur Tempelrestauration
scharen der Aufständischen zogen unter der Anführung des Mattathias
und seiner Söhne durch das Land, zerstörten auf ihrem Wege alle
heidnischen Altäre, erschlugen die abtrünnigen Juden, griffen die
ihnen begegnenden Syrerhaufen an und riefen das Volk zum Kampfe
gegen seine Bedrücker auf. Die Fahne der Empörung war auf ge-
pflanzt; an Stelle des Märtyrertums trat nun die heldenmütige Selbst-
wehr.
Dem ersten Urheber der Volksbewegung war es jedoch nicht mehr
vergönnt, ihren Triumph mitzuerleben. Der greise Mattathias starb
bald nach dem Ausbruch des Aufruhrs (166) und wurde in seiner
Heimatstadt Modein begraben. Vor seinem Tode trug er seinen Söhnen
auf, den heiligen Krieg mutig weiter zu führen.
An die Spitze des tapferen jüdischen Heeres stellte sich nun der
heldenhafteste von den Söhnen des Mattathias, Juda, mit dem Bei-
namen Makkabi oder Makkabäus1). Der jüdischen Nation, die sich
jahrhundertelang im Waffenhandwerk nicht mehr geübt hatte, war
in ihm wieder ein großer Feldherr entsprossen. In Juda Makkabäus
war die frühere physische Macht der sagenhaften Davidischen Helden
(„Gibborim“) im Verein mit dem geistigen Enthusiasmus des Frei-
heitskämpfers neu erstanden. Der alte Chronist schildert Juda als
einen „jungen Löwen, der nach Raub brüllt“. Die geheime Quelle
des Löwenmutes, mit dem er, nur von einer kleinen, tapferen Schar
begleitet, nicht selten große feindliche Heerhaufen zu überfallen
wagte, war jene nationale und religiöse Begeisterung, die den helden-
mütigen Befreiern aller Zeiten schon oft den Sieg verliehen hat. Es
ist die Macht des Geistes, die Spannkraft der sittlichen Entrüstung
und der Durst nach Freiheit, die einer kleinen Schar begeisterter
Kämpfer den Sieg über ein ganzes Heer verhaßter Bedrücker verlei-
hen, denen nur die rohe physische Kraft, ohne sittlichen Antrieb, zur
Verfügung steht.
*■) Die Bedeutung des Beinamens ist nicht ganz klar. Die Vermutung, das Wort
Makkabi sei eine Abbreviatur des biblischen Verses: „Mi ka’mocho ba’elim Jahve“
(„Wer ist dir gleich unter den Göttern, Jahve!“ Ex. i5, n), der das Losungs-
wort der jüdischen Kämpfer gewesen sein soll, ist nichts weiter als eine petitio
principii, da zunächst noch bewiesen werden müßte, daß es ein solches Losungs-
wort tatsächlich gab. Viel eher ist anzunehmen, daß der Name „Makkabi“ aus dem
hebräischen Wort Makeba, makebeth entstanden ist, was Hammer bedeutet (ent-
sprechend: „Karl Marteil“ im Frankenreich).
61
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
Schon die ersten Zusammenstöße waren für die Aufständischen
durchaus erfolgreich. Als der syrische Statthalter in Judäa, Apollo-
nius, von dem Hasmonäeraufruhr Kunde erhielt, rückte er mit sei-
nem Heere aus Samarien gegen die Empörer ins Feld. Juda trat dem
Feinde mit seinem Heerestrupp entgegen und brachte ihm eine Nie-
derlage bei; Apollonius selbst fiel in der Schlacht. Da nahm Juda des-
sen Schwert und heftete es an seinen Gürtel; seitdem führte er diese»
Waffe, seine erste Kampftrophäe, in allen Schlachten: der Arm des
Juden schwang das griechische Schwert. Bald darauf trat der syrische
Truppenführer in Palästina, Seron, Juda entgegen. Bei Belhhoron,
nordwestlich von Jerusalem, kam es zu einem Treffen. Beim Anblick
des zahlreichen feindlichen Heeres wurde die kleine jüdische Krieger-
schar kleinmütig, doch Juda feuerte seine Krieger in glühender Rede
an, indem er sie daran erinnerte, daß sie für Gott und für ihr Volk
gegen die Gottlosen und die Bedrücker kämpften und daß Gott den
für die gerechte Sache Eintretenden den Sieg verleihen müsse. Da
stürzten sich die Juden auf die Syrer, schlugen sie aufs Haupt und
zerstreuten sie (166).
Diese ersten Siege hoben den Mut der Judäer und erfüllten die
syrische Regierung mit Sorge. Die Kunde von dem Aufruhr drang
zu König Antiochus und veranlaßte ihn, energischere Maßnahmen zu
ergreifen. Persönlich konnte der König nicht nach Judäa ziehen, da
er vor einem Feldzug nach Persien, gegen die Parther, stand. Er
ernannte den Würdenträger Lysias, der zur königlichen Familie ge-
hörte, für die Dauer seiner Abwesenheit zum Staatsregenten und zum
Vormunde des minderjährigen Königssohnes Antiochus V. und trug
ihm auf, ein großes Heer zur Züchtigung Judäas aufzubieten. Die
widerspenstigen Judäer sollten vernichtet oder aus ihrer Heimat ver-
jagt und das ganze Land unter fremdländische Ansiedler auf ge-
teilt werden. Ein nach vielen Tausenden zählendes Heer wurde unter
der Anführung der hervorragenden Feldherren Nikanor und Gorgias
nach Judäa entsandt. Die syrischen Anführer waren ihres Sieges so
gewiß, daß sie schon im voraus palästinische Sklavenhändler in ihr
Lager mitnahmen, die mit viel Geld zum Ankauf der gefangen zu
nehmenden Juden und mit den diesen zugedachten Sklavenketten
versehen waren.
Mit Entsetzen erfuhr die judäische Bevölkerung von dem Heran-
nahen dieser fürchterlichen Heeresmacht. Die jüdischen Truppen-
§ 10. Der Verlauf des Aufstandes bis zur Tempelrestauration
teile versammelten sich in Mizpa, der alten heiligen Stadt der Benja-
miten, die nun die Stelle des von den Heiden entweihten Jerusalem:
vertrat. Hier wurde ein feierlicher Gottesdienst mit Fasten und Gebet
veranstaltet; das Volk flehte inbrünstig um die Hilfe Gottes. Auch
Juda feuerte seine Krieger in begeisterter Rede zu der hehren Tat der
Verteidigung von Glauben und Volkstum an. Gleich dem Gideon der
Vorzeit entfernte auch er alle Furchtsamen und Unentschlossenen aus
seinem Heere, worauf ihm nur einige tausend Mann übrigblieben, die
er in einzelne Abteilungen mit Hauptleuten an der Spitze einteilte.
Juda selbst übernahm den Oberbefehl über das Heer. Die feindlichen
Truppen unter der Anführung des Gorgias befanden sich bei Emmaus
(dem jetzigen arabischen Amwas in der Nähe von Jerusalem). Gorgias,
der die Juden überrumpeln wollte, brach nachts nur mit einem Teil
seines Heeres nach Mizpa auf, während er die übrigen Teile im Lager
bei Emmaus zurückließ. Sobald Juda dies erfahren hatte, vermied er
es, Gorgias entgegenzuziehen, sondern rückte mit seinen Kriegern ge-
gen Emmaus vor und überfiel unerwartet das von Gorgias verlassene
syrische Lager. Die Syrer wurden zum Teil niedergemacht, zum Teil
in die Flucht geschlagen. Inzwischen war Gorgias mit seiner Vorhut
aus Mizpa, wo er das jüdische Heer nicht mehr vorfand, zurück nach
Emmaus gezogen. Schon von ferne erblickte er sein zerstörtes Lager
und stieß bald auch auf die wieder kampfbereiten Sieger. Gorgias
wagte es nicht, ihnen eine Schlacht zu liefern, und zog sich mit dem
übriggebliebenen Truppenteil eiligst in das Philisterland zurück, Juda
seinen ganzen Troß mit reicher Beute hinterlassend, unter der sich
auch das von den Sklavenhändlern zum Ankauf gefangener Judäer
mitgeführte Gold befand (Ende des Jahres 166 oder Anfang des
Jahres i65).
Bald erschien der Reichsverweser selbst mit einem noch größeren
Heere in dem Landbereiche Judäas. Er wählte eine neue Marschrich-
tung und drang nicht von Norden, sondern von Süden, von den Step-
pen Edoms her, in das Land ein. Bei Bethsura, südlich von Jerusalem,
begegneten sich die Heere des Lysias und des Juda Makkabäus. Ob-
wohl die Feinde ihnen zahlenmäßig weit überlegen waren, trugen die
von nationalem Enthusiasmus beseelten Juden den Sieg davon. Lysias
wurde gezwungen, nach Antiochia zurückzukehren, um ein neues
Heer zur Niederwerfung Judäas zu sammeln.
63
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
Alle diese Erfolge hatten den Siegern den Weg nach Jerusalem
gebahnt. Dahin begab sich .nun Juda mit seinem tapferen Heere. Sie
besetzten mit raschem Zugriff einen Teil der Hauptstadt mit dem
Tempelberg; nur die Burg Akra, die mit einer syrischen Garnison be-
legt war, blieb in den Händen des Feindes. Nachdem Juda Akra von
seinen Kriegern hatte umzingeln lassen, um so die Syrer in Schach zu
halten, konnte er ungehindert an die Wiederherstellung des nationalen
Heiligtums in Jerusalem schreiten. Ein trauriges Bild bot sich den
Blicken der jüdischen Krieger, als sie den Tempelberg erstiegen hat-
ten. Sie sahen den halbzerstörten und ausgeplünderten Tempel, den
durch Götzendienst entweihten Hauptaltar, die verbrannten Tore, die
kahlen Innenräume und die mit Gesträuch bewachsenen Vorhöfe. Bei
diesem Anblick brachen Juda und seine Begleiter in Wehklagen aus.
Sogleich schritt man an die Säuberung und Instandsetzung des Tem-
pels. Der über dem alten jüdischen Altar errichtete Zeusaltar wurde
bis auf den Grund zerstört und die Steine an einen „unreinen Ort“
geschafft; der alte jüdische Jahvealtar aber, der ihm als Grundlage
gedient hatte, wurde eingerissen und seine Steine an einen geeigneten
Ort zur Aufbewahrung gebracht, „bis ein Prophet erstehen würde,
der Bescheid gäbe, was damit (mit den Resten des entweihten Heilig-
tums) geschehen solle“. An seiner Stelle wurde ein neuer Altar au§
unbehauenen Steinen errichtet, „über die das Eisen nicht gefahren
ist“. Statt der geraubten Tempelgeräte wurden neue verfertigt, aus
dem Gold und Silber, das den Kriegern während ihrer Feldzüge als
Beute in die Hände gefallen war.
Als nun die inneren und äußeren Tempelräume in geziemender
Weise gesäubert waren, begann die Einweihungszeremonie. Am 25.
des Monats Kislev (Dezember) des Jahres i65, an demselben Tage,
an dem drei Jahre früher im Tempel der Zeuskultus eingeführt wor-
den war, fand der feierliche Gottesdienst und die Opferdarbringung
zu Ehren des Gottes Israels statt, und damit war der Grundstein zu
der Erneuerung des gesetzlichen Kultes gelegt. Acht Tage lang dauer-
ten die Feierlichkeiten an, die nicht so sehr von religiöser wie von
nationaler Bedeutung waren. Jeden Abend wurde die Vorhalle des
Tempels durch viele Flammen hell erleuchtet. Überdies wurde noch
die Bestimmung getroffen, daß diese Tage auch in Zukunft alljähr-
lich gefeiert werden sollten zur Erinnerung an die Wiederherstellung
der religiösen Freiheit. Seitdem trägt das Fest den Namen ,,Chanuka“,
64
§ H. Die Kriege des Juda Makkabäus
d. i. das Fest der Einweihung oder Erneuerung1), und hat sich bis in
unsere Tage erhalten. Eine im Talmud wiedergegebene Volkssage be-
richtet in folgender Weise von dem „Chanukawunder“: Als die Has-
monäer die Tempelräume nach Weihöl für die Illumination absuch-
ten, fanden sie dort nichts als ein winziges, zufällig unversehrt ge-
bliebenes Gefäß, und doch reichte zur allgemeinen Verwunderung das
darin enthaltene öl zur Erleuchtung des Tempels acht Tage lang aus,
was nur als ein Zeichen vom Himmel gedeutet werden konnte.
§ 11. Die Kriege des Juda Makkabäus bis zum Friedens Schluß
im Jahre 163
Nach den ersten Siegen der Hasmonäer befand sich bereits der
zentrale Teil Judäas, mit Ausnahme der Jerusalemer Burg Akra, in
den Händen der aufständischen Vaterlands Verteidiger. Juda baute den
Tempelberg zu einer starken Festung aus und brachte dort eine stän-
dige Besatzung unter, die die in Akra, im gegenüberliegenden Teil der
Stadt, sich befindenden syrischen Truppenteile in Schach halten sollte.
Er befestigte auch die Stadt Bethsura, den Schauplatz seines letz-
ten Sieges, um so Jerusalem auch vom Süden her zu schützen.
Dank all diesen Maßnahmen, hauptsächlich aber deswegen, weil An-
tiocjhus Epiphanes durch seinen langwierigen Feldzug nach dem
Osten, gegen die Parther, abgelenkt war, wurde Judäa während der
zwei auf den ersten Mißerfolg des Lysias folgenden Jahre von der
syrischen Regierung unbehelligt gelassen. Die Gefahr nahte aber von
anderer Seite, und dagegen mußten jetzt die bewaffneten Kräfte der
Nation eingesetzt werden.
Eine starke anti-jüdische Bewegung erhob sich nämlich in jenen
Küstenorten und nördlichen Städten Palästinas, wo die griechische
Bevölkerung zahlenmäßig im Übergewicht war. Durch die Erfolge
der jüdischen Insurgenten in Erregung versetzt, begannen die palä-
stinischen Griechen in den Randgebieten die in ihrer Mitte lebenden
Juden zu bedrängen. Die Griechen wollten sich auf diese Weise für
die Bedrückung rächen, der ihre Stammesbrüder im zentralen Judäa
D Josephus (Ant. XII, 7, 7) nennt es das „Fest des Lichtes“ oder der „Be-
leuchtung“, der Illumination (fota), während es im Johannesevangelium (10, 22)
das „Fest der Erneuerung“ (ta egkainia) genannt wird, was ganz dem Sinne des
Wortes „Chanuka“ entspricht.
5 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
65
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
ausgesetzt waren. Gleichzeitig benützten auch die benachbarten einge- südlicl
borenen Völkerschaften die in Palästina eingetretene Verwirrung zu wohne
gewaltsamen Übergriffen und Plünderungen. Juda Makkabäus erhielt die gt,
Kunde von der bedrohlichen Lage der Juden in Nordpalästina, im so- ten^ ^
genannten Galiläa, die mitten unter den heidnischen Bevölkerungsmas- die n0
sen lebten. Er sandte seinen Bruder Simon mit einem dreitausend nur (j(
Mann starken Heere nach Galiläa. Simon schlug die galiläischen liehen
Räuber in mehreren Schlachten und drängte sie nach Ptolemais
(Akko) zurück, befreite dann die jüdischen Einwohner Galiläas und nen p
nahm sie mit ihren Weibern und Kindern mit sich nach Judäa, wo nomm
sie in Sicherheit leben konnten. potam
Zugleich kamen beunruhigende Nachrichten aus Gilead, dem öst- oder,,;
liehen Gebiete Transjordaniens. Dort wurden die Juden von den Asiens
Ammonitern und anderen Völkerschaften unter der Anführung des tiochu
Syrers Timotheus an manchen Orten vernichtet, an anderen belagert. sorge
Besonders gefährlich war die Lage der in der Festung Diathema be- des jr
lagerten Juden. Als Juda dies erfuhr, setzte er mit seinem Bruder ^ier -
Jonathan, an der Spitze eines großen Heertrupps, über den Jordan, seine
überfiel die Heiden von Gilead, die gerade die letzten Vorbereitungen das aj
zum Sturmangriff auf die Festung Diathema trafen, und befreite sehen
seine bedrängten Stammesbrüder. Die Ammoniter wurden exempla- stand
risch bestraft; viele ihrer Städte wurden der Zerstörung preisgegeben. der
Bald erneuerten sie jedoch den Kampf in dem nördlichen Teil Trans- dem ^
jordaniens, in Basan (Bathanäa). Das Heer des Timotheus, durch Ara- Asiens
berhaufen verstärkt, bezog eine für Judäa bedrohliche Stellung hinter [m ja]
dem Flusse Jarmuk. Juda eilte nun dorthin, überschritt den breiten rieht t
Fluß, überfiel den Feind und jagte ihn bis nach Karnaim hinein; sage ^
dann eroberte er die Stadt und verbrannte dort den heidnischen Tem- stiger
pel, in den sich viele von den Flüchtlingen gerettet hatten. Nach einer Tode
ganzen Reihe neuer Heldentaten trat das Heer des Makkabäers den dem j
Rückweg über den Jordan an, die befreiten Juden aus Gilead samt zelheit
ihren Frauen und Kindern mit sich führend, um ihnen bis nach Je- als ges
rusalem das Geleit zu geben. Wie die galiläischen, so schlugen nun D€
auch die gileadistischen Juden ihren Wohnsitz in Jerusalem und sei- Thron
ner Umgebung auf, wo sie unter dem Schutze der auf dem befestig- Vormi
ten Tempelberg stehenden starken Garnison in Ruhe leben konn- Volljä
ten (i64). syriscl
Nicht weniger erfolgreich waren die Feldzüge Judas gegen die lige Sl
5*
66
§11. Die Kriege des Juda Makkabäus
südlichen und südwestlichen Nachbarn, die Edomiter und die Be-
wohner der philistäischen Küste. Die jüdischen Truppen drangen in
die Stadt Hebron (wo sich zu jener Zeit die Edomiter festgesetzt hat-
ten) und in das philistäische Asdod ein und verheerten sie. Die Juden,
die noch vor kurzem die Verfolgten waren, zeigten so, daß sie nicht
nur dem syrischen Despoten, sondern gleichzeitig auch dem feind-
lichen Bunde der Nachbarvölkerschaften gewachsen waren.
Währenddessen war Antiochus Epiphanes noch immer durch sei-
nen Feldzug in die östlichen Provinzen des Reiches in Anspruch ge-
nommen. Überall führte er griechische Bräuche ein, taufte die meso-
potamischen Städte zur Verewigung seiner Dynastie in „Antiochia“
oder „Seleucia“ um und ließ sich auf den Denkmälern als den „Retter
Asiens“ verherrlichen (die Inschrift in der Stadt Babylon lautet: „An-
tiochus der Göttliche, der Retter Asiens, der dieser Stadt seine Für-
sorge angedeihen ließ“). Jedoch je weiter der König in die Länder
des Iran, in das Herz Mediens und Persiens vordrang, wo die Par-
ther ihre Gewalt immer weiter ausbreiteten, um so mehr schmolz
seine Macht zusammen. Als Antiochus in das Gebirge von Elymais,
das alte Elam, tiefer eindrang und die Schätze des dortigen heidni-
schen Tempels an sich zu reißen versuchte, erinnerte ihn der Wider-
stand der Eingeborenen an das Schicksal seines Vaters Antiochus III.,
der einen ähnlichen Versuch mit dem Tode hatte büßen müssen. Mit
dem Überrest seines geschlagenen Heeres wandte sich der „Retter
Asiens“ nach Babylon zurück, erkrankte aber unterwegs und starb
im Jahre i64- Die letzten Tage des Tyrannen waren durch die Nach-
richt von den Siegen der ihm verhaßten Juden verbittert. Die Volks-
sage will wissen, daß Antiochus in furchtbaren Qualen oder in gei-
stiger Umnachtung sein Leben aushauchte und daß ihm vor seinem
Tode gerade noch Zeit genug übrig geblieben sei, für die von ihm
dem jüdischen Volke zugefügten Greueltaten Buße zu tun. Diese Ein-
zelheiten sind indessen eher als eine moralisierende Belehrung denn
als geschichtliche Tatsache anzusehen.
Der Tod Antiochus IV. rief in Antiochia Verwirrung hervor. Ms
Thronerbe galt sein minderjähriger Sohn Antiochus V. Eupator. Zum
Vormunde des Thronfolgers und zum Reichsverweser bis zu dessen
Volljährigkeit hatte der verstorbene König in seinem Testament den
syrischen Feldherrn Philippus eingesetzt. Allein der frühere zeitwei-
lige Statthalter, Lysias, wollte auf die Regentschaft und die Vormund-
5*
67
Der Hasmonäeraufstand und die Freiheitskriege
Schaft über den jungen König nicht verzichten. Der große Einfluß,
über den Lysias verfügte, machte es ihm möglich, auch tatsächlich
die Verwaltung des Reiches in seinen Händen zu behalten. Dieser
innere Kampf in Antiochia lenkte die Aufmerksamkeit der Regierung
von der Lage in Judäa ab. Lysias schob immer wieder den Feldzug
in das aufrührerische Land auf, da er befürchten mußte, daß sein
Gegner Philippus in seiner Abwesenheit die Gewalt an sich reißen
würde. Schließlich kam es aber so weit, daß der Feldzug nicht län-
ger hinausgeschoben werden konnte. Das siegreiche Heer des Juda
Makkabäus, das die syrische Garnison aus Jerusalem hinauszudrängen
trachtete, belagerte den Hauptstützpunkt des Feindes, die Festung
Akra. Die dort eingeschlossenen syrischen Krieger und die unter
ihrem Schutze stehenden Juden aus der Hellenistenpartei verloren
allen Mut. Einigen von den Belagerten gelang es, aus der Festung zu
entkommen und nach Antiochia zu fliehen. Hier erhoben sie bittere
Klage darüber, daß die syrische Regierung ihre Verteidiger und An-
hänger in Judäa ihrem Schicksal überlassen habe, daß sie die Insur-
genten nicht daran gehindert habe, Bethsura und den Tempelberg zu
befestigen und daß sie überhaupt dem Streben der Aufrührer, die
syrische Gewalt endgültig zu brechen, keinen Riegel vorschieben
wolle. Die hellenenfreundlichen Juden fügten ihrerseits noch hinzu,
daß ihre Gesinnungsgenossen von den aufständischen Patrioten ver-
folgt, daß alle, die dem königlichen Edikt Folge leisteten, getötet und
ihres Eigentums beraubt würden und daß sie so wegen ihrer Treue
dem syrischen König gegenüber den schwersten Prüfungen ausgesetzt
seien.
Jetzt erst begriff die syrische Regierung, wie weit es in der auf-
rührerischen Provinz gekommen war, und der Regent Lysias begann
nun schleunigst zum Feldzuge zu rüsten. Er sammelte ein riesiges
Heer, das aus Fußvolk und Reiterei bestand und auch über Schlacht-
elephanten verfügte. Lysias übernahm persönlich das Kommando
über das Heer und brach, von dem minderjährigen Antiochus V. be-
gleitet, nach Judäa auf (i63). Auch diesmal rückten die Syrer von
Süden her in das Land ein und belagerten die Festung Bethsura. Die
dort befindliche jüdische Garnison kämpfte mit Heldenmut, konnte
aber der Übermacht des Feindes nicht standhalten und mußte die Fe-
stung übergeben, nachdem sie sich vorher freien Abzug ausbedungen
hatte. Als Juda Makkabäus dies erfahren hatte, hob er die Belage-
§ 11. Die Kriege des Juda Makkabäus
rung Akras auf und zog mit seinem Heere aus Jerusalem dem Feinde
entgegen. Bei Beth-Zacharia, halbwegs zwischen Jerusalem und Beth-
sura, kam es zu einer entscheidenden Schlacht Die Truppen Judas
kämpften auch diesmal mit unerschrockener Tapferkeit, konnten je-
doch die zahllose syrische Streitmacht nicht überwältigen. Da ent-
schloß sich einer der Brüder des Juda, Eleasar, zu einer verzweifelten
Heldentat, durch die er den Sieg mit einem Schlage für die Seinen
zu gewinnen hoffte. Mitten im feindlichen Heere erblickte er einen
prächtig geschmückten Riesenelephanten, von einem jungen syrischen
Truppenführer gelenkt, in dem er den König selbst vermutete. Eleasar
schlug sich nun, rechts und links die Feinde niederstreckend, durch
die Reihen der Syrer durch, kroch unter den Elephanten und durch-
bohrte ihn mit seinem Schwerte. Das Riesentier stürzte zu Boden,
begrub aber dabei den verwegenen Helden unter seiner Last. Solche
vereinzelte Heldentaten der Selbstaufopferung waren jedoch nicht hin-
reichend, um dem jüdischen Heere den Sieg zu verschaffen. Nach
harten Kämpfen mußte das Makkabäerheer auf Jerusalem zurück-
gehen. Der Feind, dicht auf seinen Fersen, kam bald bis an die Stadt-
mauern und belagerte die Festung auf dem Tempelberge. Die Lage
wurde für die tapfere Schar bedrohlich. In der Festung herrschte
großer Mangel an Nahrungsmitteln, da infolge des „Sabbatjahres“
(Schemita) die Äcker in Judäa brach lagen und das Land nur über
geringe Vorräte verfügte.
Es schien nun, daß nach der nicht mehr abzuwendenden Ein-
nahme des Tempelberges alle Errungenschaften des Volksaufstandes
verloren gehen sollten, und daß es Judäa beschieden sei, von neuem
unter die Tyrannenherrschaft der Seleuciden zu geraten. Es kam aber
anders. Lysias, der schon dem Siege nahe war, erfuhr plötzlich, daß
in Antiochia ein politischer Umsturz vorbereitet werde, da sich sein
Rivale Philippus dorthin begeben hatte, um als gesetzlicher Vormund
des minderjährigen Königs die Zügel der Regierung zu ergreifen.
Unter diesen Umständen war es Lysias nicht möglich, den Krieg in
Judäa zu Ende zu führen, da es keine Zeit mehr zu verlieren galt.
Darum machte er den Juden ein für ihre damalige Lage in jeder Be-
ziehung günstiges Friedensangebot, das sie auch gern annahmen
(i63). Durch diesen Frieden oder Waffenstillstand wurde den Ju-
den völlige religiöse Freiheit sowie das Recht, nach eigenen Sitten
und Bräuchen zu leben, zugesichert, unter der einzigen Voraussetzung,
69
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
daß sie die Obergewalt der Seleuciden anerkannten1). Zum Zeichen
ihrer politischen Unterwerfung mußten die Juden die Befestigungen
des Tempelberges und Bethsuras schleifen, erhielten aber dafür vom
Regenten die Zusicherung der Unantastbarkeit ihrer inneren Auto-
nomie. Dem von Antiochus Epiphanes eingesetzten verräterischen
Hohepriester Menelaus, der sich zu jener Zeit im syrischen Lager auf-
hielt, wurde seine Würde entzogen. Bald darauf fiel Menelaus, einem
urkundlichen Zeugnis zufolge, in Ungnade bei Hofe und wurde auf
den Befehl Antiochus V. oder des Lysias hingerichtet. Mit dem Auf-
hören der gewaltsamen Hellenisierung der Juden und der Verfolgun-
gen der jüdischen Religion mußte naturgemäß auch der Mann zu Fall
kommen, der mit die Hauptschuld an dem grausamen Regime trug,
das den Aufruhr einer ganzen Provinz zur Folge hatte.
So wurden alle gegen den Judaismus gerichteten Erlasse des An-
tiochus Epiphanes außer Kraft gesetzt und es trat wieder jene Ord-
nung in Geltung, die bis zum Jahre 168 zu Recht bestanden hatte.
Der fünfjährige heldenmütige Kampf der Makkabäer blieb nicht ohne
Erfolg: die syrische Regierung mußte sich nun überzeugen, daß in
Judäa, dem Lande mit einer alteingewurzelten, eigenartigen Kultur,
die Politik der gewaltsamen Hellenisierung und der religiösen Verfol-
!) Im ii. Kapitel des „Zweiten Makkabäerbuches“ wird eine Reihe von Ur-
kunden angeführt, die die Vermutung nahelegen, daß die Friedensverhandlungen
schon ein Jahr früher, bald nach der Restauration des Jerusalemer Tempels, ein-
geleitet worden waren. Lysias soll, nachdem er zwei jüdische Gesandte angehört
hatte, den Juden einen ehrenvollen Frieden angeboten haben, indem er ihnen ver-
sprach, die Erlasse Antiochus IV. außer Kraft zu setzen und die Selbstverwaltung
Judäas wiederherzustellen. Schreiben mit einem solchen Angebot sollen dem „hohen
Rate der Juden und der jüdischen Nation“ im Namen des Königs und des Lysias
gesandt worden sein. Die sich auf dem Wege nach Antiochia befindenden römischen
Gesandten sollen sich gleichfalls mit einem Schreiben an die Juden gewandt haben,
in dem sie ihnen den Rat erteilten, auf die Friedensbedingungen der Syrer ein-
zugehen. Bei aller sonstigen Glaubwürdigkeit dieser Episode erregt sie jedoch
Zweifel, zunächst weil im I. Makk., der zuverlässigsten Hauptquelle, darüber nichts
erwähnt wird, und zweitens, weil diese Episode in den Rahmen der Ereignisse der
Jahre i65—64 nicht gut hineinpaßt und die chronologische Ordnung stört (der Ver-
fasser des II. Makk. läßt Lysias auch nach diesen Verhandlungen mit den Juden
weiterkämpfen und gibt überhaupt die Ereignisse nicht in der zeitlichen Reihen-
folge wieder). Man kann daher höchstens annehmen, daß die erwähnte Episode sich
auf die Verhandlungen des Jahres i63 bezieht, die zum Friedensschluß mit Lysias
führten, und daß diesem Frieden ein diplomatischer Briefwechsel vorangegangen
war, dessen Spuren in den obenerwähnten, ungenau wiedergegebenen Urkunden er-
haltengeblieben sind. (Zur herrschenden Verwirrung vgl. Ed. Meyer, Ursprung des
Christ., II, 211—216.)
70
§ 12. Demetrius /., Alcimus und der Tod Judas
gungen eher für den Verfolger als für den Verfolgten gefährlich sei,
denn gerade diese sinnlose Politik hätte beinahe den Abfall der gan-
zen Provinz von dem Seleucidenreiche zur Folge gehabt. Andererseits
mußten sich auch die jüdischen Vaterlands Verteidiger vorerst mit dem
erzielten Erfolg, mit der Außerkraftsetzung der Unterdrückungsmaß-
nahmen, zufrieden geben. Für die Zukunft hatten sie jedoch viel
Größeres im Sinne, und ihre Hoffnungen sollten später auch tatsäch-
lich in Erfüllung gehen.
§ 12. Demetrius /., Alcimus und der Tod Judas (160)
Nach der Rückkehr des Lysias zusammen mit Antiochus V. vom
judäischen Feldzug kam es in Syrien zu einem dynastischen Umsturz,
der auch auf die Lage in Judäa zurückwirkte. Demetrius, dem Sohne
des Königs Seleucus IV. und Neffen des Antiochus Epiphanes, gelang es,
aus Rom zu fliehen, wo er lange Zeit als Geisel von der römischen Re-
gierung festgehalten worden war. Er ging an der phönizischen Küste
des Mittelmeeres ans Land, gewann einen Teil des Heeres für sich
und erhob Anspruch auf den syrischen Thron. Seine Rechte waren
unanfechtbar, und das mit der Regentschaft des Lysias unzufriedene
Volk empfing den neuen Machthaber mit Freuden. Demetrius zog
feierlich in Antiochia ein und wurde unter dem Namen Demetrius I.
Soter zum Könige ausgerufen (162). Seinen jugendlichen Vorgänger
Antiochus V. und dessen Vormund Lysias ließ er umbringen. Der
römische Senat, der zunächst über die Flucht des syrischen Prinzen
aufgebracht war, fand sich hernach mit der bereits vollendeten Tat-
sache ab und erkannte Demetrius als den rechtmäßigen König an, wo-
bei das römische Protektorat über die Seleucidendynastie auch ferner-
hin in Kraft blieb.
Um die gleiche Zeit trat auch in der inneren Lage Judäas eine neue
Wendung ein. Nachdem der Friedensvertrag mit Lysias die Religions-
freiheit im Lande wiederh er gestellt hatte, brach von neuem der
innere Kulturkampf zwischen den Hellenisten und Chassidäern aus.
Die triumphierende Chassidäerpartei vermochte nicht friedlich mit
den hellenistisch gesinnten Juden zusammenzuleben, die durch ihre
Handlungsweise klar bewiesen hatten, wie schwer die Grenze zwi-
schen Assimilation und nationalem Verrat eixizuhalten sei. Von Duld-
samkeit der nationalistischen Patrioten einer Partei gegenüber, die
71
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
noch vor kurzem in den Reihen der Feinde und Verräter der Nation
gestanden hatte, konnte keine Rede sein. Und doch gab die Helleni-
stenpartei ihre Sache nicht verloren. Waren auch ihre extremen Ver-
treter aus der Anhängerschaft des Menelaus bereits vom Schauplatz
verschwunden, so trachteten die gemäßigten Hellenisten noch immer
danach, freie Hand zu bekommen und sogar die Macht für sich zu
erobern. Der Führer der gemäßigten Hellenisten war Alcimus oder
Jojakim aus dem Geschlecht der Hohepriester. Ihn lockte das hohe,
seit dem Falle des Menelaus unbesetzt gebliebene Amt, und zu dessen
Erlangung gab es ja hinlänglich erprobte Mittel, vor allen Dingen die
Willensbereitschaft, den Zielen der syrischen Machthaber zu dienen.
Alcimus begab sich denn auch nach Antiochia, um dort persönlich
seine Ernennung durchzusetzen. Er klagte vor dem König Demetrius I.
über die Bedrückung der Hellenisten durch die nationale Hasmonäer-
partei und suchte ihn von der Notwendigkeit der Wiederaufrichtung
der gesetzmäßigen Ordnung in dem durch Wirren erschütterten Lande
zu überzeugen. Der König mußte den Gründen des Alcimus zustim-
men. Die Gewalt in den Händen des Juda Makkabäus und seiner Mit-
streiter zu belassen, hieß soviel, wie eine revolutionäre Regierung für
legitim erklären, die durch Aufruhr die Gewalt an sich gerissen hatte
und noch immer Erbitterung gegen die Syrer im Herzen trug. Um in
der unruhigen Provinz die gesetzliche Ordnung wiederherzustellen,
war es vonnöten, an die Spitze des Volkes einen Mann zu stellen, der
zu den Getreuen der syrischen Regierung gehörte. Darum ernannte
auch der König Alcimus zum Hohepriester und beauftragte ihn mit
der Durchführung der Restauration in Judäa. In Voraussicht eines
möglichen Widerstandes der Hasmonäerpartei sandte Demetrius
gleichzeitig seinen Feldherrn Bacchides mit einem Heere nach Jeru-
salem, um Alcimus nötigenfalls mit Gewalt zur Amtsausübung zu
verhelfen.
Unter dem imponierenden Schutze des syrischen Heeres näherte
sich Alcimus Jerusalem. Vorerst gab er sein eigentliches Vorhaben
noch nicht kund, sondern versicherte im Gegenteil das Volk seiner
Bereitwilligkeit, den nationalen Interessen zu dienen. Ein großer Teil
des Volkes und sogar viele von den Chassidäern waren geneigt, seinem
Versprechen Glauben zu schenken, da sie in Alcimus den gesetzmäßi-
gen Hohepriester aus dem Aaronsgeschlechte sahen, der dazu berufen
zu sein schien, dem Lande nach langjährigen Wirren wieder den
§ 12. Demetrius 1., Alcimus und der Tod Judas
inneren Frieden zu geben. Nachdem die religiöse Freiheit wieder er-
rungen war, schien es den Glaubenseiferern aus der Chassidäerpartei,
daß das Ziel des Kampfes erreicht sei, und sie erblickten in der Er-
nennung des neuen Würdenträgers den ersten Schritt zur Wiederher-
stellung der geistigen Autonomie Judäas. So konnte Alcimus unge-
hindert in Jerusalem einziehen, wo sich um ihn bald eine Schar von
gelehrten Soferim und Chassidäern sammelte. Nur Juda Makkabäus
und seine Patriotenpartei glaubten nicht an die Möglichkeit einer un-
eingeschränkten Autonomie ohne politische Befreiung. Sie hatten we-
der zu dem von den Syrern ernannten Hohepriester noch zu seiner
Friedensmission Vertrauen, da sie befürchteten, daß die Befrie-
dung letzten Endes nur auf eine neue Unterjochung des jüdischen
Volkes hinauslaufen würde. Diese Befürchtungen sollten sich viel ra-
scher bewahrheiten als man glauben konnte. Kaum hatte Alcimus
in seinem Amte festen Fuß gefaßt, als er auch schon seine Klauen
zeigte: er ließ sechzig Mann von jenen Chassidäern hinrichten, die
auch jetzt den Günstling Syriens nicht anerkennen wollten. Der neue
Hohepriester wollte durch diese Handlungsweise einerseits seinen
Diensteifer der syrischen Regierung gegenüber dartun, andererseits
aber der revolutionären Hasmonäerpartei heilsamen Schrecken ein-
jagen. Jedoch erreichte er in letzterer Hinsicht nur das Gegenteil:
seine grausamen Maßnahmen wirkten abstoßend sogar auf diejenigen,
die ihm vorzeitig Vertrauen entgegengebracht hatten; nun konnte er
nur noch bei der syrischen Regierung und bei der zusammenge-
schrumpften Hellenistenpartei Unterstützung suchen.
Bacchides hatte um diese Zeit Jerusalem bereits verlassen, einen
Teil seines Heeres zum Schutze des Alcimus zurücklassend; jedoch er-
wies sich diese Wehr als unzulänglich. Der unversöhnliche Makka-
bäus, der nach der Ankunft des Alcimus gezwungen war, sich mit
seiner Kriegerschar aus Jerusalem zu entfernen, hatte in der Provinz
von neuem das Banner des Aufstandes entfaltet. Diesmal rief er das
Volk zum Kampfe gegen den inneren Feind, die Hellenisten, auf,
die mit Hilfe der syrischen Kriegsmacht die Restauration durchzu-
führen versuchten. An vielen Orten verfolgten die Truppen Judas
unerbittlich die Hellenisten als Verräter an der nationalen Sache.
Als Alcimus sich und seine Partei so bedroht sah, wandte er
sich von neuem an den König Demetrius und flehte ihn um
73
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
Hilfe an. Der König sandte sogleich ein Heer nach Judäa unter
dem Oberbefehl des Anführers der ersten Strafexpedition, des
Nikanor (161).
Nikanor kam nach Judäa mit dem Auftrag, die unverbesserlichen
Revolutionäre aus der Hasmonäerpartei zu züchtigen und der der syri-
schen Regierung treu ergebenen Ordnungspartei zum Siege zu ver-
helfen. Zunächst versuchte Nikanor, Juda durch List, unter dem Vor-
wände von Friedensverhandlungen, in eine Falle zu locken; als aber
dieser heimtückische Anschlag mißglückte, griff er zu den Waffen.
Auf dem Wege nach Jerusalem, bei Kephar-Salama, kam es zu dem
ersten Zusammenstoß mit der Kriegerschar Judas, bei dem die Syrer
eine Schlappe erlitten. In Jerusalem, wo die Partei des Alcimus
herrschte, wurde Nikanor ehrenvoll empfangen; jedoch infolge sei-
nes kürzlichen Mißerfolgs erbittert, behandelte er die Vertreter der
Stadt in rohester Weise. Als die Priester und Obersten Judäas ihn
am Eingänge des Tempels willkommen hießen, verhöhnte er sie und
drohte, den Tempel in Brand zu stecken, wenn Juda mit seiner auf-
rührerischen Kriegerschar den Syrern nicht ausgeliefert werden
würde. Nikanor hatte anscheinend kein Vertrauen zu der Untertanen-
treue der Jerusalemer Einwohner, die er der Sympathien mit den Auf-
rührern verdächtigte.
Bald darauf rückte Nikanor mit seinem Heere, das durch aus
Syrien gesandte Hilfstruppen verstärkt worden war, nach Bethhoron
vor, in dessen Nähe Juda sein Lager aufgeschlagen hatte. Hier, beim
Dorfe Adasa, am i3. Adar (März) 161, kam es zu einer blutigen
Schlacht, die mit einem glänzenden Sieg der Juden endete. Nikanor
fiel schon zu Beginn des Gefechts und seine der Führung beraubten
Truppen wurden in die Flucht geschlagen. Die Juden verfolgten sie
und vernichteten die Zurückbleibenden. Der Sieg erfüllte die Herzen
der Patrioten mit heller Freude: ein Feind war niedergerungen, der
noch am Vortage der Schlacht die heiligsten Gefühle der Nation ver-
höhnt und das Volksheiligtum voll Überhebung bedroht hatte. Zum
Andenken an den Sieg über Nikanor wurde beschlossen, den Tag des
i3. Adar (den Vorabend des Purimfestes) alljährlich zu feiern. Und
noch lange Zeit wurde dieses unter dem Namen „Tag des Nikanor“
bekannte historische Fest in Judäa gehalten, bis es später mit dem
„Tag des Haman“, dem Purim, verschmolz.
Für eine Zeit lang war die Partei des Alcimus aus der Herrschaft
74
§ 12. Demetrius /., Alcimus und der Tod Judas
gedrängt, und Juda Makkabäus stand mit seinen Brüdern wieder ein-
mal an der Spitze des Volkes. Jetzt trat mit völliger Klarheit der
politische Unterschied zwischen den beiden Parteien zutage, die ehedem
nur auf kulturellem Boden sich gegenseitig befehdet hatten: die eine
stand auf seiten der syrischen Regierung, die andere erstrebte volle
Unabhängigkeit. Es war nun klar, daß die zur Befreiung von der
religiösen Bedrückung eingeleitete Bewegung fortschreiten werde —
auf das Ziel der politischen Befreiung hin. Diesem Ziele strebten
denn auch die Hasmonäer mit geschichtlicher Notwendigkeit unver-
wandt zu. Um die Niederwerfung der syrischen Herrschaft vorzu-
bereiten, beschloß Juda, die mächtige römische Republik, die damalige
höchste Instanz in den internationalen Beziehungen, um Schutz anzu-
gehen. Seit dem Siege Roms über Antiochus III. bestand eine Art
römischen Protektorats über das Seleucidenreich. Syrische Prinzen
lebten oft als Geiseln in Rom, und der römische Senat hatte ein wach-
sames Auge auf alles, was am Hofe der Seleuciden und in ihrem
vielstämmigen Reiche vorging. Als Antiochus IV. eine allzu große Nei-
gung zu einer Eroberungspolitik zeigte, gebot ihm Rom Halt durch
sein drohendes Veto, dem er sich notgedrungen fügen mußte (oben
§ 9). Da nun eine Ausbreitung der syrischen Hegemonie im Orient
Rom nicht erwünscht war, mußte ihm jedes Streben der dieser Mon-
archie unterworfenen Völker nach Unabhängigkeit, folglich auch der
Hasmonäeraufstand, nur gelegen kommen. Darauf bauend, sandte
Juda an den römischen Senat zwei Boten, Eupolemus und Jason, mit
dem Anerbieten, die Republik möge ein Schutzbündnis mit der revo-
lutionären jüdischen Regierung eingehen. Der Senat willigte gern
in diesen Vorschlag ein, der den politischen Zielen Roms vollauf ent-
sprach und Judäa in die Sphäre des unmittelbaren Einflusses der Re-
publik mit hineinziehen sollte. Dem geschlossenen „Friedensbunde“
zufolge waren beide Teile verpflichtet, einander im Falle eines Krie-
ges im Orient beizustehen, „wie es die Umstände von ihnen fordern
werden“ (161—160)1). Die jüdischen Führer, die zum ersten Male
U Indem wir mit Niese und Schürer die Glaubwürdigkeit der Tatsache eines
Vertragsschlusses zwischen Juda und dem römischen Senat anerkennen (gegen Will-
rich und Wellhausen, die diese Tatsache in die spätere Regierung des Juda-Aristo-
bulus verlegen), können wir auch die Wahrheitstreue der Wiedergabe des Vertrags -
inhaltes, wie er im I. Makk. 8, 2 3—2 8 dargelegt ist, nicht in Zweifel ziehen, da
der Verfasser sich auf die Eingrabung des Vertrags auf „ehernen, nach Jerusalem
75
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
zur Erlangung ihrer Unabhängigkeit Bundesgenossen Roms wurden,
konnten nicht voraussehen, daß diese unersättliche Weltmacht hun-
dert Jahre später selbst die Hand an die Unabhängigkeit Judäas legen
werde.
Unmittelbare Folgen zog jedoch das Bündnis mit Rom nicht nach
sich. Der römische Senat forderte Demetrius I. auf, die Feindselig-
keiten gegen Judäa einzustellen, allein die Warnung kam zu spät.
Sogleich nach dem Eintreffen der Nachricht von der Niederlage des
Nikanor bei Adasa sandte Demetrius ein zwanzigtausend Mann starkes
Heer unter dem Oberbefehl des Bacchides nach Judäa. In Eilmär-
schen näherte sich Bacchides Jerusalem. Juda, der einen so schnellen
Ansturm des Feindes nicht erwartet hatte, war noch nicht genügend
gerüstet und verfügte daher alles in allem nur über 3ooo kampf-
bereite Krieger. Die meisten von ihnen waren gegen einen offenen
Kampf mit den Syrern und bestanden auf Rückzug, um für die
Sammlung eines stärkeren Heeres Zeit zu gewinnen. Der unerschrok-
kene Juda wollte jedoch von einem schmählichen Rückzuge nichts
wissen. „Wenn denn — so sprach er — unsere Zeit gekommen ist
(zu sterben), so wollen wir mannhaft für unsere Brüder sterben und
auf unserem Ruhm keinen Flecken lassen!“ Von dem ganzen Krieger-
trupp erklärten sich nur 800 tapfere Kämpfer bereit, ihm zu folgen.
Mit dieser kleinen Heldenschar stürzte sich Juda bei Alasa (oder dem
obenerwähnten Adasa) auf den Feind und hatte bereits dessen rechten
Flügel, wo sich Bacchides selbst befand, in die Flucht geschlagen;
als er sich aber umwandte, sah er sich von dem linken feindlichen
Flügel umringt. Die tapfere Kriegerschar Judas kämpfte mit ver-
zweifeltem Heldenmut, jedoch lichteten sich ihre Reihen zusehends.
Schließlich erlag auch der ruhmbedeckte Kriegsheld selbst mit dem
Schwerte in der Hand (im Frühjahr 160). Den Brüdern Judas ge-
lang es noch, seine Leiche zu finden, die sie nach Modein brachten
und dort in der Familiengruft der Hasmonäer begruben. Ganz
Judäa beweinte den Tod des großen Helden, des Retters der
gesandten Tafeln“ beruft. (Die Tafeln selbst sind allerdings nicht erhaltenge-
blieben.) Neuere Forscher (Täubler in seinem Werk „Imperium Romanum“, I, 2^0
und Ed. Meyer, 1. c. II, 2 46) erkennen die Authentizität dieser Urkunden an, wobei
sie nur die Möglichkeit einer Ungenauigkeit in der Ausdrucksweise in Erwägung
ziehen, die durch die Übersetzung des lateinischen Originals ins Hebräische und
Griechische entstehen konnte.
§ 13. Jonathan und der Freischärlerkrieg bis zum Waffenstillstand
nationalen Freiheit, der in heldenhaftem Ringen in einem Augen-
blick gefallen war, als der Freiheit des Volkes von neuem Gefahr
drohte.
§ 13. Jonathan und der Freischärlerkrieg bis zum Waffenstillstand
im Jahre 157
Juda Makkabäus starb gerade zur Zeit einer entscheidenden Wen-
dung, als der Kampf der Juden um ihre religiöse Freiheit, der bereits
sein Ziel erreicht hatte, in den Kampf um die politische Unabhängig-
keit überging. Diese zweite Aufgabe war unvergleichlich schwieriger.
In die Reihen der Kämpfer gegen die religiöse Bedrückung traten
viele, die unter den Zwangsmaßnahmen Antiochus IV. unmittelbar
zu leiden hatten. Die brutale Vergewaltigung des religiösen Gewis-
sens trieb auch die friedfertigsten Menschen unter die Fahnen der
Hasmonäer, und eben dieser hartnäckige Widerstand der begeisterten
Massen führte zum Friedensvertrag mit Lysias im Jahre i63, der die
religiöse Autonomie Judäas von Rechts wegen wiederherstellte. Al-
lein nachdem die Freiheit des religiösen Lebens gesichert war, fand
sich die Mehrzahl des Volkes mit der syrischen Oberherrschaft ab.
Die Chassidäer hielten das Ziel des Aufstandes für erreicht, und viele
von ihnen wären, wie schon erwähnt, sogar bereit gewesen, die Herr-
schaft des Hohepriesters Alcimus anzuerkennen, wenn er sich auf sein
Volk, nicht aber auf die syrischen Waffen gestützt hätte. Nur die Partei
der Hasmonäerhelden war sich dessen bewußt, daß man bei dem er-
reichten bescheidenen Erfolg nicht stehen bleiben dürfe, sondern die
Erlangung der politischen Unabhängigkeit oder wenigstens einer weit-
gehenden politischen Autonomie unter dem Protektorate des verbün-
deten Rom, das in seinem eigenen Interesse den Separatismus der von
Syrien beherrschten Völker unterstützen würde, anstreben müsse. Juda
Makkabäus hatte kurz vor seinem Tode in dieser Richtung bereits zu
handeln begonnen, fand aber keinen Anklang bei den nach so vielen
Kriegsjahren nach Ruhe lechzenden Volksmassen. Er sah sich schließ-
lich einzig und allein auf die Kräfte seiner kleinen heldenmütigen
Kriegerschar angewiesen. So erlag er denn auch in dem ungleichen
Kampfe.
Der Tod Judas hatte eine zeitweilige Auflösung der Reihen der
jüdischen Patrioten zur Folge und verhalf der Partei der Gemäßigten
oder Friedfertigen, den loyalen Freunden der syrischen Obergewalt,
77
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
zur Vorherrschaft. Alcimus faßte in Jerusalem als Hohepriester und
als das Oberhaupt der Gerusia wieder festen Fuß. Die von ihm ge-
führte aristokratische Oligarchie strebte ausschließlich nach Ordnung
und Ruhe im Lande; ihr Losungswort war die demütige Ergebenheit
der syrischen Regierung gegenüber, die die Nation wieder in den Be-
sitz der religiösen Freiheit setzte. Diese Partei erblickte daher in der
Gefolgschaft der Hasmonäer nichts als einen Haufen von Aufrührern,
die durch ihre Taten die syrische Regierung nur aufzureizen und so
neues Unheil über Judäa heraufzubeschwören imstande seien. Dies
war die Ansicht auch des Statthalters Bacchides, der nach seinem
Siege bei Alasa in Judäa geblieben war, um dort die gesetzmäßige
Ordnung wiederherzustellen. Er verfolgte in grausamer Weise die
Kampfgenossen und Anhänger des Juda Makkabäus, die nun in der
Provinz zerstreut waren, als gefährliche Aufwiegler. Er baute eine
Reihe von Festungen in den Städten (Jericho, Emmaus, Bethoron,
Bethel u. a.) und belegte sie mit syrischen Garnisonen, bemächtigte
sich der Kinder aus vornehmen jüdischen Familien und hielt sie als
Geiseln in der Jerusalemer Zwingburg Akra zurück, zur Sicherheit da-
für, daß die Juden sich gegen die syrische Obergewalt nicht wieder
auflehnten.
Die Verfolgungen des Bacchides veranlaßten die Partei der „Un-
versöhnlichen“, sich zu Zwecken der Selbstwehr wieder zusammen-
zutun. Der Überrest der hasmonäischen Kriegerschar wählte zu sei-
nem Anführer den jüngeren Bruder Judas, den Helden des trans-
jordanischen Feldzuges, Jonathan. Diese Wahl war eine glückliche.
Jonathan besaß allerdings nicht den Löwenmut, die Unerschrocken-
heit und die glühende Begeisterung seines verstorbenen Bruders, er
zeichnete sich aber durch andere Vorzüge aus, die der neuen politi-
schen Lage mehr entsprachen: durch politischen Weitblick und Um-
sicht im Handeln. Juda war schnell für eine Sache entflammt, er
wagte alles und ging drauflos, während Jonathan es verstand, gedul-
dig den Augenblick abzuwarten, in dem bei kleinstem Einsatz der
größte Gewinn winkte. Er war nicht nur ein Krieger, sondern auch
ein Politiker, ein Diplomat, der jeden Mißgriff, jede schwierige Lage
seines Gegners für seine Zwecke nutzbar zu machen verstand. Dank
diesen Eigenschaften des neuen Führers gelang es der nationalen Has-
monäerpartei, nicht nur im kritischen Augenblick das Feld zu be-
§ 13. Jonathan und der Freischärlerkrieg bis zum Waffenstillstand
haupten, sondern späterhin ihre Macht noch zu vergrößern und sogar
die Zügel der Regierung zu ergreifen.
Da vorerst die Kriegerschar Jonathans Bacchides keinen aktiven
Widerstand zu leisten vermochte, verließ sie das Zentrum des Landes
und zog sich in die Wüste Thekoa, am Toten Meere, zurück. In diesen
wilden Steppen, wo noch heute die Beduinen nomadisieren, irrten die
Freischärlertruppen der Juden umher, günstigere Zeiten für die
Fortsetzung ihres Heldenkampfes abwartend. Jonathan und seine Krie-
ger hatten ihre Weiber und Kinder aus Judäa mitgenommen, sowie
ihr Hab und Gut, das sonst als das Eigentum von Aufrührern Bac-
chides hätte konfiszieren können. Um sich Bewegungsfreiheit zu si-
chern, schickte Jonathan den ganzen Troß unter der Aufsicht seines
Bruders Jochanan nach Transjordanien, zu der freundschaftlich ge-
sinnten arabischen Völkerschaft der Nabatäer. Unterwegs, bei Me-
daba (in dem ehemaligen Moab), wurde Jochanan von Räubern aus
dem Araberstamme Bne-Amri (Jambri) überfallen, die ihn töteten
und seinen Troß ausplünderten. Da setzten Jonathan und sein Bruder
Simon an der Spitze ihrer Kriegerschar über den Jordan, überrum-
pelten die Räuber bei einer fröhlichen Hochzeitsfeier und nahmen blu-
tige Rache für den Tod ihres Bruders. Auf dem Rückwege stieß der
Trupp des Jonathan am östlichen Jordanufer mit dem Heer des Bac-
chides zusammen. Nach einem kurzen Kampfe sprang Jonathan mit
seinen Kriegern in den Jordan, erreichte schwimmend das gegenüber-
liegende Ufer und verschwand in der Wüste, während das schwer-
bewaffnete Heer des Bacchides ihnen nicht folgen konnte und jen-
seits des Flusses Zurückbleiben mußte.
Bald darauf starb Alcimus (i5g). Der plötzliche Tod des hellenen-
freundlichen Hohepriesters wird von der Volksüberlieferung als eine
Strafe Gottes dargestellt, die den Gottlosen in dem Augenblick er-
eilte, als er im Begriff war, die den inneren Tempelhof umgebende
alte Mauer zu schleifen, um den Heiden den Zutritt zu dem heiligen
Orte zu erleichtern. Nach dem Tode des Alcimus kehrte Bacchides,
der in Jerusalem vornehmlich zur Unterstützung dieses syrischen
Günstlings geweilt hatte, nach Antiochia zurück. Jonathan säumte
nicht, sich die Abwesenheit des Bacchides zunutze zu machen, um
mit doppeltem Eifer Krieger für sein Heer zu werben. Er und sein
Bruder Simon drangen in verschiedene Städte ein und traten in offe-
nen Kampf mit den Hellenisten, den Anhängern der syrischen Re-
79
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege .
gierung. Diese führten in Antiochia Klage darüber und baten um
Hilfstruppen zur Züchtigung der Patrioten. Als Bacchides von neuem,
nach Jerusalem kam, stieß er nun auf den energischen Widerstand
der beiden Hasmonäer, die ihre Kriegsmacht inzwischen bedeutend
verstärkt hatten. Die Syrer waren nicht imstande, die überall ver-
streuten Freischärlertruppen zu bekämpfen, die nicht in offenem
Felde mit ihnen rangen, sondern sie unablässig durch vereinzelte jähe
Überfälle belästigten. Bacchides war bald dieser endlosen Plänkeleien
müde geworden; er war der Einmischung in den jüdischen Parteizwist
satt und sehr aufgebracht gegen die Hellenisten, die ihn gerufen hat-
ten. Darum ging er auch gern auf den Vorschlag des Jonathan ein,
die gegenseitigen Feindseligkeiten einzustellen Es wurde ein
Frieden geschlossen, dessen Bedingungen ungefähr auf folgendes hin-
ausliefen: die Hasmonäerpartei erkennt die Obergewalt Syriens an
und wird hingegen, insofern ihre Wirksamkeit die Grenzen des in-
neren Kulturkampfes nicht überschreitet, von der syrischen Regie-
rung geduldet; die syrische Regierung mischt sich in den inneren
Kampf nicht ein und ernennt nicht einmal den Nachfolger des Hohe-
priesters Alcimus, die Wahl dem freien Volkswillen überlassend.
Die Folge dieses Vertrages war, daß im Laufe einiger Jahre nach
dem Tode des Alcimus das Hohepriesteramt überhaupt unbesetzt blieb,
da dem Volke die nötige Einmütigkeit zur Wahl eines offiziellen
Volksoberhauptes fehlte. Der gesetzliche Machterbe, der Sohn des er-
mordeten Onias III., war längst nach Ägypten, unter den Schutz der
Ptolemäer, geflohen; ein Priester aus der Hellenistenpartei hätte sich
nur mit Hilfe der syrischen Waffen in seinem Amte behaupten kön-
nen, während für einen Regenten aus der nationalen Partei die Zeit
noch nicht gekommen war. In der jüdischen Selbstverwaltung ent-
stand so eine Spaltung der Macht: in Jerusalem herrschte die von
der syrischen Garnison beschützte Oligarchie der jüdischen Aristo-
kraten, während Jonathan sich mit seinen Anhängern in Mikmas,
nördlich von Jerusalem, festsetzte; es war dies das Selbstverwal-
tungszentrum der nationalen Partei. Bacchides aber verließ jetzt Ju-
däa für immer.
Damit war die syrische Regierung den Juden noch einen Schritt
weiter entgegengekommen: hatte sie früher von der Einschränkung
der religiösen Freiheit absehen müssen, so verzichtete sie nunmehr
80
§ lä. Die Wirren in Syrien und das Hohepriestertum Jonathans
auch auf jede Einmischung in den inneren jüdischen Parteikampf der
Hellenisten und Nationalisten, indem sie die Wahl zwischen den sich
befehdenden Parteien dem Volke selbst überließ.
§ 1U. Die Wirren in Syrien und das Hohepriestertum Jonathans
Nach dem Friedensschluß mit Bacchides herrschte in Judäa nahezu
vier Jahre lang mehr oder weniger Ruhe. Zu Zusammenstößen mit
den Syrern kam es nun nicht mehr, und auch der Parteihader hatte
seine ehemalige Schärfe eingebüßt. Die der Unterstützung der syri-
schen Regierung beraubten Hellenisten, für die die Mehrzahl des jüdi-
schen Volkes nie etwas übrig gehabt hatte, verloren immer mehr an
Einfluß, während die Volkstümlichkeit der nationalen Hasmonäer-
partei immer größer wurde. Vorerst auf eine aktive Politik gegen
Syrien verzichtend, strebte Jonathan dennoch unermüdlich seinem ver-
heißungsvollen Ziele entgegen: der politischen Befreiung der Nation.
Er schritt langsam, aber mit Sicherheit auf dieses Ziel zu, unter Aus-^
nutzung jeder günstigen Gelegenheit zur Befestigung und Erweite-
rung der jüdischen Autonomie. Eine ganze Reihe solcher günstiger
Gelegenheiten machte es Jonathan möglich, sein Streben viel eher zu
verwirklichen, als er es selbst geglaubt haben mag. Der politische Zer-
fall Syriens war es, der die Wiedergeburt Judäas am meisten be-
schleunigte.
Um jene Zeit setzte in Syrien von neuem ein erbitterter dynasti-
scher Kampf ein, der dauernde, die letzten Kräfte der Monarchie ver-
zehrende Wirren zur Folge hatte. Die Erzfeinde der Seleuciden, die
ägyptischen und kleinasiatischen Fürsten, trugen zur Verschärfung
dieser Wirren bei, indem sie verschiedenen zufälligen Prätendenten
auf den syrischen Thron Beistand leisteten. So trat im Zusammenhang
mit diesen politischen Ränken im Jahre i53 ein Prätendent auf, der
Demetrius I. die königliche Gewalt streitig machte. Es war dies ein
junger Mann von niederer Abstammung, aus Kleinasien gebürtig, der
sich für den Sohn des verstorbenen Königs Antiochus Epiphanes aus-
gab, dem er in der Tat auch ähnlich sah. Sein eigentlicher Name
war Balas, er nannte sich aber bei seinem Auftreten als Königssohn
Alexander. Mit dem Beistand seiner Gönner und der geheimen Unter-
stützung Roms sammelte Alexander Balas ein Heer und begann einen
erbitterten Kampf gegen den König Demetrius. Demetrius, der zur
6 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
81
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
§ U
Abwehr einer größeren Streitmacht bedurfte, sah sich genötigt, die
Besatzungen aus den jüdischen Festungen, mit Ausnahme von Jeru-
salem und Bethsura, abzuberufen. Da entstand aber für den König
eine neue Gefahr: Jonathan war nun in der Lage, sich die Verringe-
rung der syrischen Besatzung in Judäa zunutze zu machen und ent-
weder von Syrien ganz abzufallen oder für den neuen Prätendenten,
falls dieser ihm günstige Bedingungen anbieten sollte, Partei zu er-
greifen. Darum suchte Demetrius seinem Gegner zuvorzukommen und
die Juden, vor allem ihren Führer, für sich zu gewinnen. Er bevoll-
mächtigte Jonathan zur Werbung von Kriegern für die königliche
Wehrmacht in Judäa und, zum Zeichen seines Vertrauens, gab er die
in Akra festgehaltenen jüdischen Geiseln aus den vornehmen Familien
frei. Als Bevollmächtigter des Königs zog Jonathan sogleich in das
ihm so lange unzugänglich gebliebene Jerusalem ein und begann un-
verzüglich mit der Befestigung des Tempelberges.
Die Befürchtungen des Demetrius sollten bald Wirklichkeit wer-
den. Der Prätendent Alexander Balas, dem es daran lag, Verbündete
zu gewinnen, suchte den jüdischen Führer mit noch verlockenderen
Anerbietungen auf seine Seite zu ziehen. Er setzte Jonathan in das bis-
her unbesetzt gebliebene Hohepriesteramt ein, sandte ihm als Geschenk
einen Purpurmantel und eine goldene Krone, und bat um Bundes-
genossenschaft und Beistand. Jonathan säumte nicht, das ihm ange-
tragene Hohepriestertum anzunehmen, das als politische Machtposition
schon lange das Ziel der Hasmonäer war. Am Laubhüttenfeste (Su-
koth) des Jahres iÖ2 erschien er zum ersten Male im Tempel in dem
prächtigen Hohepriesterornat. Dies bedeutete den offiziell anerkannten
Übergang der Gewalt von der Hellenistenpartei, die in der Zeit der
Wirren das Hohepriesteramt an sich gerissen hatte, an die nationale
Partei, repräsentiert durch ihre Führer, die Hasmonäer. Es war klar,
daß für das Wohl Judäas und für den Triumph der nationalen Rich-
tung das Bündnis mit dem Prätendenten vorteilhafter war als das mit
Demetrius, der noch vor kurzem die Patrioten durch Bacchides hatte
verfolgen lassen. Dies war der Grund, warum Jonathan entschieden
auf die Seite Alexanders trat und das weitere Angebot des Demetrius,
der den Juden weitgehende Autonomie und große Steuererleichterun-
gen versprochen hatte, unbeachtet ließ. Man muß annehmen, daß der
jüdische Führer Grund hatte, dem Ernst dieser in einem Augenblick
der Bedrängnis gegebenen Versprechungen nicht zu trauen, oder daß
er die S
nathans
trius I.
König v
So 1
Scharfb
ten, der
zu beim
monäerl
fast un;
schätzte
nach Pi
seiner 1
mäus P]
rer saß
die den
Ehren e
mais ka
dieser c
Jonatha
d. i. zu:
in einer
innehatt
Meh
Hohepri
Land w
völligen
teren d^
günstig
Ale}
Beispiel
sehen F
lebte. Ii
Demetri
Apollon
Bündnk
Apollon
gen der
6*
LÖtigt, die
von Jem-
en König
Verringe-
und ent-
tendenten,
tei zu er-
nmen und
Er bevoll-
tönigliche
*ab er die
Familien
ch in das
3gann un-
lkeit wer-
erbündete
ckenderen
n das bis-
Geschenk
Bundes-
hm ange-
htposition
:este (Su-
el in dem
erkannten
Zeit der
nationale
war klar;
den Rieh-
ls das mit
ides hatte
Ltschieden
Demetrius,
iichterun-
., daß der
ugenblick
oder daß
§ i4. Die Wirren in Syrien und das Hohepriestertum Jonathans
er die Sache des Demetrius für verloren hielt. Der Tatsachensinn Jo-
nathans täuschte ihn nicht: nach zweijährigem Krieg fiel Deme-
trius I. im Kampfe mit dem Prätendenten, und Alexander wurde zum
König von Syrien ausgerufen (i5o).
So kam es, daß ein glücklicher Zufall, aber auch sein politischer
Scharfblick Jonathan mit einem Male jene hohe Stellung verschaff-
ten, deren sich Juda Makkabäus durch alle seine Heldentaten nicht
zu bemächtigen vermocht hatte. Ein Mitglied der revolutionären Has-
monäerfamilie erlangte die Hohepriesterwürde und wurde zu einem
fast unabhängigen Vasallen des syrischen Königs. Alexander Balas
schätzte in ihm einen einflußreichen Verbündeten. Er lud Jonathan
nach Ptolemais zu Hochzeitsfeierlichkeiten ein, die dort aus Anlaß
seiner Vermählung mit der Tochter des ägyptischen Königs Ptole-
mäus Philometor stattfanden. Der in Purpur gekleidete jüdische Füh-
rer saß nun an der Seite des Königs von Syrien, und es wurden ihm
die dem Regenten einer befreundeten Nation gebührenden hohen
Ehren erwiesen. Als eine Deputation der Hellenistenpartei nach Ptole-
mais kam und Jonathan bei Alexander anzuschwärzen versuchte, ließ
dieser die Denunziationen gänzlich unbeachtet. Der König ernannte
Jonathan zum „Strategen“ und „Meridarchen“ oder „Ethnarchen“,
d. i. zum Militär- und Ziviloberhaupt Judäas, und befestigte ihn so
in einer Machtstellung, die er in Wirklichkeit ohnehin schon längst
innehatte.
Mehrere Jahre hindurch regierte Jonathan ungestört in Judäa als
Hohepriester und Ethnarch. Das noch vor kurzem unterjocht gewesene
Land war nun schon zur Hälfte unabhängig und ging allmählich der
völligen politischen Freiheit entgegen, für deren Erlangung die wei-
teren dynastischen Wirren in dem sich auflösenden Syrien besonders
günstig waren.
Alexander Balas war ein wenig befähigter Herrscher, der, dem
Beispiel der meisten griechisch-syrischen, kleinasiatischen und ägypti-
schen Fürsten jener Zeit folgend, vor allem dem sinnlichen Genüsse
lebte. Im Jahre i47 erhob sich gegen ihn der gesetzliche Thronerbe
Demetrius II., der Sohn Demetrius I. Der Statthalter Goelesyriens,
Apollonius, ging zu Demetrius über, Jonathan dagegen blieb seinem
Bündnis mit Alexander treu. Dies führte zu einem Kriege zwischen
Apollonius und Jonathan an der philistäischen Küste. Die Juden tru-
gen den Sieg davon. Jonathan schlug das Heer des Apollonius bei
6*
83
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
Asdod, zerstörte die Stadt mit dem Tempel Dagons, verjagte die sy-
rische Garnison aus der Küstenstadt Jope (Jaffa) und kehrte im
Triumph nach Jerusalem zurück. Zum Dank für diesen Beistand
schenkte ihm Alexander die alt-philistäische Stadt Ekron.
Jonathan vermochte es jedoch nicht, Alexander, gegen den sich
Yiele Bürger Antiochias und mehrere Truppenteile erhoben hatten,
den Thron zu erhalten. Sogar der Schwiegervater Alexanders, der
ägyptische König Ptolemäus VI., schlug sich auf die Seite des Deme-
trius, dem er seine dem Balas entrissene Tochter zum Weibe gab.
Nachdem Alexander in der Schlacht gegen Demetrius und Ptolemäus
eine Niederlage erlitten hatte, floh er nach Arabien, wo er bald darauf
einem Mordanschlage zum Opfer fiel. Demetrius II. bestieg den Thron
Syriens (i46) und erhielt den Prunknamen Nikator (Sieger).
Diese Übergangszeit hielt nun Jonathan für günstig zur Erlangung
einer noch weitergehenden Unabhängigkeit. Er belagerte die Jerusa-
lemer Zwingburg Akra, das Hauptbollwerk der Syrer und den Zu-
fluchtsort der hellenenfreundlichen Juden. In Antiochia wurde dies
als eine revolutionäre Handlungsweise gedeutet, und auch die aus
Judäa geflohenen hellenistisch gesinnten Juden suchten das Unter-
nehmen Jonathans in ähnlichem Lichte erscheinen zu lassen. Der
König Demetrius II. berief Jonathan nach Ptolemais, um Rechen-
schaft von ihm zu verlangen. Der jüdische Führer begab sich ruhig
zum König, ohne aber die Belagerung Akras aufzuheben. Er wußte
wohl, daß dem syrischen König, dessen Thron noch nicht sehr fest
stand, an der Freundschaft Judäas sehr viel gelegen war, und daß er
nur ungern sich in einen Krieg mit ihm einlassen würde. Die politi-
schen Berechnungen Jonathans trafen auch diesmal vollauf zu. Deme-
trius empfing ihn mit Ehrenbezeugungen, wie sie einem mächtigen
Vasallen gebühren. Jonathan bat den König, die syrischen Garnisonen
aus Judäa zu entfernen und ihm drei Bezirke des samarischen Land-
gebietes (Ephraim, Lydda und Ramathaim) zu überlassen, wofür er
sich verpflichtete, an den königlichen Fiskus 3oo Talente Silber zu
entrichten. Demetrius versprach, diese Bitte zu erfüllen, da er sich
die Vasallentreue Jonathans und seinen Beistand für den Notfall si-
chern wollte.
Bald erwies sich dieser Beistand in der Tat als unentbehrlich. In
Antiochia herrschte eine unruhige Stimmung. Demetrius II. hatte
durch seinen Despotismus den Unwillen des Volkes erregt und hielt
84
§ 15. Der Befreiungskrieg bis zur Wahl Simons des Hasmonäers
sich nur mit Hilfe von Söldnertruppen auf dem syrischen Throne.
Aus Furcht vor einem Aufstand befahl er, der Bevölkerung der Haupt-
stadt die Waffen abzufordern. Allein diese Maßnahme beschleunigte
nur den Ausbruch des Volkszornes. In Antiochia kam es zum Aufruhr.
Da suchte der König Hilfe bei Jonathan und dieser sandte einen
Trupp von dreitausend jüdischen Kriegern nach Antiochia. Mit ihrer
Hilfe gelang es Demetrius, den gefährlichen Aufstand zu unter-
drücken (i*45). So änderten sich die Zeiten. Zwanzig Jahre vorher,
während der Schreckensherrschaft des Antiochus Epiphanes, hätte
niemand geglaubt, daß gar bald gerade den Juden die Aufgabe zu-
fallen sollte, mit bewaffneter Hand den Seleucidenthron in der syri-
schen Hauptstadt zu stützen.
§15. Der Befreiungskrieg bis zur Wahl Simons des Hasmonäers
zum Fürsten Judäas (1U5—1U0)
Als der Thron Demetrius II. in Gefahr schwebte und dieser des
Beistandes Judäas bedurfte, versprach er, die jüdische Autonomie zu
erweitern und die Jerusalemer Burg Akra sowie andere mit syrischen
Garnisonen belegte Festungen Jonathan auszuliefern. Sobald aber die
Gefahr, dank Jonathans Eingreifen, vorüber war, vergaß der König
sein Versprechen und trat dem jüdischen Führer feindselig entgegen.
Diese Treulosigkeit empörte Jonathan und er sah nun nach einer Ge-
legenheit aus, um seinen Bund mit Demetrius lösen zu können. Eine
solche Gelegenheit bot sich ihm gar bald. Es tauchte nämlich ein neuer
Prätendent auf die Seleucidenkrone auf. Der ehemalige Feldherr des
Alexander Balas und Vormund seines minderjährigen Sohnes Antio-
chus VI., Diodotus-Trypho, erhob für sein Mündel Ansprüche auf
die Königsgewalt. Infolge der Unzufriedenheit des Volkes mit der Re-
gierung des Demetrius gelang es Trypho, einen großen Teil der kö-
niglichen Truppen auf seine Seite zu bringen und sich Antiochias zu
bemächtigen (i45). In Syrien und seinen Kolonien entbrannte von
neuem der Kampf. Trypho und Antiochus traten als Nachfolger des
Alexander Balas mit dem ehemaligen Verbündeten des Königs, Jona-
than, in Verhandlungen über die Erneuerung des Bündnisses unter
für beide Parteien gleich vorteilhaften Bedingungen. Durch den ab-
geschlossenen Vertrag erhielt der jüdische Hohepriester und Führer
alle Rechte und Freiheiten, derentwegen er sich bei Demetrius ver-
'85
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
geblich bemüht hatte, unter der einzigen Gegenbedingung: dem Prä-
tendenten militärischen Beistand zu gewähren. Der Bruder Jonathans,
Simon, wurde zum „Strategen“ oder militärischen Oberhaupt des
ganzen palästinischen Küstenstrichs ernannt. Die beiden Hasmonäer
erhielten Vollmacht, Judäa und die daran grenzenden Landgebiete von
den Truppen Demetrius II. zu säubern. Dies verlieh ihnen eine weit-
gehende Gewalt über ganz Palästina, von der sie nicht so sehr im
Interesse ihres Verbündeten als in demjenigen ihrer Heimat ausgiebig-
sten Gebrauch machten.
Der Krieg wurde an zwei Fronten geführt: im südlichen Küsten-
gebiet und in Galiläa. In dem ersten eroberte Jonathan, an der Spitze
der syrischen und jüdischen Truppen, für Antiochus VI. die Städte
Askalon und Gaza; in Galiläa besiegte er das Heer Demetrius II. in
der Nähe des Genezarethsees. Hierauf rückte er nach Nordosten vor,
über das Libanongebirge hinaus, drängte das feindliche Heer von der
Grenze ab und kehrte über Damaskus nach Jerusalem zurück. Hier
berief Jonathan den jüdischen Volksältestenrat und beschloß gemein-
sam mit ihm, die Hauptstadt und einige Provinzstädte zu befestigen.
Er ließ die Festungsmauern um Jerusalem erhöhen und zwischen
Akra und dem Tempelberg eine hohe Mauer errichten, um den hei-
ligen Stadtteil vor der in Akra befindlichen syrischen Garnison zu
schützen. Zu gleicher Zeit war Simon um die Befestigung der Grenzen
Judäas besorgt. Nach einer langwierigen Belagerung besetzte er die
wichtigste der südlichen Grenzfestungen, Bethsura, vertrieb von dort
die syrische Garnison Demetrius II. und ersetzte sie durch eine jü-
dische Überdies eroberte Simon Jaffa und baute auch diese Jerusa-
lem zunächst gelegene Küstenstadt zu einer jüdischen Festung aus.
So drängte das hasmonäische Bruderpaar, indem es sich den Kampf
zwischen Demetrius II. und Antiochus VI. zunutze machte, die Syrer
mit Hilfe von Syrern immer mehr zurück und bereitete so den Bo-
den für die völlige Unabhängigkeit Judäas.
Während dieser Wirren schickte Jonathan eine Gesandtschaft
an den römischen Senat mit dem Anerbieten, das noch von
Juda Makkabäus mit Rom geschlossene Freundschaftsbündnis zu er-
neuern. Der Auftrag wurde mit Erfolg zur Ausführung gebracht1).
1) Über diese Gesandtschaft berichtet beiläufig I. Makk. 12, i—4, im Zu-
sammenhang mit dem apokryphischen Briefwechsel zwischen Jonathan und Sparta
und unter Berufung auf einen früheren Briefwechsel zwischen dem Hohepriester
§ 15. Der Befreiungskrieg bis zur Wahl Simons des Hasmonäers
Der politisch weitsichtige jüdische Führer, der nun die politische
Unabhängigkeit seines Landes zu proklamieren gedachte, wollte sich
wohl auf diese Weise die Unterstützung Roms sichern. Der Zusam-
menstoß mit dem „verbündeten“ Syrien erwies sich in der Tat als
unabwendbar, schon infolge des Interessengegensatzes der Verbünde-
ten. Viele Teile des palästinischen Landgebietes, die Jonathan und
Simon als königliche Bevollmächtigte des Antiochus eroberten, wur-
den von ihnen in Wirklichkeit Judäa ein verleibt. Es war klar, daß
Judäa nun auf die politische Unabhängigkeit des erweiterten Land-
gebietes hinzielte. Dies fiel schließlich auch dem Vormund des An-
tiochus, Trypho, auf, der daraufhin seine Maßnahmen traf. Kaum
war nämlich der Krieg mit Demetrius II. teilweise zum Stillstand ge-
kommen als sich Trypho schon gegen den mit ihm nur dem Namen
nach verbündeten Jonathan wandte. Wohl wissend, wie unbezwing-
bar dieser in offenem Kampfe war, griff der syrische Feldherr zu
einer List. Er rückte mit seinen Truppen in Palästina ein und schlug
sein Lager bei Skythopolis (Bethschean) auf. Jonathan, der einen Über-
fall witterte, zog ihm mit seinem Heere entgegen, wurde aber von
Trypho wider Erwarten sehr freundlich empfangen. Seinen Grimm
verhehlend, gab dieser der heuchlerischen Verwunderung darüber
Ausdruck, daß Jonathan sich zum Kampfe mit ihm rüste, während
doch zwischen den treuen Verbündeten das beste Einvernehmen
herrsche. Er überredete Jonathan, sein Heer zu entlassen und ihm
mit einer kleinen Kriegerschar nach Ptolemais zu folgen, angeblich
um über die Abtretung dieser Stadt und anderer Festungen an Judäa
zu verhandeln. Jonathan schenkte dem heimtückischen Syrer Glauben
und ging mit ihm. Kaum aber waren sie in Ptolemais angelangt, als
Jonathan als Kriegsgefangener in Haft genommen und sein Gefolge
niedergemacht wurde (i43).
Sobald Simon der Hasmonäer das Mißgeschick seines Bruders
erfahren hatte, eilte er unverzüglich nach Jerusalem. Er berief eine
Volksversammlung und wandte sich an diese mit folgenden Worten:
„Alle meine Brüder sind für Israel (in den Befreiungskriegen) um-
gekommen, und ich bin allein übriggeblieben. Nun aber sei es ferne
Onias und dem spartanischen König Areios, in dem beide Parteien bekunden, daß
die Juden und Spartaner ,,Brüder seien und dem Geschlechte Abrahams ent-
stammen0 (12, 7, 21). Diese Verhandlungen zwischen Judäa und Griechenland sind
für die Geschichtsforschung einstweilen noch ein Rätsel.
87
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
von mir, daß ich mein Leben in irgendwelcher Zeit der Trübsal
schonen sollte, vielmehr will ich für mein Volk und das Heiligtum,
und für unsere Weiber und Kinder als Rächer auftreten.“ Das Volk
lauschte tief bewegt den Worten des letzten aus der ruhmreichen
Hasmonäerfamilie und rief ihn auf der Stelle zum Regenten aus.
Simon stand nun vor der Aufgabe der Vollendung des begonnenen Be-
freiungswerkes; zu allererst machte er sich aber daran, mit dem treu-
losen Verbündeten abzurechnen und entweder Jonathan aus der Haft
zu befreien oder ihn nach Gebühr zu rächen. Trypho rückte mit sei-
nem Heere nach dem Zentrum Judäas vor, den gefangenen Jonathan
in Fesseln mit sich führend. Simon trat ihm an der Spitze seines
tapferen Heeres entgegen und verlegte ihm bei Adida, westlich von
Jerusalem, den Weg. Da beging Trypho eine neue Niederträchtigkeit.
Er versprach Simon, seinen Rruder freizugeben, falls ihm 3oo Ta-
lente Lösegeld bezahlt und die beiden Söhne Jonathans als Geiseln
gestellt werden würden. Obwohl Simon dem Versprechen des lügneri-
schen Syrers nur wenig traute, sandte er ihm dennoch das verlangte
Geld und die Geiseln, um dem Vorwurf, er hätte nicht alles zur Er-
rettung seines Bruders unternommen, vorzubeugen. Trypho hatte je-
doch auch diesmal einen Betrug begangen. Er führte sein Heer über
die südliche Grenze gegen Jerusalem, wurde aber durch starken Schnee-
fall am weiteren Vormarsch verhindert und mußte sich ostwärts,
nach Gilead, zurückziehen. Dort ließ er seinen Grimm wegen des miß-
lungenen Feldzuges an seinem Gefangenen aus: auf seinen Befehl
wurde Jonathan in Baskama, jenseits des Jordan, ermordet (i43).
Nachdem Trypho in sein Land zurückgekehrt war, ließ Simon die
Leiche seines Bruders nach Modem bringen und dort in der Familien-
gruft der Hasmonäer bestatten.
Um noch ein Grab vermehrte sich so die ruhmreiche Ruhestätte
der Helden: hier ruhte das neue Opfer des Ringens der nationalen
Helden, ein Krieger und ein politisches Genie, das seine Laufbahn mit
dem Kampf um das unveräußerliche Recht des Juden, Gott nach sei-
ner nationalen Art zu dienen, begonnen hatte, um es schließlich bis
zum Ornat des Hohepriesters und zur Würde eines nahezu unabhän-
gigen Ethnarchen zu bringen. Jonathan war nur von dem einen Gedan-
ken beherrscht, seine Heimat frei und glücklich zu machen; auf den
verschlungenen Wegen der internationalen Politik schritt er langsam
dem ersehnten Ziele entgegen und fiel als Opfer dieses gefahrvollen
§15. Der Befreiungskrieg bis zur Wahl Simons des Hasmonäers
Aufstiegs gerade in dem Augenblick, als er bereits vor dem Ziele eines
freien Judäa stand.
Bis zur völligen Befreiung Judäas war nur noch ein einziger
Schritt, und diesen tat nun der letzte der Hasmonäerbrüder, Simon.
Er vollendete die Befestigung Jerusalems und nahm von einer beson-
ders wichtigen, die Hauptstadt mit dem Meere verbindenden Ort-
schaft, von dem nahegelegenen Jaffa (Jope), endgültig Besitz. Um
der Hauptstadt diesen Schlüssel zum Meere zu sichern, vertrieb er aus
Jaffa alle Syrer. Die immer mehr zunehmende Verwirrung in Syrien
machte es Simon bald möglich, seinen Eroberungen Rechtsgültigkeit
zu verschaffen. Um diese Zeit gerade beging Trypho eine neue Fre-
veltat: er ermordete den von ihm bevormundeten Königssohn Anti-
ochus VI. und bestieg selbst den Thron. Da schlug sich Simon ohne
Zaudern auf die Seite des gesetzlichen Königs Demetrius II., jedoch
nicht als ein abhängiger Vasall, sondern als freier Bundesgenosse. Von
allen Seiten bedrängt, ging Demetrius, der die tatsächliche Gewalt
über Judäa ohnehin bereits eingebüßt hatte, gern ein Bündnis mit Si-
mon ein und machte auch noch die letzte Konzession, indem er Judäa
für immer von jeder Tributentrichtung an die syrische Regierung be-
freite. Dies bedeutete eine formelle Verzichtleistung der Seleuciden auf
die Oberhoheit in Judäa. „Das Joch der Heiden wurde von Israel ge-
nommen“, sagt der Chronist. Mit diesem Momente (dem Jahre 170
der Seleucidenepoche oder dem Jahre 1^2 v. d. ehr. Ära) beginnt die
Unabhängigkeit Judäas.
Auch das letzte Bollwerk der syrischen Herrschaft in Judäa sollte
bald zu Fall gebracht werden. Die in der Jerusalemer Burg Akra be-
findliche syrische Garnison sah sich plötzlich belagert: die Zitadelle
wurde von den Truppen Simons umzingelt, die die Lebensmittelzufuhr
abschnitten. Der Hunger zwang die Syrer zur Kapitulation. So ward
die stolze Burg, die dreißig Jahre lang die jüdische Freiheit bedroht
hatte, von den fremden Eindringlingen gesäubert. Am 2 3. Ijar (Mai)
i4i zog die jubelnde Bevölkerung Jerusalems, mit Palmenzweigen
in den Händen, bei Musik und Psalmengesang in Akra ein. Dieser be-
deutungsvolle Tag wurde zum alljährlichen nationalen Festtage pro-
klamiert.
Der fünfundzwanzigjährige heroische Befreiungskampf Judäas
wurde von einem Erfolge gekrönt, den seine ersten Anreger nicht er-
wartet hatten. Die Nation hatte nicht nur die religiöse, sondern auch
89
Der Hasmonäer auf stand und die Freiheitskriege
die politische Freiheit errungen. Nun galt es, die eroberte Freiheit zu
befestigen und eine neue Staatsordnung im Lande einzuführen. Eigent-
lich stand die heldenhafte Hasmönäerfamilie schon während der gan-
zen Periode der Freiheitskriege an der Spitze des Volkes, da die alte
Priesterdynastie der Zadokiten nach dem Verrate Jasons, ihres Reprä-
sentanten und zugleich des Urhebers der ersten religiösen Verfolgun-
gen, und nach der Flucht des Sohnes Onias III. nach Ägypten bereits
zu Falle gekommen war. Die Wiederherstellung der religiösen Freiheit
führte, nach einem kurzen Regiment des Alcimus, zum Übergang des
Hohepriestertums an Jonathan, den Vertreter der neuen Priesterdy-
nastie. Als die Hasmonäer hernach auch die staatliche Unabhängigkeit
für Judäa erkämpft hatten, mußte ihr Geschlecht auch zur politi-
schen Dynastie werden. So vereinigte sich in den Händen einer Fa-
milie sowohl die geistliche als auch die weltliche Obergewalt. Die be-
freite Nation hatte der vollendeten Tatsache nur noch die gesetzliche
Form zu verleihen. In einer großen Versammlung der Vertreter der
Geistlichkeit und der Volksältesten am 18. Elul (August) des Jahres
i4o wurde Simon der Hasmonäer zum Hohepriester, zum Oberbe-
fehlshaber des Heeres und zum Fürsten (archiereus, strategos, eth-
narchos) des jüdischen Volkes ausgerufen, wobei all diese Würden
in seinem Geschlechte erblich bleiben sollten. Der vom Volke ge-
wählte fürstliche Hohepriester besaß alle Rechte eines souveränen
Monarchen: er entschied über Krieg und Frieden, ernannte Beamte
und enthob sie ihres Amtes, Unterzeichnete die wichtigsten Staatsakten,
hatte die Oberaufsicht über den Tempel und strafte die Ungehorsa-
men. Die vom Volke anerkannte, die Rechte und Pflichten der Ober-
gewalt genau bestimmende neue Staatsverfassung Judäas wurde auf
ehernen Tafeln eingegraben und zur Aufbewahrung im Jerusalemer
Tempel niedergelegt.
Viertes Kapitel
Die geistige Kultur in Judäa und in der
hellenistischen Diaspora
§16. Poesie und Philosophie (Das }}Iiohelied(e und ,,Kohelet“)
Die Berührung der jüdischen Kultur mit der hellenischen auf dem
Boden Judäas zeitigte in den verschiedenen Zeitabschnitten der zwei
Jahrhunderte umfassenden Epoche der griechischen Herrschaft (332
bis i4o) auch ganz verschiedenartige Ergebnisse. In der verhältnis-
mäßig ruhigen Zeit der Ptolemäerherrschaft machten sich auf kul-
turellem Gebiete die Einwirkungen der bei dem Zusammentreffen
zweier fremdartiger Kulturen natürlichen Kräfte der gegenseitigen
Anziehung und Abstoßung bemerkbar, so daß die neuen geistigen Strö-
mungen im Judentum ein zwangloses Resultat dieses sich frei ent-
faltenden Prozesses waren. In der jüdischen Literatur mochte der
Einfluß des Hellenismus im Streben nach Verweltlichung des bisher
in den Rahmen des religiösen Denkens eingezwängten Schaffens sich
geltend gemacht haben; über den „heiligen Schriften“ erhob sich so
nach und nach eine Schicht weltlichen, freien Schrifttums. Eine ganz
andere Erscheinung tritt gegen Schluß der Epoche der griechischen
Herrschaft hervor, als die Seleucidenherrscher eine gewaltsame Helle-
nisierung beabsichtigten: die kulturellen Repulsionskräfte gewinnen
die Oberhand über die Kräfte der Attraktion, und der Prozeß der
Erweiterung des literarischen Schaffens in Judäa gerät ins Stocken.
Das III. Jahrhundert v. d. ehr. Ära, das Jahrhundert der ersten
Bekanntschaft des Judaismus mit dem Hellenismus, war ein Zeitalter
der Blüte der geistigen Kultur im hellenistischen Orient. Zur Zeit der
Eroberung des Ostens durch Alexander den Großen erreichte das grie-
chische Denken seinen Höhepunkt in Aristoteles, einem der Erzieher
des großen Eroberers. Drei Jahrzehnte später (um 3oo) gesellten sich
zu den zwei wissenschaftlichen Zentren in Athen, der Akademie Platos
91
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
und dem Lyzeum des Aristoteles, noch zwei andere: der „Garten“
des Epikur und die „Stoa“ des Z.enon, Pflanzstätten zweier ethisch-
philosophischer Systeme, des Epikureismus und des Stoizismus, von
denen dieser der Ethik des Judaismus ziemlich nahe verwandt
war. Aus dem europäischen Hellas drangen Wissenschaft und Phi-
losophie bald auch in die hellenistischen Staaten Asiens und Afrikas
ein. Seit dem III. Jahrhundert entwickelte sich Alexandrien zu einem
Athen des Morgenlandes. In dieses neue Athen siedelt aus dem alten
der berühmte Freund der Wissenschaften Demetrius aus Phaleron
über, auf dessen Veranlassung Ptolemäus I. das Alexandrinische Mu-
seum gründete, eine Akademie mit einer Handschriftenbibliothek, die
bald die größte Bücherei der alten Welt werden sollte (kleinere Biblio-
theken wurden zu jener Zeit von den Seleuciden in Antiochia und den
Attaliden in Pergamon gegründet). An diesem Museum wirkte der
große Mathematiker Euklides, ein Zeitgenosse der beiden ersten Pto-
lemäer. In Alexandrien lebte auch der schaffensfreudige Kritiker und
Dichter Kallimachos (unter Ptolemäus II.), dessen Schüler der Schöp-
fer des Romantismus und der idyllischen Poesie, Theokrit, war. Aus
Alexandrien, Antiochia und Pergamon ergoß sich das Licht des Wis-
sens über den ganzen hellenistischen Orient; von dort her kam das
griechische „Buch“, entweder auf ägyptischem Papyrus oder auf Per-
gament (ein in Pergamon verfertigtes dünnes Papier aus Schweins-
haut) aufgezeichnet, und diesem Einfluß vermochte sich das alte
„Volk des Buches“, nicht nur in Alexandrien und den übrigen Mittel-
punkten der jüdisch-hellenischen Diaspora, sondern auch in Judäa
selbst nicht zu entziehen. Wie groß auch die nationale Absonderung
in Judäa seit den Zeiten Esras gewesen sein mag, die Ideen der be-
nachbarten Kulturwelt drangen ungeachtet dieser geistigen Schran-
ken doch in die Welt der jüdischen Geistesaristokratie ein. Der Hel-
lenismus erweiterte den im Herrschaftsbereich der jüdischen Theo-
kratie künstlich verengerten Gesichtskreis, erschloß neue Wissensge-
biete, sowie mannigfaltigere Formen des Denkens und des literari-
schen Schaffens.
Die Ergebnisse der Einwirkungen des Hellenismus in ihrer Ent-
wicklung hätten am besten an den jüdischen literarischen Werken
verfolgt werden können, wenn man nur imstande wäre, in aller Genau-
igkeit festzustellen, welche Werke gerade dieser Epoche entstammen.
Leider bietet uns aber die Geschichtswissenschaft in diesem Falle,
§ i6. Poesie und Philosophie (Das „Hohelied" und „Kohelet“)
mit seltenen Ausnahmen, statt sicherer Tatsachen lediglich Hypothe-
sen und Vermutungen. Der Geschichtsschreiber muß daher zur ent-
gegengesetzten Methode greifen und die Entstehungszeit dieses oder
jenes Werkes nach den Merkmalen zu erraten versuchen, die unzwei-
deutig den Einfluß des Hellenismus verraten. Auf dieser Grundlage
baut sich eben die Vermutung auf, derzufolge in der Epoche der Pto-
lemäerherrschaft zwei Werke nicht religiösen, sondern rein weltli-
chen Inhalts in Judäa verfaßt worden sind, die im letzten Teil des
biblischen Schrifttums Aufnahme gefunden haben: das „Hohelied“
(Schir ha’schirim) und „Kohelet“ („Prediger“). Die naive Tradition
schreibt beide Bücher dem Könige Salomo zu, ohne zu merken, daß
in dem einen der alte König nur als Held einer lyrischen Dichtung
neben der Heldin, einer Schäferin, auftritt, während in dem anderen
der rätselhafte „Kohelet ben David, König in Jerusalem“ eine erdich-
tete Persönlichkeit ist, der philosophische Betrachtungen über Leben
und Tod nur in den Mund gelegt werden.
Im „Hohelied“1) wird die Liebe eines schönen, in den Palast des
Königs Salomo aufgenommenen Schäfermädchens ju ihrem Gelieb-
ten, einem Hirtenknaben, besungen. In diese Dichtung sind anschei-
nend alte Hochzeitslieder eingeflochten, in Form von Liebesdialogen
zwischen Braut und Bräutigam, zwischen Schäfer und Schäferin. Die
Gegenüberstellung von ländlichem Zelt und Palast, die Sehnsucht
der in die Mauern der Stadt Eingefangenen nach Liebesfreuden in der
Natur, „auf blumigen Weiden“ — dies alles weist die Spuren jenes
idyllischen Romantismus auf, der in der Epoche des Theokrit in der
Poesie vorherrschend war. Aber was für äußere Einflüsse auch auf
1) Über die Frage der Entstehungszeit des „Hoheliedes“ sind sich die Forscher
bis jetzt noch nicht einig. Die einen neigen zu der Annahme, daß das „Hohelied“
ein Werk der ältesten jüdischen Poesie und noch im israelitischen Reiche, um das
IX. Jahrhundert v. d. ehr. Ära, verfaßt worden sei. Jedoch die formalen Be-
weisgründe dieser Hypothese (die Darstellung der Pracht am Hofe Salomos, der
Vergleich Jerusalems mit Tirsa, der zeitweiligen Hauptstadt des israelitischen Reiches
im X. Jahrhundert usw.) genügen nicht zur Ansetzung eines so weit zurück-
liegenden Datums. Schon die Tatsache, daß das ,,Hohelied“ in den Bestand des
letzten Teiles der Bibel aufgenommen wurde, neben anderen späteren, pseudo-
graphisch dem König Salomo zugeschriebenen Werken, zeugt von seiner späten
Entstehungszeit. Daß das „Hohelied“ der hellenistischen Epoche am nächsten ver-
wandt ist, kann auch aus einigen hier vorkommenden späten Sprachformen er-
schlossen werden (das Präfix fcjf statt des Bindewortes in Formen wie
u.a .; überdies von außen her entlehnte Worte: gleich dem grie-
chischen cpopsiov = Tragbahre, das persische DT"1Q==: Garten).
93
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
die Entstehung einer erotischen Poesie als literarischen Genres in
Judäa eingewirkt haben mögen, der eigentliche Inhalt des „Hohe-
liedes“ bleibt dennoch durchaus originell und trägt den Stempel echt
jüdischen Lebensgefühls. In diesem Poem, in dem die rührende Na-
ivität der Verliebten auf einem ländlich-schlichten Hintergründe dar-
gestellt wird, wird sogar die Sinnenlust durch die Unschuld verklärt.
Die Liebe der Schäferin flieht den Lärm des Stadtlebens, den Flit-
terglanz der Paläste; sie sucht Zuflucht in den abgeschiedenen „Wein-
bergen Engedis“, sie ruft „aufs Feld, in die Dörfer“, auf mit duften-
den Blumen bedeckte Hügel. Sie vergeistigt die Natur und wird auch
selbst von ihr vergeistigt. In dieser kleinen Dichtung, dem einzigen
erhalten gebliebenen Überrest der alt-hebräischen Liebeslyrik, sind
die Poesie der Natur und die Poesie der Liebe so eng miteinander ver-
schlungen, daß die Liebe selbst einen erhabenen, kosmischen Anhauch
erhält, daß sie göttlich, heilig wird. Hier ein Beispiel der Wechsel-
rede dieses Liebespaares:
(Sie:) Ich bin die Lilie von Saron,
Die flose der Fluren.
(Er:) Wie die Rose unter den Dornen,
So meine Freundin unter den Mädchen (2, 1—2).
(Er:) Steh doch auf, meine Freundin,
Du meine Schöne, und komm dochl
Denn sieh’, der Winter ist vorbei,
Der Regen vorüber, vergangen,
Im Land sind die Blümlein zu sehen,
Die Zeit der Nachtigall kommt heran,
Und der Turtel Ruf läßt sich hören.
Der Feigenbaum treibt seine Knöspchen,
Und die Reben blühn, spenden Duft.
Steh doch auf, meine Freundin,
Du meine Schöne, und komm doch! (2, 10).
(Sie:) Bis daß der Morgenwind weht und die Schatten fliehn,
Komm, tu du es gleich, mein Liebster, der Gazelle,
Oder dem Damhirschböckchen auf würzigen Bergen! (2, 17).
(Er:) Mit mir vom Libanon, o Braut,
Mit mir vom Libanon komm doch,
Komm fort vom Gipfel des Amana,
Vom Gipfel des Senir und des Hermon,
Von den Lagerplätzen der Löwen,
Von dem Bergland der Panther! (4, 8).
(Sie:) Ach komm, mein Liebster,
Laß uns ausgehn aufs Feld,
Übernachten in den Dörfern,
94
§16. Poesie und Philosophie (Das ,,Hoheliedtf und „Kohelet“)
Früh hinaus in die Weinberge,
Ob der Weinstock getrieben,
Die Gescheine sich erschlossen,
Die Granaten blühn.
Dort will ich dir meine Minne geben (7, 12).
Die Gefühle der Heldin, der Tochter der Natur, werden oft den-
jenigen der „Töchter Jerusalems“ gegenübergestellt. Ihre Liebe ist
schamhaft und keusch, und sogar die intimsten Herzensergüsse der
beiden Helden des Poems zeichnen sich durch naive Anmut aus. Das
Poem schließt mit der folgenden Apotheose: „Denn stark wie der Tod
ist die Liebe, ihre Funken sind Feuers Funken, ihre Flammen Flam-
men Jahves. Große Wasser können sie nicht löschen, und Ströme
schwemmen sie nicht fort.“ In späterer Zeit, als das „Hohelied“ ka-
nonisiert, also in den Bestand der Bücher der Heiligen Schrift auf-
genommen worden war, sah man in ihm eine Allegorie, eine Wech-
selrede zwischen der jüdischen Nation und ihrem Gotte. Infolge die-
ser allegorischen Deutung und der angeblichen Autorschaft des Kö-
nigs Salomo gelangte dieses romantische Werk in nächste Nachbar-
schaft zu jener religiösen Lyrik, die ihren Ausdruck in den Psalmen
gefunden hat.
Einen ausgesprochenen Gegensatz zu dem lebenbejahenden „Hohe-
liede“ bildet der düstere „Kohelet“1), dieses Urbild eines aus Ent-
täuschung und Verneinung des Lebenssinmes entsprossenen philoso-
phischen Skeptizismus. Jedoch besteht zwischen beiden Werken je-
ner psychologische Zusammenhang, der den Anfangs- und Endpunkt
desselben Lebenspfades verbindet: die frohe, jedem Grübeln abholde
Jugend und das kühle, nachdenkliche Alter. Im „Kohelet“ kommt
die Philosophie des Skeptizismus zum Ausdruck, ein Ergebnis der
Übersättigung an irdischen Gütern, gleichwie das „Buch Hiob“ die
Philosophie eines aus schweren Entbehrungen und Leiden stammen-
den Pessimismus zum Ausdruck bringt. Der Skeptizismus Kohelets
bezieht sich vornehmlich auf das Gebiet der geistigen Probleme, der
1) Abgesehen von dem Inhalt des Buches „Kohelet“ zeugen auch Spracheigen-
heiten der Art, wie sie oben in bezug auf das „Hohelied“ angeführt worden sind,
von seiner späten Entstehungszeit. Jedoch kann es nicht in eine spätere Epoche als
in das III. Jahrhundert v. d. ehr. Ära verlegt werden (wie es Graetz, Renan u. a.
wollen), da alle nach dieser Zeit entstandenen Bücher in den biblischen Kanon nicht
mehr aufgenommen worden sind, mit der einzigen Ausnahme der Apokalypse des
„Daniel“, dessen Prophezeiungen durch den Namen des sagenhaften Verfassers mit
der Epoche des babylonischen Exils in Zusammenhang gebracht worden sind.
95
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
Pessimismus Hiobs dagegen auf dasjenige der sittlichen Probleme.
Der erste ignoriert die Religion als Sache des Gefühls, nicht aber der
Vernunft; der andere erkennt sie an, leidet aber unter ihren ethischen
Widersprüchen. Der Verfasser des „Kohelet“ hat den die Dishar-
monien des Lebens begründenden und rechtfertigenden Glauben ein-
gebüßt, aber auch bei der Vernunft keine Antwort auf seine Fragen
gefunden; so erscheint ihm denn alles Forschen des Geistes völlig
zwecklos. Die Meditationen werden „Kohelet ben David, dem ehema-
ligen König Jerusalems“, mit offenbarer Anspielung auf König Sa-
lomo, in den Mund gelegt. Der Verfasser hat alle sinnlichen und gei-
stigen Genüsse ausgekostet, er führte ein üppiges Leben, aß, trank
und tat sich gütlich, ergab sich aber dann auch der „Weisheit“, be-
reicherte seinen Geist durch Wissen, um letzten Endes zu der Über-
zeugung zu gelangen, daß „alles nichtig, nichtigste Nichtigkeit“ sei.
Man könne nie ermitteln, was Wahrheit und was Lüge, was das Gute
und was das Böse sei, denn sie sind überall vermengt, überall stoßen
wir auf Widersprüche, auf unlösbare Fragen, und am Ende des We-
ges lauert der unerbittliche Tod, der Gute und Böse, Weise und Toren,
Glückliche und Unglückliche gleichmacht. Das Leben besitzt keinen
realen Wert, denn der Mensch wird zum Spielball des Zufalls und
schließlich eine Beute des Todes. Die Vernunft ist dem Menschen
nur dazu gegeben, seine Zweifel zu vermehren. Die Natur ist blind
und einförmigen Gesetzen unterworfen, an denen der menschliche
Wille nichts zu ändern vermag. Wozu also alle Mühe des Lebens,
all sein Sturm und Drang? Wodurch unterscheidet sich der Mensch
von dem Vieh? „Denn ein Zufall sind die Menschenkinder und ein
Zufall das Vieh, und ein Zufall trifft sie beide: wie dieses stirbt, so
stirbt auch jener, und einen Odem haben alle, und einen Vorzug des
Menschen vor dem Vieh gibt’s nicht, denn alles ist nichtig. x411es geht
dahin an einen Ort: alles ist aus dem Staub geworden und alles kehrt
zum Staub zurück. Wer weiß vom Odem der Menschenkinder, ob er
aufsteigt nach oben, und wer weiß vom Odem des Viehs, ob er nach
unten fährt zur Erde?“ (3, 18—20). „Ein Geschick hat der Ge-
rechte und der Frevler, der Gute und der Böse, der Reine und der
Unreine“ (9, 2). „Denn der Mensch kennt seine Zeit auch nicht: wie
die Fische, die im bösen Netz sich fangen, und die Vögel, von der
Schlinge erfaßt, gleich ihnen verstrickt werden die Menschenkinder
zur Zeit des Unglücks, wenn es sie plötzlich überfällt“ (9, 12).
§ 16. Poesie und Philosophie (Das „Hohelied“ und „Kohelet“)
Der Verfasser ist zur Überzeugung gelangt, daß im Leben
der blinde Zufall, mikre (die griechische to%q) waltet, und er
kommt oft auf den Gedanken zurück, daß es am ratsamsten sei, an
die tiefsten Probleme des Seins überhaupt nicht zu denken, sondern
das Leben zu genießen, solange man lebt, sich mit den kurzen Augen-
blicken zu begnügen, ohne sie durch Zweifel und verwirrende Fragen
zu vergällen (2, 24L; 5, 17; 6, 9; 9, 7L; 11, 9). Vor dem Skepti-
zismus sucht der Verfasser bei dem Epikureismus Rettung. Zum Un-
terschiede von dem griechischen Urheber dieser Lehre, vermutlich
seinem Zeitgenossen (im III. Jahrhundert v. d. ehr. Ära), erblickt
er in der epikureischen Weltanschauung nicht die wahre und normale
Lebensphilosophie, sondern nur einen Ausweg der Not, ein Narkoti-
kum, um den Schmerz des forschenden Geistes zu betäuben.
Ein solches den ganzen Bau der Religion unterwühlendes Buch
hätte nicht in den Bestand der Heiligen Schrift aufgenommen werden
können, wenn es nicht in Form eines Bekenntnisses des weisen jüdi-
schen Königs dargelegt und von den späteren Emendatoren mit Ver-
besserungen im religiösen Geiste versehen worden wäre. Im Laufe
der drei Jahrhunderte, die die Entstehung des Buches von seiner Auf-
nahme in den biblischen Kanon trennten, schalteten gottesfürchtige
Redaktoren dem Unglauben des Verfassers widersprechende Gedan-
ken in den Text ein, um den Anschein zu erwecken, als hätte der ver-
irrte Autor späterhin den wahren Weg dennoch gefunden. Zu diesem
Ende wurde am Schlüsse des Buches ein ganzes Kapitel (Kap. 12) an-
gehängt Es beginnt mit einer Warnung: „Und gedenke deines Schöp-
fers in deinen Jünglingstagen, ehe denn die bösen Tage kommen, und
die Jahre nahn, von denen du wirst sagen: ich habe keinen Gefallen
an ihnen“. Dann folgt ein düsteres allegorisches Bild von der Ver-
wesung des menschlichen Körpers und vom Tode, das mit dem viel-
sagenden Satze schließt: „Der Staub aber kehrt zur Erde, wie’s einst
gewesen, der Geist aber kehrt zu Gott zurück, der ihn gegeben“ —
einer feierlichen Proklamierung der Unsterblichkeit der Seele, die von
dem ursprünglichen skeptischen Verfasser verneint wird. Darauf folgt
eine neue Warnung: „Der Weisen Worte sind gleich Ochsenstacheln,
und gleich aufgepflanzten Nägeln sind die zu Sammlungen vereinten
Worte, (wenn) sie gegeben sind von einem Hirten; was darüber hin-
ausgeht, mein Sohn, laß dich warnen: Kein Ende ist des vielen Bü-
cherschreibens, und vieles Studieren ermüdet den Leib“ — ein schar-
7 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
97
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
fer Verweis für alle freidenkerischen Philosophen. Das ganze Buch
schließt mit der folgenden Glaubensapotheose: „Die Summe des Gan-
zen höre: Gott fürchte und seine Gebote halte, denn das ist die Sache
eines jeden Menschen; denn alles Tun wird Gott vor sein Gericht über
alles Verborgene laden, ob gut oder böse“. Alle diese Verbesserungen
retteten das Buch. Im Talmud finden wir manchen Hinweis darauf,
daß „Kohelet“ von den Gelehrten nur mit großen Bedenken in den
Text der Bibel aufgenommen wurde, da „das Buch von Widersprü-
chen strotzt“. Allein gerade diese Widersprüche, die den alten Skep-
tiker als einen Suchenden und Reuigen erscheinen lassen, bewahrten
das ketzerische Buch vor der Vernichtung1).
§17. Die „Weisheit“ des Ben Sirah
Ungefähr zwischen 200—170 v. d. ehr. Ära, um die Zeit, als
die Herrschaft der Ptolemäer von der der Seleuciden abgelöst wurde,
wurde in Judäa ein hervorragendes Werk geschaffen, das aber im
Bibelkanon keine Aufnahme gefunden hat, wahrscheinlich aus dem
Grunde, weil der Autor es nicht für nötig gefunden hat, seinen Namen
unter dem Decknamen eines Weisen der Vorzeit zu verbergen. Es sind
1) Von den späteren Einfügungen in die voraufgehenden Kapitel des Kohelet-
Textes überraschen durch ihre Übereinstimmung mit dem Schlußsätze des letzten
Ergänzungskapitels die Worte (n, 9): „Aber wisse, daß um dies alles Gott dich vor
sein Gericht laden wird“, die mitten in die epikureische Ketzerei dieses und des
folgenden Verses hineingezwängt sind. Daraus erhellt, daß der Verfasser des letzten
Kapitels in dessen Geiste auch die übrigen Kapitel rezensierte. In Abweichung von
den anderen Forschern betrachten wir das letzte Kapitel in seiner Gesamtheit, nicht
bloß die abschließende Frömmigkeitsapotheose, als eine Interpolation, da nur auf
Grund einer solchen Annahme der Inhalt dieses Kapitels, in dem die Hauptgründe
der Skepsis des „Kohelet“ widerlegt werden, verständlich wird. Damit wird u. a.
auch die Warnung vor dem schädlichen Bücherschreiben erklärlich. Manche Forscher
wollen diesen Satz (12, 11—12) den letzten Redaktoren des biblischen Kanons zu-
schreiben, die nach dieser Auffassung dadurch eine Warnung vor der Hinzufügung
anderer Bücher, über die bereits aufgenommenen hinaus, zum Kanon ausgesprochen
hätten. Diese Erklärung läßt sich indessen mit unserer Vermutung über den Sinn des
Schlußkapitels als eines Gegengifts, als eines „Anti-Kohelet“, sehr wohl in Einklang
bringen. Bemerkenswert ist noch der fragmentarische Satz im 10. Vers desselben
Kapitels: „Eifrig hat der Prediger gestrebt, anziehende Worte zu finden und
Rechtes zu schreiben . . .“; hier bricht der Satz ab: es fehlt gleichsam ein „aber“,
das jedoch im darauffolgenden Verse, der von der Unvergänglichkeit nur jener
weisen Sprüche, die von dem „einen“ Hirten gegeben oder eingegeben sind, redet,
zu finden ist. — Die auf „Kohelet“ sich beziehenden Stellen im Talmud: Sabbat,
3o; Megilla, 7; Jadaim, Kap. 3; Edujoth, V. 3.
X |
dies di
der So.
ter den
nend d
einer t
liehe E
weiß w
Viel sa
war icl
gen wi
ist aud
im Zu!
6). Vei
beteilig
rung s
nissen
zahlrei
Die
sehe B
Vorbilc
liedes“
helet“
Stellun
der Psi
das Le
Beobac
weg m
nender
kulatio
tesfurc
der Ra
über di
ist, dar
zu erf<
hast de
liehen
geführ
(3, 20;
7*
98
§17, Die „Weisheit“ des Ben Sirah
dies die „Sprüche“ oder die „Weisheit“ des Josua hen Sirah („Jesus,
der Sohn Sirahs“ in griechischer Übertragung), der in Jerusalem un-
ter dem Hohepriester Simon II. lebte. Der Verfasser gehörte anschei-
nend dem Stande der Soferim oder Schriftgelehrten an; aber außer
einer tiefen Kenntnis des heiligen Schrifttums besaß er auch welt-
liche Bildung und reiche Lebenserfahrung. „Wer nichts versucht hat,
weiß wenig, und der, der viel umherirrte, eignet sich viel Klugheit an.
Viel sah ich, als ich von einem Orte zum anderen irrte . . . Oftmals
war ich sogar in Todesgefahr geraten, und um all dieser Erfahrun-
gen willen wurde ich gerettet“ (Kap. 3i, io—12). Im Schlußkapitel
ist auch von einer über dem Verfasser schwebenden Gefahr die Rede,
im Zusammenhang mit einer „Verleumdung vor dem Könige“ (5i,
6). Vermutlich war Ben Sirah an dem Kampfe gegen die Hellenisten
beteiligt, die gar oft durch Denunziationen bei der syrischen Regie-
rung sich an ihren Feinden rächten. Aus seinen persönlichen Erleb-
nissen und aus weitausholenden Beobachtungen schöpfte er seine in
zahlreichen Sprüchen und Aphorismen dargelegte Lebensweisheit.
Die Sprüche Ben Sirahs erinnern ihrer Form nach an das bibli-
sche Buch der „Sprüche Salomos“, das dem Verfasser offenbar als
Vorbild gedient hat. Zwischen der romantischen Lyrik des „Hohe-
liedes“ einerseits und dem philosophischen Skeptizismus des „Ko-
helet“ andererseits nimmt die Lebensweisheit Ben Sirahs dieselbe
Stellung ein wie die „Sprüche Salomos“ zwischen der religiösen Lyrik
der Psalmen und dem Pessimismus des Hiob. Ben Sirah ist weder für
das Leben begeistert noch dagegen ergrimmt: er ist ein nüchterner
Beobachter und erteilt praktische Ratschläge, wie man seinen Lebens-
weg mit größtem Nutzen zurücklegen solle. Er ist ein kühl rech-
nender Utilitarist, der den gesunden Menschenverstand über jede Spe-
kulation und alle Herzensergüsse stellt. Die „Weisheit“ und die „Got-
tesfurcht“ gehen bei ihm stets Hand in Hand, die Philosophie ist
der Religion untertan und geht nicht über eine bestimmte Schranke,
über die Schwelle des Unerkennbaren hinaus. „Was für dich zu schwer
ist, darnach strebe nicht, und was über deine Kräfte geht, suche nicht
zu erforschen. Was dir auf getragen ist, daran denke: denn nicht
hast du die verborgenen Dinge nötig. Zu viele Dinge sind der mensch-
lichen Einsicht gezeigt worden. Ihre Einbildung hat viele in die Irre
geführt, und schlimmer Wahn hat ihre Gedanken zu Falle gebracht“
(3, 20). Ein Utilitarist in der Moral, ist Ben Sirah zugleich im Rah-
7*
99
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
men seiner Zeit ein Positivist in der Philosophie. Das Gebiet des Er-
kennbaren ist, seiner Ansicht nach, so umfassend, daß der Drang nach
dem des Unerkennbaren, des Metaphysischen, frucht- und zweck-
los ist. Den Weg zur wahren Erkenntnis sieht er in dem Studium
der Thora. Den Gelehrten und Gesetzeskundigen weist er den ersten
Platz unter allen Ständen an (Kap. 38—39), was auf die nahen Be-
ziehungen des Verfassers zu den Kreisen der Soferim hinweist.
Die sittlichen und praktischen Belehrungen Ben Sirahs beziehen
sich auf alle möglichen Lebenslagen. In seiner Moral herrscht das
Prinzip der strengen Pflicht, die Macht des Gewissens. Den Aus-
gangspunkt dieser Moral bildet das Grundprinzip der Willensfreiheit,
aus dem die Verantwortung des Menschen für seine Handlungen folgt.
Dieses Prinzip wird der hellenischen Idee des Schicksals, des
Zufalls (Tyche) oder der Vorherbestimmung gegenübergestellt: „Sprich
nicht: durch den Herrn bin ich abtrünnig geworden ... Er schuf
von Anfang an den Menschen und überließ ihn dem Einflüsse seiner
Selbstentscheidung. Vorgelegt hat er dir Feuer und Wasser, wonach
du willst, kannst du deine Hand ausstrecken. Vor dem Menschen liegt
das Leben und der Tod, und was ihm gefällt, das wird ihm gegeben
werden“ (i5, 11 —17). Seine Lobpreisung der Mäßigkeit und der
Enthaltsamkeit ist eine ganz offenbare Nachahmung der „Sprüche
Salomos“; nur zieht er darüber hinaus die Einzelheiten der Lebens-
führung in Betracht. Die in die oberen Klassen Judäas eingedrunge-
nen, allzu losen Sitten der Griechen verurteilend, betont er besonders
die Vorzüge der Keuschheit. Er warnt die Männer vor der Leiden-
schaft für leichtsinnige Frauen, besonders für Sängerinnen und Tän-
zerinnen; ganz besonders ist ihm der Typ der griechischen Hetäre
verhaßt (9, 3—11). Er erteilt den Rat, die jungen Mädchen im Kreise
der Familie streng zu überwachen, und beklagt den Vater, der stets
um die Keuschheit seiner Tochter besorgt ist (4.2, 9L). In der Kin-
dererziehung empfiehlt er strenge Zucht, unbedingten Gehorsam den
Älteren gegenüber und scharfe Ahndung für Vergehen (7, 2 4 u. a.).
Obwohl Ben Sirah Leichtsinn und Ausschweifungen schärfstens ta-
delt, so liegt ihm andererseits jede asketische VerSchmähung der ir-
dischen Güter durchaus fern; er rät nur, aus ihrem Gebrauch den
größten Vorteil für sich zu ziehen; Mäßigkeit im Genuß — dies ist
die Kunst, aus den Lebensgütern unter Vermeidung der bösen Fol-
gen allein das Gute zu schöpfen. „Gesundheit und Wohlbefinden ist
100
§17. Die „Weisheit“ des Ben Sirah
besser als alles Gold; es geht keine Freude über das innerliche Be-
hagen“ (3o, 16). Der Verfasser geißelt in gleicher Weise sowohl Geiz
wie auch Verschwendungssucht. Demut predigend, verlangt er jedoch
von dem einzelnen auch Aufrechterhaltung des Selbstgefühls. „Mein
Sohn, in Demut ehre dich selbst, und zolle dir Ehre, soviel du
verdienst. Denn wer wird den ehren, der sein Leben verunehrt?“ (io,
28—29). In Fragen des Alltagslebens predigt Ben Sirah vernünftige
Überlegung und die „goldene Mittelstraße“, die das Hauptprinzip
der Philosophie all der praktischen Geister bildet, die nicht von dem
ausgehen, was sein soll, sondern von dem, was ist.
Die Lehren des Ben Sirah unterrichten uns über viele Seiten der
Lebensführung und über die gesellschaftlichen Formen jener Zeit.
Aus ihnen ist zu ersehen, daß die mannigfachsten Handwerksarten
im Lande weit verbreitet waren. Der Verfasser schildert die schwere,
ununterbrochene Arbeit des Zimmerers, des Maurers, des Graveurs,
des Schmiedes mitten im Rauche und Brandgerüche der Schmiede,
des Töpfers (38, 27—30). Die erste Stelle bei der Aufzählung der
Betätigungsarten nimmt der Ackerbau ein (38, 2 5—26). Als Schrift-
gelehrter schätzt freilich Ben Sirah die geistige Arbeit viel höher
als die physische ein, wobei ihm die eine mit der anderen unverein-
bar erscheint: „Wie kann weise werden, wer den Pflug regiert, der
die Ochsen antreibt und sich mit jungen Stieren unterhält?“ (ibid.).
Die körperlich arbeitenden Menschen verstehen sich auf ihre zum
Lebensunterhalt notwendige Arbeit und „ohne sie wird keine Stadt
gebaut“, sie vermögen aber weder in soziale Angelegenheiten noch in
höhere geistige Probleme tiefer einzudringen: „Bei der Volksberatung
verlangt man sie nicht, und in der Gemeindeversammlung tun sie sich
nicht hervor, auf dem Stuhle des Richters sitzen sie nicht und brin-
gen nicht Gerechtigkeit und Recht an den Tag“ (38, 3i—34)- An-
ders derjenige, der „seinen Sinn gerichtet hat und nachdenkt über
das Gesetz des Höchsten, der forscht nach der Weisheit aller Altvor-
dern und ist beschäftigt mit den Weissagungen . . . Im Kreise der
Großen tut er Dienst und vor dem Fürsten erscheint er. Im Lande
fremder Völker reist er umher, denn Gutes und Böses sucht er unter
den Menschen zu erfahren. Seinen Sinn richtet er darauf, zu suchen
nach seinem Herrn, der ihn erschaffen hat ... Er bringt den Un-
terricht seiner Belehrung zutage, und des Gesetzes des Bundes des
Herrn wird er sich rühmen . . . Von seiner Weisheit werden sich
101
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
Völker erzählen, und sein Lob wird die Gemeinde verkündigen“ (3 g,
i—io). Hier macht sich schon jene Schranke bemerkbar, die den
Gelehrten von dem gemeinen Manne und späterhin die Geistesaristo-
kratie von den „Landleuten“ (Am ha’arez) trennte.
Den Hauptgegenstand aller Aphorismen Ben Sirahs bildet der
einzelne in allen seinen Lebenslagen. Das nationale Element spielt
in ihnen eine nebensächliche Rolle. Im Text des Buches wird beiläu-
fig die Idee der Theokratie und der „Auserwähltheit“ Israels er-
wähnt: „Jedem Volke bestellte er einen Fürsten, aber der Anteil,
den der Herr sich zueignete, ist Israel“ (17, 17). „Das Leben des Men-
schen besteht nur in einer Zahl von Tagen, doch die Tage Israels
sind ungezählt“ (37, 2 5). Auch findet sich bei Ben Sirah ein Gebet
um Erlösung des jüdischen Volkes von seinen Unterdrückern, den
Heiden, um baldigen Triumph der heiligen Stadt Jerusalem und um
Erfüllung der alten Prophezeiungen (Kap. 36). Die letzten sieben
Kapitel des Buches sind ganz dem nationalen Epos gewidmet (44—
5o). Der Verfasser preist die Taten der Väter, indem er eine Reihe
großer Männer, von den Gerechten der Vorzeit Henoch und Noah
bis zum Hohepriester Simon II., in kurzen Worten schildert. Er läßt
die geschichtlichen Ereignisse im Lichte der zeitgenössischen Theo-
kratie erscheinen, preist den Propheten Samuel, übergeht aber mit
Schweigen den in Ungnade gefallenen, von der Davidischen Dynastie
verdrängten ersten König Saul, und auch in dieser Dynastie findet
er nur drei gerechte Könige: David, Hiskia und Josia. Nach Erwäh-
nung der Wiederhersteller des „zweiten Judäa“, Serubbabel, Josua
und Nehemia (Esras wird unerklärlicherweise keine Erwähnung ge-
tan) kommt der Verfasser unmittelbar auf seinen Zeitgenossen, den
Hohepriester Simon, zu sprechen, und gibt die glänzende Schilderung
seiner Persönlichkeit und des Tempelgottesdienstes, die oben (§ 5)
bereits angeführt wurde. Der Grundton dieser Charakteristik läßt
vermuten, daß sie nach dem Tode Simons verfaßt worden ist, als
der Glanz des Hohepriestertums bereits verblaßt war und die Gedan-
ken am Vorabend der bösen Zeiten unter Antiochus Epiphanes sich
unwillkürlich der nahen Vergangenheit zuwandten. Am Schlüsse sei-
ner geschichtlichen Übersicht (5o, 2 5—26) bringt der Verfasser seine
politische Gegnerschaft gegenüber den Widersachern Judäas zum Aus-
druck: „Gegen zwei Völker empfindet meine Seele Abscheu, und das
dritte ist kein Volk: die da seßhaft sind im Gebirge Seir (Edom) und
102
§17. Die „Weisheit“ des Ben Sirah
die Philister, und das törichte Volk, das zu Sichern wohnt (die Sa-
maritaner)“. Wenn diese Worte nicht eine spätere Einfügung sind, so
kann man in ihnen einen Beweis für die schon damals eingetretene
Trübung der Beziehungen zwischen den Juden und ihren nächsten,
zum Teil hellenisierten Nachbarn sehen, die später, zur Zeit der Has-
monäerkriege, besonders kraß in Erscheinung trat.
Das ursprünglich in hebräischer Sprache, im Stile der „Sprüche
Salomos“ verfaßte Buch Josua Ben Sirahs wurde fünfzig Jahre spä-
ter ins Griechische übersetzt. Der Übersetzer war ein Enkel des Ver-
fassers, der um das Jahr i32 v. d. ehr. Ära nach Ägypten über-
siedelte. In seinem Vorwort spricht der Verfasser selbst von der
Unvollkommenheit und Ungenauigkeit seiner Wiedergabe des Sinnes
des hebräischen Textes. In der Folgezeit ging dieser aber verloren.
Erhalten geblieben sind nur die eben erwähnte griechische Überset-
zung und noch eine Übersetzung ins Syrische, die entweder nach
dem alt-hebräischen Originaltext oder aber nach der griechischen
Übertragung gemacht worden ist. Zum Verschwinden des hebräischen
Originals trug der Umstand bei, daß das Buch Ben Sirahs nicht in
den biblischen Kanon aufgenommen wurde, obwohl dessen letzter
Teil (Ketubim) zu jener Zeit noch nicht ganz abgeschlossen war. Da
der Verfasser seinen Namen und die Entstehungszeit des Buches nicht
verhehlte, so entbehrte sein Werk jenes Nimbus des Altertümlichen,
der zur Aufnahme in die Kategorie der heiligen Bücher als unum-
gänglich erachtet wurde. Die „Sprüche“ (oder die „Weisheit“, wie
der griechische Titel lautet) Ben Sirahs blieben in der Gruppe der
„verborgenen Bücher“ (Seforim genusim) erhalten, die neben der
Bibel bekannt waren und denen späterhin der Name Apokryphen (die
„Verborgenen“) beigelegt wurde. In neuester Zeit (1896—1900) ge-
lang es der Forscherarbeit, alten Manuskripten auf die Spur zu kom-
men, die viele Fragmente aus dem Buche Ben Sirahs in hebräischer
Sprache enthalten. Die Mehrzahl dieser losen, im XI.—XII. Jahr-
hundert der christlichen Ära verfertigten Manuskriptblätter ist in der
„Genisa“, d. i. einem Behälter schadhaft gewordener Manuskripte,
in einer Synagoge des alten Kairo gefunden worden. Bisher ist
es der Forschung gelungen, ungefähr dreiviertel des Buches Ben
Sirahs in hebräischer Sprache ausfindig zu machen und wiederher-
zustellen, allerdings mit vielen Lücken dazwischen, die nach dem
griechischen oder syrischen Text ausgefüllt werden müssen. Wir ha-
io3
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
ben Grund anzunehmen, daß die auf gefundenen Fragmente einen
Teil des ursprünglichen, für verschollen gehaltenen hebräischen Ori-
ginaltextes des Ben Sirah bilden.
§18. Die Literatur in der Zeit der Verfolgungen; das Buch „Daniel“
Die Zeit des religiösen Märtyrertums unter Antiochus Epiphanes
brachte eine eigene Literatur hervor, von der aber nur wenige, in
anonymer oder pseudonymer Form im biblischen Schrifttum erhalten
gebliebene Werke bis zu uns gelangt sind. Das große nationale Elend
fand vor allem seinen Ausdruck in der religiösen Lyrik der Psalmen,
Der Schmerz des Volkes tönt uns aus dem folgenden Psalm entgegen,
der die Gewalttaten der syrischen Despoten in Judäa zur plastischen
Darstellung bringt (Psalm 74)’
Warum hast du, Gott, auf ewig verstoßen,
raucht dein Zorn wider die Schafe deiner Weide?
Sie (die Feinde) legten Feuer an dein Heiligtum,
entweihten deines Namens Stätte bis auf den Grund . . .
Sie verbrannten alle Versammlungsstätten Gottes im Landet),
unsere Zeichen sehen wir nicht mehr, kein Prophet ist mehr da,
Und keiner bei uns, der wüßte, bis wann.
Bis wann, Gott, soll schmähen der Widersacher?
Soll der Feind deinen Namen ewig höhnen? . . .
Dieselbe gramvolle, von einem patriotischen Aufruf zum Kampf
mit den Verderbern des Vaterlandes begleitete Klage ertönt auch in
einem anderen Psalm (79):
Gott, Heiden sind in dein Erbe eingedrungen,
haben deinen heiligen Tempel entweiht,
Haben Jerusalem zu Steinhaufen gemacht,
haben die Leichen deiner Knechte
Den Vögeln des Himmels zum Fraß gegeben,
das Fleisch deiner Chassidäer dem Wild des Landes.
Vergossen haben sie ihr Blut wie Wasser
rings um Jerusalem, und keiner, der sie begräbt . . .
Eine Schmach sind wir unseren Nachbarn geworden . . .
Gieß deinen Grimm über die Heiden, die dich nicht kennen,
und über Reiche, die deinen Namen nicht anrufen,
Denn sie verzehren Jakob
und verwüsten sein Gefilde!
1) Moade-El — anscheinend das übliche Epitheton für ländliche Synagogen
(be’arez = „auf dem Lande“), in denen unabhängig vom Jerusalemer Tempel der
Gottesdienst abgehalten wurde.
104
1
A
§ 18. Die Literatur in der Zeit der Verfolgungen
Dieser trauervollen Zeitperiode gehört auch ein zum Teil in he-
bräischer, zum Teil in aramäischer Sprache verfaßtes Buch an, das
eine Reihe von „Visionen“ und Prophezeiungen in mystischer Form
enthält. Der Verfasser des Buches war anscheinend ein Parteigänger
der Chassidäer und der leidenschaftlichen Patrioten. Von der Schrek-
kensherrschaft Antiochus IV. tief erschüttert, gab er sich der Me-
ditation über die geschichtlichen Schicksale der jüdischen Nation
hin, und das Ergebnis seiner Betrachtungen war eine Reihe von
Schlußfolgerungen, die er veröffentlichte, um den sinkenden Mut
seiner Zeitgenossen anzufachen und ihnen die Hoffnung auf eine
bessere Zukunft einzuflößen. Der anonyme Verfasser legt seine Ge-
danken und Träume in den Mund eines sagenhaften Gerechten aus
der Epoche des babylonischen Exils, des Daniel1). Die erste Hälfte
seines Buches (Kap. i—6) ist der Darstellung einiger Geschehnisse
aus der Vergangenheit gewidmet, die mit den Ereignissen der Zeit
des Antiochus Epiphanes große Ähnlichkeit aufweisen. Zunächst wird
berichtet, wie die von dem Zerstörer Jerusalems, Nebukadrezzar, ge-
fangen genommenen und nach Babylon gebrachten jüdischen Jüng-
linge, Daniel und seine drei Gefährten (Chananja, Misael, Asarja),
am königlichen Hofe gehalten und dort erzogen wurden. Ihre jüdi-
schen Namen ersetzte man hier durch babylonische (eine Anspielung
auf den Hang der Juden, sich griechische Namen beizulegen), und
ihre Kost bekamen sie von der königlichen Tafel. Allein die gottes-
fürchtigen Jünglinge berührten nicht das Fleisch und den Wein der
Heiden (im Gegensatz zu den Hellenisten), sondern nährten sich nur
von Früchten und Wasser. Weiter wird von der wunderbaren Erret-
tung der drei Gefährten Daniels erzählt, die auch unter noch viel be-
drohlicheren Umständen ihre Glaubenstreue standhaft bezeugten. Ne-
bukadrezzar soll nämlich, gleich Antiochus Epiphanes, ein Edikt er-
lassen haben, demzufolge alle Bewohner seines Reiches dem in der
Ebene von Durra errichteten goldenen Riesengötzen huldigen sollten.
Die drei Gefährten Daniels weigerten sich, dem königlichen Befehle
Folge zu leisten, und wurden zur Strafe in einen „Feuerofen“ gewor-
fen. Jedoch versengten die Flammen zur äußersten Verwunderung
1) Der Name Daniel begegnet uns unter den Namen der drei mustergültigen
Gerechten und Weisen („Noah, Daniel und Hiob“) schon in dem Buch des Pro-
pheten Jeheskel (i4, i4, 20; 28, 3). Es ist nicht ausgeschlossen, daß irgendein
heiliger Mann namens Daniel schon seit der Epoche des babylonischen Exils den
Gegenstand von Volkslegenden bildete.
io5
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
der Zuschauer nicht einmal das Haar der Jünglinge, und sie traten
heil und unversehrt aus dem Ofen heraus. Ein anderes Mal wurde
Daniel in eine Löwengrube geworfen, weil er, das Antlitz gen Jeru-
salem gewandt, zu seinem Gotte betete, statt vor dem Götzenbild des
heidnischen Königs zu knieen; die Löwen rührten jedoch den heiligen
Mann nicht an. Schließlich wird erzählt, wie Gott zunächst den Zerstö-
rer Jerusalems, Nebukadrezzar, strafte, indem er ihn für einige Jahre
in einen Werwolf verwandelte, und hernach ebenso seinen Nach-
folger Belsazar, der bei einem Gelage die heiligen Gefäße des Jeru-
salemer Tempels entweiht hatte1). Aus allen diesen Erzählungen sollte
sich ergeben, daß die Gerechten der Vorzeit auch unter dem heidni-
schen Joche ihren Glauben nicht verleugneten, die Götzen nicht an-
beteten, verbotene Speisen nicht genossen, und daß auch die mäch-
tigsten Feinde des jüdischen Volkes am Ende ihrer Tage der Strafe
Gottes nicht zu entgehen vermochten. Also werde auch der neue Be-
drücker des erwählten Volkes, Antiochus Epiphanes, seiner Bestra-
fung nicht entgehen, wenn nur die Unterjochten nicht nachgeben und
ihrer Religion und Nation die Treue halten werden.
Im zweiten Teile des „Buches Daniel“ spricht der Verfasser von
der Epoche der griechischen Herrschaft, deren Ereignisse er gleich-
sam aus der Vorzeit um viele Jahrhunderte voraussieht. Er prophe-
zeit die Schicksale der Reiche und Nationen in Form von geheimnis-
vollen Visionen. Wir haben hier die älteste Form der Apokalypse vor
uns. Hinter der nebligen Umhüllung der „Visionen“ verbirgt sich
hier eine eigenartige Philosophie der Geschichte. Der Verfasser ver-
tieft sich in den Sinn der geschichtlichen Ereignisse und ordnet sie
nach Epochen. Er stellt einen Zusammenhang zwischen der jüdischen
Geschichte und der Weltgeschichte in Form einer periodischen Auf-
einanderfolge der fremdländischen Gewalten in Judäa her. Schon
in einer der ersten Visionen (dem Traum Nebukadrezzars im zweiten
Kapitel) ist die im Altertum übliche Einteilung der Weltgeschichte
in vier Perioden, den vier Metallen entsprechend, angedeutet: in das
goldene, das silberne, das eherne und das eiserne Zeitalter, eine Ein-
teilung, die die Entartung des Menschengeschlechtes und die Ver-
schlimmerung seines Loses symbolisieren soll. Diese Vorstellung der
alten Perser (Avesta) und Griechen nimmt in der Vision des Daniel
eine politische Färbung an und wird auf die einander ablösenden
D Vgl. Band I, $ 70.
106
§ 18. Die Literatur in der Zeit der Verfolgungen
vier Vormächte des Morgenlandes, von der babylonischen bis zur
griechisch-syrischen, angewandt. Die politische Tendenz tritt beson-
ders in den letzten Kapiteln des „Buches Daniel“ klar zutage, in de-
nen die aufeinanderfolgenden Weltmonarchien in Form von verschie-
denen Tieren dargestellt werden: der Löwe versinnbildlicht das ba-
bylonische Reich, der Bär und der Tiger Medien und Persien, das
menschenähnliche Tier mit eisernen Zähnen und zehn Hörnern das
griechisch-syrische Reich (Kap. 7). Die zehn Hörner bedeuten die
zehn griechischen Könige von Alexander dem Großen bis zu Antio-
chus Epiphanes, dem allerfurchtbarsten von ihnen, der seine Hand
„auf die Heiligen des Höchsten“ (das jüdische Volk) legen und „Zei-
ten und Gesetze zu ändern trachten wird“. Eine leicht zu deutende'
Vision wird im achten Kapitel des Buches wiedergegeben: ein mäch-
tiger Widder, mit „Hörnern, die nach allen Weltgegenden stoßen“
(persische Monarchie), wird von einem „Ziegenbock von Westen her“
(Macedonien) in den Staub getreten, der Ziegenbock selbst zerbricht
sich jedoch bei dieser Kraftanspannung das große Horn (Alexander
der Große) und an dessen Stelle wachsen vier kleinere Hörner, d. s.
vier einzelne Reiche (allem Anscheine nach das macedonische, das
kleinasiatische, das ägyptische und das syrische). Das morgenländische
griechische Reich zieht ganz besonders die Aufmerksamkeit des Hell-
sehers aus dem „Buche Daniel“ auf sich. Er verfolgt alle politischen
Schicksalswendungen in dem geschichtlichen Dasein dieses Reiches
oder, wie es dort heißt, alle „Verzweigungen seiner Hörner“. Was
die zwei Dynastien der Seleuciden und der Ptolemäer anlangt, so hat
er mehr Interesse für die erste, die zu seiner Zeit einen verhängnis-
vollen Einfluß auf den Gang der Ereignisse in Judäa ausübte. Aus
der oben (§§ 4 und 7) angeführten treffenden Kennzeichnung An-
tiochus III. und Seleucus IV. ist zu ersehen, daß der Verfasser des
„Buches Daniel“ ein bestinformierter Politiker war. Seine Polemik
gegen die Hellenisten zeigt ihn als einen begeisterten Parteigänger^
der Chassidäer. „Und die am Bunde freveln (die Hellenisten), ver-
leitet er (Antiochus Epiphanes) durch Schmeicheleien, aber die Leute,
die ihren Gott kennen (die Chassidäer), bleiben fest und führen es
aus. Die Weisen unter den Leuten (die Chassidäer) bringen viele zur
Einsicht, eine Zeitlang sinken sie jedoch hin durch Schwert und
Flamme, durch Gefängnis und Plünderung“ (11, 32—34)* In den
Visionen „Daniels“ werden die für den Verfasser zeitgenössischen
107
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
Ereignisse nach der üblichen Art der Apokalyptiker als etwas schon
längst Vorausgesagtes dargestellt, aber an manchen Stellen verrät
der Autor unwillkürlich das Geheimnis seiner „Voraussicht . So pro-
phezeit er ganz am Schlüsse des Buches im Namen des alten Hell-
sehers die baldige Erlösung Judäas, indem er folgende Berechnung
anführt: seit der Abschaffung des „Tamid“ im Jerusalemer Tempel
und der Errichtung des „Greuels des Entsetzens (Zeusaltar)
sind bereits 1290 Tage vergangen und „wohl dem, der ausharrt
und i335 Tage erreicht“, denn dann kommt die Erlösung. Der Ver-
fasser hat den Zeitraum (ungefähr dreiundeinhalb Jahre) von der
Verlautbarung des Edikts des Antiochus Epiphanes bis zur Wieder-
herstellung des Gottesdienstes im Jerusalemer Tempel richtig berech-
net. Daraus ist zu ersehen, daß das Buch bald nach dem Jahre 16 5,,
gegen dessen Ende Juda Makkabäus die Säuberung des Tempels voll-
endete, verfaßt worden ist. Der Verfasser, der die Erschütterungen
der Epoche des Märtyrertums hinter sich hatte und darauf die ersten
Siege der heroischen Freiheitskämpfer miterlebte, erblickte in die-
ser Schicksalswendung ein unmittelbares Eingreifen Gottes in den
Gang der Weltereignisse. In der Zukunft, nach dem Scheitern der
vier „Reiche“, sah er in seinen Träumen ein fünftes, ewiges Reich,
in dem die Gewalt dem „heiligen Volke“, dem jüdischen, zufallen
werde. Die nun Leidenden werden später das „Reich erben“; sogar
die gefallenen Märtyrer werden auferstehen, um an dem Triumph
der Wahrheit teilzunehmen. In der Person des Antiochus erreichten
die Greuel des Heidentums ihren Höhepunkt; nach ihm muß das
Messiasreicb herannahen, das Reich des Gott tragenden Volkes, des
Volkes Israel.
Die Siege der Hasmonäer gaben ohne Zweifel zu einer ganzen
Reihe freudeerfüllter Dankpsalmen Anlaß, die im Jerusalemer Tem-
pel und in den Synagogen vorgetragen wurden. Die Stelle, an der sie
in die biblische Psalmensammlung eingefügt sind, ist schwer genau
zu bestimmen. Man kann vermuten, daß einige der in einer beson-
deren Sammlung am Schlüsse des Psalmenbuches angefügten Dank-
hymnen („Halleluja“, Ps. i46—i5o) sich gerade auf diesen Zeit-
punkt beziehen. Es wird darin der Triumph der „Chassidim“, d. h.
der Chassidäer verherrlicht: „Singet Jahve ein neues Lied, seinen
Lobpreis in der Gemeinde der Chassidim s, „Gottes Preis in ihrem
Mund und zweischneidig Schwert in ihrer Hand (gingen sie), Rache
108
§ 19. Die griechische Thoraübersetzung
auszuüben an den Heiden, Züchtigungen an den Nationen“ (Kap.
149, i. 6—7)1)-
Unter dem unmittelbaren Eindruck der hasmonäischen Freiheits-
kriege mag vielleicht auch das biblische Buch „Esther“ entstanden
sein, in dem ein Ereignis aus den verklungenen Tagen der persischen
Herrschaft (Band I, § 79) von einem Geschichtsschreiber, der soeben
die neue nationale Gefahr miterlebt hat, zur Darstellung gebracht wird.
In der Gestalt des Judenfeindes Haman kommen Züge des Antiochus
Epiphanes klar zum Vorschein: „Es gibt ein einzigartig Volk, das zwi-
schen den Völkern deines Reiches zerstreut und doch abgesondert
lebet; ihre Gesetze sind von denen jedes anderen Volkes verschieden,
und die Gesetze des Königs befolgen sie nicht, so daß es für den Kö-
nig unangemessen ist, sie gewähren zu lassen“ (Buch Esther, 3, 8).
Diese klassische Formel des Judenhasses wurde zum ersten Male von
dem kampflustigen Hellenophilen auf dem syrischen Throne prokla-
miert. Und unter ihm gerade wies das „zerstreute Volk“ die „Ge-
setze des Königs“ energisch zurück, die seine eigenen, es auszeich-
nenden Gesetze bedrohten. Nicht zufällig bringt wohl der Chronist
der Hasmonäerkriege, der von dem Siege des Juda Makkabäus über
den syrischen Feldherrn Nikanor und von dem aus diesem Anlaß ein-
geführten Festtage des i3. Adar berichtet, dieses Fest mit dem am
i4. Adar gefeierten „Tage des Mardochai“, d. i. mit Purim, in Zu-
sammenhang (II. Makk. i5, 36).
§ 19, Die griechischen Schriftsteller über die Juden; die griechische
Thoraübersetzung
Fremd und rätselhaft erschien das jüdische Volk den Griechen
bei der ersten Begegnung der beiden Völker, zur Zeit Alexanders des
Großen und seiner nächsten Nachfolger. Davon zeugen in unzwei-
deutigster Weise die Meinungsäußerungen griechischer Schriftsteller
des IV. und III. Jahrhunderts über Juden und Judentum. Für den
Zeitgenossen Alexanders des Großen, den Philosophen Aristoteles, und
für dessen Schüler, Theophrastos und Klearchos, sind die Juden ein
1) Die Wendung „Synagoge Assidaion“ im griechischen Text, I. Makk. 2, 42,
stimmt völlig mit dem Ausdruck „Kehal chassidim“ der Psalmen (ikg, I) überein
und deutet auf eine Gemeindeverfassung der Chassidäer hin, die ihre eigenen
religiösen Versammlungen oder Synagogen besaßen.
109
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
„Philosophenvolk“, „Nachkommen indischer Philosophen“1). Eine et-
was mehr der Wirklichkeit entsprechende Vorstellung von der ge-
heimnisvollen Nation besaß der griechische Schriftsteller Hekatäus
von Abdera, der in Ägypten unter den beiden ersten Ptolemäern lebte
und dort die Möglichkeit hatte, jüdische Legenden kennenzuler-
nen. Auf Grund dieser verworrenen Legenden und lokaler Sagen er-
zählt er in seiner „Geschichte Ägyptens“ (von der nur einige Frag-
mente erhalten geblieben sind), daß die Juden einst während einer
Epidemie (ein Nachklang der Legende von den „ägyptischen Plagen“)
aus Ägypten vertrieben worden waren und sich unter der Anführung
ihres weisen Gesetzgebers Moses nach Kanaan begeben hatten. Dort
gründeten sie die Stadt Jerusalem und „den von den Menschen am
meisten geheiligten Tempel“. Moses teilte sein Volk in zwölf Stämme
ein, nach der Zahl der Jahresmonate; er verbot es, irgendeine Ab-
bildung Gottes anzubeten, da er überzeugt war, daß „Gott keine Men-
schengestalt besitzt und daß der Himmel, der die Erde umgibt, der
alleinige Gott und Herr des Weltalls ist“. Die Regentschaft über das
Volk ist einem weisen und tugendhaften „archiereus“, dem Hohe-
priester, an vertraut. Die Juden halten ihre Gesetze strengstens ein
und erziehen aufs sorgfältigste ihre Kinder, wodurch ihre große Ver-
1) Klearchos aus Soloi (auf Cypern) gibt die folgende Erzählung des Aristo-
teles über seine Begegnung mit einem „jüdischen Manne“ wieder: „Jener Mann
also war seiner Herkunft nach einer der Juden aus Coelesyrien, welche Nach-
kommen der indischen Philosophen sind. Bei den Indern heißen, wie man sagt,
die Philosophen Kalaner (kalanoi), bei den Syrern Juden. Diesen Namen erhielten
sie von einer Örtlichkeit, denn die von ihnen bewohnte Gegend wird Judäa genannt.
Der Name ihrer Hauptstadt ist ein merkwürdiges Wortgebilde: er lautet Jerusalem.
Jener Mensch nun war viel gereist, hatte sich aus dem Binnenlande in die Küsten-
orte begeben, und war nicht nur seiner Sprache, sondern auch seiner geistigen
Bildung nach fast ein Grieche geworden. Gerade während unseres Aufenthaltes in
Asien (Aristoteles war in Kleinasien zwischen 34$ und 345) kam er zufällig in die
Orte, wo wir uns befanden, und traf mit uns und einigen anderen Jüngern der
Wissenschaft, deren Weisheit er erproben wollte, zusammen.“ „So — fügt der diese
Erzählung anführende Josephus hinzu (Gegen Apion, I, 22) — spricht Aristoteles bei
Klearchos und schildert dann auch noch die große und bewunderungswürdige
Mäßigkeit dieses Mannes im Essen und Trinken, sowie seine sonstige Enthaltsamkeit.“
Wenn diese Erzählung auch nur zum geringsten Teil auf Wahrheit beruht, so
könnte sie als Beweis für das Bestehen jüdisch-griechischer Beziehungen noch in der
persischen Diaspora, also am Vorabend des Eroberungszuges Alexanders, dienen.
Indessen ist eher anzunehmen, daß in der Erzählung des Klearchos sich die nach-
folgende Epoche spiegelt, als ein Jude, der „seiner Sprache nach ein Grieche ge-
worden war , bereits eine alltägliche Erscheinung bildete.
dU
A
110
§19. Die griechische Thoraübersetzung
mehrung zu erklären sei; jedoch in der letzten Zeit, unter dem Ein-
fluß der Griechen, hätten die Juden ihre Sitten in vielen Hinsichten
geändert, so fügt Hekatäus zum Schluß hinzu1).
Erzählte Hekatäus das Wenige und Verworrene, das er über die
Juden zu hören bekam, wenigstens gewissenhaft nach, so gab sein
Zeitgenosse, der hellenisierte ägyptische Priester Manetho, der Ver-
fasser einer „Geschichte Ägyptens“ in griechischer Sprache, auch die
dunklen, unter den Eingeborenen verbreiteten Legenden von der Her-
kunft des jüdischen Volkes in tendenziös verzerrter Weise wieder.
Hier sind die ägyptischen Sagen von der Hyksosherrschaft, von dem
späteren Aufenthalt der Israeliten in Ägypten, von ihrem durch ir-
gendeine Seuche im Lande verursachten Auszug und von dem Führer
dieser wandernden Volksmassen in einen einzigen unentwirrbaren
Knäuel verflochten. Diese ganze „geschichtliche“ Erzählung ist von
Feindschaft gegen die Juden erfüllt. Die alten Israeliten identifiziert
Manetho mit dem sagenhaften Stamme der Aussätzigen, die der Pha-
rao Amenophis zu Zwangsarbeiten in den Steinbrüchen verurteilt hätte.
Moses erscheint bei ihm in der Gestalt eines ägyptischen Priesters
Osarsiph, der sich vom Heidentum und von seinen Stammesbrüdern,
den Ägyptern, lossagt, an die Spitze der Aussätzigen tritt, mit Hilfe
des Hirtenstammes der Hyksos den Pharao besiegt und eine Zeitlang
in Ägypten herrscht, bis die Aussätzigen schließlich ganz von dort
vertrieben werden. Von Moses sollen auch neue Gesetze herrühren,
denen zufolge die Götter nicht geehrt und die heiligen Tiere der
Ägypter geschlachtet werden sollten.
Ein syrischer Zeitgenosse des Manetho, Berossos, Priester am Bel-
tempel in Babylon, der gleichfalls griechische Bildung genossen hatte
(er lebte zur Zeit der ersten Seleuciden), hat in seiner „Geschichte
Chaldäas“ (griechisch „Babylonaika“ oder „Chaldaika“) ebenfalls der
Juden Erwähnung getan, jedoch ohne die auffallende Voreingenom-
menheit seines ägyptischen Fachgenossen. Er gibt lokale Sagen über
die Sintflut wieder, die der biblischen Erzählung von der Sintflut
überaus ähnlich sind, ferner über die Einnahme Jerusalems durch
den babylonischen König Nebukadrezzar und über die Abführung der
Juden in die Gefangenschaft. Seine Kenntnisse hat er anscheinend
!) Über ein gleichfalls dem Hekatäus von Abdera zugeschriebenes Werk „Über
die Juden“, das aber in Wirklichkeit von einem späteren Schriftsteller, dem Pseudo-
Hekatäus, herrührt, s. unten, § 3g.
III
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
aus alten assyro-babylonischen Keilinschriften wie auch aus späteren
Urkunden geschöpft.
Haben die Griechen und hellenisierten Eingeborenen des Orients
die Juden sehr wenig gekannt und noch weniger ihre Weltanschau-
ung begriffen, so besaßen dagegen die Juden der Diaspora schon im
III. Jahrhundert eine ziemlich klare Vorstellung von den Griechen wie
auch von der hellenischen Kultur. In großen und kleineren Gemeinden
über die hellenisierten Länder Ägypten, Syrien und Kleinasien ver-
streut, wurden die Juden bald mit Sprache und Bildung der Griechen
vertraut. In der hellenisierten „Welthauptstadt“ Alexandrien eigneten
sie sich die Sprache der vorherrschenden Nation so weit an, daß die
Gelehrten unter ihnen ihrer Wißbegier durch Lesen griechischer
Schriftsteller Genüge zu tun vermochten. Die Griechen dagegen be-
herrschten die sogar in Palästina selbst im alltäglichen Verkehr be-
reits von der aramäischen Mundart verdrängte hebräische Sprache
nicht, und so war es ihnen auch nicht möglich, in das eigenartige jü-
dische Schrifttum einen Einblick zu gewinnen. Es war daher nur na-
türlich, daß sich unter den gebildeten Griechen der Wunsch geltend
machte, die heiligen Bücher des nun zu ihrem Nachbar gewordenen
alten Kulturvolkes in ihre eigene Sprache übertragen zu sehen. Die-
ser Wunsch entsprach auch durchaus den Zielen der gebildeten alex-
andrinischen Juden. Es lag ihnen daran, den auf ihre hellenische
Kultur so stolzen Nachbarn die Größe des Judaismus und den Reich-
tum der jüdischen Literatur vor Augen zu führen. Sie hofften, auf
diese Weise die Achtung der Hellenen für sich zu gewinnen und viel-
leicht auch die Weltanschauung der aufgeklärten Heiden zu beein-
flussen. Es kam auch noch eine innere Notwendigkeit hinzu. Je
mehr Verbreitung die griechische Sprache in Ägypten fand, desto
seltener wurde die Kenntnis der hebräischen Sprache unter den Juden
selbst. Die Thora im Originaltext war nur den Gelehrten verständ-
lich, während sie dem Volke auf griechisch erläutert werden mußte.
Es entstand daher die Befürchtung, daß die jüdische Volksmasse in
der Diaspora das Lesen ihrer heiligen Bücher überhaupt verlernen
werde, wenn sie nicht in die Umgangssprache übertragen würden.
Das Ergebnis dieser ganzen Sachlage war die griechische Übersetzung
der biblischen Bücher.
Zu allererst wurde die Thora oder der Pentateuch, als die Grund-
lage der Bibel, ins Griechische übersetzt. Im „Aristeasbriefe“, der
I 12
§19. Die griechische Thoraübersetzung
in Alexandrien im II. Jahrhundert v. d. ehr. Ära verfaßt worden
war (unten, § 39), ist ein mit erdichteten poetischen Einzelheiten
ausgeschmückter Bericht über die Entstehung der Übersetzung er-
halten geblieben. Das Wesentliche dieser Erzählung sei hier wieder-
gegeben. Der König Ptolemäus II. Philadelphus, der durch den Vor-
steher seiner Bibliothek, Demetrius von Phaleron, von den großen
Vorzügen der jüdischen heiligen Bücher erfahren hatte, äußerte den
Wunsch, eine genaue griechische Übersetzung dieser Bücher für seine
reichhaltige, die Schriftwerke aller möglichen Völker umfassende Bi-
bliothek zu erhalten. Er sandte eine Botschaft nach Jerusalem zu dem
Hohepriester Eleasar mit der Bitte, kundige Schriftgelehrte, die die
Thora ins Griechische zu übertragen imstande wären, nach Alexan-
drien zu entbieten. Der Hohepriester erfüllte diesen Wunsch und
sandte Volksälteste an den Hof des Königs, des Hebräischen und Grie-
chischen gleich kundig, 72 an der Zahl, die den Pentateuch mit sich
führten. Den Übersetzern wurde im Palast des Ptolemäers ein glän-
zender Empfang bereitet. Der König unterhielt sich mit ihnen über
Fragen der Philosophie, der Ethik und der Politik und bewunderte
ihre Weisheit. Dann wies man den Übersetzern auf der Insel Pha-
ros, bei Alexandrien, einen Wohnsitz an, und dort,, in völliger Zu-
rückgezogenheit, arbeiteten sie eifrig an der Übertragung der Bücher
Moses' ins Griechische. Ein jeder übersetzte den hebräischen Text von
Anfang bis zu Ende; die von den einzelnen übersetzten Kapitel wur-
den täglich gemeinsam geprüft und nach sorgfältigem Vergleichen
wurde der endgültige Wortlaut der Übersetzung festgelegt. Die Arbeit
war in 72 Tagen vollendet. Als die Übersetzung vor den Vertretern
der alexandrinischen jüdischen Gemeinde verlesen wurde, priesen diese
in begeisterten Lobreden ihre Präzision und ihren formvollendeten
Stil. Dann wurde sie dem Könige vorgelegt, der den Tiefsinn der Ge-
setzgebung Moses' bewunderte und die Bücher in der königlichen Bi-
bliothek aufs sorgfältigste aufzubewahren gebot. Sodann wurden die
Übersetzer mit reichen Geschenken belohnt und gnädig nach Judäa
entlassen. Mit dieser Erzählung des Aristeas stimmen in den Haupt-
zügen sowohl der Bericht des späteren Philosophen Philo von Alex-
andrien wie auch die talmudischen Überlieferungen überein1).
1) Philo spricht in seinem „Leben Moses’“ (II, 6) von der Übersetzung der
Thora unter Ptolemäus Philadelphus als von einer bekannten geschichtlichen Tat-
sache. Die Zahl der Übersetzer oder der „Ausleger“ läßt er unbestimmt, behauptet
8 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
ii3
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
Auch die geschichtliche Forschung bestätigt, indem sie das sagen-
hafte Element dieser Erzählung selbstredend übergeht, daß eine grie-
chische Übersetzung des Pentateuch (nicht der ganzen Bibel) um die
Mitte des III. Jahrhunderts v. d. ehr. Ära in Alexandrien tatsäch-
lich aufgetaucht war. Wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln,
daß diese Arbeit nicht nur auf Veranlassung der alexandrinischen
Juden, sondern auch auf diejenige des Ptolemäus Philadelphus unter-
nommen wurde, jenes königlichen Bücherfreundes, der sein Alexan-
drinisches Museum in die größte Bücherei der Welt verwandelte und
sehr wohl den Wunsch gehegt haben mochte, auch die heiligen Bü-
cher des jüdischen Volkes in seiner Sammlung zu besitzen. Die Über-
setzer wurden allerdings nicht in Jerusalem, sondern unmittelbar in
Alexandrien, unter den gebildeten Mitgliedern der dortigen jüdischen
Kolonie geworben, wo aus anderen Gründen gleichfalls das Bedürf-
nis nach einer Übertragung der Bibel in die Umgangssprache heran-
gereift war. Die komplizierte Arbeit der Thoraübersetzung nahm meh-
rere Jahre in Anspruch, sodann wurden nach und nach, im Laufe
eines ganzen Jahrhunderts, die Bücher der Propheten und die alten
Teile der Hagiographen („Ketubim“) übersetzt. Wir besitzen das
Zeugnis eines Zeitgenossen (des Enkels Ben Sirahs, aus dem Jahre
i32), daß im II. Jahrhundert v. d. ehr. Ära der größte Teil der
Bibelbücher schon in der griechischen Übersetzung Vorgelegen hat.
Die griechische Übersetzung der Thora war ein bedeutsames Er-
eignis sowohl in der Geschichte der Juden als auch in der geistigen
Geschichte der antiken griechisch-römischen Welt. In der Folgezeit
wurde diese geschichtliche Tatsache in verschiedenen Kreisen des Ju-
dentums verschiedentlich bewertet. Während die alexandrinischen Ju-
den in ihr den Anfang zum Triumph des Judaismus zu sehen glaub-
ten und noch lange Zeit nachher den Tag, an dem der Überlieferung
zufolge die Thoraübersetzung zu Ende geführt worden war, durch
ein alljährliches Fest auf der nahegelegenen Insel Pharos begingen1),
aber, daß sie ihre Arbeit „auf höhere Eingebung*‘ mit großem Enthusiasmus ver-
richtet hätten. Die talmudische Legende will überdies noch wissen, daß der König
die 72 Übersetzer in 72 besonderen Räumen untergebracht habe, so daß jeder von
ihnen den Thoratext unabhängig von allen andern übersetzte, und doch erwiesen
sich alle Übertragungen bei der Nachprüfung als völlig gleichlautend (Megilla, 9;
Soferim, I, 8). An einer anderen Stelle ist jedoch die Rede nur von „fünf Greisen,
die für den König Ptolemäus die Thora griechisch auf zeichneten“ (Soferim, I, 7).
!) Nach dem Zeugnis des Philo von Alexandrien (Leben Moses’, II, 7).
§19. Die griechische Thoraübersetzung
verhielten sich die Juden in Palästina, wenigstens was die spätere
Zeit betrifft, der Übersetzung gegenüber durchaus ablehnend, indem
sie darin gleichsam eine Entweihung des Heiligtums erblickten. So
heißt es auch im Talmud, daß der Tag, an dem die „Alten“ für den
König Ptolemäus die Thora ins Griechische übersetzten, ein verhäng-
nisvoller Tag für Israel gewesen sei, dem Tage vergleichbar, an dem
in der Wüste das goldene Kalb gegossen ward, denn die Thora könne
sinngetreu überhaupt nicht ins Griechische übertragen werden. Das-
selbe Ereignis löste Trauer in Judäa und Frohlocken in der Diaspora
aus. In der Urheimat der Bibel machte sich das feindselige Verhalten
der national denkenden Judäer ihren assimilierten Stammesgenossen
gegenüber geltend, die ein Bedürfnis nach einer „griechischen Thora“
empfanden und sich erkühnten, das heilige Buch, in dem jede Schat-
tierung des Sinnes wie auch seiner äußeren Ausdrucksform von so
großer Wichtigkeit war, dem gemeinen Verstände preiszugeben1).
Hier erkannte man überhaupt die verhängnisvolle Bedeutung dieser
Ersetzung der nationalen Sprache sogar in dem der Mehrzahl des Volkes
heiligen Schrifttum durch eine fremde in ihrer ganzen Tragweite.
Dagegen hatte die Diaspora allen Grund, sich über das Volkstümlich-
werden des nationalen Schrifttums in den breiten Massen des zer-
streuten Judentums wie auch unter den anderen Völkern zu freuen;
hier urteilte man klug genug: wenn das kostbare, geistige Nahrung
bergende Gefäß vom Leben selbst zerschlagen werde, bleibe nichts
anderes übrig, als seinen Inhalt, und sei es auch in anderer Fassung,
vor dem Untergange zu bewahren. Die Geschichte hat dieser Auffas-
sung in jeder Hinsicht recht gegeben. Die „griechische Bibel“ wurde
zu einem Faktor von universaler Bedeutung, und in den nächsten Jahr-
hunderten sollte die Welt die ungeheure Kraft dieses Gärstoffes in
jenem geistigen Gärungsprozesse erfahren, der schließlich zu einer
allumfassenden religiös-sittlichen Krise der Antike führte.
Auf Grund der oben wiedergegebenen Überlieferungen erhielt die
griechische Übertragung des Pentateuch und später auch der gesam-
ten Bibel die Bezeichnung Septuaginta (Hebdomekonta), d. i. „die
Übertragung der siebzig Ausleger“. Die Stilisierung der „Septuagin-
1) Später wurde die „griechische Bibel“ unter den Juden noch dadurch in
Mißkredit gebracht, daß die Prediger des Christentums sich ihrer zu feindlicher
Polemik gegen das Judentum bedienten, indem sie dabei oft die Zweideutigkeiten
der Übersetzung des hebräischen Textes sich zunutze machen konnten.
8*
n5
Die geistige Kultur in Judäa und in der hellenistischen Diaspora
ta“ zeugt davon, daß die Übersetzung tatsächlich von Juden besorgt
wurde. Die Sprache ist überreich an Hebraismen. Im allgemeinen ist
die Wiedergabe des hebräischen Urtextes so wortgetreu, daß sie an
manchen Stellen für den mit den Eigentümlichkeiten der hebräischen
Stilistik nicht vertrauten Leser schwer verständlich sein mußte. Gar
oft stimmt jedoch der griechische Wortlaut mit dem erhalten ge-
bliebenen hebräischen Originaltext nicht überein; dies läßt sich in
vielen Fällen dadurch erklären, daß den alten Übersetzern ein hebrä-
ischer Text Vorgelegen hatte, der von dem durch die maßgebenden
Autoritäten des Judaismus später festgelegten „massoretischen“ (tra-
ditionsgemäßen) Texte vielfach abwich. So trägt die Septuaginta teils
zum Verständnis der verstümmelten Stellen des massoretischen Ur-
textes bei, nämlich in jenen Fällen, in denen ihr ein genauerer Text
als Vorlage diente, anderenteils verwirrt sie jedoch den richtigen Sinn
in den Fällen, wo das ältere hebräische Original selbst ungenau ge-
wesen war. An manchen Stellen begegnen wir wiederum Abweichungen
vom ursprünglichen hebräischen Text, die von dem Bestreben der
Übersetzer, zweideutige, eine unerwünschte Auslegung ermöglichende
Wendungen in der Thora zu vermeiden, herrühren mögen. So sind
beispielsweise jene Wendungen, die Gott scheinbar dem Menschen
gleichsetzen (Anthropomorphismen), mehr ins Abstrakte umgebogen,
und solche Stellen, die das Befremden der gebildeten Griechen er-
wecken konnten, in unauffälliger Weise interpretiert. Deutlich tritt
hier auch das Bestreben zutage, nationale Ausdrucksformen durch
universale zu ersetzen. So wird der Gottesname Jahve mit dem allge-
meinen Ausdruck Kyrios, „Herr“, wiedergegeben; Jahve Zebaoth
(Gott der Heerscharen) mit „Gott, der Allmächtige“ oder mit „Herr-
scher über alle Mächte“ (Kyrios pantokrator, Kyrios ton dynameon)
übersetzt. Eine gewisse Vorsicht obwaltet hier auch gegenüber den
irdischen Herrschern: in dem Verzeichnis der unreinen Tiere im
dritten Thorabuche ist die Bezeichnung „lagos“ (Hase), die einen
Beinamen des ersten Ptolemäers bildete, durch die Wendung „dasy-
pos“ (der „Rauhbeinige“) ersetzt, zur Vermeidung einer für die „Ha-
sen“-Dynastie der Lagiden verletzenden Anspielung.
So wurde der Boden geschaffen für die geistige Tätigkeit in der jü-
disch-hellenischen Diaspora. Fürs erste fehlte es hier noch an ori-
ginellem Schaffen. Während in Judäa, dem Sitze der nationalen Kul-
§ 19. Die griechische Thoraübersetzung
tur, der Prozeß der Erzeugung der geistigen Werte vor sich ging,
wurden diese Werte in der Diaspora, in die Sprache der gebildeten
Welt umgegossen, zu Austauschgütern. Jedoch sollte mit dem Fort-
schreiten der Zeit auch die Diaspora unmittelbar das Aufblühen eines
eigenen urwüchsigen Schaffens erleben.
117
Zweites Buch
Das unabhängige Judäa unter
den Hasmonäern
(1/\o—63 vor der christlichen Ära)
V
§ 20. Allgemeine Übersicht
Der Befreiungskrieg war zu Ende. Er brachte dem jüdischen
Volke einen Erfolg, der weit über seine Erwartungen ging. Eingelei-
tet zum Zwecke der Selbstverteidigung gegen den national-religiösen
Druck, mündete der Kampf der Hasmonäer in die politische Befrei-
ung. Nun war zugleich mit der Nation auch das Land befreit. Nicht
nur die von Antiochus Epiphanes mit Füßen getretene innere Auto-
nomie war nunmehr wiederhergestellt, sondern auch die schon vor
Jahrhunderten verlorengegangene staatliche Unabhängigkeit Judäas.
Nach der Vorherrschaft der vier einander ablösenden Großmächte:
der babylonischen, persischen, griechisch-ägyptischen und griechisch-
syrischen, sah sich nun Judäa von jeder fremdländischen Gewalt-
herrschaft erlöst
Der durch die Willenskundgebung des Volkes mit der Doppel-
würde des Fürsten-Hohepriesters ausgezeichnete Hasmonäer Simon
schien gleichsam jene lichten Träume verwirklicht zu haben, die noch
in alter Zeit die aus Babylonien heimkehrenden Exulanten bewegt
hatten. Der neue Fürst entstammte allerdings nicht dem Hause Da-
vids, so wie der Priester nicht mehr dem alten Geschlechte Zadoks
angehörte; indessen hatten die Hasmonäer in kürzester Zeit so viel für
das Wohl der Nation geleistet, daß es ihnen mit Leichtigkeit gelun-
gen war, eine neue Dynastie zu begründen, die nunmehr da-
zu berufen war, sowohl die längst erloschene Dynastie Davids zu
ersetzen als auch das durch seine letzten Vertreter (Jason, Alcimus)
aufs ärgste bloßgestellte Geschlecht der Zadokiten. Dem ersten Für-
sten des unabhängigen Judäa und seinem Nachfolger Jochanan-Hyr-
kanus blieb nur noch die Aufgabe, mit dem in Zerfall begriffenen
Syrien endgültig abzurechnen. Schon durch die Eroberungen der er-
sten Hasmonäerbrüder wurde der Landbereich Judäas sowohl gegen
den Küstenstrich hin als auch nach Galiläa zu erweitert. Mit der Re-
gierung des Jochanan-Hyrkanus setzt nun, dank erfolgreichen Feld-
I 2 I
Das unabhängige Judäa unter den Hasmonäern
zügen, eine immer weitergehende Ausdehnung des territorialen Be-
sitzes ein. Nach der Einverleibung Samariens und Galiläas im Nor-
den, Edoms im Süden und der Grenzgebiete Transjordaniens im Osten
decken sich die Grenzen Judäas beinahe mit denen Palästinas. Die
Expansionspolitik erreicht ihren Höhepunkt unter Alexander-Jannäus.
Der Fürstentitel wird um diese Zeit schon durch den überragenden
Königstitel ersetzt. Die geistliche Würde ist jetzt nichts als ein An-
hängsel zur weltlichen Machtposition: der Hohepriester wird vom Kö-
nig in den Schatten gestellt. Judäa schien den Weg der übrigen Staaten
Yorderasiens eingeschlagen zu haben: es war im Begriffe, sich in
einen jener auf den Trümmern der Seleucidenmonarchie errichteten
Staaten zu verwandeln, deren Geschichte ganz damit ausgefüllt ist,
daß sie schwächere Völker ihrem Willen unterwarfen, bis sie dann
ihrerseits mächtigeren Militärgewalten zur Beute fielen.
Gegen diese Expansionspolitik tritt indessen das System inten-
siver geistiger Kultur auf den Plan, das im Laufe der Jahrhunderte
von seiner Aktivität nichts eingebüßt hatte. Zurückschauend sehen wir,
daß sich das jüdische Volk im Laufe von vier Jahrhunderten der dem
Gepräge einer geistlichen, nicht aber einer weltlichen Nation entspre-
chenden theokratischen Verfassung des Gemeinwesens in jeder Weise
angepaßt hatte. Diese Anpassung war es gerade, die in der Zeit der
persischen Herrschaft so bedeutsame Erfolge gezeitigt hatte, als es
namentlich den Bemühungen Esras, Nehemias und der Soferim ge-
lungen war, in Judäa die friedliche, geistliche, auf der Grundlage der
religiösen Zucht und der nationalen Absonderung errichtete Republik
festen Fuß fassen zu lassen. Einem derartigen Regime konnte in ei-
nem in sich abgeschlossenen und ganz in sein inneres Leben versun-
kenen Lande nichts hindernd in den Weg treten, da die persische
Vormundschaft es aller außenpolitischen Sorgen entledigte. Die er-
sten Breschen werden in den Bau der jüdischen Theokratie in der
Epoche der griechischen Herrschaft geschlagen, insbesondere unter
den Seleuciden. Der freie Luftzug der griechischen Kultur dringt
durch diese Breschen in das verschlossene Haus; er weht aus Alex-
andrien, aus Antiochia und besonders aus den griechischen Städten
und Kolonien, die in das palästinische Land selbst keilartig hinein-
ragten. In der eigenartigen geistlichen Republik brechen sich Ele-
mente weltlicher Staatlichkeit Bahn. Auch die offiziellen Repräsen-
tanten der jüdischen Theokratie, die Hohepriester, können nicht den
122
§ 20. Allgemeine Übersicht
neuen Zeit Strömungen widerstehen. Unter den Seleuciden streben sie
danach, die Rolle weltlicher Würdenträger zu übernehmen, und gar
oft unterliegen sie ihrer Vorliebe für die griechische Art. Der Helle-
nismus eines Jason, eines Menelaus und zum Teil auch der des Alci-
mus kam vornehmlich in dem Streben nach Verweltlichung des ge-
sellschaftlichen Lebens zum Ausdruck. Jedoch begingen die Helle-
nisten, indem sie im Kulturkampf bei der syrischen Regierung Bei-
stand suchten, Verrat an der nationalen Sache, denn dadurch luden
sie ihrer Heimat gegenüber die Schuld für das verabscheuungswür-
dige Regime des Antiochus Epiphanes auf sich, für die gewaltsame
Hellenisierung, ja für den Verlust der inneren Autonomie. Die Volks-
erhebung setzt schließlich dem Despotismus ein Ziel und gibt der
Nation ihre Religionsfreiheit und ihre geistige Autonomie zurück.
Nun sind die religiösen Anreger der Erhebung, die Ghassidäer, bereit,
die Waffen aus der Hand zu legen und sich mit dem errungenen Er-
folg, mit der Rettung der Theokratie, zufriedenzugeben; allein die
eigentlichen Führer der Volksbewegung, die Hasmonäer, wollen nicht
innehalten und erringen für das Land die politische Unabhängigkeit.
Die unüberwindliche Macht der Ereignisse treibt das Volk zur Wie-
dererrichtung des Staates nach dem üblichen Bauplan: mit einem
Fürsten an der Spitze, mit einem Heere, mit kriegerischen Unterneh-
men, !nit diplomatischen Beziehungen ... So sah sich die Nation,,
die längst der vollen politischen Freiheit entwöhnt war, vor die schwie-
rige Aufgabe gestellt, eine neue Staatsordnung zu schaffen und sie
zugleich an die alte, auf den Grundlagen der Theokratie aufgebaute
Ordnung anzupassen.
Hier entbrennt nun ein innerer Kampf, der mächtigste in der gan-
zen jüdischen Geschichte. Es harrt die Frage der Entscheidung: wel-
ches Element soll in dem neuerrichteten freien Staate vorherrschend
sein — das politische oder das religiöse? Soll die mit der ehemaligen
politischen Abhängigkeit zusammenhängende Theokratie einfach zur
Seite geschoben werden oder soll sie auch in der neuen sozialen Ord-
nung erhalten bleiben? Die Ansichten der Volksführer spalten sich:
die Sadduzäer entscheiden das Problem im ersten Sinne, während die
Pharisäer die entgegengesetzte Ansicht vertreten. Der Widerstreit der
beiden Parteien, der jetzt an die Stelle des früheren Kampfes der
Hellenisten mit den Chassidäem tritt, dringt bis in die feinsten Ver-
ästelungen des Volkslebens. Steht doch der Streit über den Staats-
123
Das unabhängige Judäa unter den Hasmonäern
typus in innigstem Zusammenhänge mit dem Kampf um den Cha-
rakter der Kultur, mit dem Streit über die Angliederung Judäas an
die Gruppe der hellenistischen Länder des Orients und über die Los-
sagung von dem Prinzip der nationalen Absonderung. Die hasmonäi-
schen Herrscher neigen größtenteils der sadduzäischen Richtung zu;
sie sind eher Staatsmänner und Krieger als Hohepriester; ihnen wie
ihren Angehörigen bleibt die griechische Bildung nicht fremd, oft
tragen sie auch griechische Namen (Aristobulus, Alexander, Antigo-
nus), und sie streben offensichtlich nach Verweltlichung der gesam-
ten Verwaltung. Ihnen leistet die Geld- und Beamtenaristokratie Ge-
folgschaft, die von jeher den hellenistischen Einflüssen unterlag. Die
Volksmassen hingegen, die jahrhundertelang im Geiste der strengen
Theokratie erzogen worden waren und die überhaupt für äußer-
liche Neuerungen wenig Sinn aufzubringen vermochten, folgen mehr
den Pharisäern, den Verfechtern der alt-ehrwürdigen religiösen Ver-
fassung. Es kommt zu einem tiefgreifenden Zwiespalt auf allen Ge-
bieten des bürgerlichen und sozialen Lebens, zu einem Bruch, der
die Kräfte des jugendlichen, noch nicht gereiften hasmonäischen Staa-
tes bis auf den Grund aufzehrt. Schließlich sprengt der kraftstrot-
zende Gärstoff der Theokratie die noch nicht fest gewordene Hülle
des weltlichen Staates, und die Religion triumphiert über die Poli-
tik. — Der freie Hasmonäerstaat geht seiner Auflösung entgegen.
Durch den Parteikampf und die dynastischen Wirren zerrüttet,
wird der junge Hasmonäerstaat geradeswegs dem raubgierigen Rachen
des weltbezwingenden Rom zugetrieben. Die einander bekämpfenden
Brüder Hyrkanus II. und Aristobulus II. rufen den Eroberer von
Syrien, den römischen Feldherrn Pompejus, als Schlichter an. Der
Streit wird nun kurzerhand entschieden: Pompejus unterstellt Judäa
der Vormundschaft Roms (63). Von der Vormundschaft oder dem
Protektorat bis zur völligen Beherrschung bleibt jedoch nur noch ein
Schritt. Das freie Judäa vermochte sich kaum 80 Jahre zu halten
(i4o—63), dem halbfreien war aber eine noch kürzere Frist beschie-
den.
Neben dem unabhängigen Judäa schreitet in der Hasmonäerzeit
auch die Diaspora in ihrer Entwicklung weiter. Einzelne ihrer Teile
in den Grenzgebieten Palästinas wurden zugleich mit diesen in den Be-
stand des erweiterten jüdischen Staates auf genommen, gleichzeitig ha-
ben sich jedoch auch die älteren außerpalästinischen Zentren, insbe-
124
§ 20. Allgemeine Übersicht
sondere im ptolemäischen Ägypten, erhalten und fortentwickelt. Über-
all stößt der wandernde Jude auf den allgegenwärtigen Griechen, so-
wohl auf den Territorien der sich auf lösenden Seleucidenmonarchie
wie auch in dem bunten Gemisch der Stadtstaaten Kleinasiens. Über-
all kreuzen sich die Wege der beiden Diasporen, der jüdischen und der
griechischen, bis sich beide Ströme zusammen in das allmählich das
gesamte hellenistische Morgenland überflutende römische Meer er-
12 5
Erstes Kapitel
Die F ürsten Simon u. Jochanan-Hyrkanus
(i4o—io4)
§ 21. Der Fürst-Hohepriester Simon
In dem Augenblick, als die Unabhängigkeit Judäas ausgerufen
wurde, bot die politische Lage des neuen Staates das folgende Bild:
der nationale Herrschaftsbereich im Süden Palästinas, „Kleinjudäa“
mit Jerusalem in der Mitte, war von der syrischen Herrschaft frei und
auch sein Hafen Jaffa war von den Syrern, in deren Besitz er sich
lange Zeit befunden hatte, endgültig gesäubert; der mittlere Teil Pa-
lästinas, der nach seiner Hauptstadt Samaria hieß, das nördliche Ga-
liläa mit dem Hafen Akko-Ptolemais und das östliche Transjordanien
(Gilead) standen dagegen formell noch unter der Gewalt Syriens, in
Wirklichkeit besaßen aber auch hier viele Städte mit ihrer vorherr-
schend griechisch-syrischen Bevölkerung eine weitgehende Autonomie
und verwandelten sich nach und nach in selbständige „Stadtstaaten“.
Mit dem zunehmenden Verfall der Dynastie in Antiochia nahm in Palä-
stina die Zahl solcher freien Städte immer mehr zu, die entweder eine
griechische republikanische Verfassung besaßen, eine Gemeinde mit
einem Volksrat, (3ooXt], an der Spitze (so die Küstenstädte Ptole-
mais, Gaza, Askalon u. a.), oder aber von einem Kleinfürsten, einem
„Tyrannen“, regiert wurden (Philadelphia in dem ehemaligen Ammo-
niterlande u. a.). Die Versuche des Juda Makkabäus und Jonathans,
in diese hellenisierten Bezirke einzudringen, trieben einerseits die ein-
geborene heidnische Bevölkerung zu einem noch schärferen Kampf
um die Autonomie an und veranlaßten andererseits die zentrale Regie-
rung Antiochias, diesen Bestrebungen, die ja zugleich auch gegen die
Eroberungspolitik Judäas gerichtet waren, entgegenzukommen. Im Sü-
den Palästinas grenzte das alte, jetzt im Niedergange begriffene Edom
126
§ 21. Der Fürst-Hohepriester Simon
an Judäa an und im Südwesten, auf den Ruinen Moabs und Ammons,
erhob sich das arabische Reich der Nabatäer, das sich nach Norden,
nach Damaskus hin, immer weiter ausdehnte.
Das von hellenisierten palästinischen Bezirken umschlossene unab-
hängige Kleinjudäa stand gleichsam vor der Wahl zwischen zwei poli-
tischen Wegen: es konnte sich entweder mit der bescheidenen Existenz
eines winzigen, abgesonderten Staates begnügen, der sich ständig ge-
gen den Ansturm der ihn umgebenden Fremdstämmigen zu wehren ge-
habt hätte, oder aber es konnte diese politisch ohnmächtigen Bruch-
stücke der Seleucidenmonarchie seiner Gewalt zu unterwerfen suchen,
um dort dem jüdischen Elemente zur Vorherrschaft zu verhelfen und
so das vergessene nationale Ideal der Wiederherstellung des „Davids-
reiches“ zu neuem Leben zu erwecken und das kleine Judäa in ein
großes, ganz Palästina umfassendes zu verwandeln. Das Leben selbst
wies dem Lande den zweiten Weg. Der unabhängig gewordene Staat
konnte schwer auf halbem Wege stehen bleiben: die Unabhängigkeit
und die Grenzen mußten gesichert werden, auch galt es, die zur wirt-
schaftlichen Entwicklung Judäas unentbehrlichen angrenzenden Terri-
torien, wie z. B. die Meeresküste, dem Lande einzuverleiben; kurz, es
mußte eine Eroberungspolitik getrieben werden.
Der erste unabhängige Regent Judäas, Simon, legte nur den Grund-
stein zu dieser Großmachtpolitik. Er wollte dem durch langjährige
Befreiungskämpfe, an denen er selbst großen Anteil genommen hatte,
erschütterten Lande endlich Ruhe verschaffen. Die ersten Regierungs-
jahre Simons waren der Sicherung des bereits Erkämpften gewidmet.
Der alte Chronist (I. Makkabäerbuch) rechnet es ihm als ein beson-
deres Verdienst an, daß er Judäa den Besitz eines Teiles der Meeres-
küste mit der Stadt Jaffa (Jope), dem Jerusalem zunächst gelege-
nen Hafen des Mittelmeeres, sicherte. Dadurch sah sich das ehedem
vom Meere abgeschnittene Judäa mit den Industriezentren am Meere
verbunden, oder, wie sich der Chronist ausdrückt, „es wurde ihm ein
Zugang für die Inseln des Meeres geschaffen“. Auch trug Simon
Sorge um die Befestigung solcher strategischer Punkte wie der am
Bergpaß zwischen Jerusalem und Jaffa gelegenen Stadt Gazara
(Geser) und der südlichen Grenzfestung Bethsura, die der Hauptstadt
militärischen Schutz gewährte. Ohne weitausgreifenden Plänen nach-
zugehen, war Simon in seinem Wirken in erster Reihe auf die Sicher-
stellung des nationalen Kerns des jüdischen Landgebietes bedacht. In
127
Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus
Voraussicht neuer Zusammenstöße mit den syrischen Königen beeilte
sich der neue Fürst-Hohepriester, den Bund seiner Vorgänger mit der
römischen Republik, der der Zerfall der Seleucidenmonarchie nur ge-
legen kommen konnte, zu erneuern. Dem Berichte des Chronisten zu-
folge soll mit dem Bündnisantrag der Gesandte Numenius nach Rom
geschickt worden sein, der auch ein kostbares Geschenk, einen golde-
nen Schild, mit sich führte. Der römische Senat bestätigte das zum
Schutze Judäas eingegangene Bündnis, gewährleistete ihm die Unan-
tastbarkeit seines Territoriums und seiner politischen Unabhängigkeit,
und benachrichtigte davon in besonderen Sendschreiben die Fürsten
Ägyptens, Syriens und Kleinasiens (139)1).
Als Symbol der politischen Unabhängigkeit waren in Judäa beson-
dere Münzen im Verkehr, die man damals in Jerusalem zu schlagen
begann. Auf den „Schekeln“ und „halben Schekeln“ wurden die Worte
nxtmpn D^tPVY1 (d. i. „heiliges Jerusalem“) eingeprägt, ferner der
Wert der Münze bpW oder bpwn ^n) und das Prägungsjahr
nach der vom Beginn der Regierung Simons ihren Ausgang nehmen-
den Zeitrechnung, jedoch ohne Erwähnung des Namens des fürst-
lichen Hohepriesters* 2). Später, unter den Nachfolgern Simons, wur-
den die Münzen auch schon mit den entsprechenden Herrschernamen
versehen.
Dank der verhältnismäßigen Ruhe, die in den ersten Regierungs-
jahren Simons des Hasmonäers in Judäa herrschte, lebte dieser Fürst
später in der Volkserinnerung als ein Friedensfürst fort. Nach den
dreißig Jahre währenden Wirren und Kriegen, die jedes normale bür-
gerliche und wirtschaftliche Leben im Lande hemmten, mochte sogar
die nur für eine kurze Dauer eingetretene Ruhe dem Volke als eine
überaus sorglose und glückliche Zeit erscheinen. Die Anspannung der
militärischen Kräfte hatte ihr Ende erreicht und dem befreiten Volke
war es nunmehr möglich geworden, in dem erlösten Lande zu fried-
!) Auf diesen Vertrag Judäas mit Rom (über den in I. Makk. i4, 24 und i5,
i5—2 4 berichtet wird) bezieht sich anscheinend die feine politische Bemerkung eines
späteren Geschichtsschreibers, Pompejus Trogus: „Demetrius (den syrischen König)
losgeworden, bewarben sie sich (die Juden) um die Freundschaft der Römer und
erhielten von ihnen, als erste unter den Völkern des Orients, die Freiheit, da Rom
zu jener Zeit fremdes Gut freigebig austeilte.“ (S. Reinach, Textes d’auteurs
grecs etc., 257.)
2) Die Streitfrage über die Entstehungszeit dieser anonymen Münzen wird von
der Mehrzahl der Forscher zugunsten der Zeit Simons entschieden. (S. Schürer,
Gesch. der Juden, Beilage 4, und die dort angeführte Literatur.)
§ 21. Der Fürst-Hohepriester Simon
lichem, arbeitsfrohem Leben zurückzukehren. Der Landmann kehrte
zu seinen brachliegenden Äckern und Weinbergen zurück, der Ge-
werbsmann zu Handel und Gewerbe; auf den Landstraßen, auf denen
so lange nur Kriegerscharen zu sehen waren, setzten sich nun fried-
liche Handelskarawanen in Bewegung, während im Hafen Jaffas die
Wimpel der Handelsschiffe im Winde flatterten. Der alte Chronist
preist diese Zeit in folgenden idyllischen Versen: „Sie (die Juden)
konnten in Frieden ihr Land bebauen; das Land gab seinen Ertrag
und die Bäume auf dem Felde ihre Frucht. Greise saßen auf den
Straßen, unterredeten sich alle über das gemeine Wohl, und die Jüng-
linge bekleideten sich mit dem Schmuck des Kriegsgewandes. Die
Städte versorgte er (Simon) mit Speise und rüstete sie aus mit Be-
festigungswerken, daß sein ruhmvoller Name genannt wurde bis zu
den Enden der Erde. Er schaffte Frieden im Land, und Israel war
hoch erfreut. Ein jeder saß unter seinem Weinstock und Feigenbaum,
ohne daß sie jemand aufschreckte. Es war niemand mehr, der sie auf
Erden bekriegte, und die Könige (die fremdländischen) wurden in je-
nen Tagen gedemütigt . . . Voll Eifer für das Gesetz, beseitigte er
(Simon) jeden Abtrünnigen und Schlechten. Er machte das Heilig-
tum herrlich und vermehrte die Geräte des Heiligtums“.
Das hier gezeichnete Bild der friedlichen Zustände in Judäa mag
erst für die Zeit der Nachfolger Simons zutreffend sein, nicht aber
für dessen eigene kurze Regierungsdauer, während der das Land
noch nicht Zeit genug gehabt hatte, nach all den großen Erschütterun-
gen und Wirren sich wieder ganz zu erholen. In der Erinnerung der
nachfolgenden Generationen verschmolz das Anfangsstadium der Lan-
desbefriedung mit deren späterer Fortentwicklung, die nur Schritt
für Schritt zu der Wiederherstellung der normalen Lebens Verhältnisse
geführt hat. Die endlich eingetretene verhältnismäßige Ruhe malte
man sich später als absoluten Frieden und idyllische Sorglosigkeit aus.
Wie weit indessen die Wirklichkeit von diesem Bilde noch entfernt
war, zeigen die Ereignisse aus den letzten Jahren der Regierung Si-
mons.
Das Land vermochte sich einer gewissen Ruhe nur solange zu er-
freuen, als die dynastischen Streitigkeiten zwischen dem König De-
metrius II. und dem Usurpator Trypho anhielten (oben, § i5). Sei-
ner Machtstellung im eigenen Lande nicht sicher genug, mußte sich
Demetrius nicht nur mit der Unabhängigkeit Judäas abfinden, son-
9 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
129
Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus
dem sogar mit der Tatsache der Angliederung mancher wichtiger
Orte des Küstengebietes, namentlich Jaffas, an den Territorialbesitz
des jüdischen Staates. Bald verschwand jedoch der kraftlose König
eine Zeitlang von der Bildfläche: er verwickelte sich in einen endlosen
Krieg mit dem Partherkönig Mithridates I. und geriet in Gefangen-
schaft. An des Demetrius Stelle führte nun in Syrien den Krieg gegen
Trypho mit viel durchschlagenderem Erfolge sein Bruder Antiochus
VII. Sidetes fort, ein tapferer Krieger, der ganz von dem Gedanken
beherrscht war, die ehemalige Größe der Seleucidenmonarchie wieder-
herzustellen. Es glückte ihm bald, Trypho bei der phönizischen
Festung Dora einzuholen und dann in Apamea einzuschließen,
wo der Usurpator nach seiner Gefangennahme auch den Tod
fand (i38).
Während des Krieges gegen Trypho hielt Simon zu Antiochus Si-
detes, da ihn das Verlangen beseelte, den Tod seines von Trypho vor
kurzer Zeit ermordeten Bruders Jonathan zu rächen. Zu der Belage-
rung Doras sandte Simon Antiochus Hilfstruppen, Geld und Lebens-
mittel. Allein der syrische König wies diese Hilfe zurück, da er schon
damals den Plan faßte, seine souveränen Rechte auf Judäa wieder gel-
tend zu machen. Kaum hatte sich Antiochus seines Rivalen entledigt,
als er auch schon die Herausgabe der Städte Jaffa und Gazara sowie
der Jerusalemer Burg Akra, oder die Entrichtung eines riesigen Tri-
buts von 1000 Talenten Silber von Simon verlangte. Diesem erschien
sogar die letzte Forderung unerfüllbar, geschweige denn die Rückgabe
Akras, und er erklärte sich nur bereit, höchstens ioo Talente für das
von Judäa in Besitz genommene Land zu zahlen. Darauf beschloß
Antiochus, die Erfüllung seiner Forderungen mit Gewalt zu erzwin-
gen. Er sandte sein Heer unter dem Oberbefehl des Feldherrn Kende-
bäus gegen Simon. Jener schlug sein Lager in der Nähe Jaffas, in
Jamnia (Jabneh), auf und unternahm von dort aus Vorstöße gegen die
inneren Gebiete Judäas. Simon stand schon in sehr hohem Alter und
konnte dem Feinde nicht persönlich an der Spitze seines Heeres ent-
gegentreten; er beauftragte daher seine Söhne Jochanan und Juda
mit der Verteidigung des Landes. Die beiden Brüder entledigten sich
glänzend dieser Aufgabe. Sie lieferten Kendebäus eine entscheidende
Schlacht, in der die Syrer aufs Haupt geschlagen wurden. Jochanan
setzte dem Feinde bis Asdod nach und kehrte als Sieger nach Jerusa-
lem zurück (137).
i3o
J
/
c
§ 21. Der Fürst-Hohepriester Simon
Daraufhin sah sich Antiochus genötigt, Judäa eine Zeitlang in
Ruhe zu lassen. Es mochte scheinen, als ob es dem hochbetagten Si-
mon nun vergönnt sei, den Rest seiner zur guten Hälfte vom nationa-
len Freiheitskriege ausgefüllten Tage in Frieden zu genießen; aber
auch dem letzten der Hasmonäerbrüder war kein glücklicher Lebens-
abend, ja nicht einmal ein natürlicher Tod beschieden. Er fiel als
Opfer einer jener verbrecherischen Verschwörungen, die in jenem
Zeitalter des politischen Banditentums und der Machtlüsternheit von
allerhand Usurpatoren und Duodez„tyrannen“ an der Tagesordnung
waren. Simons Schwiegersohn nämlich, der „Stratege“ Ptolemäus hen
Habub} der den militärischen Oberbefehl in dem Bezirke von Jericho
führte, faßte, sich auf seine Streitmacht stützend und auf den Bei-
stand des Antiochus rechnend, den ehrgeizigen Plan, die Obergewalt
im Lande an sich zu reißen. Um sein Ziel zu erreichen, griff er zu
einem damals in Syrien üblichen schmählichen Mittel. Als im Winter
des Jahres i35 (im Monat Schebat) Simon während einer Rundreise
in Verwaltungsangelegenheiten mit seinem Weibe und seinen zwei
Söhnen Mattathias und Juda auch in die Festung Dok (Dagon) bei
Jericho kam, veranstaltete Ptolemäus zu Ehren seines Schwiegervaters
ein großartiges Festmahl, wobei er seine Gäste so reichlich mit Wein
bewirtete, daß sie trunken wurden; dann ließ er Simon, dessen beide
Söhne und einige aus dem Gefolge meuchlings hinmorden, seine
Schwiegermutter aber, des Simon Frau, machte er zu seiner Gefange-
nen. Unmittelbar darauf sandte er nach Gazara, wo der dritte Sohn
Simons, Jochanan, Statthalter war, Meuchelmörder mit dem geheimen
Aufträge, auch diesen zu töten, um so auch den letzten gesetzlichen
Erben des Fürstentums aus dem Wege zu räumen. Den anderen jüdi-
schen Hauptleuten verhieß Ptolemäus, falls sie sich auf seine Seite
schlagen würden, alle möglichen Vorteile. Schon war der Bösewicht
bereit, nach Jerusalem zu ziehen, um sich der Stadt und des Tempel-
berges zu bemächtigen. Da brachte ein Flüchtling aus Dok Jochanan
die furchtbare Nachricht von dem Tode seines Vaters und seiner Brü-
der und warnte ihn vor den von Ptolemäus entsandten Mordbuben.
Als diese dann in Gazara eintrafen, ließ Jochanan sie ergreifen und
hinrichten. Trotzdem fühlte er sich dort auch jetzt noch nicht in
Sicherheit und eilte nach Jerusalem, wo ihn das Volk mit Freuden
empfing. Als nun Ptolemäus mit seinem Heere sich Jerusalem näherte,
9*
i3i
0
Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus
vermochte er nicht mehr, in die Hauptstadt einzudringen und sah sich
gezwungen, unverrichteter Dinge in die Gegend von Jericho zurück-
zukehren.
Jochanan ließ aber von ihm nicht mehr ab und verfolgte ihn an
der Spitze seines Heeres, um den Tod seines Vaters und seiner Brüder
zu rächen. Dem jungen Helden wäre es ein leichtes gewesen, die Je-
richo vorgelagerte Festung Dok zu überrennen, aber jedesmal, wenn
er sich zum Sturmangriff anschickte, ließ Ptolemäus seine gefangene
Schwiegermutter, die Mutter Jochanans, auf den Festungswall hin-
ausführen und vor dessen Augen mißhandeln, ja er drohte, sie sogar
herabzustürzen, falls der Sohn von seinem Vorhaben nicht abstände1).
Diese tragische Zwangslage lähmte die Kraft Jochanans und er lagerte
lange Zeit in Untätigkeit vor der Festung. Inzwischen brach das Sab-
batjahr („Schemita“) an, während dem die Kriegshandlungen wegen
unzulänglicher Lebensmittelzufuhr behindert wurden. Es ist wohl
möglich, daß sich gerade damals auch das Gerücht von einem Plan
der Syrer, Judäa von neuem zu überfallen, verbreitet hatte. Wie dem
auch sein mag, jedenfalls sah sich Jochanan nun gezwungen, die Be-
lagerung von Dok aufzuheben und nach Jerusalem zurückzukehren.
Nach seinem Rückzuge ließ Ptolemäus dennoch die Mutter Jochanans
ermorden und floh dann nach Transjordanien, wo er in Philadelphia,
der ehemaligen Ammoniterhauptstadt Rabbat-Ammon, bei dem syri-
schen Tyrannen Zeno Kotylas Zuflucht fand.
Mit dem Tode Simons war der letzte der Hasmonäerbrüder, der
Söhne des Mattathias, die das Banner des Befreiungskrieges unter
Antiochus Epiphanes entfaltet hatten, von der geschichtlichen Bühne
verschwunden. Alle Brüder, einer nach dem anderen, opferten ihr
Leben für das Wohl ihres Volkes, und ihr Blut war nicht umsonst ge-
flossen. Das Ziel des heroischen dreißigjährigen Kampfes war er-
1) Josephus (Ant. XIII, 8, Bellum I, 2) berichtet über die Belagerung auf Grund
von Quellen, deren Glaubwürdigkeit allerdings nicht feststeht, noch folgende dra-
matische Einzelheiten: „Ohne vor den Mißhandlungen, ja vor dem drohenden Tode
zurückzuschrecken, streckte die Mutter ihre Hände zum Sohne aus, ihn anflehend,
den Bösewicht, ungeachtet ihrer Qualen, nicht zu schonen . . . Die Standhaftigkeit
seiner Mutter bewundernd, erneuerte Hyrkanus (Jochanan) mit unaufhaltsamem In-
grimm seinen Ansturm, sobald aber auf der Mauer das fürchterliche Schauspiel
der Martern der Alten (von Neuem) begann, ward sein Herz von Schrecken und Mit-
leid ergriffen, sein Mut sank und er litt unsäglichen Schmerz. So zog sich die Be-
lagerung in die Länge.“
i32
§ 22. Jochanan und die Erweiterung des Herrschaftsbereiches Judäas
reicht, so daß die Nachfolger Simons nur noch um die Festigung des
befreiten Judäa und um die Erweiterung seines Landgebietes zu rin-
gen hatten. •
§ 22. Jochanan-Hyrkanus und die Erweiterung des Herrschafts-
bereiches Judäas
In schwerer Zeit ergriff der neue Fürst-Hohepriester Jochanan,
der mehr unter dem doppelten, geistlichen und weltlichen, Namen
Jochanan-Hyrkanus (i35—io4) bekannt ist, die Zügel der Regie-
rung. Kaum war er den Ränken des niederträchtigen Prätendenten
Ptolemäus entgangen, als er schon mit Antiochus Sidetes in Konflikt
geriet. Der syrische König hatte nach dem mißglückten Feldzug des
Kendebäus seine Ansprüche auf Jaffa und das Grenzgebiet nicht fal-
len gelassen, sondern die Feindseligkeiten, in Erwartung des erfolg-
reichen Ausganges der Verschwörung des Ptolemäus, nur zeitweilig
eingestellt. Als aber der Anschlag mißlang und Jochanan-Hyrkanus
den Thron doch bestieg, begann Antiochus den Kampf von neuem.
Diesmal drang er selbst an der Spitze eines zahlreichen Heeres in
Judäa ein, verwüstete viele Städte auf seinem Wege und belagerte
schließlich Jerusalem (um i34)-
Die Hauptstadt war von so hohen und festen Mauern umgeben,
daß Antiochus von einem Versuche, sie im Sturme zu nehmen, ab-
sehen mußte, und sich auf eine langwierige Belagerung gefaßt machte,
um das Eintreten der Hungersnot unter der Bevölkerung abzuwarten,
die infolge der Knappheit der Lebensmittel Vorräte unausbleiblich ein-
treten mußte. Vereinzelte Judäerhaufen unternahmen von Zeit zu Zeit
Ausfälle aus der Stadt, überfielen jählings den Feind und verursach-
ten ihm hie und da einige Verluste. Als die Nahrungsvorräte in der
überfüllten Stadt schließlich zur Neige gingen, sah sich Jochanan-
Hyrkanus gezwungen, den nicht wehrfähigen Teil der Bevölkerung
aus der Stadt zu entfernen, um wenigstens die Verteidiger vor dem
Hungertode zu bewahren. Allein Antiochus wehrte den Ausgewiese-
nen den Durchzug. So mußten die Unglücklichen in der Umgegend
Jerusalems obdachlos umherirren; als aber dann das herbstliche Laub-
hüttenfest („Sukkoth“) herannahte, konnte man nicht umhin, sie wie-
der in die Stadt einzulassen. Am Vorabend des Festes suchte Jochanan-
Hyrkanus bei Antiochus um einen siebentägigen Waffenstillstand nach.
i33
Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus
Zur allgemeinen Verwunderung willigte der syrische König nicht nur
in diesen Vorschlag ein, sondern sandte sogar noch, zum Zeichen sei-
ner Ehrfurcht vor dem Jahvekulte, Opfergeschenke für den Jerusa-
lemer Tempel. Diese versöhnliche Haltung des Antiochus, die, wie es
scheint, in manchen im Partherkrieg eingetretenen Komplikationen
ihren Grund hatte, veranlaßte den jüdischen Fürsten, die Hand zum
Frieden zu bieten. Zwischen den Kriegführenden wurde daraufhin
eine Vereinbarung getroffen, deren Bestimmungen von der kritischen
Lage der Belagerten zeugen: die Einwohner Jerusalems verpflichteten
sich, Antiochus ihre Waffen auszuliefern, 5oo Talente zu entrichten
und Geiseln zu stellen; für Jaffa und die übrigen außerhalb Judäas
besetzten Städte sollten die Judäer einen bestimmten Tribut zahlen.
Die Jerusalemer weigerten sich nur, eine einzige der von Antiochus
gestellten Forderungen zu erfüllen, nämlich eine syrische Garnison
nach Akra einzulassen, mußten sich dafür aber verpflichten, die Be-
festigungen um die Hauptstadt zu schleifen. Für eine Zeit lang wurde
so der jüdische Fürst gleichsam zu einem Vasallen des syrischen
Königs.
Nach Beendigung dieses für Judäa so opferreichen Krieges suchte
Jochanan-Hyrkanus Unterstützung bei Rom. Eine von ihm geschickte
Abordnung führte beim römischen Senat Klage gegen den syrischen
König, der auf die Souveränität über Jaffa und den dazu gehören-
den Küstenstrich Anspruch erhob, ungeachtet dessen, daß der Senat
den Besitz dieses Gebietes im Jahre i3g Judäa vertraglich zugesichert
hatte. Der Senat empfing die Gesandten mit Wohlwollen und ver-
sprach, den Freundschaftsbund mit Judäa zu erneuern, verschob je-
doch seinen Bescheid auf die Bitte des Hyrkanus um unmittelbare
Hilfeleistung bis nach der Regelung der eigenen politischen Ange-
legenheiten1). Die Regierung Roms ging gern Schutzbündnisse mit
den kleinen Völkern gegen die mit ihr selbst rivalisierenden großen
Staaten ein, kam indessen ihren Schutzbefohlenen nur ausnahmsweise
zu Hilfe und überließ es ihnen meist, ihrer Not aus eigener Kraft
Herr zu werden.
D Unseres Dafürhaltens ist die Erzählung des Josephus über die nach Rom
geschickte Gesandtschaft in Ant. XIII, 9 auf eben diesen Zeitraum (134—129) zu
beziehen, da hier davon die Rede ist, daß Gazara und die anderen umstrittenen
Städte zu dieser Zeit noch unter der Gewalt des Antiochus standen. Indessen fällt
gewissermaßen ein Schatten auf die Glaubwürdigkeit dieser Erzählung des Josephus
dadurch, daß er selbst an einer anderen Stelle (Ant. XIV, 10, 22) eine parallele
i34
§ 22. Jochanan und die Erweiterung des Herrschaftsbereiches Judäas
Der jüdische Fürst, der in die schweren Bedingungen des Frie-
densvertrages mit Syrien einwilligen mußte, hatte Grund zu hoffen,
daß sich die Lage bald zum Besseren wenden und der nachteilige Ver-
trag nicht lange in Kraft bleiben werde. Und in der Tat sollte die poli-
tische Labilität Syriens auch diesmal Judäa aus seiner Not heraus-
helfen. Antiochus Sidetes mußte nämlich sehr bald einen Feldzug ge-
gen seine unruhigen östlichen Nachbarn, die Parther, unternehmen,
um ihnen die von ihnen eroberten syrischen Länder wieder zu* ent-
reißen. Für diesen Feldzug war auch der jüdische Fürst, als Vasall
des syrischen Königs, genötigt, Hilfstruppen zu stellen. Dies war aber
die letzte Demütigung Judäas. Der Krieg nahm für Antiochus ein
überaus trauriges Ende: das syrische Heer wurde geschlagen und auch
Antiochus selbst kam um (129). Dieser für Syrien so unglückselige
Krieg, der den ganzen am Euphrat gelegenen Besitz der Seleuciden
den Parthern in die Hände gab, versetzte der syrischen Macht einen
nie wieder gutzumachenden Schlag. Der von den Parthern gefangen
gehaltene Exkönig Demetrius II. wurde zwar wieder freigelassen und
bestieg von Neuem den syrischen Thron, mit seiner Wiederkehr er-
neuerten sich jedoch auch die dynastischen Streitigkeiten, die nun bis
zu dem fünfzig Jahre später eintretenden endgültigen Zerfall der Se-
leucidenmonarchie unaufhörlich fortdauerten. Jochanan-Hyrkanus ver-
säumte nicht, diese schwierige Lage Syriens sich zunutze zu machen,
indem er alle für Judäa so nachteiligen Folgen des von Antiochus Si-
detes erzwungenen Vertrages kurzerhand beseitigte. Unmittelbar nach
dem Tode des Antiochus löste er endgültig das Vasallenverhältnis zu
Syrien und stellte die tatsächliche Unabhängigkeit Judäas in vollem
Umfange wieder her.
Bald aber überschritt Jochanan-Hyrkanus jene Grenze, die die
Verteidigungspolitik von einer Eroberungspolitik trennt. Der Über-
gang vollzog sich in unauffälliger Weise, zunächst weil es das Wohl
des Staates gebieterisch verlangte, dann aber wurde die Eroberungs-
politik auch weit über das Maß des Notwendigen hinaus geführt. Nach
Urkunde anführt, die er in eine Sammlung von Urkunden aus der Zeit des Julius
Caesar und Hyrkanus II. einreiht. S. Schürer, I, 261—2 63, wo die ganze auf diese
Urkunden sich beziehende Kontroverse wiedergegeben ist. Die Ansicht Ed. Meyers,
der die Gesandtschaft in das Jahr 122 verlegt (Ursprung usw. II, 275), scheint nicht
begründet zu sein. Über die mit dieser Frage zusammenhängenden neuesten Erwä-
gungen s. Juster, Les juifs dans l’empire romain. Paris, 1914, T. I., p. i33—134
und Klausner, Historia Isreelith, II, 57—76 (Jerusalem, 1924)*
i35
Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus
den hartnäckigen Versuchen der Syrer, die verlorene Gewalt von
Neuem zu erringen, sahen sich die hasmonäischen Fürsten genötigt,
ein stehendes Heer zum Schutze der Grenzen gegen die Einfälle der
Feinde zu unterhalten. Dieses reguläre Heer bestand unter Jochanan-
Hyrkanus aus Söldnern, vornehmlich aus kleinasiatischen Griechen,
die für Geld jedem beliebigen Herrn zu dienen bereit waren. Die
Mittel zur Besoldung seiner Krieger entnahm der Fürst, nach einem
Gerücht im Volke, einem in der Gruft des Königs David auf gef unde-
nen Schatze, in Wirklichkeit wohl einem besonderen, von seinen Vor-
gängern gesammelten Kriegsschatze. Stand aber dem Fürsten einmal
ein stehendes Heer zur Verfügung, so war es nur natürlich, daß er
diese Macht zunächst zur Sicherung der Grenzen seines Staates ver-
wendete, dann aber auch zur Angliederung jener Nachbarländer, die
infolge der Zerrüttung des Seleucidenreiches herrenlos geworden wa-
ren, während Judäa sein unbestrittenes geschichtliches Recht auf diese
Gebiete geltend machen konnte.
Von den drei den Juden verwandten semitischen Völkerschaften,
die an der südöstlichen Grenze des alten Kanaan lebten, unterlagen
um diese Zeit die Ammoniter und Moabiter dem Prozesse der Auf-
lösung unter den syrischen und arabischen Stämmen Transjordaniens,
während die nächsten Nachbarn Judäas, die Edomiter (Idumäer), de-
ren Landbereich keilförmig in den südlichen Teil des Jerusalemer Be-
zirks hineinragte, immer mehr in die jüdische Einflußsphäre hinein-
gezogen wurden und anscheinend auch Neigung zu einer kulturellen
Verschmelzung mit den Juden an den Tag legten. Dieser Assimilie-
rungsprozeß mußte in dem Augenblick, als Judäa seine politische Un-
abhängigkeit errungen hatte, bedeutend an Kraft gewinnen, um so
mehr als Edom infolge der Wegnahme seiner östlichen Besitzungen
durch die Araber, die um diese Zeit in der Nähe des Toten Meeres
das kraftvolle Nabatäerreich mit der Hauptstadt Petra (das ehe-
malige Sela der Edomiter) gründeten, empfindlich geschwächt war.
Jochanan-Hyrkanus machte sich nun daran, den übriggebliebenen Teil
des in so gefährlicher Nachbarschaft von der jüdischen Hauptstadt
gelegenen Edom seinem Staate einzuverleiben und so den Prozeß der
Judaisierung der Edomiter zu Ende zu führen. Er eroberte zunächst
ihre festen Städte Adora und Marissa (das biblische Marescha), zwi-
schen Hebron und Gaza, und besetzte sodann auch das ganze Land.
Um der Verschmelzung der Edomiter mit dem ihnen blutsverwandten
106
§ 22. Jochanan und die Erweiterung des Herrschaftsbereiches Judäas
jüdischen Volke feste Formen zu geben, versuchte Jochanan ihre Be-
kehrung zur jüdischen Religion. Er gestattete nämlich nur denjeni-
gen von den Eingeborenen, im Lande zu bleiben, die das „jüdische Ge-
setz“ anzunehmen bereit waren. Die Edomiter (oder wenigstens ein
großer Teil von ihnen) fügten sich dieser Forderung. Sie unterzogen
sich auch der Beschneidung als dem Symbol des Übertritts zum Ju-
dentum. Mit der Zeit glichen sich die Edomiter so völlig den Juden;
an, daß aus ihrer Mitte späterhin sogar bedeutende Staatsmänner:
Judäas hervorgingen (Antipater) und selbst der Begründer einer neuen
königlichen Dynastie (Herodes) war edomitischen Stammes. Diese po-
litische und religiöse Inkorporierung einer ganzen Völkerschaft mochte
wohl dem Stolze der offiziellen jüdischen Patrioten Zusagen, das
Volk aber empfand kaum Freude über diese unverhoffte Vermehrung
seiner Zahl. Die judaisierten Edomiter galten im Volke noch
lange Zeit als Halb-Juden („hemijoudaioi“ bei Josephus), und diese
unfreundliche Gesinnung verschärfte sich noch ganz besonders hun-
dert Jahre später, als ein Abkömmling der Edomiter, der König Hero-
des, Judäa in einen hellenistischen, halb-jüdischen Staat zu verwan-
deln suchte. Der Bezwinger Edoms, Jochanan-Hyrkanus, konnte nicht
voraussehen, daß die Abkömmlinge der unterworfenen Völkerschaft
einst über das Los der Hasmonäerdynastie entscheiden sollten, daß
seine Nachkommen durch einen König edomitischer Abstammung ihrer
Macht und sogar ihres Lebens beraubt werden würden.
Anders verhielt sich der Fürst zu dem nördlichen, halbisraelitischen
Samaritanersiamme, dem die ehemaligen Führer Judäas, Serubbabel
und Nehemia, den Anschluß an den nationalen Bund verwehrt hat-
ten. Es bestand anscheinend für die jüdische Nation gar keine Hoff-
nung, diese ihr feindlich gesinnte Völkerschaft assimilieren zu kön-
nen, da sie sich durch den Fanatismus einer religiösen Sekte aus-
zeichnete und sich im Umkreis von Sichern, mitten im Herzen Palä-
stinas, gesammelt um den ihr heiligen Berg Gerisim, auf dem sich
der samaritanische Tempel, der Rivale des Jerusalemer Tempels, er-
hob, ganz von der Umwelt abgeschlossen hatte. Das zwischen den
eigentlichen Gebieten Judäas und den hellenisierten Städten Galiläas
gelegene samaritanische Sichern schnitt die südlichen Juden von ihren
nördlichen galiläischen Stammesgenossen ab und erschwerte in hohem
Maße die Aufgabe der Wiedervereinigung der Randgebiete Palästi-
nas mit dessen Mittelpunkt. Von diesen politischen Erwägungen mochte
i37
Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus
sich Hyrkanus leiten lassen, als er den Vernichtungsfeldzug gegen die
Samaritaner unternahm (um 120). Er eroberte ihre Hauptstadt Si-
chern und zerstörte den drei Jahrhunderte früher, nach der nationa-
len Restauration Esras und Nehemias, auf dem Berg Gerisim errich-
teten Tempel. Diese Zerstörung des samaritanischen religiösen Mittel-
punkts wurde als ein so bedeutsames Ereignis angesehen, daß es von
den Juden durch Einrichtung eines alljährlichen Gedenktages („Tag
des Gerisim“, 21. Kislev) ausgezeichnet wurde. Der Sieg Hyrkanus'
untergrub für immer die politische Bedeutung der Samaritaner. Sie
blieben von nun ab nur noch ein schwaches Völkchen, das sich krampf-
haft an die Überreste seiner religiösen Traditionen klammerte und im-
mer mehr den Charakter einer geschlossenen Sekte annahm.
Um die Scheidewand zwischen dem Süden und dem Norden Palästi-
nas endgültig zu zerstören, schickte sich Jochanan-Hyrkanus nun an,
auch das hellenisierte Gebiet des mittleren Palästina, den ehemaligen
Mittelpunkt des Reiches Israel, wo sich jetzt die freien, von
Syro-Griechen bewohnten Städte Samaria und Skythopolis befanden,
seiner Gewalt zu unterwerfen. Diese unter syrischem Protektorat ste-
henden Städte bildeten ein Vorgeschobenes Bollwerk der feindlichen
Macht dicht vor den Toren Judäas, im Jesreeltale. Ein Zusammenstoß
zwischen den heidnischen Einwohnern Samarias und jüdischen An-
siedlern gab dem jüdischen Fürsten Anlaß, seine Truppen zur Züch-
tigung der Stadt zu entsenden. An der Spitze des Samaria belagern-
den Heeres standen die Söhne Hyrkanus’: Aristobulus und Antigonus,
Die bedrängten Samaritaner riefen den damaligen syrischen König
Antiochus IX. Kysikenos zu Hilfe. Der König erschien denn auch
mit seinen syrischen Truppen, wurde aber von den Juden zurückge-
schlagen. Da berief Antiochus Kysikenos ägyptische Hilfstruppen nach
Judäa und begann mit ihrer Hilfe das Land zu verwüsten, um so die
Juden abzuschrecken und zur Aufhebung der Belagerung Samarias
zu zwingen. Nachdem Antiochus sich jedoch auch diesmal eine Nie-
derlage geholt hatte, zog er sich zurück und übertrug die Fortset-
zung des Krieges seinen Feldherren Kallimander und Epikrates. Mit
diesen wurden aber die Juden sehr bald fertig. Das Heer des Kalli-
mander wurde geschlagen, während Epikrates an dem syrischen Kö-
nig Verrat beging, indem er die Stadt Skythopolis den Juden für eine
Geldbelohnung überließ. Die Belagerung Samarias dauerte noch ein
volles Jahr, bis sich schließlich auch diese Stadt den Juden ergab.
i38
J
i
§ 23. Die innere Verfassung. Das Synhedrion
Die Sieger übten keine Nachsicht und machten die Stadt dem Erd-
boden gleich (zwischen iio und 107). Eine talmudische Legende be-
richtet, daß am Tage des Sieges des Antigonus und Aristobulus ihr
Vater, der als Hohepriester den Gottesdienst im Jerusalemer Tempel
versah, plötzlich eine aus dem Allerheiligsten kommende geheimnis-
volle Stimme vernahm: „Gesiegt haben die Kinder, die in den Krieg
gegen Antiochus zogen“. Der Tag der Zerstörung Samarias (2 5. Chesch-
van) gehörte seitdem zu den nationalen Festtagen („Megillath Taa-
nith“).
§ 23. Die innere Verfassung. Das Synhedrion
Dank den Erfolgen der ersten hasmonäischen Fürsten erweiterte
sich das Landgebiet Judäas, wodurch auch für die Staatsverwaltung
bedeutende Komplikationen entstanden. Gleich Simon trug auch Jo-
chanan noch nicht den Titel eines „Königs“, sondern begnügte sich
mit denjenigen eines Fürsten oder „Ethnarchen“ und eines Hohe-
priesters. Dem Hohepriestertitel mag in jener Zeit die größere Be-
deutung beigemessen worden sein, denn ihn eben findet man auf den
damals geschlagenen Münzen. Diese tragen in hebräischen Schrift-
zeichen die Aufschrift: UH 1 pinn'’ („Jochanan der
Hohepriester und die Gemeinde der Juden“); auf einigen Münzen
lautet der zweite Teil der Inschrift: D^TirPH UH fcSWl („das Haupt der
Gemeinde der Juden“). Im Texte der ersten Aufschrift tritt der
kollegiale Geist der damaligen Verwaltung deutlich zutage: die
Münzen wurden nicht nur im Namen des regierenden Hohepriesters
geprägt, sondern auch in dem der Volksversammlung oder des
höchsten Verwaltungsorgans von der Art eines Staatsrates1). Die
zweite Aufschrift hebt hingeigen nur die Persönlichkeit des Jo-
chanan-Hyrkanus, als des Hohepriesters und des Hauptes der Regie-
rung, hervor.
Es entsteht nun die Frage: wie mag diese Regierung zusammenge-
setzt gewesen sein, wie verteilte sich im Judäa der Hasmonäerepoche
die gesetzgebende, vollziehende und gerichtliche Gewalt? Der äußerste
!) Daß „Cheber“ soviel wie „Versammlung“ oder „Rat“ bedeutet, ist daraus
zu ersehen, daß in einer dieser Epoche nahestehenden Quelle, der Mischna, die
Bezeichnung „Cheber“ des öfteren im Sinne von „Stadtrat“, Magistrat gebraucht
wird (s. Kohut, Aruch, v. I^n).
139
Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus
Mangel an zuverlässigen Nachrichten über den inneren Aufbau des
hasmonäischen Staates macht es unmöglich, diese Frage mit genü-
gender Sicherheit zu beantworten. Man kann nur in Form von Ver-
mutungen die Hauptzüge der damaligen Staatsordnung nachzuzeich-
nen versuchen.
Der höchste Volksältestenrat bestand in Jerusalem in einer für
uns bis jetzt nicht ganz klaren Form schon seit der Entstehung der
jüdischen Theokratie und dem Zeitalter der „Großen Synagoge“ (S.
Band I, § 81). Auch noch in der Epoche der griechischen Herrschaft
tritt uns diese Institution in verschwommenen Umrissen als „Geru-
sia“ oder als ein aristokratischer Senat entgegen, der von dem Hohe-
priester, als dem offiziellen Vertreter Judäas der souveränen Gewalt
gegenüber, geleitet wird1). In den Jahren des hasmonäischen Be-
freiungskrieges tritt die Jerusalemer Gerusia oft neben den Volks-
führem Juda, Jonathan und Simon hervor. Die hasmonäische Um-
wälzung, die Judäa zu einem unabhängigen Staate machte unc^
eine neue Priesterdynastie an die Spitze setzte, mußte auch eine
grundlegende Änderung sowohl in dem Wirkungskreis als auch in der
Zusammensetzung der „Gerusia“ mit sich bringen. Aus einem Organ
der untergeordneten Selbstverwaltung wird sie nun zu einem Organ
der höchsten Staatsgewalt, zu einem Staatsrat. An der Spitze dieser
kollegialen Behörde steht jetzt der Fürst-Hohepriester, der Reprä-
sentant der unabhängigen Staatsgewalt Judäas, und zu ihren Mit-
gliedern gehören nunmehr nicht nur Vertreter von geistlichen, son-
dern auch schon von politischen Parteien. Unter der obenerwähn-
ten Bezeichnung „Cheber ha’jehudim“ tritt uns dieser Staatsrat auf
den Münzen neben dem Namen des Fürsten-Hohepriesters entgegen.
Dieser umgebildete Staatsrat, dessen Betätigungsfeld sich bedeutend
erweitert hatte, erhielt in der Hasmonäerzeit den griechischen Namen
Synhedrion (Versammlung, Rat), der sich bald unter den Juden ein-
bürgerte und mit der hebräischen Bezeichnung: Großes „Beth-din“
oder Gerichtsstätte („Beth-din ha’gadol“) gleichbedeutend wurde.
Ob diese Bezeichnung bereits unter Jochanan-Hyrkanus oder jaber
erst später, unter einem seiner Nachfolger, in Umlauf kam, ist nicht
1) Oben, §§ 4 und 5. In dem dort erwähnten Erlaß Antiochus III. wird ein
,,Ältestenrat (Gerusia) im Zusammenhang mit der Vertretung des Priester- und
Gelehrtenstandes erwähnt (Ant. XII, 3, § 3).
§ 23. Die innere Verfassung. Das Synhedrion
mit Gewißheit zu sagen1). Jedenfalls erhielt unter diesem Herr-
scher der oberste Rat oder der Senat zu Jerusalem sein festes Ge-
füge, das sich dann in der Folgezeit der jeweiligen politischen Lage
anpaßte.
Auf Grund der dürftigen Hinweise der erhaltengebliebenen Quel-
len (Josephus, Mischna) ist es nur möglich, sich ein annähernd ge-
naues Bild von dem höchsten Staatsorgane Judäas während der Has-
monäerzeit und der Zeit der Herodesdynastie zu machen. Offiziell
stand an der Spitze des Synhedrion der Hohepriester (unter den
Hasmonäern der Fürst oder der König, der zugleich auch die höchste
geistliche Würde innehatte); er war der Präsident des Synhedrion
(„Nassi“); des öfteren vertrat ihn jedoch als Vizepräsident das äl-
teste rechtskundige Mitglied, das den Titel „Vater der Gerichtsstätte“
(Ab-Beth-din) führte. Das Haupt- oder das Große Synhedrion zu
Jerusalem setzte sich aus einundsiebzig Mitgliedern zusammen; zur
Gültigkeit der Beschlüsse genügte indessen schon die Anwesenheit
von dreiundzwanzig Mitgliedern, die das „Kleine Synhedrion“ bilde-
ten. Einer anderen Vermutung zufolge bildete das dreiundzwanzig-
gliedrige Synhedrion nur eine Sektion des in drei „kleine Synhedrien“
zu je dreiundzwanzig Mitgliedern eingeteilten Großen Synhedrion;
die gemeinsame Sitzung dieser drei Sektionen, zu denen noch der
Präsident und sein Stellvertreter hinzukamen, ergab dann die aus
einundsiebzig Mitgliedern sich zusammensetzende Vollversammlung,
die als solche das Große Synhedrion genannt wurde. Die Sitzun-
gen fanden in einem der äußeren Tempelräume statt, der unter dem
Namen „Lischkath ha’gasith“ („Quadernhalle“) bekannt ist. Die ein-
zelnen Sektionen des Synhedrion hielten ihre Sitzungen auch in an-
deren Tempelräumlichkeiten ab. Zu den Mitgliedern des Synhedrion
gehörten Vertreter des Adels, Priester, Richter, Gelehrte und Rechts-
kundige.
Die Kompetenz des Jerusalemer Synhedrion erstreckte sich vor
allem auf die Beschlußfassung in Gesetzgebungsfragen und auf die
1) Der Staatsrat oder das oberste Gericht zu Jerusalem wird unter dem Namen
Synhedrion von Josephus zuerst bei der Schilderung der späteren Zeit Hyrkans II.,
um 47 v. d. ehr. Ära, erwähnt (Ant. XIV, 9). Dagegen gebraucht Josephus den
Ausdruck „Synhedrion“ zur Bezeichnung von provinzialen Verwaltungsbehörden
schon bei der Darstellung der Verfassung Judäas nach der Unterwerfung durch
Pompejus im Jahre 63 (Ant. XIV, 5; in Bellum I, 8, § 5 heißen jedoch diese
Körperschaften „Synoden“).
i4i
Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus
Entscheidung wichtigster Gerichtssachen. Da jedoch der gesamten jü-
dischen Gesetzgebung der geheiligte Thorakodex mit all seinen un-
antastbaren Vorschriften zugrunde lag, so beschränkten sich die Auf-
gaben des Synhedrion formell auf die Auslegung der einen oder der
anderen Bestimmung des Gesetzbuches für den vorliegenden prakti-
schen Rechtsfall; in Wirklichkeit erweiterte sich aber diese „Aus-
legung“ bis zu den Grenzen selbständiger Rechtsschöpfung, wie sie
das im Flusse befindliche Leben gebieterisch verlangte. Welchen An-
teil diese Körperschaft an der Staatsverwaltung hatte, ist nicht ganz
klar. Die spätere (talmudische) Überlieferung spricht dem Synhe-
drion Kompetenzen, wie Entscheidung über Krieg und Frieden, Er-
nennung von lokalen Richtern und Beamten und dergl. zu; von den
gerichtlichen Funktionen hebt sie besonders die Entscheidung in Sa-
chen der Verführung von Juden zum Abfall vom wahren Glauben her-
vor, ferner die Aburteilung eines „falschen Propheten“, d. i. des Pre-
digers einer neuen Religion, sowie eines vom rechten Wege abgeirr-
ten Hohepriesters. In den Schilderungen des alten Historiographen
Josephus tritt das Synhedrion als oberster Gerichtshof für politische
Strafsachen erst unter Hyrkanus II., dem Enkel des Jochanan-Hyr-
kanus, auf (im Zusammenhang mit der Züchtigung Galiläas durch den
jungen Herodes; vgl. unten, § 43), was indessen auf das Bestehen
einer solchen Praxis schon seit längerer Zeit, schon unter den ersten
hasmonäischen Herrschern, hinweist. Das Synhedrion überwachte auch
noch die priesterlichen Stammbäume, sorgte für die Reinheit der
Ehen und führte zu diesem Behufe besondere Geschlechtsregister,
stellte mit dem Kalender zusammenhängende Beobachtungen an, be-
rechnete die Zeitläufte, um die Feiertage festsetzen zu können, und
sorgte überdies noch für die Ordnung des Gottes- und Opferdienstes
im Jerusalemer Tempel.
Die Zusammensetzung des Synhedrion war ziemlich bunt. Ihm ge-
hörten Staatsmänner und Gelehrte, Tempelpriester und Laien, Ver-
treter des Geschlechtsadels und rechtskundige Richter an. Unter den
ersten Regenten aus der Hasmonäerdynastie herrschten im Synhe-
drion anscheinend die weltlichen und geistlichen Würdenträger vor,
später waren jedoch die Vertreter des Gelehrtenstandes, erfahren in
der Rechtsauslegung und streng in der Hochhaltung der nationalen
Gebote, dominierend. Diese Änderung in dem Staatsrate Judäas hing
unmittelbar mit jenem Kampf der beiden politischen Parteien, der
§ 24. Die politischen Parteien der Pharisäer und Sadduzäer
Sadduzäer und Pharisäer, zusammen, der schon unter Jochanan-Hyr-
kanus einsetzte und dann unter seinen Nachfolgern sich besonders
verschärfte.
§ 24. Die politischen Parteien der Pharisäer und Sadduzäer1)
Die Wiederherstellung des unabhängigen Judäa nach der vier Jahr-
hunderte langen Fremdherrschaft stellte die Führer des Volkes vor
ein schwieriges Dilemma: sollte das jüdische Volk zu einer politischen
Nation werden, gleich den anderen Völkern seines Ranges, oder sollte
es vornehmlich eine geistige Nation mit einer nach dem Abstreifen
des fremden Joches nur zu freierer Entfaltung gelangten theokrati-
schen Verfassung bleiben? Sollte das zu einem selbständigen Staate
gewordene Judäa sich von der vorhergegangenen jahrhundertelangen
Evolution lossagen und zu einem gewöhnlichen Staatswesen werden,
das gleich jedem anderen regen Anteil an dem Getriebe der inter-
nationalen Politik nimmt, Krieg führt, Bündnisse schließt und die
Erweiterung seines Landgebietes und seiner Einflußsphäre anstrebt?
Oder aber sollte es als eine geistig-nationale Organisation, als eine
„civitas Dei“, die errungene Unabhängigkeit nur zur Vervollkomm-
nung des inneren Lebens nützen, ohne auf dem Gebiete der auswär-
tigen Politik mit den Nachbarn wetteifern zu wollen, und seine ihm
allein eigentümliche geistige Form des Gemeinwesens, die solange
das Kennzeichen des „auserwählten Volkes“ gebildet hatte, zu be-
wahren suchen?
Es war dies eine brennende Frage, die eine unverzügliche Ent-
scheidung heischte. Die ersten Hasmonäerfürsten führten Judäa den
Weg der zur Selbsterhaltung wie zur wirtschaftlichen Entwicklung
unerläßlichen Machtausdehnung. Simon kämpfte um den freien Zu-
tritt zum Meere; Jochanan-Hyrkanus erstrebte die Erweiterung des
Herrschaftsbereiches seines Landes und die Sicherung der Grenzen.
Den Fürsten schloß sich die jüdische Priester- und Beamtenaristo-
kratie an sowie auch der ganze weltlich gesinnte Teil der Gesellschaft,
der sich die geläufigen hellenischen Anschauungen über Staat und
Gesellschaft angeeignet hatte. Gegen diese Verwandlung Judäas in
einen gewöhnlichen militärisch-politischen Organismus trat indessen
jener theo-demokratische, religiös denkende Teil der Gesellschaft auf,
*) S. Anhang, Note 2, am Schlüsse des Bandes.
i43
Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus
der von den Traditionen der Soferim und Chassidäer durchdrungen
war und von einer friedlichen geistigen Republik, von einer eigenar-
tigen gesellschaftlichen Ordnung, von der Vorherrschaft des religiös-
sittlichen Prinzips im Gemeinwesen, von einer ganz außergewöhnli-
chen, gesonderten Stellung des Judentums unter den anderen Natio-
nen träumte. Dieser Richtung schloß sich der Gelehrtenstand und die
im Geiste der Theokratie erzogene Volksmasse an, bei der das natio-
nale Gefühl mit dem religiösen verschmolzen, die im Laufe von vier
Jahrhunderten der internationalen Politik gänzlich entfremdet wor-
den und nur um ihre innere Autonomie besorgt war.
In der Regierungszeit des Jochanan-Hyrkanus führte nun diese
grundsätzliche Meinungsverschiedenheit in der Frage der Aufgaben
des Staates zur Bildung zweier Parteien: der Sadduzäer (Zaddukim)
und der Pharisäer (Peruschim). Die erste erhielt anscheinend ihren
Namen von den an ihrer Spitze stehenden „Zadokiten“, d. i. den Nach-
kommen des alten Priestergeschlechts Zadoks, aus dem während der
letzten Jahrzehnte der syrischen Herrschaft die hellenistisch gesinn-
ten Hohepriester hervorgegangen waren. Nun durch die neue Has-
monäerdynastie von dem Hohepriestertum abgedrängt, nahmen die
Zadokiten doch noch immer eine hervorragende Stellung unter der
Tempelpriesterschaft sowie unter der Beamten-, Militär- und Geldari-
stokratie ein, und übten so einen bedeutenden Einfluß auf die Staats-
geschäfte aus. Sie und ihre Anhänger, die Sadduzäer, waren bestrebt,
eine Trennung von Staat und Religion herbeizuführen, soweit dies bei
einer auf der Thora als der unwandelbaren jüdischen Verfassung be-
gründeten Gesetzgebung möglich war. Sie behielten nur die äußeren
Formen, den Buchstaben dieser Verfassung bei, bauten aber in Wirk-
lichkeit ihren Staat nach dem Vorbild aller politischen Organisatio-
nen des hellenisierten Orients auf. Die Sadduzäer waren die unmit-
telbaren Nachfolger jener gemäßigten Hellenisten, die in der Epoche
der griechischen Herrschaft der weltlichen Kultur den Vorrang vor
der geistlichen im jüdischen Leben zu verschaffen bestrebt waren.
Zu dieser Partei gehörte jene Oberschicht der Gesellschaft, die dank
ihrer sozial-wirtschaftlichen Lage mit den entsprechenden Kreisen der
griechisch-syrischen Gesellschaft in Berührung kam und sich deren
Vorstellungen von einem zivilisierten Staat zu eigen machte. Von dem
Wunsch erfüllt, die Entwicklung Judäas in die Bahn derjenigen Sy-
riens, Ägyptens und anderer Staaten der damaligen zivilisierten Welt
i44
§ 24. Die politischen Parteien der Pharisäer und Sadduzäer
zu lenken, suchten die Sadduzäer die die Juden von den anderen Kultur-
völkern unterscheidenden und so sehr hervorstechenden nationalen Ei-
gentümlichkeiten auf jede Weise abzuschwächen. Sie erkannten frei-
lich die Thora als die heilige Verfassung Judäas an, achteten sie je-
doch nur als ein Erbe der Vorzeit, als ein Vermächtnis der Ahnen,
das man zwar in allen Ehren hält, von dem man sich aber im prak-
tischen Leben nur selten leiten läßt. Man solle, meinten sie, den Buch-
staben der Thora in aller Form befolgen, jedoch nur auf genau
begrenzten Gebieten, ohne ihren Geist und Sinn auf das ganze Leben
des Menschen erstrecken zu wollen. Die alte Tradition und das fort-
schreitende Leben könnten, so meinten sie, nur mechanisch ver-
bunden, nicht aber organisch vereinigt werden. Man könne, sagten
sie sich, konservativ in der Religion und doch in der Politik dem
Geiste der neuen Zeit gefügig sein. Die Gebote der Religion solle
man wahren, nicht aber zwecks Reglementierung des Lebens weiter
entwickeln und vermehren, wie es die Soferim seit den Zeiten Esras
getan hatten; zur alten schriftlichen Lehre sollte keine neue „münd-
liche“ in der Form von Überlieferungen oder Interpretationen hin-
zugefügt werden. Die Thora, hieß es, sei ein für allemal abgeschlossen,
das Leben aber gehe seine Wege, und diesen müsse man sich nun an-
passen.
In schroffem Gegensatz zu dieser Richtung standen die Phari-
säer, deren Wahlspruch nationale Eigenart und Absonderung war.
Schon die Benennung dieser Partei bedeutete: Abgeteilte, Abgeson-
derte1). Der letzterwähnte Ausdruck mochte einen doppelten Sinn
haben: er bedeutete sowohl die nationale Abgesondertheit der Juden
von den anderen Völkern als auch die persönliche religiöse Zucht,
die den frommen Juden veranlaßte, allem zu entsagen, was der Rein-
heit des Glaubens, dem sittlichen Lebenswandel, den Vorschriften der
Thora und den mündlichen Überlieferungen zuwider war. Die Phari-
säer waren bestrebt, Judäa aus der Menge der es umgebenden Staaten
herauszuheben und hier eine geistige Republik zu begründen, wo das
Recht mit der Moral, mit dem göttlichen Gesetz Hand in Hand ge-
1) Der hebräische Ausdruck ,,Perischuth“ ist mit dem griechischen Amixia
identisch, der nach Josephus (Ant. XII, 8, 3) das bei den Juden geltende Verbot,
mit Andersgläubigen in Verkehr zu treten oder sich zu „vermischen“, kennzeich-
nete. Im weiteren Sinne heißt „Perischuth“ soviel wie „Zurückhaltung von der
Sünde“, Gottesfurcht und sittliche Strenge.
10 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
i45
Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus
hen, wo die religiösen, die sittlichen Heldentaten, nicht aber militäri-
sche oder politische Erfolge, am höchsten bewertet werden sollten.
Aus der von den Hasmonäern errungenen Unabhängigkeit wollten
die Pharisäer nur den einen Vorteil ziehen: sie wollten die unbe-
schränkte Selbstverwaltung im Inneren genießen, ohne mit den In-
teressen einer übergeordneten souveränen Macht rechnen zu müssen,
ohne sich überhaupt um die Außenpolitik zu kümmern; die Saddu-
zäer dagegen wollten durch die Unabhängigkeit des Landes gerade
das Gegenteil erreichen: den Eintritt Judäas in die internationale Fa-
milie als eines aktiven Teilnehmers an der Weltpolitik. Standen die
Sadduzäer in genetischem Zusammenhänge mit ihren Vorgängern, den
Hellenisten, so waren die Pharisäer nicht minder die unmittelbaren
Nachfolger der Chassidäer und Soferim. Im Judaismus als einer re-
ligiös-sittlichen und nationalen Weltanschauung erblickten sie jene
schöpferische Kraft, von der alle Gebiete des Volkslebens durchdrun-
gen werden sollten. Sie schätzten allerdings die politische Unabhängig-
keit Judäas, jedoch nur als eine zur Erhaltung des Kerns, der kul-
turellen Eigenart der Nation, unentbehrliche Umhüllung. An der Spitze
der Pharisäerpartei standen Männer, die sich durch edle geistige Ga-
ben, durch Schriftgelehrsamkeit, frommen Lebenswandel und sitt-
lichen Rigorismus auszeichneten. Die Anhänger der Pharisäer ent-
stammten vornehmlich den mittleren Volksschichten, und ihre Partei
kann daher als eine demokratische gelten im Vergleich zu der Partei
der Sadduzäer, der Vertreter des Bluts- und des Beamtenadels. Für
die Pharisäer gingen die Interessen der Nation denjenigen des Staates
voran. Die geschichtliche Erfahrung lehrte sie, daß diese national-
demokratischen Interessen am besten durch ein theokratisches Regime
gesichert werden konnten, d. i. durch die Vorherrschaft der Thora
als einer von Gott gegebenen Verfassung, die dem geltenden Rechte
als Grundlage zu dienen hatte. Da die geschriebenen Normen der
Thora nicht das Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit zu umfas-
sen vermochten, so sollten sie durch mündliche Traditionen einerseits
und durch juristische Auslegung andererseits vervollkommnet wer-
den. Das gesamte Volksleben im Geiste der Thora zu regeln und so
zur Hebung der nationalen Zucht beizutragen — dies erschien den
Pharisäern als das sicherste Mittel zur Erhaltung der Nation.
In dem langwierigen Kampfe zwischen den Sadduzäern und Pha-
risäern waren die politischen Motive mit den religiösen aufs innigste
i46
§ 25. Der Bruch des Jochanan-Hyrkanus mit den Pharisäern
verflochten, jedoch herrschten um diese Zeit die politischen Motive
noch vor. Die religiösen und dogmatischen Streitigkeiten, die Mei-
nungsverschiedenheiten in der Auslegung der Thoragesetze und in
deren Anpassung an das im Flusse begriffene Leben — all dies,
worauf die Geschichtsschreiber gewöhnlich das eigentliche Wesen die-
ser Parteikämpfe zurückführen, trat in den Vordergrund erst viel
später und gewann gerade in dem Maße an Bedeutung, in welchem
die Lebensenergie des jungen Staates schwand und die Tragweite der
geistigen Verteidigung im Vergleich zu der der politischen Selbster-
haltung zunahm1). Derselbe alte Historiograph (Josephus), der in
seiner rein theoretischen Kennzeichnung der beiden Parteien ganz be-
sonders die sie trennenden religiös-dogmatischen Ansichten betont,
die zu seiner Zeit, anderthalb Jahrhunderte nach der Entstehung des
Widerstreites, in den gegenseitigen Beziehungen der Parteien auch in
der Tat vorwalteten, hebt in seiner Darstellung der Ereignisse aus der
Hasmonäerzeit selbst den rein politischen Charakter der Kämpfe zwi-
schen diesen Parteien hervor und schildert ihren Kampf um die
Macht, um den überwiegenden Einfluß auf den König, um die Vor-
herrschaft im Staatsrat oder Synhedrion, sowie den Kampf für oder
wider die Eroberungspolitik. Die von dem alten Historiker mitgeteil-
ten Tatsachen lassen keinen Zweifel darüber, daß der politische Kampf
zwischen den Pharisäern und den Sadduzäern, der unter Jochanan-
Hyrkanus seinen Anfang genommen hatte, auch unter dessen Nach-
folgern unausgesetzt fortdauerte und sich manchmal bis zum äußer-
sten zuspitzte, bis dann Pompe jus an die Tore Jerusalems pochte;
aber auch später noch gaben, wie ehedem, gerade die politischen Mo-
tive in dem Widerstreit der beiden Parteien gar oft den Ausschlag.
§ 25. Der Bruch des J ochanan-Hyrkanus mit den Pharisäern
Der Kampf der Pharisäer mit den Sadduzäern um die Beein-
flussung der Staatsverwaltung ließ in den letzten Jahren des Jocha-
nan-Hyrkanus auch die oberste Gewalt nicht aus dem Spiel. Die Pha-
risäer waren mit der Regierung dieses Fürsten nicht zufrieden. Ihnen
mißfiel seine Vorliebe für kriegerische Unternehmungen, die Judäa
in die internationalen Machtkämpfe verwickelten, die aber von den
Sadduzäern als Staatsnotwendigkeit angesehen wurden. Der Fürst-
■*■) S. unten, § 35, sowie Anhang, Note 2.
10*
i47
Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus
Hohepriester selbst schwankte zwischen den beiden im Synhedrion
vertretenen Parteien. Zu Beginn seines Fürstentums scheint er den
Ratschlägen der Pharisäer, die der Pflege der geistigen Bedürfnisse
des Volkes galten, Folge geleistet zu haben. Solange der Fürst den
Verteidigungskrieg gegen den Jerusalem belagernden Antiochus Si-
detes führte, gehörten ihm denn auch die ungeteilten Sympathien der
Pharisäer. Als er sich aber dann auf die Eroberungspolitik verlegte,
verlor er ihre Freundschaft ganz. Ihnen kam es überhaupt ungele-
gen, daß die immer komplizierter werdende Außenpolitik die Auf-
merksamkeit des Fürsten gänzlich von dem geistig-kulturellen Gebiet
ablenkte. Es schien ihnen ungeziemend zu sein, daß der vor dem Heere
einherziehende Fürst zugleich auch die Obliegenheiten eines Hohe-
priesters versehe, daß er seine Tatkraft zwischen Schlachtfeld und
Tempel teile. So ward in den Streit der politischen Parteien die Person
des Fürsten-Hohepriesters selbst hineingezogen. Dies machten sich nun
die Sadduzäer, die das Regierungssystem des Jochanan-Hyrkanus in
jeder Weise guthießen, zunutze und stachelten ihn gegen die phari-
säische Opposition auf, bis es ihnen gelang, einen völligen Bruch zwi-
schen dem Fürsten und den Pharisäern herbeizuführen.
Die unmittelbare Veranlassung zu diesem Bruche gab folgende Be-
gebenheit1). Jochanan veranstaltete einmal ein Gastmahl, zu dem auch
viele einflußreiche Pharisäer geladen waren. Beim Gelage ersuchte
der Fürst seine Gäste, ihm freimütig zu erklären, ob er in seinen Re-
gierungshandlungen je von den göttlichen Geboten (der Thora) ab-
gewichen wäre, und wenn dies der Fall gewesen sei, wenn er tat-
sächlich geirrt hätte, so bat er, ihm die Wahrheit zu sagen, ihn auf
den rechten Weg zu weisen und ihn so vor ähnlichen Verfehlungen
in Zukunft zu bewahren. Von der Bescheidenheit und der Aufrichtig-
keit des Fürsten tief gerührt, priesen die Anwesenden einhellig seine
Regierung. Nur einer von den Pharisäern, namens Eleasar, erhob
sich und sagte: „Wenn du gerecht sein willst (eine andere Lesart:
„Wenn du die Wahrheit zu erfahren wünschest“), so lege die Hohe-
priesterwürde nieder und begnüge dich, über das Volk zu herrschen!“
1) Diese Erzählung scheint ihrer Grundlage nach, ungeachtet der sagenhaften
Ausschmückungen, durchaus historisch zu sein, da sie uns in zwei voneinander un-
abhängigen Quellen erhaltengeblieben ist (Ant. XIII, io und talmud. Trakt. Kid-
duschin, 66). Da in der talmudischen Überlieferung Namen und Einzelheiten ver-
wirrt zu sein scheinen (König Jannäus statt Jochanan, der Pharisäer Jehuda statt
Eleasar usw.), so halten wir uns an die Wiedergabe des Josephus.
i48
§ 25. Der Bruch des Jochanan-Hyrkanus mit den Pharisäern
Als der Fürst ihn dann nach dem Grunde seiner Forderung fragte,
erwiderte der kühne Pharisäer: „Weil wir von den Alten hören, daß
deine Mutter unter Antiochus Epiphanes gefangen gewesen ist“. (Der
Sohn einer Kriegsgefangenen durfte von Rechts wegen nicht Priester
sein, da das Verweilen der Mutter in Gefangenschaft die Makellosig-
keit der Abstammung in Frage stellte). Diese Äußerung, die sich
später (auf Grund einer besonderen Nachforschung, wie eine andere
Überlieferung wissen will) als völlig grundlos erwies, verletzte Jo-
chanan-Hyrkanus selbst zutiefst und betrübte auch seine Freunde.
Die dem Hofe nahestehenden Sadduzäer versäumten nicht, diesen
Umstand zu ihrem Vorteil auszubeuten, und stachelten den Fürsten
gegen die Pharisäer auf. Der Freund des Jochanan-Hyrkanus, der
Sadduzäer Jonathan, suchte ihm einzureden, die kühne Äußerung des
Eleasar sei nichts als der Ausdruck der die ganze Pharisäerpartei er-
füllenden feindseligen Gefühle. Seinem Rate folgend, verlangte der
Fürst von den Pharisäern, sie möchten selbst die von Eleasar wegen
Ehrabschneidung und Verleumdung verdiente Strafe bestimmen. Die
Pharisäer verurteilten Eleasar wegen gewöhnlicher Beleidigung zu einer
verhältnismäßig geringfügigen Strafe: zu „Schlägen und Banden“.
Hyrkanus, der eine viel strengere Bestrafung erwartet hatte, glaubte
nun daraus schließen zu müssen, daß den Pharisäern das Vergehen
des Eleasar ziemlich harmlos erscheine, während der sadduzäische
Höfling Jonathan den Fürsten seinerseits noch zu überzeugen suchte,
die Pharisäer hätten an der schroffen Herausforderung ihres Gesin-
nungsgenossen sogar Gefallen gefunden.
Jochanan-Hyrkanus war es sicherlich schon früher bekannt ge-
worden, daß unter den Pharisäern über die Vereinigung der Würde
des Hohepriesters und des F eldherrn-Fürsten in einer Person Unzu-
friedenheit herrschte. Die verletzende Form jedoch, in die der Pha-
risäer Eleasar die Verwahrung kleidete, entfremdete die Pharisäer-
partei dem Fürsten endgültig. Zuletzt schloß er sich ganz an die Sad-
duzäer an, die so zu maßgebendem Einflüsse am Hofe gelangten.
Auf ihre Einflüsterungen hin beseitigte er alle von den Pharisäern
als rechtmäßige oder überlieferungstreue Thora-Interpretationen auf-
gestellten Gesetze. Fortan gewannen die Sadduzäer im Obersten Rat
oder im Synhedrion die Oberhand und behielten dann noch lange die
Zügel der Regierung fest in Händen.
Diese innere Zwietracht vermochte jedoch bei der Nachwelt die
i49
Die Fürsten Simon und Jochanan-Hyrkanus
lichten Erinnerungen an die glückliche Zeit der Regierung des Jocha-
nan-Hyrkanus nicht gänzlich in den Schatten zu stellen1). Man müßte
in der Tat weit in die jüdische Geschichte zurückblicken, um eine der-
artige Anspannung der ganzen politischen und geistigen Lebensener-
gien des Volkes, wie sie unter dem zweiten Fürsten aus dem Hasmo-
näerhause erfolgt war, wiederzufinden. Schließlich zeugen auch die
Parteikämpfe in Judäa von einem Übermaß an geistigen Kräften in
dem zu neuem Leben erwachten Volke, von der Fülle und der Mannig-
faltigkeit seiner sozialen und religiös-sittlichen Bestrebungen, für die
der Rahmen eines gewöhnlichen Staatsgefüges denn auch wirklich
viel zu eng war.
1) Wenn der in den talmudischen Überlieferungen (Sota 47—48; Maasser-
Scheni im Jerusal. Talmud; Tosephta zum Trak. Demai u. a.) erwähnte „Jochanan-
Kohen Gadol“ („Jochanan der Hohepriester“) mit Jochanan-Hyrkanus identisch sein
sollte, so wäre daraus zu entnehmen, daß auch die pharisäische Tradition dem Für-
sten ein gutes Andenken für die von ihm im pharisäischen Geiste durchgeführten
Reformen des Tempelritus bewahrt hat. Aber auch dieser Überlieferung zufolge
wurde der anfänglich fromme Hohepriester „gegen Ende seines Lebens Sadduzäer“
(Berachoth, 29).
i5o
Zweites Kapitel
Die Könige Aristobulus I. und Jannäus
und die Königin Salome
(104—67)
§ 26. Der König Juda-Aristobulus
Jochanan-Hyrkanus starb nach einer dreißigjährigen Regierung
im Jahre io4- Er hinterließ neben seinem Weibe fünf Söhne, von
denen der älteste, Juda, den griechischen Namen Aristobulus trug.
Es war dies derselbe Prinz, der noch bei Lebzeiten des Vaters, zusam-
men mit seinem Bruder Antigonus, Samaria erobert und verwüstet
hatte (§ 22). Juda-Aristobulus sollte der hasmonäischen Verfassung
zufolge beide Würden des Vaters erben, sowohl die des Fürsten als
auch die des Hohepriesters. Allein der verstorbene Fürst hatte, wie es
in einem alten Bericht heißt, in seiner letztwilligen Verfügung seine
Witwe zur Regentin über das Reich eingesetzt, sodaß Juda nur die
Hohepriester würde zu übernehmen hatte. Zu einer solchen Verfü-
gung mag Hyrkanus die unter den Pharisäern herrschende Unzu-
friedenheit über die Vereinigung der weltlichen und geistlichen Gewalt
in einer Person bewogen haben, die in den letzten Jahren seiner Re-
gierung besonders laut wurde. Jedoch der ehrgeizige Juda-Aristo-
bulus wollte sich mit dieser Kürzung seiner gesetzlichen Gewalt nicht
abfinden. Er entriß seiner Mutter die Regierungsgewalt und ließ sie
in den Kerker werfen, wo sie bald darauf den Hungertod erlitten
haben soll. Auch alle seine Brüder hielt er in Haft, Antigonus aus-
genommen, dem allein er gewogen war und den er auch zu seinem
Mitregenten machte.
Ohne sich mit dem Titel eines Fürsten oder „Ethnarchen“ (Nassi)
zu begnügen, nahm Juda-Aristobulus als erster den Titel eines Königs
i5i
Die Könige Aristobulus I. und Jannäus und die Königin Salome
(Melech) an, der seit den Zeiten Zedekias, des letzten Königs aus dem
Davidshause, in Judäa nicht mehr gebräuchlich war. Diese Neuerung
entsprach wohl der unabhängigen Stellung der hasmonäischen Für-
sten, sie widersprach aber der alten Volkstradition, • die die Hoff-
nung auf eine Wiederherstellung der Königsgewalt nur mit dem Da-
vidischen Geschlechte verband. Der von den weltlichen Anschauungen
der Sadduzäer durchdrungene Aristobulus folgte indessen dem Brau-
che der hellenistischen Nachbarstaaten, in denen sogar Kleinfürsten
sich „Könige“ (Basileus) nannten. Die griechischen Schriftsteller nen-
nen Aristobulus wohl nicht ohne Grund einen „Philhellenen“, einen
„Freund der Griechen“. Auf den erhaltengebliebenen, während seiner
Regierung geschlagenen Münzen ist jedoch nur sein hebräischer Name
mit dem Hohepriestertitel und unter Erwähnung der „Gemeinde der
Juden“ (Jehuda kohen gadol w’cheber ha’jehudim) eingeprägt, nicht
anders wie auf den Münzen des Jochanan-Hyrkanus.
In seiner Außenpolitik hielt Juda-Aristobulus dieselbe Richtung
wie sein Vater inne. Hatte Jochanan-Hyrkanus die südlichen Nach-
barn Judäas, die Edomiter, unterworfen und judaisiert, so eroberte
Aristobulus den nördlichen Teil Galiläas, am Libanongebirge, und
zwang dessen Einwohner, die arabische Völkerschaft der „Itu-
räer“, zu der jüdischen Religion überzutreten. Es war dies anschei-
nend der Beginn eines die Unterwerfung Nordgaliläas bezweckenden
Feldzuges, der aber infolge des frühzeitigen Todes des Aristobulus
nicht zu Ende geführt werden konnte.
Die Regierung des Aristobulus war nur von kurzer Dauer. Die am
Hofe geschmiedeten Ränke, die schließlich zu einem tragischen Aus-
gang führten, werfen einen düsteren Schatten auf die kurze Zeit sei-
nes Königtums. Der neue Staatsregent war ein kränklicher und sehr
argwöhnisch veranlagter Mann, dessen Beziehungen zu seiner näch-
sten Umgebung aus diesem Grunde überaus unbeständig und von
seiner jeweiligen Stimmung abhängig waren. Als nun sein jüngerer
Bruder und Mitregent Antigonus durch seine Erfolge im Ituräerkriege
die Volksgunst für sich gewonnen und seine Volkstümlichkeit sowie
die Zuneigung des Königs selbst ihm viele Neider aus der Mitte der
Hofleute zugezogen hatten, hinterbrachten seine Feinde dem König,
der von dem Volke und dem Heere bewunderte Prinz trüge sich nun-
mehr mit dem Plane einer Staatsumwälzung, um die ganze Macht un-
geteilt in die Hände zu bekommen. Der argwöhnische König schenkte
§ 26. Der König J uda-Aristobulus
den Verleumdern Glauben und schreckte nicht davor zurück, das Blut
des geliebten Bruders zu vergießen.
Über diesen traurigen Vorfall hat sich folgende dramatische Er-
zählung erhalten: Der König Aristobulus lag in seinem Palaste krank
darnieder. Da kehrte anläßlich des Laubhüttenfestes Antigonus aus
dem Feldzuge nach Jerusalem zurück und wurde vom Volke mit Ju-
bel begrüßt. Ohne Zeit zu verlieren, begab sich der Prinz in voller
Ausrüstung mitsamt seinem Militärgefolge zum Tempel, um die
Feier beginnen zu lassen und einen Bittgottesdienst für die Genesung
des kranken Königs zu veranstalten. Aristobulus wurde sofort von der
feierlichen Prozession benachrichtigt, wobei man ihm versicherte, An-
tigonus habe Böses im Sinne und wolle daher auch mit Waffen in
den Händen in den Palast kommen. Da befahl der König seiner Leib-
wache, jeden, der es wagen würde, bewaffnet in den Palast einzu-
dringen, auf der Stelle niederzumachen. Dem Antigonus riet er aber
insgeheim, er möge unbewaffnet zu ihm kommen. Die auf das Ver-
derben des Antigonus sinnenden Höflinge überredeten jedoch die zu
ihm mit der königlichen Warnung geschickten Boten, ihm gerade
das Gegenteil zu übermitteln, daß nämlich der König ihn unbedingt
in seiner neuen Rüstung zu sehen wünsche. Nichts Schlimmes ahnend,
begab sich der geharnischte Antigonus in den Palast; als er jedoch an
den dunklen Durchgang am Stratonsturm herankam, überfiel ihn, laut
früher erhaltenem Befehl, die königliche Leibwache und machte ihn
nieder. Die Nachricht von dem Tode des geliebten Bruders erschüt-
terte Aristobulus; seine Krankheit verschärfte sich; ein wiederholter
starker Blutsturz beschleunigte neben den seelischen Qualen seinen
Tod, der im zweiten Jahre seiner Regierung eintrat (io3).
Aristobulus scheint unter dem Einfluß der sadduzäischen Aristo-
kratie gestanden zu haben und bei dem den Pharisäern zuneigenden
orthodoxen Teile des Volkes unbeliebt gewesen zu sein. Diese Unbe-
liebtheit mag wohl auch der Grund sein für die Verbreitung über-
triebener Sagen von den Grausamkeiten, die der sadduzäisch gesinnte
König an seiner Mutter und seinen Brüdern verübt haben soll. Nur
die griechischen Geschichtsschreiber1) finden gute Worte für Aristo-
bulus, höchstwahrscheinlich weil er im Rufe eines „Hellenenfreun-
des“ stand.
1) Strabo im Namen des Timagenes, s. Ant. XIII, n.
i53
Die Könige Aristobulus 1. und Jannäus und die Königin Salome
§27. Alexander-Jannäus und seine Kriege
Nach dem Ableben des Aristobulus gab dessen Witwe seine drei
Brüder frei. Der älteste von ihnen, Jonathan oder Jannäus, wurde
zum König und Hohepriester ausgerufen (108—76). Seinem hebrä-
ischen Namen fügte der neue König, wie es damals Sitte war, noch1
einen griechischen, Alexander, bei. Da Aristobulus kinderlos verstarb,
ehelichte Alexander-Jannäus, wie es das biblische Gesetz gebot, dessen
Witwe, die gleichfalls einen doppelten, einen hebräischen und einen
griechischen, Namen trug: Salome-Alexandra (Salomith, Salma, auch
Salomzion). Es gibt eine ziemlich verschwommene Nachricht, der-
zuf olge er einen seiner Brüder, der Ansprüche auf den Thron erhoben
hatte, umgebracht habe; jedoch erscheint es nicht ausgeschlossen, daß
diese Tat dem Könige später von dem ihm wenig gewogenen Volks-
munde angedichtet worden ist. Man erzählte auch, der Fürst Jocha-
nan-Hyrkanus hätte für seinen Zweitältesten Sohn nur wenig übrig
gehabt und ihn nicht einmal für die Staatsgeschäfte vorbereiten wol-
len ; da er seinen Sohn nicht am Hofe sehen wollte, soll der König ihn zur
Ausbildung nach Galiläa geschickt haben. Dort, in dem hellenisierten
Milieu, mochte dem Jüngling eine gediegene gymnastische und mili-
tärische Ausbildung zuteil geworden sein, nicht aber jene staatsbürger-
liche und geistliche Erziehung, die für einen zukünftigen Regenten und
Hohepriester Judäas unerläßliche Vorbedingung war. Der frühzeitige
Tod seiner zwei Brüder, des Aristobulus und des Antigonus, brachte
Jannäus unverhofft an die Spitze der Staatsregierung, und nun kam
die ganze Einseitigkeit seiner Erziehung zum Vorschein. Der neue
König kannte nur ein Lebensziel: die Ausdehnung der Herrschaft Ju-
däas über ganz Palästina. Dem Draufgängertum des Soldaten hielt
bei dem neuen Herrscher staatsmännische Besonnenheit nicht immer
die Wage. Mögen auch manche seiner Unternehmungen von politi-
scher Notwendigkeit bestimmt worden sein, so waren doch die an-
deren von ihm angezettelten Kriege nichts als abenteuerliche Wag-
nisse, die unzählige Opfer verschlangen, ohne wirtschaftliche oder
geistige Vorteile für das Volk im Gefolge zu haben.
Vor allen Dingen richtete Jannäus seine Blicke auf das Küsten-
gebiet des Mittelmeeres, wo Judäa bis dahin nur den Hafen Jaffa
nebst einigen anderen Städten besessen hatte. Infolge der völligen
xAuflösung, in der sich um jene Zeit Syrien befand, verwandelten
i54
§ 27. Alexander-Jannäus und seine Kriege
sich die von Griechen und Phöniziern bewohnten Küstenstädte Pa-
lästinas in unabhängige „freie Städte“; Handel und Industrie stan-
den dort in Blüte, jedoch an militärischer Sicherheit fehlte es bei den
meisten ganz. Dies machte sich der kriegerische judäische König zu-
nutze, der die von seinen Vorgängern begonnene Angliederung der
Meeresküste nun zu Ende führen wollte. Er zog mit seinem Heere
gegen Ptolemais (Akko), den bedeutenden nördlichen Hafen Palä-
stinas, und belagerte die Stadt. Die Belagerten riefen den Herrscher
der nahegelegenen Insel Cypem, Ptolemäus-Lathurus, zu Hilfe, einen
ägyptischen Prinzen, den seine Mutter, die Königin Kleopatra III.,
des ägyptischen Thrones beraubt hatte. Als nun Ptolemäus mit einem
großen Heere heranrückte, sah sich Alexander-Jannäus genötigt, die
Belagerung von Ptolemais für eine Zeitlang aufzuheben; er wollte
sein Vorhaben aber trotzdem nicht aufgeben und griff daher zu einer
diplomatischen List. Während er einerseits mit Ptolemäus Frieden
schloß, ersuchte er zugleich dessen dem Sohne feindlich gesinnte
Mutter, die ägyptische Königin Kleopatra, in deren Umgebung sich,
nebenbei bemerkt, viele einflußreiche jüdische Würdenträger befan-
den, um Hilfe. Davon in Kenntnis gesetzt, geriet Ptolemäus in Zorn
und wandte sich nun mit seinem Heere gen Galiläa. Er eroberte und
plünderte die Stadt Asochis (in der Nähe von Sepphoris) und stellte
sich dann seinem Feinde am Ufer des Jordan, bei Asophon. Es kam
zu einer blutigen Schlacht, in der beide Gegner eine ungewöhnliche
Tapferkeit an den Tag legten. Schließlich behielten die Krieger des
Ptolemäus dank besonders geschickter Manöver die Oberhand. Die
besiegten Juden ergriffen die Flucht, und der Feind verfolgte sie
und schlug die Fliehenden erbarmungslos nieder, „bis das Schwert
vom Morden stumpf wurde und die Hände erlahmten“ (ioo).
Die Sieger wandten sich nun, sengend und mordend und die jü-
dischen Siedlungen auf ihrem Wege der Zerstörung preisgebend, zur
Meeresküste zurück. In einigen Dörfern ließ Ptolemäus-Lathurus, wie
berichtet wird, die Frauen und Kinder in Stücke schneiden und in
Töpfe mit siedendem Wasser werfen, um unter den Juden anderer
Orte durch Gerüchte vom Herannahen fürchterlicher Menschenfresser
Schrecken und Grauen zu verbreiten. Ptolemäus hatte bereits Ptole-
mais und Gaza besetzt, deren Eroberung sich kurz vorher Jannäus
selbst zum Ziele gesetzt hatte, als die Königin Kleopatra eingriff.
Die wachsende Macht des ihr verhaßten Sohnes an der palästinischen
i55
Die Könige Aristobulus I. und Jannäus und die Königin Salome
Küste, an der Schwelle Ägyptens, erregte ihre Besorgnis, und sie
sandte Flotte und Heer gegen ihn aus. Der Oberbefehl über das ägyp-
tische Heer wurde, wohl nicht zufällig, zwei alexandrinischen Juden
übertragen, Chelkia und Chananja, den Enkeln des ehemaligen Jeru-
salemer Hohepriesters Onias III. (s. unten, § 38). Nach hartnäckigen
Kämpfen zu Land und zu Wasser schlugen sie Ptolemäus in die
Flucht. Nach der Einnahme von Ptolemais, dem Schlüssel zu Par
lästina, wäre es den Ägyptern ein leichtes gewesen, das ganze Land
zu besetzen. Manche der Vertrauten Kleopatras rieten der damals
nach Palästina gekommenen Königin, die Gelegenheit wahrzunehmen
und Judäa wieder mit Ägypten zu vereinigen, wie es schon unter den
ersten Ptolemäern geschehen war. Allein der Feldherr Chananja (sein
Kampfgenosse Chelkia war in der Schlacht gefallen) machte von sei-
nem großen Einflüsse auf die Königin Gebrauch, um sie von diesem
Gewaltakt abzubringen. Er soll ihr sogar mit einem allgemeinen Auf-
stand der Juden in den ägyptischen Besitzungen gedroht haben, falls
sie die Unabhängigkeit Judäas antasten würde. Kleopatra ließ sich
überreden und schloß sogar ein Freundschaftsbündnis mit Alexander-
Jannäus, der ihr seinen Dank für den geleisteten Beistand auszuspre-
chen gekommen war. Darauf kehrte Ptolemäus-Lathurus nach Cy-
* * pern und Kleopatra nach Ägypten zurück. Der unternehmungslustige
jüdische König aber, der nun wieder frei auf atmen konnte, wandte
sich neuen Eroberungen zu.
Er besetzte zwei hellenisierte Städte an der Ostgrenze Judäas, in
der Nähe des Jordan: Gadara und das stark befestigte Amathus. Ga-
dara wurde nach zehnmonatlicher Belagerung eingenommen, während
bei der Eroberung von Amathus das jüdische Heer, dem der dortige
Fürst („Despot“) syrischer Abstammung verzweifelten Widerstand
leistete, erhebliche Verluste erlitt. Sich dann nach Westen, in das
Küstenland, wendend, eroberte Alexander-Jannäus die südlichen Hä-
fen Raphia, Anthedon und das befestigte hellenisierte Gaza, das mit
Ptolemäus in dem vor kurzem geführten Kriege verbündet gewesen
war (96). Die Belagerung Gazas dauerte ein volles Jahr. Die Bürger
der Stadt, vornehmlich Griechen, wehrten sich mit großer Tapferkeit,
jedoch ein Teil der Stadtwehr wurde seiner Pflicht untreu und über-
gab die Stadt dem Alexander-Jannäus. Der jüdische König gestattete
seinen Kriegern, die Einwohner zu plündern und zu morden. Gerade
während der Einnahme Gazas fand dort eine öffentliche Sitzung des
i56
§ 28. Die Erhebung der Pharisäer. Der Bürgerkrieg
Stadtrates statt. Die Mitglieder des Rates und die dort versammelten
Bürger, 5oo an der Zahl, flüchteten in den Apollotempel, auf die
Unantastbarkeit des Heiligtums vertrauend, wurden aber auch dort
von den Kriegern nicht verschont. Die jüdischen Feldherren hatten
sich anscheinend die grausamen Kriegssitten, zugleich mit vielen an-
deren Fehlern der griechisch-syrischen Kultur, angeeignet. Allerdings
muß bemerkt werden, daß Jannäus fremdländische Söldner, klein-
asiatische Griechen, Cilicier und Pisidier, die den Kriegerberuf einfach
als ein legitimes Räuberhandwerk betrachteten, in seinen Diensten hatte.
So vereinigte der jüdische König nach fünfjährigen Kriegen den
ganzen südlichen Küstenstrich von Jaffa bis Gaza in seiner Gewalt.
Wenn Al exander-Jannäus sich damit begnügt und seine weitere Tätig-
keit der friedlichen wirtschaftlichen Entwicklung seines Landes ge-
widmet hätte, so wäre seine Regierungszeit eine der glücklichsten ge-
wesen. Allein der rastlose kriegerische Geist des Königs einerseits und
der Kampf der politischen Parteien andererseits machten diese Re-
gierung zu einer der sturmbewegtesten und traurigsten in der Ge-
schichte des unabhängigen Judäa.
§ 28. Die Erhebung der Pharisäer. Der Bürgerkrieg
Die kriegerische Politik des Alexander-Jannäus vermochte wohl
die Sadduzäerpartei, deren Programm der König zur Ausführung
brachte, zufriedenzustellen, nicht aber die national-geistige Partei der
Pharisäer. Nicht einem solchen Staate galten die Träume ihrer Vor-
gänger, der Chassidäer, als die Unabhängigkeit Judäas erstand, als
der Stern der Hasmonäer zum ersten Male aufblitzte. Hatte Judäa
darum gegen das syrische Joch angekämpft, darum ein Vierteljahr-
hundert lang Gut und Blut seiner besten Söhne geopfert, um nach
Erlangung der Unabhängigkeit sich in eine „Despotie“ oder in einen
Kriegsstaat ganz in der Art der heidnischen Nachbarländer zu ver-
wandeln? Die Pharisäer glaubten vielmehr, daß die jüdische Nation
zu etwas Besserem geschaffen sei, daß sie in ihrem Staatsleben nicht
dem Ideal der rohen Gewalt nachstreben dürfe, sondern dem erhabe-
nen Ideal des inneren, sozial-geistigen Fortschritts. Und diese Über-
zeugung der Pharisäer wurde auch von vielen im Volke uneinge-
schränkt geteilt. Die wirtschaftlichen Vorteile, die die neuen Erobe-
rungen mit sich bringen mußten, konnte das Volk noch nicht voraus-
Die Könige Aristobulus I. und Jannäus und die Königin Salome
sehen, während es um so schmerzlicher die durch den fortdauernden
Krieg verursachte wirtschaftliche Zerrüttung empfinden mußte.
Die Sadduzäer hatten sowohl in der Regierung als auch im Heere
und in der Tempelpriesterschaft die Oberhand. Dagegen standen die
Pharisäer überall in Opposition. Im Staatsrat oder Synhedrion rangen
sie mit ihren Gegnern am die Macht. Manche Umstände gaben ihnen
die Hoffnung, den Kampf erfolgreich zu Ende führen zu können.
Eines der Häupter der Pharisäerpartei war nämlich der Gelehrte Si-
mon ben Schetach, der nach der talmudischen Überlieferung der Bru-
der der Königin Salome war. Die Königin selbst stand unter seinem
Einfluß und begünstigte daher, ihrem Gemahl zu Trotz, die Phari-
säer. Da Alexander-Jannäus von seinen weit ausholenden Feldzügen
immer wieder in Anspruch genommen wurde und gar oft in Jerusa-
lem nicht zugegen war, stand während seiner Abwesenheit die Kö-
nigin Salome an der Spitze der bürgerlichen Verwaltung und ver-
mochte so der Partei des Simon kräftigen Beistand zu leisten. Da-
gegen geriet der Pharisäerführer mit dem König, ungeachtet der sie
verknüpfenden verwandtschaftlichen Bande, nicht selten in Konflikt.
Es wird berichtet, daß der von seinen Widersachern bei dem König
verleumdete Simon sich einmal sogar genötigt gesehen habe, in der
Flucht Rettung zu suchen; er blieb dann lange Zeit fern vom Hofe
und nur die Königin allein wußte um seine Zufluchtsstätte.
Jedoch vermochten die Pharisäer die Schranken einer legalen Op-
position nicht einzuhalten. Ihr Ärger gegen den König steigerte sich
so sehr, daß der geringste Anlaß genügend war, um eine offene Er-
hebung herbeizuführen. Den Anlaß bot ein Konflikt mit religiösem
Hintergründe. Hatte Alexander-Jannäus als königlicher Feldherr den
politischen Idealen der Pharisäer zuwidergehandelt, so beleidigte er
als Hohepriester noch mehr ihr religiöses Gefühl, indem er zu wie-
derholten Malen die von ihnen befolgten, von den Sadduzäern jedoch
abgelehnten Gottesdienst-Riten öffentlich mißachtete. Einst, am Laub-
hüttenfest, versammelte sich das Volk im Jerusalemer Tempel mit
den traditionsgemäßen Feststräußen aus Palmenblättern („Lulab“)
und Zitronen („Ethrog“) in den Händen; der königliche Hohepriester
versah selbst das Hochamt am Altar. Als er nun, dem von den Phari-
säern anerkannten, volkstümlichen Brauche gemäß, die Wasserliba-
tion auf den Altar gießen sollte, schüttete er plötzlich das Weihwasser
auf den Boden aus, weil er, als Sadduzäer, die Verbindlichkeit dieses
i58
§ 28. Die Erhebung der Pharisäer. Der Bürgerkrieg
Brauches nicht anerkennen wollte1). Diese Dreistigkeit verletzte das
religiöse Empfinden der Rechtgläubigen. Das erregte Volk begann den
König mit den Ethrogim zu bewerfen und rief ihm laut zu, er möge
als der des Hohepriestertums unwürdige Nachkomme einer Kriegs-
gefangenen vom Altar wegtreten. Da ließ der zornentbrannte König
seine heidnische Söldnertruppe gegen das Volk los. Diese machte kur-
zerhand nahezu sechstausend Juden (die Zahl mag übertrieben sein)
im Tempel und in den an den Tempel anstoßenden Höfen nieder.
Um in Zukunft vor den Lästerungen des „Pöbels“ sicher zu sein,
ließ dann der König um den Altar einen Zaun errichten und befahl,
allen mit Ausnahme der Priester den Zutritt zu der umfriedeten
Stelle zu verwehren (um 95).
Nach diesem im Heiligtume angerichteten Blutbade stieg die Er-
bitterung der Pharisäer und des Volkes gegen Alexander-Jannäus so
sehr, daß nunmehr ein kleiner Funke genügen mußte, um den allge-
meinen Volkszorn zu hellen Flammen auf lodern zu lassen. An Ver-
anlassungen dazu fehlte es aber in keiner Weise.
In Jerusalem hielt es der König nicht lange aus. Es zog ihn wie-
der einmal auf die Schlachtfelder, zu den Grenzmarken seines Lan-
des, wo sich immer eine Gelegenheit fand, unter dem Vorwände des
Grenzschutzes, in Wirklichkeit aber zu Eroberungszwecken, einen
Krieg mit den Nachbarn, den Syrern und Arabern, vom Zaune zu
brechen. Besondere Sorge bereitete Jannäus die im Wachsen begrif-
fene Macht der Araber an der Ostgrenze, in Transjordanien. Nutz-
nießer der zunehmenden Auflösung Syriens, waren die Araber aus
dem Nabatäerreiche (§ 22) bestrebt, ihre Herrschaft über ganz Trans-
jordanien, vom Toten Meere bis nach Damaskus hin, auszudehnen* 2).
!) Es ist dies eine episodenhafte Einzelheit, die einer nicht ganz klaren tal-
mudischen Überlieferung entlehnt ist (Sukka, 48 u. a.), in der der Name des
Jannäus durch die allgemeine Bezeichnung „Sadduzäer“ ersetzt ist. Im übrigen
halten wir uns an die den Tatsachen eher entsprechende Version des Josephus
(Ant. XIII, i3; Bellum, I, 4)*
2) Um diese Zeit scheint der Prozeß der Auflösung der kleinen Völkerschaf-
ten Trans Jordaniens, der Moabiter, Ammoniter, sowie eines Teiles der Edomiter,
unter den vom Nomadisieren zur Seßhaftigkeit übergehenden Arabern sich end-
gültig vollzogen zu haben. Es war dies eine neue „Völkerwanderung“ innerhalb der
semitischen Rasse, ein Prozeß, der in Tr ans jordanien und der angrenzenden syri-
schen Wüste der einsetzenden Hellenisierung der ortsansässigen Völkerbruchteile,
der Stammesbrüder Urisraels, entgegenwirkte und sie in dem arabischen Elemente
gänzlich auf gehen ließ. Über das nabatäische Reich s. Schürer, Gesch. des jüdischen
Volkes, I, Beilage 2.
Die Könige Aristobulus /. und Jannäus und die Königin Salome
Von politischen Erwägungen geleitet, entschloß sich der jüdische Kö-
nig, dem Vordringen der Araber, insbesondere in dem Gebiet des ehe-
maligen israelitischen Gilead, entgegenzutreten. Mit Hilfe der in
Kleinasien angeworbenen Söldnertruppen .gelang es ihm, in die Län-
der der Moabiter und Gileaditer einzubrechen, einen Teil der Einwoh-
ner zu unterwerfen und sie Judäa tributpflichtig zu machen. Bald
stieß er jedoch auf seinen Nebenbuhler, den arabischen König Obedas.
In der Gaulanitis, in der Nähe des Genezarethsees, trieb Obedas das
jüdische Heer in eine tiefe Schlucht, aus der es sich nur unter großen
Verlusten zu retten vermochte. Alexander-Jannäus selbst kam mit dem
nackten Leben davon und floh nach Jerusalem.
Ein übler Empfang wartete seiner in der Hauptstadt. Die gegen
den König feindselig gestimmten Pharisäer benützten seinen Miß-
erfolg im arabischen Feldzug, um seine gesamte Kriegspolitik als
für den Staat verderblich hinzustellen. Ein bedeutender Teil der Be-
völkerung der Hauptstadt, infolge der kürzlichen Metzelei im Tempel
noch immer erbittert, zögerte nicht, sich der Revolutionspartei an-
zuschließen. Der lange verhaltene Volkszorn machte sich nun in
einem offenen Aufstande Luft. Sechs volle Jahre (um 94—88) zog
sich der Kampf des Volkes gegen seinen König hin. Alexander-Jan-
näus bekämpfte die Aufständischen mit Hilfe von fremdländischen
Söldnertruppen und schreckte vor keiner Grausamkeit zurück. In die-
sem sechsjährigen Bürgerkriege kamen, nach dem Zeugnis des alten
Historiographen, nahezu fünfzigtausend Juden um. Als der König
dann schließlich des Kampfes mit dem eigenen Volke müde geworden
war und den Pharisäern den Frieden anbot, wiesen sie sein Angebot
mit den Worten zurück: „Dein Tod allein könnte zwischen uns Frie-
den stiften!“ Vom Hasse gegen den König und sein Militärregime be-
sessen, ließen sie die dem Vaterlande durch den fortdauernden Bru-
derzwist verursachten ungeheuren Schäden ganz außer acht. In ihrer
Verblendung ging die Revolutionspartei so weit, daß sie sogar einen
fremden Fürsten um Beistand anging, Demetrius III. Eukärus, der
einen Teil des unter den letzten Seleuciden auf geteilten Syrien be-
herrschte. Gegen den Nachkommen der Hasmonäer wurde also von
der nationalen Partei Judäas ein Nachkomme des Antiochus Epi-
phanes zu Hilfe gerufen! Nur eine Tatsache mochte den Pharisäern
als ein Entschuldigungsgrund erscheinen: daß sie nämlich die Syrer
160
§ 28. Die Erhebung der Pharisäer. Der Bürgerkrieg
zur Bekämpfung der Mietlinge des Jannäus herbeiriefen, die sich
gleichfalls aus syrischen oder kleinasiatischen Griechen rekrutierten.
So zog Demetrius an der Spitze des syrischen Heeres in Judäa ein
und die Aufständischen vereinigten sich mit ihm in der Nähe von
Sichern. Dorthin eilte nun auch unverzüglich Jannäus mit seinem
Heere. Das alte Sichern, das acht Jahrhunderte früher der Schauplatz
der Entzweiung zwischen Israel und Juda gewesen war, wurde wieder
einmal zur Arena des Bruderkampfes des jetzt in sich gespaltenen jü-
dischen Volkes. Als zwei feindliche Lager standen sich der König mit-
samt dem Adel auf der einen Seite und das Volk auf der anderen Seite
gegenüber. In der Schlacht bei Sichern stritten Juden gegen Juden und
Griechen gegen Griechen, denn die einen wie die anderen waren in
beiden Heeren reichlich vertreten. Die Armee des Demetrius war in
der Übermacht und ihr fiel denn auch der Sieg zu. Jannäus, der seine
gesamte Söldnerschar verloren hatte, flüchtete ins ephraimitische Ge-
birge (um 88).
Nun kamen viele von den Aufrührern zur Besinnung. Sie hatten
ihrem König nach Gebühr heimgezahlt, aber zugleich auch die Syrer
nach Judäa hineingelassen; und deren Bundesgenossenschaft war gar
nicht so ungefährlich, da sie ihren Sieg mit Leichtigkeit dazu be-
nützen konnten, das ihnen ehedem untertänige Land von neuem zu
unterwerfen. In patriotischer Erwägung mochten sich die Pharisäer
gesagt haben, daß es doch besser sei, unter den Ausschreitungen eines
eigenen, wenn auch noch so unwürdigen Königs zu leiden, als unter
denen eines Seleucidensprößlings. So kam es, daß ein Teil der jüdi-
schen Revolutionäre, sechstausend an der Zahl, sich nun auf die Seite
des Al exander-Jannäus schlug. Der dadurch beunruhigte Demetrius
verließ alsbald Judäa und kehrte wieder in sein Land zurück.
Der Bruderzwist in Judäa war jedoch noch lange nicht zu Ende.
Unter den Revolutionären gab es der Unversöhnlichen genug, die nun
entschlossen waren, auch ohne den Beistand fremder Bundesgenossen
auf eigene Faust den Kampf gegen den König weiterzuführen. Jan-
näus gelang es indessen sehr bald, ihrer Herr zu werden. In mehreren
Treffen besiegte und zerstreute er die noch übriggebliebenen Ver-
bände der Aufrührer. Nur einer dieser Verbände setzte sich in der
Stadt Bethome (oder Bemeselis) kräftiger zur Wehr und kämpfte
mit Selbstverleugnung gegen den Todfeind. Nach kurzer Belagerung
erstürmte jedoch der König auch diesen letzten Stützpunkt, nahm die
11 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
iöi
Die Könige Aristobulus I. und Jannäus und die Königin Salome
ganze Schar gefangen und führte sie nach Jerusalem ab. Hier ließ
sich Jannäus, auf Anstiftung seines Freundes, des Sadduzäers Dio-
genes, zu einer scheußlichen Missetat hinreißen: er befahl, achthun-
dert von den Gefangenen mitten in der Stadt zu kreuzigen, und wäh-
rend sie noch lebten, ihre Frauen und Kinder vor ihren Augen hin-
zuschlachten. Die Feinde des Königs erzählen noch, daß er während
dieser fürchterlichen Bluthochzeit fröhlich mit seinen Buhlerinnen
bei einem Gelage schmauste. Diese unerhörte Grausamkeit jagte den
Widersachern des Königs in Jerusalem derartigen Schrecken ein, daß
sie, achttausend an der Zahl, des Nachts heimlich die Hauptstadt ver-
ließen und sogar aus Judäa flüchteten. Solange Alexander-Jannäus
noch lebte, blieben sie an verschiedenen Orten Syriens und Ägyptens
im Exil. Unter diesen politischen Flüchtlingen befand sich auch das
Haupt der Pharisäer, Simon ben Schetach. Äußerlich schien das Land
nun befriedet, jedoch glomm die Erbitterung gegen den königlichen
Tyrannen in gar vielen Herzen. Seine Feinde legten ihm den Schmäh-
namen Thrazides (Thrazier) bei, was soviel heißen sollte wie: Barbar,
Wüterich, Henkersknecht.
Als der Bürgerkrieg in Judäa wütete, kamen gewiß ungeheuer-
liche Grausamkeiten vor; es wäre jedoch falsch, allen von dem späte-
ren Historiographen Josephus mitgeteilten Einzelheiten Glauben zu
schenken. Josephus schöpfte seine Nachrichten über diese Zeit aus
überaus trüben Quellen, nämlich aus den Werken griechisch-syrischer
Schriftsteller, die auf den jüdischen König, der die autonomen Städte
im Küstenlande und an den Jordanufern erobert hatte, sehr schlecht
zu sprechen waren. Überdies lag auch Josephus, als einem Partei-
gänger der Pharisäer, selbst daran, deren Aufstand durch die Über-
treibung der Grausamkeiten des königlichen Sadduzäers zu rechtfer-
tigen1).
§ 29. Die letzten Kriege des Alexander-Jannäus
Nachdem Alexander-Jannäus die revolutionäre Bewegung im In-
nern des Landes unterdrückt hatte, nahm er seine unterbrochenen
Feldzüge von neuem auf. Diesmal war er gezwungen, zunächst mit
1) Abgesehen von der übertriebenen Zahl der Opfer des Bürgerkrieges er-
scheint auch die Erzählung von der Kreuzigung der Aufrührer als durchaus ver-
dächtig: diese römische Hinrichtungfcart dürfte kaum unter den hasmonäischen
Königen üblich gewesen sein.
§ 29. Die letzten Kriege des Alexander-Jannäus
Verteidigungsmaßnahmen zu beginnen. Die von den unausgesetzt ein-
ander bekämpfenden seleucidischen Königen und Kronprätendenten
längst zerstückelte syrische Monarchie ging zu jener Zeit ihrem end-
gültigen Untergange entgegen, da die miteinander ringenden Klein-
fürsten aus der seleucidischen Dynastie überdies auch noch einer
neuen politischen Macht, den in das Herz Syriens eindringenden und
schon bis Damaskus vorgerückten transjordanischen Arabern, Wider-
stand bieten mußten. So kam denn einer der letzten syrischen Könige.,
Antiochus XII. Dionysos (der Bruder Demetrius III.), der mit dem
Aräberkönig Aretas, dem Nachfolger des obenerwähnten Obedas, in
Krieg lag, auf den Gedanken, in dessen trans jordanisches Reich auf
dem Umwege über Judäa vorzudringen. Jannäus wollte es aber nicht
dulden, daß Judäa zum Kampfplatz der Syrer und Araber werden
sollte; er ließ daher einen sich von Jaffa bis ins Innere des Landes,
über hundertundfünfzig Stadien, hinziehenden Graben aufwerfen und
begann sodann mit der Errichtung eines mächtigen Walles, mit höl-
zernen Türmen und Schießscharten versehen, an dem Graben entlang,
um so dem Vordringen der Syrer einen Riegel vorzuschieben. Allein
Antiochus stedkte den ganzen Bau in Brand und führte sein Heer
durch Judäa (um 86). Bald darauf fand jedoch Antiochus im Kampfe
mit den Arabern den Tod, und Aretas besetzte Damaskus nebst dem
angrenzenden Teil Coelesyriens.
Nun bekam Judäa zu spüren, daß es in die Nachbarschaft eines
noch mächtigeren Rivalen als Syrien geraten war. Die arabischen Be-
sitzungen umgaben Judäa im Osten und im Süden, und Aretas trug
sich anscheinend mit der Absicht, sie auch weiter nach dem Westen
hin auszudehnen. Ein kriegerischer Zusammenstoß der Juden mit
den Arabern war somit unvermeidlich geworden. Bei Adida, zwischen
Jaffa und Jerusalem, kam es auch zu einer Schlacht, in der das jü-
dische Heer eine erhebliche Niederlage erlitt. Alexander-Jannäus war
nun gezwungen, einen für Judäa, wie es scheint, ungünstigen Frieden
mit Aretas zu schließen.
Dagegen nahmen die von Jannäus gegen Ende seiner Regierung
unternommenen Feldzüge einen glücklicheren Verlauf. Im Laufe von
drei Jahren (um 83—8o) gelang es ihm, eine Reihe Ortschaften am
Jordan, mit vorwiegend griechischer Bevölkerung, zu besetzen; von
besonderer Wichtigkeit war die Einnahme der autonomen Städte der
„Dekapolis“: Dium, Pella, Gerasa. Diese neuen Erfolge wogen die
u*
i63
Die Könige Arislobulus I. und Jannäus und die Königin Salome
früheren Mißerfolge reichlich auf; als der König nach Beendigung
des Feldzuges nach Jerusalem zurückkehrte, wurde er von der Bevöl-
kerung mit Ehrenbezeugungen empfangen, obwohl die Partei der Un-
versöhnlichen wohl kaum ihr Verhalten zu ihm geändert hatte.
Die Kriege, die fast die gesamte Regierungszeit des Alexander-
Jannäus ausfüllten, hatten eine bedeutende Erweiterung des jüdischen
Landbesitzes zur Folge. Der Traum der Hasmonäer, das jüdische
Reich in seinen natürlichen Grenzen, vom Meere bis zur Wüste, wie-
der aufzurichten, war nun seiner Verwirklichung nahe. Die Meeres-
küste von Ptolemai's bis Gaza, nur Ptolemais selbst ausgenommen,
stand unter der Gewalt Judäas. Im Norden erstreckte sich der jü-
dische Landbereich bis zum Meromsee; im Osten fielen die Städte der
Dekapolis im Gebiete des Jordan am See Genezareth Judäa zu, im
Süden Edom bis zur arabischen Wüste.
Gleich seinen beiden Vorgängern war auch Al exander-Jannäus be-
strebt, die Bevölkerung der eroberten Gegenden zu judaisieren; der
Judaismus sollte, den damaligen Rechtsbegriffen gemäß, zur Staats-
religion des gesamten jüdischen Landbereiches werden. Der alte Ge-
schichtsschreiber Josephus behauptet, Alexander-Jannäus hätte in sei-
nem Bestreben, die hellenisierten Provinzen zu judaisieren, manche
der unterworfenen Städte, deren Einwohner sich weigerten, „jüdische
Bräuche anzunehmen“, sogar der Zerstörung preisgegeben. Dieser
formelle religiöse Eifer ging jedoch bei dem königlichen Sadduzäer
mit der inneren Neigung zur hellenischen Kultur Hand in Hand. Da-
von zeugt u. a. die Tatsache, daß er als erster der hasmonäischen
Fürsten seinen Namen auf den Münzen in zwei Sprachen einprägen
ließ: in hebräischer und in griechischer. Die hebräische Aufschrift
lautete: Jehonathan ha’melech (König Jonathan, d. i. Jannäus), die
griechische: Basileos Alexandrou (des Königs Alexander). Übrigens
haben sich auch Münzen mit der bis dahin üblichen, ausschließlich
hebräischen Aufschrift erhalten: „Jonathan Hohepriester und die Ge-
meinde der Juden.“ (Die Archäologen sind der Meinung, daß diese
Aufschriften auf den „hohepriesterlichen“ Münzen wie die ebener-
wähnten Aufschriften auf den „königlichen“ sich auf dieselbe Person
beziehen.)
Alexander-Jannäus, der den größten Teil seines Lebens im Felde
verbracht hatte, war es beschieden, auch den Tod mitten im Lärm
und Getöse des Krieges zu finden. In seinen letzten Lebensjahren litt
i64
§ 30. Königin Salome und die Herrschaft der Pharisäer
er an einem zehrenden Wechselfieber. Der König hoffte, daß das Lei-
den im Felde von ihm weichen werde, und zog daher von neuem jen-
seits des Jordan. Diese eigenartige Heilmethode brachte ihm jedoch
keine Hilfe. Bald darauf, während der Belagerung der Festung Ra-
gaba im Dekapolisgebiet, befiel ihn eine schwere Krankheit. Die über-
mäßige Anstrengung des vom Fieber sohon ohnehin erschöpften Kör-
pers beschleunigte das Ende. Alexander-Jannäus starb in seinem zwei-
undfünfzigsten Lebensjahre, nach einer siebenundzwanzig jährigen
Regierungsdauer (76 v. d. ehr. Ära).
§ 30. Die Königin Salome-Alexandra und die Herrschaft der
Pharisäer
Vor seinem Tode ernannte Jannäus Salome-Alexandra, die bei der
Nachricht von der gefährlichen Erkrankung ihres Gemahls ins Lager
geeilt war, zur Staatsregentin. Nachdem das jüdische Heer die be-
lagerte Festung Ragaba erobert hatte, brachte die Königin den Leich-
nam des Jannäus nach Jerusalem, wo sie ihn unter großem Gepränge
bestatten ließ. Man erzählt, Jannäus hätte auf seinem Totenbette sei-
ner Gemahlin geraten, sioh mit der Pharisäerpartei auszusöhnen und
deren Vertreter zur Teilnahme an der Regierung heranzuziehen. Es
ist schwer zu sagen, ob sich hierbei die späte Reue des Königs
kundtun mochte, der vielleicht am Schluß seines Lebens begriffen
hatte, daß man gegen den Willen der Volksmehrheit nicht regieren
dürfe, oder aber, ob dieses „Vermächtnis'4 nichts weiter ist als eine
spätere Erfindung, die die Lossagung von der Politik des Jannäus
durch dessen „letzten Willen" zu rechtfertigen suchte. Möglich
ist es auch, daß der im Sterben liegende König, der von der Zunei-
gung der Königin zu den Pharisäern sicherlich unterrichtet war, die
Unvermeidlichkeit einer Änderung im Regierungssystem vorausge-
sehen hatte und sich deshalb darein fügte.
Die Frau, die nach dem sturmbewegten Königtum des Jannäus
die Zügel der Regierung ergriff, erwies sich als ihres Amtes durch-
aus würdig. Im Besitze eines starken Willens und eines ausgesproche-
nen politischen Sinnes, söhnte sie das Volk in kurzer Zeit mit der rea-
gierenden Dynastie aus. Von ihren zwei Söhnen war der ältere, Hyr-
kan, ein gutmütiger, aber willensschwacher und für die Regierung we-
nig geeigneter Mensch; der jüngere, Aristobulus, besaß dagegen ein all-
Die Könige Arislobulus I. und Jannäus und die Königin Salome
zu feuriges Temperament und teilte die sadduzäischen Ansichten sei-
nes Vaters. Die Königin setzte Hyrkan zum Hohepriester ein, während
sie Aristobulus von den Staatsgeschäften gänzlich fernhielt, da ihr
seine kriegerischen Neigungen und seine sadduzäische Gesinnung Be-
fürchtungen einflößten. Auf diese Weise wurde ein Hauptübel der
früheren Regierungen von vornherein beseitigt: da nun auf den Thron
eine Frau kam, die als solche nicht Hohepriester zu sein vermochte,
kam es von selbst zur Trennung der geistlichen Würde von der welt-
lichen; die ehedem in einer Person vereinigten Funktionen des Regen-
ten und Hohepriesters fielen nun zwei verschiedenen Vertretern der
Dynastie zu. Eine zweite wichtige Änderung bestand in der Erneue-
rung der Mitglieder der Regierung, in der die Pharisäer an Stelle der
Sadduzäer traten, sowie in dem dadurch bewirkten Umschwung der
gesamten Innen- und Außenpolitik. Die vorhergehende, von Wirren
und Bürgerzwist ausgefüllte Regierung mochte die Königin überzeugt
haben, daß das sadduzäische Regime und die Eroberungspolitik den
Wünschen der Mehrheit der Nation zuwider waren. Und so begann
nun, nach der unruhvollen Zeit der Kriege und Aufstände, eine Zeit
friedlicher kultureller Arbeit. Am Ruder der Regierung stehen jetzt
die Pharisäer, sie gewinnen ein entschiedenes Übergewicht im Staats-
rat oder Synhedrion und haben so die gesetzgebende und geriohtliche
Gewalt in ihren Händen. Die unter Jochanan-Hyrkanus aufgehobenen
pharisäischen Gesetze treten wieder in Kraft.
Die während des letzten Königtums aus Judäa geflüchteten Füh-
rer der früheren pharisäischen Opposition kehrten nun in ihre Heimat
zurück und erhielten sogar Sitz und Stimme in der Regierung. Auch
Simon ben Schetach und sein Mitkämpfer, der nach Alexandrien aus-
gewanderte Rechtsgelehrte Juda ben Tabai, kehrten aus der Verban-
nung zurück. Diese beiden Pharisäerfüjirer stellten sich nun an die
Spitze des Synhedrion. Die Reaktion gegen die frühere Herrschaft
der Sadduzäer kam manchmal in Racheakten gegenüber den Ver-
tretern dieser Partei zum Ausdruck. So wurde der Freund des verstor-
benen Königs, der Sadduzäer Diogenes, nebst einigen seiner Gesin-
nungsgenossen beschuldigt, Alexander-Jannäus nach der Einnahme
Bethomes zu dem grausamen Pharisäergemetzel aufgestachelt zu ha-
ben (§ 28). Die Angeklagten wurden nach dem von der Königin be-
stätigten Urteilsspruch der pharisäischen Richter hingerichtet. Übri-
gens war dies keine gewöhnliche Parteirache, sondern eine harte poli-
166
§ SO. Königin Salome und die Herrschaft der Pharisäer
tische Maßnahme, die durch die Notwendigkeit bestimmt war, einer-
seits dem durch das vorhergegangene Regime empörten Volksgewissen
Genüge zu tun, andererseits aber der sadduzäischen Opposition für
alle Fälle Schrecken einzujagen.
Diese Epoche der national-religiösen Restauration wird in der pha-
risäischen Legende als eine ungetrübte, glückliche Zeit geschildert.
„Unter Simon ben Schetach und der Königin Salome (Salma, Salmi-
nun) fiel der Regen an den Sabbat-Vorabenden (als die Feldarbeit
ruhte), die Weizenkörner wurden so groß wie Nieren, die Ger-
stenkörner wie Olivenkeme und die Linsen wie Golddenare; die
Schriftgelehrten sammelten solche Körner und bewahrten Proben da-
von auf, um den künftigen Geschlechtern zu zeigen, wohin die Sünde
führt (die die ehemalige Fruchtbarkeit vermindert hat).“ Das Auf-
hören der unausgesetzten Kriege, die unter Jannäus den Landmann
von seiner Arbeit abgelenkt hatten, die Rückkehr zur friedlichen Tä-
tigkeit sowie eine ganze Reihe erntereicher Jahre erhöhten merklich
den wirtschaftlichen Wohlstand Judäas. Die Regierung der Alexandra-
Salome war indessen nur eine kurze Ruhepause zwischen zwei stürmi-
schen Epochen.
In der Außenpolitik Judäas sind aus der Regierungszeit Sa-
lomes keine besonderen Ereignisse zu verzeichnen. Ihre Politik
ging lediglich auf den Schutz des Landes aus. Die Königin war
um die Pflege der Waffenmacht des Staates allerdings besorgt, je-
doch nicht, weil sie selbst anzugreifen beabsichtigte, sondern weil sie
im Gegenteil den Krieg fürchtete. Judäa war noch immer von den
kriegerischen asiatischen Königen bedroht, die das Erbe des in Zerfall
begriffenen Syrien untereinander aufteilten. Irgendeine von Damas-
kus her, um das die Araber mit den Syrern kämpften, drohende Ge-
fahr veranlaßte die Königin, ein Heer unter der Anführung ihres
Sohnes Aristobulus dorthin zu entsenden. Jedoch mußte dieser Feld-
zug auf gegeben werden, da von Norden her eine neue Gefahr für Ju-
däa herauf zog: das mächtig gewordene Armeniervolk. Um das Jahr
70 rückte nämlich der armenische König Tigranes, nachdem er be-
reits den größten Teil Syriens besetzt hatte, gegen Judäa vor. Er be-
lagerte die nördliche Meeresfestung Ptolemais, so daß im Falle eines
für ihn glücklichen Ausgangs der Belagerung ein Einfall in Jaffa
und in das jüdische Küstenland zu befürchten war. Die Königin, die
dem Überfall Vorbeugen wollte, schickte eine Gesandtschaft mit rei-
167
Die Könige Aristobulus I. und Jannäus und die Königin Salome
chen Geschenken in das Lager des Tigranes bei Ptolemais, um so die
Eroberer friedlich zu stimmen. Es ist schwer zu sagen, welchen Ver-
lauf die eingeleiteten Verhandlungen genommen hätten, wenn nicht
ein Zufall die Armenier von Judäa wieder abgelenkt hätte. Tigranes
erhielt nämlich die Nachricht, daß das mit den Parthern kämpfende
römische Heer unter der Anführung des Lucullus in Armenien einge-
di ungen sei, und so sah sich der armenische Fürst genötigt, schleu-
nigst in seine Heimat zurückzukehren, ohne die jüdische Grenze über-
schritten zu haben.
Die von der bürgerlichen wie von der geistlichen Verwaltung glei-
cherweise abgedrängte Sadduzäerpartei fand nun ein Betätigungsfeld
im Heereswesen. Hier waren viele ihrer Vertreter als erfahrene Haupt-
leute unentbehrlich. Ein Gönner und Freund der Sadduzäer, war der
jüngere Königssohn Aristobulus ein Parteigänger des Militärregimes
seines Vaters. Als die zur Macht gelangten Pharisäer die Häupter der
Sadduzäerpartei und besonders die ehemaligen Berater des Alexander-
Jannäus zu verfolgen begannen, trat Aristobulus für diese ein. Er ging
an der Spitze einer sadduzäischen Abordnung zu seiner Mutter, um
gegen die Willkür der Pharisäer Verwahrung einzulegen. Die Haupt-
leute beriefen sich der Königin gegenüber auf ihren Patriotismus und
ihre Kriegsverdienste und wiesen darauf hin, daß sie, falls sie keine
Unterstützung bei ihr fänden, gezwungen sein würden, in die
Dienste des arabischen Königs und anderer Nachbarfürsten zu treten
und so das Vaterland ohne jeglichen militärischen Schutz zu lassen.
Die Königin hatte nun eingesehen, daß das Staatswohl unbedingt eine Be-
schwichtigung der Sadduzäerpartei erfordere, und sie setzte daher viele
von ihnen als Festungs- und Gamisonsbefehlshaber an verschiedenen
Orten ein. Nur drei Festungen: Machärus, Hyrkania und Alexandrium,
wo die Staatsgelder aufbewahrt wurden, blieben dem Oberbefehl der
Sadduzäer entzogen, da die Königin noch immer kein rechtes Ver-
trauen zu ihnen zu fassen vermochte. Ihre Befürchtungen sollten sich
auch sehr bald bewahrheiten.
Gegen Ende der Regierung Salome-Alexandras war die sadduzäi-
sche Oppositionspartei mit Aristobulus an der Spitze bereits so weit
erstarkt, daß sie eine Staatsumwälzung wagen konnte. Die Agitation
gegen die bestehende Ordnung stellte von nun ab die Persönlichkeit
des künftigen Thronerben in den Mittelpunkt ihrer Angriffe. Als die
hochbetagte Königin ernstlich erkrankte, bildeten die Freunde des
168
§ 30. Königin Salome und die Herrschaft der Pharisäer
Aristobulus eine Verschwörung, um den zur Regierung unfähigen, un-
ter pharisäischem Einfluß stehenden Hyrkan zu beseitigen und seinen
jüngeren Bruder auf den Thron zu bringen. Aristobulus verließ Jeru-
salem und begab sich nach der Festung Agaba, wo sein Anhänger, der
Sadduzäer Galästes, den Oberbefehl führte. Sodann vereinigte er sich
mit den ihm ergebenen Hauptleuten in der Provinz und bemächtigte
sich so zweiundzwanzig fester Städte. Er vermehrte sein Heer auch
noch durch unter den Arabern und anderen Völkerschaften angewor-
bene Söldner. Aber auch ein Teil des Volkes schloß sich dem Thron-
prätendenten an, da es ihn der Königskrone durchaus würdiger erach-
tete als seinen Bruder.
Die Kunde von dem Aufstande des Aristobulus erschütterte die
kranke Königin und erregte große Besorgnis in Jerusalem. Hyrkan
und die Volksältesten kamen zur Königin und fragten sie, was nun zu
tun wäre. Die im Sterben liegende Königin überließ es ihnen selbst,
der schwierigen Lage Herr zu werden, indem sie darauf hinwies, daß
sie ja über ein Heer und über die nötigen Geldmittel zur Untere
drückung des Aufstandes verfügten. Bald darauf starb Salome-
Alexandra, 73 Jahre alt, nach einer neunjährigen Regierung (76—67).
Nach einem kurzen inneren Frieden stand die Nation von neuem vor
den Schrecken des Bürgerkrieges.
Drittes Kapitel
Der Bmderkampf der Hasmonäer und
die Einmischung Roms
(67-63)
§ 31. Aristobulus und der Bruderkampf
Der im Moment des Todes der Salome-Alexandra entbrannte Erb-
folgestreit war, wie bereits erwähnt, nicht nur durch einen Zusam-
menstoß der persönlichen Interessen der beiden Brüder und Präten-
denten, sondern auch durch den Kampf zweier national-politischer
Richtungen bestimmt. Die Herrschaft Hyrkans II. konnte wohl zum
Erstarken des Pharisäerregimes im geistlichen Staate beitragen, nicht
aber vor äußeren Feinden Schutz gewähren und die Erhaltung des er-
weiterten Landbesitzes sichern. Die Regierung des kraftvollen und
kriegerischen Aristobulus II. hätte zwar die politische Macht Judäas
sichergestellt (wenigstens mochte es damals, vor dem Einfall Roms, so
scheinen), sie hätte aber zugleich auch das Sadduzäertum und das mi-
litaristische Regime des Alexander-Jannäus zu neuem Leben erweckt.
So kam es, daß die staatspolitisch eingestellten Patrioten, nämlich die
sadduzäische Beamtenaristokratie und der Militär stand, auf seiten des
Aristobulus standen, während die geistlich orientierten Vaterlands-
freunde, also die pharisäische, demokratisch gesinnte Intelligenz und
der Mittelstand, zu Hyrkan hielten, unter dessen Herrschaft sie das
während der vorhergehenden Regierung geltende Regierungssystem zu
erhalten hofften. Der in den Kampf der Parteien aufs engste ver-
flochtene Erbfolgestreit erfuhr bald noch eine weitere Komplikation
durch den Eintritt großer Veränderungen in der Weltpolitik, die
schließlich ein überaus trauriges Ende im Gefolge hatten.
Die von der Partei des Aristobulus vorbereitete Staatsumwälzung
ereignete sich unmittelbar nach dem Tode der Königin Salome. Kaum
170
§ 31. Aristobulus und der Bruderkampf
hatte der Hohepriester Hyrkan II. die Regierung in Jerusalem über-
nommen, als der an der Spitze der aufrührerischen provinziellen Gar-
nisonen stehende Prätendent Aristobulus ihm auch schon den Krieg
erklärte. Das Heer des letzteren zog unverzüglich gegen Jerusalem
und Hyrkan beeilte sich, ihm seine Truppen entgegenzuwerfen. Bei
Jericho kam es zu einem Zusammenstoß der beiden Heere. Während
der Schlacht gingen viele von den Kriegern Hyrkans, von der persön-
lichen Tapferkeit des Aristobulus hingerissen, auf dessen Seite über
und verhalfen ihm so zum Siege. Hyrkan, der voll Furcht den Einzug
des Bruders in die Hauptstadt erwartete, schloß sich in der Tempel-
burg ein; dort befanden sich auch die auf Befehl der Jerusalemer Re-
gierung als Geiseln verhafteten Angehörigen des Aristobulus. Als aber
der Sieger sich Jerusalem näherte, ließ Hyrkan jeden Gedanken an
Widerstand fallen. Die Brüder traten in Verhandlungen miteinander
ein, und im Tempel wurde ein Friedensvertrag geschlossen, demzu-
folge Hyrkan seinem Rechte auf die königliche Gewalt zugunsten sei-
nes befähigteren Bruders entsagte. Dies geschah drei Monate nach
dem Tode der Salome-Alexandra (67). Ob Hyrkan trotzdem noch die
Hohepriesterwürde behielt oder auch auf diese verzichten mußte, ist
unbekannt, da die Angaben der Quellen in diesem Punkte äußerst
widerspruchsvoll sind1). Die Verletzung der Ehre des durch diesen
Vertrag der Königsgewalt beraubten Hyrkan wurde zum Teil dadurch
wieder gutgemacht, daß die Familien der beiden Brüder eine Heixats-
verbindung miteinander eingingen: durch die Vermählung der Toch-
ter Hyrkans, Alexandra, mit dem Sohne Aristobulus’, Alexander,, wollte
man gleichsam die Interessen der Väter in der Nachkommenschaft
zum Ausgleich gelangen lassen.
Die Thronbesteigung Aristobulus II. mußte unvermeidlich bedeu-
tende Veränderungen im ganzen Regierungssystem nach sich ziehen.
Es stand nun das Erstarken der Sadduzäerpartei und eine Reaktion
gegen das bislang geltende Pharisäerregime bevor. Diese Reaktion
setzte anscheinend unvermittelt ein und rief Unwillen in den Reihen
der so schroff von der Regierung abgedrängten Pharisäer hervor.
Aber auch abgesehen von denen, die sich aus innerer Überzeugung
dem Wechsel des politischen Systems widersetzten, gab es derer ge-
nug, deren persönliche Interessen durch die Beseitigung des gesetz-
*) Vgl. Ant. XIV, 1, 2 und Bellum, I, 6, 1 mit Ant. XV, 3, 1 und XX, 10.
Der Bruderkampf der Hasmonäer und die Einmischung Roms
liehen Erben in Mitleidenschaft gezogen waren. Zu ihnen gehörte auch
der Freund des Hyrkan, Antipater oder Antipas, einer jener vorneh-
men Edomiter oder „Idumäer“, die sich unter Jochanan-Hyrkanus I.
zu judaisieren und allmählich in die oberen Schichten der jüdischen
Gesellschaft einzudringen begannen. Der Vater des Antipater, der
ebenfalls Antipater hieß, war von Alexander-Jannäus als „Stratege“
oder Statthalter der Provinz Edom eingesetzt worden und unterhielt
freundschaftliche Beziehungen zu den benachbarten Arabern. Sein
Sohn scheint ihm sowohl in dieser offiziellen Stellung als auch in den
Sympathien für die Araber gefolgt zu sein. Ein Mann von großer Wil-
lenskraft und äußerstem Ehrgeiz, gewann Antipater bedeutenden Ein-
fluß am Jerusalemer Hofe. Der schlaffe Hyrkan II. stand schon als
Thronfolger ganz unter seinem Einfluß, und Antipater winkte so die
Hoffnung, mit der Thronbesteigung des Prinzen dessen Vormund und
der tatsächliche Staatsregent zu werden. Die Thronentsagung Hyrkans
mußte nun die ehrgeizigen Pläne des Edomiters zunichte machen; An-
tipater gehörte aber nicht zu denen, die sich leicht den Umständen
fügen. Nach dem Regierungsantritt des Aristobulus entfachte er eine
geheime Agitation gegen diesen in den höchsten Gesellschaftskreisen
Jerusalems, indem er besonders die Gesetzwidrigkeit der Art und
Weise, wie Aristobulus zur Macht gelangt war, zu betonen pflegte.
Auch Hyrkan selbst, der sich mit seinem Los bereits abgefunden hatte,
stachelte er zur Wiederaufnahme des Kampfes um sein verletztes
Recht an und schreckte ihn mit einer angeblich ihm von Aristobulus
drohenden Lebensgefahr. Indem Antipater dadurch sowohl das Ehr-
gefühl als auch den Selbsterhaltungstrieb des Hyrkan anspornte, ge-
lang es ihm schließlich, diesen für seinen Plan zu gewinnen. Der Plan
bestand darin, daß Hyrkan sich durch offenen Aufruhr, mit dem Bei-
stand arabischer Truppen, die Königsgewalt zurückerobern sollte. An-
tipater hatte bereits mit dem arabischen König Aretas darüber ver-
handelt und sich dessen Versprechen, den jüdischen Prätendenten für
eine gewisse Belohnung zu unterstützen, gesichert.
Eines Nachts verließen nun Hyrkan und Antipater insgeheim Je-
rusalem und flüchteten in das ehemalige edomitische Petra, das jetzt
die Residenz des Königs Aretas geworden war. Hier schlossen beide
Parteien einen Vertrag, demzufolge Aretas sich verpflichtete, Hyrkan
zur Wiedererlangung des Thrones zu verhelfen, wofür der arabische
172
§ 31. Aristobulus und der Bruderkampf
Köllig im Erfolgsfalle zwölf der von Alexander-Jannäus den Arabern
entrissenen Städte zurückerhalten sollte.
Darauf zog Aretas an der Spitze eines zahlreichen Heeres, von Hyr-
kan begleitet, nach Judäa (66—65). Die gegen die Araber entsandten
Truppen unter der persönlichen Anführung des Aristobulus erlitten
eine Niederlage; ein großer Teil des Heeres verließ seinen König und
ging aus freien Stücken zu Hyrkan über. Aristobulus floh nach Jeru-
salem und schloß sich in der Festung auf dem Tempelberge ein,1
während die Araber zusammen mit den Juden der Hyrkanpartei -an
die Hauptstadt heranrückten. Der größte Teil der Bevölkerung Jeru-
salems schlug sich auf die Seite Hyrkans, so daß Aristobulus und
seine Anhänger sich in der Festung belagert sahen. Die Araber unter
der Anführung des Aretas und die zu Hyrkan haltenden Juden um-
zingelten den Tempelberg von allen Seiten, und so entbrannte mitten
in der Hauptstadt selbst ein erbitterter Kampf.
Im Frühjahr 65 stellte Jerusalem ein einziges Kriegslager dar.
Die Umgegend der Hauptstadt und die äußeren Stadtviertel waren von
den verbündeten Heeren der Araber und der jüdischen Parteigänger
des Hyrkan besetzt, während der steile und stark befestigte Tempel-
berg sich in den Händen der von den Verbündeten belagerten Anhän-
ger des Aristobulus befand. In der heiligen Stadt, rings um das er-
habenste Heiligtum Israels und in ihm selbst, standen sich zwei Has-
monäerbrüder, zwei von Feindseligkeit verblendete Teile der Nation
gegenüber. Die Urkunde und die Sage berichten übereinstimmend
über eine Reihe trauriger Episoden aus der Geschichte dieses tragi-
schen Krieges, der der Unabhängigkeit Judäas den ersten Schlag ver-
setzte. '
Die Belagerung des Tempels zog sich in die Länge. Das Passah-
fest, an welchem sonst Haufen von Pilgern von allen Enden Judäas
in die heilige Stadt herbeiströmten, nahte heran; diesmal waren aber
die Stadt und ihr Heiligtum in zwei feindliche Lager getrennt. Viele
verließen das Land und begaben sich zur Passahfeier nach Ägypten,
wo gleichfalls ein Tempel nach dem Vorbild des Jerusalemer errichtet
worden war. In besonders schwieriger Lage befanden sich die Be-
lagerten auf dem Tempelberge, die in den engen Umkreis der Tempel-
höfe eingesperrt waren. Aristobulus und die bei ihm gebliebenen Prie-
ster wollten die für jeden Tag des Passahfestes festgesetzten Opfer
ordnungsgemäß darbringen, es fehlte ihnen jedoch an Opfertieren.
Der Bruderkampf der Hasmonäer und die Einmischung Roms
Sie wandten sich nun an die sie belagernden Anhänger Hyrkans und
baten sie, um jeden Preis ihnen Opfertiere zu verschaffen. Die feind-
liche Partei willigte ein, verlangte aber den unerhörten Preis von
i ooo Drachmen für das Stück. Von dem den Tempelberg umgeben-
den Festungswall ließen die Belagerten täglich an Ketten Körbe voll
Gold herunter, und die Belagernden schickten ihnen in denselben Kör-
ben Opferlämmer herauf. Allein einer der Führer der Hyrkanpartei
(vielleicht Antipater selbst) widersetzte sich dieser Nachgiebigkeit sei-
ner Gesinnungsgenossen und schlug vor, die Lieferung der Opfertiere
für die Belagerten einzustellen, um sie so zur baldigen Übergabe der
Festung zu zwingen. Die Leute um Hyrkan leisteten dem grausamen
Vorschläge Folge und scheuten sich sogar nicht, ihre Gegner zu ver-
höhnen. So schickten sie eines Tages den Belagerten, von denen sie
Geld erhalten hatten, statt des Opferlammes ein Schwein herauf, ein
Symbol des Greuels für die Juden. Diese rohe Verspottung empörte
die Gottesfürchtigen unter dem Volke. Die Sage fügt hinzu, daß bald
darauf über Judäa ein gewaltiger Sturm kam, der das Getreide auf
den Feldern und die Früchte in den Gärten vernichtete, so daß im
Lande eine große Teuerung einsetzte. In dieser Heimsuchung erblick-
ten viele eine Strafe Gottes für die Lästerung des Heiligtums1).
Die durch die erfolglose Belagerung erbitterten Parteigänger Hyr-
kans versuchten nun, in der Hoffnung, den Feind vielleicht auf diese
Weise zu überwältigen, auch zu geistigen Waffen zu greifen. In Judäa
lebte damals ein heiliger Mann namens Onias, möglicherweise aus der
Sekte der Essäer, der im Volke hohen Ruhm genoß. Das gemeine Volk
glaubte an die wundertätige Kraft seines Gebetes, da es von ihm hieß,
er hätte einst durch sein Gebet um Regen das Land von einer Dürre
errettet2). Während der Belagerung des Tempels verbarg sich der hei-
lige Greis fern von der Hauptstadt, da er den Schrecken des Bruder-
krieges nicht beiwohnen wollte. Die Leute Hyrkans fanden ihn aber
trotzdem, brachten ihn ins Lager und verlangten, er möge die Anhän-
D Vgl. die Erzählung in Ant. XIV, 2, § 2 mit der zweifellos geschicht-
lichen Version, die dreimal im Talmud wiederholt wird (Sota, 49; Baba-Kama, $2;
Menachoth 64).
2) Es unterliegt keinem Zweifel, daß der von Josephus erwähnte Onias (Ant.
XIV, 2) mit dem Helden der talmudischen Legende, dem „Chassidäer“ Onias
hameagel, identisch ist, der ebenfalls durch ein erfolgreiches Gebet um Herabsen-
dung des Regens berühmt geworden sein soll, und ein Zeitgenosse des Simon ben
Schetach gewesen ist (s. Taanith, 19, 20 u. a.).
§ 32. Die Einmischung Roms. Pompejus in Syrien und Judäa
ger des Aristobulus im Namen Gottes verfluchen; sie waren überzeugt,
daß der Fluch des Mannes Gottes das Verderben der Feinde beschleu-
nigen werde. Allein Onias trat in die Mitte des Lagers, und seinen
Blick gen Himmel richtend, sprach er also: „0 Gott, du König aller
Dinge, da die jetzt um mich Stehenden dein Volk sind, die Belager-
ten aber deine Priester, so bitte ich dich, du wollest weder jene gegen
diese erhören, noch ausführen, was diese gegen jene erflehen“. Die
gereizten Krieger vermochten die in diesem Gebet zutage tretende
Geistesgröße nicht zu würdigen, sondern empfanden nur Unwillen
über ihre getäuschten Erwartungen. So geschah es, daß einige von den
Onias zunächst stehenden Soldaten ihn auf der Stelle steinigten. Bald
aber erschien von außen her ein Mann des Schwertes und entschied
den Streit, den der Mann des Gebetes nicht zu schlichten vermocht
hatte.
§ 32. Die Einmischung Roms. Pompejus in Syrien und Judäa
Die innere Krise in Judäa fiel mit der zu jener Zeit in ganz Vor-
derasien eingetretenen allgemeinen politischen Krise zusammen.
Gleichwie im IV. Jahrhundert v. d. ehr. Ära die griechische Herr-
schaft, in Form der hellenistischen Monarchien der Seleuciden und
Ptolemäer, im Orient festen Fuß gefaßt hatte, ebenso gelangte im
Laufe des I. Jahrhunderts auf den Trümmern dieser Monarchien die
Macht Roms zur Entfaltung. Rom unterwarf sich Asien nicht mit
blitzartiger Schnelle wie einst Alexander der Große; nur langsam und
vorsichtig schlich sich die mächtige römische Republik an das Erbe
der Seleuciden heran. Schon während der Blütezeit dieser Dynastie,
unter Antiochus dem Großen, ließen sie die Sieger von Karthago ihre
Kraft spüren. Der Unterjocher Judäas, Antiochus Epiphanes, mußte
in seiner Jugend die Bitterkeit der römischen Gefangenschaft aus-
kosten. Nachdem Rom das europäische Griechenland, nämlich Mace-
donien und den Achäischen Bund, unterworfen hatte (i46), schritt es
unaufhaltsam an die Eroberung der asiatischen Besitzungen der Erben
Alexanders des Großen. Zunächst fielen ihm die Kleinstaaten Klein-
asiens als Beute zu: im Jahre i3o unterwarf Rom Pergamon, nnd
es war nun die Reihe an die anderen gekommen. Der bedrohliche
Einfall veranlaßte den kleinasiatischen Fürsten von Pontus, Mithri-
dates Eupator, die Fahne des Aufstandes gegen die Eroberer aufzu-
175
Der Bruderkampf der Hasmonäer und die Einmischung Roms
pflanzen (88). Infolge des Bürgerkrieges in Rom (des Kampfes Sullas
gegen Marius, der Demokraten mit den Optimaten) * war der Aufstand
in Kleinasien erfolgreich und bildete zweiundzwanzig Jahre lang eine
ernstliche Gefahr für die römische Republik (die Mithridatischen
Kriege, 88—66). Erst nach einer äußersten Kraftanstrengung gelang
es den Römern, die feindliche asiatische Koalition endgültig zu be-
siegen. Dieser Sieg fiel im Orient dem großen römischen Feldherrn
Pompejus zu. Der ehemalige römische Konsul und künftige Triumvir
wurde mit diktatorischen Vollmachten für den ganzen Bereich der
asiatischen Mittelmeerküste ausgerüstet. Er befaßte sich hier zuerst
mit der Ausrottung der Seeräuber und stellte so die Sicherheit auf
dem Meere wieder her; sodann unterwarf er Pontus. Dessen König
Mithridates, der ungestüme Anführer der asiatischen Koalition, sah
sich zur Flucht an die nördliche Küste des Schwarzen Meeres, nach
Tauris, genötigt. Nachdem die Züchtigung Kleinasiens und Armeniens
vollbracht war (66), näherte sich Pompejus mit seinen zahllosen
Legionen den Grenzen Syriens. Die altersschwache Seleucidenmon-
archie lag dem Besieger Asiens zu Füßen. Im Jahre 65 sandte Pom-
pejus in das von den Römern bereits besetzte Damaskus seinen Le-
gaten Scaurus. Der letzte der Seleuciden, der Schwächling Anti-
ochus XIII. Asiaticus, ging so auch jenes Schattens von Macht ver-
lustig, den er bisher noch besessen hatte. Syrien gelangte allmählich
unter die Gewalt Roms und von hier aus streckte dieses Riesenunge-
tüm seine Fühler nach Judäa aus, der ehemaligen syrischen Provinz,
die jetzt von einem brudermörderischen Kriege zerrissen war.
In Damaskus erfuhr Scaurus, einer jener beutegierigen römischen
Beamten, die überall die Eroberungen der Republik zu ihrem eigenen
Vorteil auszuschlachten verstanden, von dem im benachbarten Judäa
wütenden Bürgerkriege und eilte sofort dorthin, um die Lage für
sich auszunützen. Kaum hatte er den jüdischen Boden betreten, als
auch schon die Gesandten beider sich befehdenden Brüder, des Hyr-
kan wie des Aristobulus, mit der Bitte um Hilfe bei ihm erschienen.
Aristobulus bot ihm für die militärische Unterstützung den riesigen
Betrag von vierhundert Talenten an, so daß auch Hyrkan seinerseits
sich genötigt sah, den gleichen Betrag anzubieten. Der römische Legat
zog es jedoch vor, auf den Vorschlag des Aristobulus einzugehen, dem
er, als dem legitimen König, eher Vertrauen entgegenbrachte. Er
befahl dem Aretas, mitsamt seinen Arabern Jerusalem unverzüglich
176
§ 32. Die Einmischung Roms. Pompe jus in Syrien und Judäa
zu räumen, wenn er nicht als ein Feind Roms gelten wolle. Aretas
wagte es nicht, sich zu widersetzen, und hob sogleich die Belagerung
auf. Im Besitze seiner Bewegungsfreiheit, setzte nun Aristobulus den
abziehenden Arabern und den Hyrkananhängern nach und brachte
ihnen bei Papyron am Jordan eine Niederlage bei; Scaurus kehrte
aber nach Damaskus zurück.
Im Jahre 64 und zu Beginn des Jahres 63 hatte Pompe jus die
endgültige Unterwerfung Syriens persönlich überwacht und schlug
daher seine Residenz eine Zeit lang in Damaskus auf. Seine Legionen
standen nunmehr dicht an den Grenzen Judäas. Es konnte nicht mehr
zweifelhaft sein, daß Rom früher oder später seine Ansprüche auf die-
ses Land, als auf eine ehemalige Provinz des Seleucidenreiches, geltend
machen würde. Der in Judäa nach wie vor andauernde Bürgerkrieg
beschleunigte aber noch das Herannahen des verhängnisvollen Endes
und machte dem Eroberer seine Aufgabe nur zu leicht. Judäa, eilte
gleichsam selbst dem weitaufgerissenen Rachen des römischen Unge-
heuers entgegen.
Unter den vielen Gesandtschaften, die von verschiedenen morgen-
ländischen Königen nach Damaskus geschickt worden waren, Pom-
pe jus zu huldigen, befand sich auch eine Gesandtschaft des judä-
ischen Königs Aristobulus. Sie legte Pompe jus ein kostbares Geschenk
zu Füßen, das durch seine Pracht sogar die Griechen und RömeiJ
in Staunen versetzte, nämlich einen aus Gold in überaus meister-r
hafter Weise gefertigten Weinstock im Werte von fünfhundert Ta-
lenten1). Bald darauf erschienen Aristobulus und Hyrkan auch per-
sönlich vor Pompe jus und baten ihn um Schlichtung ihres Streites.
Hyrkan führte Klage darüber, daß Aristobulus ihm, dem älteren.
Bruder, gewaltsam das ihm zustehende Recht auf die Königswürde
entrissen habe, weniger um des Interesses der Staatsverwaltung willen
als vielmehr in der Absicht, die Nachbarländer zu überfallen, ja sogar
die Seeräuber zu begünstigen. Durch den letzten Hinweis sollte dem
Pompe jus nahegelegt werden, daß er schon allein wegen der ihm
übertragenen Vollmachten zur Ausrottung der Piraterie es sich zur
Pflicht machen müsse, Aristobulus, dessen Söldner beim Seeraube an-
geblich die Hand mit im Spiele hatten, niederzuhalten. Viele der von
1) Das luxuriöse Kunstwerk wurde nach Rom gebracht und schmückte später
den Tempel des Kapitolinischen Jupiter; dort sah es fünfzig Jahre nach dem ge-
schilderten Ereignisse der bekannte griechische Geograph Strabo (Ant. XIV, 3, i),
12 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
I77
Der Bruderkampf der Hasmonäer und die Einmischung Roms
Antipater mitgenommenen vornehmen Juden setzten sich denn auch
für die Wahrheit der vorgebrachten Klagen ein. Aristobulus trat
hingegen mit viel größerer Würde auf. Von seinem königlichen Ge-
folge umgeben, setzte er dem Pompejus auseinander, daß Hyrkan
seinen Machtverlust nur seiner eigenen völligen Unfähigkeit für den
Herrscherberuf zu verdanken hätte und daß er, Aristobulus, lediglich
im Staatsinteresse die oberste Gewalt selbst in die Hand genommen
habe, um ganz in dem Geiste seines Vaters, des Alexander-Jannäus,
die Staatsgeschäfte weiterzuführen. Neben den beiden Kronpräten-
denten trat auch noch eine dritte Abordnung des neutral eingestellten
Teiles des Volkes auf, die weder den einen noch den anderen der
streitsüchtigen Brüder zum Herrscher haben wollte. Diese Volksge-
sandtschaft hielt es für geboten, die Königsgewalt ganz abzuschaffen,
und verlangte die Wiederherstellung des alten theokratischen Regi-
mes1). Pompejus ließ alle Parteien ruhig ausreden, behielt sich je-
doch die Entscheidung vor. Er versprach, nach Beendigung des be-
vorstehenden Feldzuges gegen die nabatäischen Araber nach Judäa
zu kommen und dort Ordnung zu schaffen, verlangte aber zugleich
von allen Parteien, daß sie sich bis dahin ruhig verhielten.
Dem römischen Eroberer war der innere Hader in dem winzigen
Judäa gewiß höchst gleichgültig. Ihm war es vor allem darum zu
tun, daß das Land das allgemeine Los Gesamtsyriens teile und in
den Herrschaftsbereich Roms einbezogen werde, was durch die innere
1) Über die Gesandtschaft des „Volkes“ berichtet in einer viel klareren Weise
als Josephus (Ant. XIV, 3, 2) das XL. Buch des Werkes des bekannten Historikers
Diodorus von Sizilien, der ein Zeitgenosse des Pompejus war. Hier der Wortlaut:
„Während des Aufenthalts des Pompejus in Damaskus, in Syrien, suchte ihn dort
der König der Judäer Aristobulus auf, sowie dessen Bruder Hyrkanus. Die ange-
sehensten unter den Judäern, über zweihundert an der Zahl, begaben sich zu dem
Autokraten und erklärten ihm, die Vorfahren der Prätendenten, die dem Tempel
Yorgestanden hätten, hätten einst an den (römischen) Senat eine Gesandtschaft ge-
schickt und seien als Repräsentanten des freien und sich selbst verwaltenden jüdi-
schen Volkes anerkannt worden, denn die Nation dürfe nicht von einem König re-
giert werden, sondern müsse unter der Führung eines Hohepriesters stehen; die
Gesandten behaupteten, Aristobulus und Hyrkanus herrschten dem Landesgesetze
zuwider und behielten ungerechterweise die Gewalt über die Bürger, auch hätten
sie den Thron nur mit Hilfe ihrer Söldnerscharen erlangt, auf dem Wege der Ge-
walt und unzähliger schmachvoller Mordtaten.“ Unklar bleibt, im Namen welcher
Partei oder welchen Volksteiles diese Gegner des hasmonäischen Königshauses auf-
getreten waren. Sie mochten vielleicht dem konservativen Flügel der Pharisäer
nahegestanden haben, der sich in seinen auf die Hasmonäerdynastie gesetzten Hoff-
nungen getäuscht sah.
178
§ 32. Die Einmischung Roms. Pompejus in Syrien und Judäa
Zerrüttung nur beschleunigt werden konnte. Mit Ruhe seinem Ziele
entgegenschreitend, stand indessen Pompejus Aristobulus mit Miß-
trauen gegenüber, da er nicht ohne Grund befürchtete, daß dieser
hitzige und kriegerisch gesinnte Hasmonäer sich mit Verzweiflung
gegen die römische Herrschaft sträuben werde. Aber auch Aristobulus
hatte bereits die Absichten des römischen Feldherrn durchschaut, und
voll Besorgnis sann er darüber nach, wie der über Judäa herauf-
ziehenden Gefahr einer neuen Unterjochung vorzubeugen wäre. Un-
geachtet der Bemühungen des Pompejus, ihn während des nabatä-
ischen Feldzuges in seiner Nähe zu behalten, trennte sich Aristobulus,
nachdem er die römische Streitmacht bis nach Dium in Transjorda-
nien begleitet hatte, plötzlich von den Römern und eilte schleunigst
nach Judäa zurück. Hier setzte er sich in der starken, auf einem
Berggipfel nördlich von Jericho im Jordantal errichteten Burg Alex-
andrium fest. Das jähe Verschwinden des jüdischen Königs ver-
stärkte jedoch das Mißtrauen des Pompejus noch mehr; er stellte so-
fort den Vormarsch gegen die Araber ein, setzte über den Jordan und
betrat nun den Boden Judäas.
Vor Alexandrium angelangt, beorderte Pompejus den Aristobulus
zu sich. Nur zögernd leistete der jüdische König diesem Rufe Folge,
nachdem seine Freunde ihn überredet hatten, den Zorn des Römers
nicht noch mehr zu reizen. Fortan war Aristobulus gezwungen, eine
doppelzüngige Politik zu treiben: während er Pompejus versicherte,
sich seinen Entscheidungen ohne weiteres fügen zu wollen, hegte er in
seinem Innern die Absicht, den römischen Eindringlingen kraftvoll
entgegenzutreten. Und als Pompejus nun an ihn die Forderung
richtete, die Hauptfestungen Judäas zu übergeben und dement-
sprechend ihre Kommandanten anzuweisen, begab sich der Will-
fährigkeit zur Schau tragende Aristobulus nach Jerusalem mit
dem festen Entschluß, einen bewaffneten Aufstand in die Wege zu
leiten. In seinem Herzen loderte die Flamme der Vaterlandsliebe der
ersten Hasmonäer hell auf, laut erhob in ihm der von dem hoch-
mütigen römischen Herrn so gedemütigte nationale Stolz seine
Stimme. Das Ziel der Errettung des Vaterlandes von neuer Gewalt-
herrschaft, viel fürchterlicher noch als die der entschwundenen Seleu-
cidenmacht, erstand vor dem geistigen Auge dieses Nachfahren des
Juda Makkabäus in seiner ganzen Erhabenheit — jedoch zu spät.
Pompejus erhielt Kunde von dem Vorhaben des jüdischen Königs
12*
*79
Dei• Bruderkampf der Hasmonäer und die Einmischung Roms
und setzte seine Truppen auf dem Wege über die „Stadt der Dattel-
palmen“, Jericho, gegen Jerusalem in Bewegung. Als die unbezwing-
baren römischen Legionen dicht vor den Toren der Hauptstadt stan-
den, sank der Mut des Aristobulus ganz. Er begab sich abermals zu
Pompe jus ins Lager, versprach, alle militärischen Maßnahmen zu
unterlassen, eine Entschädigung zu zahlen, ja sogar Jerusalem zu
übergeben. Pompejus gab sich mit diesen Unterwürfigkeitsbezeugun-
gen durchaus zufrieden, behielt jedoch Aristobulus bei sich, während
er seinen Hauptmann Gabinius mit einer Heeresabteilung nach Jeru-
salem schickte, um bei der Bevölkerung die zugesicherte Kriegsent-
schädigung einzutreiben. Gabinius kehrte jedoch gar bald unverrich-
teter Dinge zurück, da die Jerusalemer Patrioten sich weigerten, die
Römer in die Stadt einzulassen und das von Aristobulus unfrei-
willig geleistete Versprechen zu erfüllen. Pompejus war darüber so
entrüstet, daß er Aristobulus in Haft nehmen ließ und sich nun zum
Sturmangriff gegen Jerusalem zu rüsten begann (im Sommer 63).
§ 33. Die Einnahme Jerusalems durch Pompejus (63)
In Jerusalem hatte der Einfall der Römer ein neues Auf lodern des
Parteizwistes zur Folge. Die kriegerische Partei des Aristobulus, durch
dessen Gefangennahme im Lager des Pompejus in noch größere Auf-
regung versetzt, bestand auf bewaffnetem Widerstand und auf einem
Kampf wider die Römer bis zum letzten Blutstropfen; die Partei-
gänger Hyrkans und die neutral Gestimmten traten dagegen für die
Übergabe der Hauptstadt an Pompejus ein, um so wenigstens das
Schlimmste abzuwenden. Die Furcht vor der Macht der römischen
Waffen zwang die Mehrheit der Bevölkerung, sich der Partei, die
für die Kapitulation war, auzuschließen. Die in der Minderheit ge-
bliebenen Anhänger des Aristobulus überließen nun die äußeren
Stadtteile ihren Gegnern, verschanzten sich selbst aber (wie vor kur-
zem, während des Zusammengehens der Araber mit der Hyrkanpartei)
auf dem Tempelberge und besetzten den Tempel, wobei sie die die Burg
mit der Stadt verbindende Brücke zerstörten. Die Anhänger der anderen
Parteien öffneten darauf die Stadttore, ließen das römische Heer
ein und übergaben Pompejus die Stadt mitsamt dem Königspalaste.
Nun belagerten die römischen Legionen den Tempelberg, auf dem
sich die Patrioten verschanzt hatten. Dieser stellte eine' starke, sogar
180
§ 33. Die Einnahme Jerusalems durch Pompe jus
für römische Waffengewalt schwer zu erstürmende Festung dar. Von
der östlichen und südlichen Seite hing der Tempelberg steil, fast senk-
recht herab; im Westen war er durch einen tiefen Graben von 'der
Stadt getrennt, während die einzige ebene, die nördliche Seite, durch
dicke Mauern mit Türmen und Schießscharten geschützt war. Gegen
die westliche und die nördliche Seite setzte nun Pompe jus seine ganze
Belagerungskunst ein. Die römischen Soldaten suchten den tiefen, die
Stadt von der Festung trennenden Graben zu verschütten und an des-
sen Stelle einen hohen Wall aufzuwerfen. Die Angriffsvorbereitungen
zogen sich jedoch in die Länge, da die Belagerten sie in jeder Weise
behinderten, indem sie die Feinde unausgesetzt mit einem Pfeil- und
Steinregen überschütteten; sie hätten wohl noch viel mehr Zeit in
Anspruch genommen, wenn sich die Römer die Strenge der jüdischen
Gesetze über die Sabbatruhe nicht zunutze gemacht hätten. Das Ge-
setz gestattete nämlich den Juden, an Sabbattagen einen unmittelbar
das Leben bedrohenden Angriff abzuwehren, nicht aber Arbeiten zur
Vorbeugung künftiger Angriffe zu verrichten. Dies wohl wissend,
ordnete Pomp ejus an, daß die römischen Krieger an Sabbattagen die
Juden nicht beschießen, sondern sich ausschließlich mit der Auf-
schüttung und Befestigung des Walles abgeben, sollten, woran sie die
Belagerten von Gesetzes wegen nicht hindern durften.
Als der von den Römern aufgeworfene Wall eine genügende Höhe
erreicht hatte, ließ Pompejus die aus Tyrus gebrachten, Steine
schleudernden Belagerungsmaschinen auf dem Walle aufstellen. Nun
begann ein unausgesetztes Beschießen des Tempels. Die Lage war ver-
zweifelt, allein die Belagerten verloren noch immer nicht den Mut.
In dem bombardierten Tempel hielten die Priester den täglichen
Morgen- und Abendgottesdienst mit den üblichen Opferdarbringungen
(Tamid) ab. Die jüdischen Krieger wehrten sich aufs hartnäckigste.
Erst nach einer dreimonatlichen Belagerung gelang es den Römern,
einen der großen Türme zu zerstören und eine Bresche in die Mauer
zu schießen. Als erster drang an der Spitze seiner Abteilung der Sohn
des berühmten römischen Diktators Sulla in die Festung ein; ihm
folgten die anderen. Das geschah an einem Sabbattage, oder, einer
anderen Überlieferung zufolge, an dem Jom-Kippur-Fasttage, als im
Tempel gerade der feierliche Gottesdienst abgehalten wurde. Nach
dem Zeugnis römischer Geschichtsschreiber blieben die jüdischen
Priester unbeirrt auf ihren Plätzen und walteten auch jetzt noch,
181
Der Bruderkampf der Hasmonäer und die Einmischung Roms
urtter den blanken Schwertern der Römer, unerschrocken ihres Amtes.
Die römischen Soldaten ließ jedoch das erhabene. Schauspiel kalt,
und sie hieben die Priester kurzerhand am Fuße des Altars nieder.
Die rasend gewordenen Sieger richteten auf dem Tempelberge ein
furchtbares Gemetzel an. Das war im Herbst 63, als in Rom der be-
rühmte Cicero Konsul war.
Pompe jus drang mit seinem Gefolge in das innere Heiligtum des
Tempels (das „Allerheiligste“) ein, wohin sogar den Juden, mit Aus-
nahme des Hohepriesters, der Zutritt strengstens untersagt war. Die
Römer besichtigten nicht ohne Neugierde diese geheimnisvolle Halle,
über die unter den Heiden allerlei abergläubische Gerüchte im Um-
laufe waren. An Stelle der in den heidnischen Tempeln üblichen
Götterdarstellungen erblickten die römischen Krieger hier nur gol-
dene Leuchter, Opferkelche und anderes Tempelgerät, ließen indessen
sowohl die goldenen Weihgefäße als auch die reiche Tempelschatz-
kammer unberührt. Pomp ejus ordnete sogar an, daß der Tempel
gesäubert und der Gottesdienst von Neuem aufgenommen werde. Mit
den Urhebern des Krieges aus der Partei des Aristobulus ging jedoch
Pompe jus hart ins Gericht: er ließ alle Führer der Patriotenpartei
enthaupten.
Sodann ging Pompe jus daran, in Judäa Neuerungen einzuführen.
Das Land wurde Rom tributpflichtig gemacht und unter dessen Vor-
mundschaft 'oder Protektorat gestellt, ohne jedoch seine staatliche
Autonomie einzubüßen. Hyrkan II. wurde in seiner Würde als Hohe-
priester und als Vertreter des Volkes oder „Ethnurch“ bestätigt,
mußte jedoch auf den Königstitel verzichten. Seine Gewalt erstreckte
sich nun nicht mehr über den ganzen, durch die Eroberungen der
Hasmonäer erweiterten jüdischen Landbereich, denn ein großer Teil
dieser Eroberungen wurde, auf Anordnung des Pompejus, Judäa ab-
gesprochen. Sämtliche Städte mit vorwiegend griechischer Bevölke-
rung (Jaffa, Gaza, Dora u. a.), ferner die syrischen Städte am Jordan
(Gadara, Pella, Dium u. a.), ebenso auch einige Ortschaften im mitt-
leren Landgebiet (Samaria, Skythopolis) wurden den Juden abge-
nommen und dem neueroberten römischen Landbesitz in Syrien an-
geschlossen. Wie das republikanische Rom auch sonst zu tun pflegte,
bedachte es alle diese Städte mit einer weitgehenden Selbstverwaltung,
so daß Pompejus von deren griechischer Einwohnerschaft, die sich
durch die jüdische Herrschaft beengt fühlte, als Befreier und zudem
182
§ 33. Die Einnahme Jerusalems durch Pompejus
noch als heidnischer Glaubensgenosse aufs freudigste begrüßt wurde.
Zehn dieser freien, östlich vom Jordan gelegenen Städte bildeten
eine unter dem Namen Dekapolis bekannte Föderation (das oben-
erwähnte Gadara, Pella und die anderen Nachbarstädte). Seitdem kam
bei den palästinischen Griechen die Pompejanische Ära in Gebrauch,
die ihre Münzen und Urkunden führten: es war dies die Ära der
Restauration der griechisch-syrischen Autonomie in den Randgebieten
Palästinas und zum Teil auch in seinem Mittelstrich (Samaria). Da-
gegen wurde das gesamte jüdische Volk, dem Ausdruck seines alten
Geschichtsschreibers zufolge, in die engen Schranken seines Landes
zurückgedrängt. Großjudäa verwandelte sich nun wieder in ein
Kleinjudäa. Das ganze ihm entrissene Landgebiet wurde der neuge-
gründeten römischen Provinz Syrien einverleibt, als deren Statthalter
Pompejus den bereits erwähnten Legaten Soaurus ernannte.
Nachdem Pompejus so die Verhältnisse in Judäa und Palästina
geordnet hatte, begab er sich über Kleinasieil nach Rom zurück. Er
führte als Kriegsgefangene den abgesetzten König Aristobulus, dessen
beide Töchter und dessen Söhne, Alexander und Antigonus, mit sich.
Im Jahre 61, als Pompejus, nach dem siegreichen asiatischen Feld-
zug, seinen triumphalen Einzug in Rom hielt, schritt unter anderen
unterworfenen Fürsten Asiens auch der königliche Gefangene Ari-
stobulus mit seinen Kindern (Alexander ausgenommen, der unterwegs
geflohen war) vor dem Triumphwagen einher. Außer der Familie
des Aristobulus brachte Pompejus noch viele andere jüdische Gefan-
gene mit sich nach Rom, die nach Wiedererlangung der Freiheit dort
verblieben und den Kern der römischen jüdischen Gemeinde bildeten.
So fiel der unabhängige hasmonäische Staat nach einem fast acht-
zigjährigen Bestände. Der Zusammenstoß mit Rom, nachdem es sich
nun einmal die Eroberung Asiens zum Ziele gesteckt hatte, war aller-
dings unvermeidlich, die Tragik lag aber darin, daß der innere Zwist
das Eintreten der verhängnisvollen Folgen dieses Zusammenstoßes in
jeder Weise beschleunigt hatte. Wie die Einmütigkeit der ersten Has-
monäerbrüder, im Zusammenhang mit dem damals einsetzenden Zer-
fall der Seleucidenmonarchie, die politische Freiheit Judäas zu neuem
Leben erweckte, so mußte der Zwist der letzten Hasmonäerbrüder,
neben der Unterwerfung Syriens durch Rom, zum Untergange dieser
Freiheit beitragen. Nun beginnt eine neue geschichtliche Epoche, die
Epoche des römischen Protektorats in Judäa.
i83
Viertes Kapitel
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
§ 34. Judäa und die Diaspora
Zwei Fragen erheben sich sofort für jeden, der über das jüdische
Leben in der Hasmonäerepoohe einen Überblick gewinnen will: Hat
sich erstens die Diaspora, d. i. die Zerstreuung der Juden in verschie-
denen Ländern und Kulturzentren außerhalb des unabhängigen jüdi-
schen Reiches, in jener Epoche verringert? Und ist es zweitens dem
von der politischen Oberhoheit der orientalisch-hellenischen Umwelt
befreiten Judäa gelungen, sich auch von deren kulturellem Einfluß
zu befreien? Auf beide Fragen fällt die Antwort der Geschichtsschrei-
bung, wie wir bald sehen werden, verneinend aus.
Die hasmonäische Epoche, die die jüdische Bevölkerung Judäas
und der benachbarten palästinischen Länder zu einem politischen Gan-
zen verband, vermochte wohl den weiteren Prozeß der Zerstreuung
der Juden, der unter der Ptolemäer- und Seleucidenherrschaft be-
drohliche Dimensionen angenommen hatte, aufzuhalten; sie reduzierte
aber nicht die Zahl der von früher her bestehenden, außerhalb Palä-
stinas, in Asien und Afrika, verstreuten jüdischen Kolonien und Kul-
turzentren. Große und kleine jüdische Ansiedlungen bestanden auch
weiter in Ägypten, Mesopotamien, Syrien und Kleinasien fort1). Zu
besonderer Entfaltung und Blüte gelangte dabei der jüdische kultu-
relle Mittelpunkt in Ägypten, von dem jedoch erst weiter unten die
Rede sein wird. Dagegen vernehmen wir nichts von einer bedeutenden
1) Hinsichtlich Kleinasiens und Syriens ist dies aus jenen Freibriefen zu er-
sehen, die Julius Cäsar für eine ganze Reihe jüdischer Gemeinden in diesen zu Pro-
vinzen des römischen Reiches gewordenen Ländern ausstellen ließ (s. unten, § 63).
Diese Freibriefe wurden infolge der Klage der jüdischen Gemeinden vor der rö-
mischen Regierung wegen Verletzung ihrer autonomen Rechte seitens der einheimi-
schen griechischen Bevölkerung erteilt; wenn aber solche Klagen im I. Jahrhundert
i84
§ 54. Judäa und die Diaspora
Auswanderung der Juden der Diaspora nach Judäa in dieser Zeit,
obwohl Jerusalem allerorten als der geistige Mittelpunkt der Nation
galt. Die Diaspora beschränkte sich darauf, die festgesetzten Opfer
und Weihgeschenke zugunsten des Jerusalemer Tempels zu schicken
und entsandte außerdem zu den großen Jahresfeiertagen Scharen von
Pilgern in die heilige Stadt.
Eines der größten Verdienste der Hasmonäer bestand darin, daß
es ihnen gelungen war, die Juden im Landbereich Palästinas selbst
zu vereinigen. Dank den Eroberungen des Jochanan-Hyrkanus I. und
des Alexander-Jannäus wurden die ehedem unter syrischer Gewalt ste-
henden alt-israelitischen Gebiete (Samaria, Galiläa) sowie das phili-
stäisch-phönizische Küstengebiet und ein Teil Transjordaniens Judäa
wieder einverleibt. Dies ermöglichte auch die Verschmelzung der zer-
streuten jüdischen Bevölkerung der Judäa angegliederten Provinzen
mit dem Kern der Nation im Zentralgebiet. Allein die Eroberungs-
politik wirkte andererseits auch nachteilig auf die nationale Konso-
lidierung. Zugleich mit dem jüdischen Element drang in Judäa auch
eine ganze Flut von Fremdstämmigen ein, vornehmlich von syrischen
Griechen. Das von den syrischen Machthabern befreite Judäa erhielt
nun selbst syrische Untertanen. Eine kompakte jüdische Bevölkerung
war nur im eigentlichen Judäa zu finden, während im Küstengebiet,
in Transjordanien und in einigen Gegenden Galiläas auch in der
Epoche des unabhängigen Judäa große Massen von Heiden geblieben
waren. Die Versuche der hasmonäischen Könige, die ihnen Untertanen
Heiden zu judaisieren, mochten wohl bei den rassenverwandten Edo-
mitern Erfolg gehabt haben, nicht aber bei den den Juden so frem-
den Griechen und Syrern. Da die Juden sich nicht an die syrischen
Griechen assimilieren wollten und andererseits auch diese nicht in
ihrem Bestände aufzulösen vermochten, so mußte sich notgedrungen
eine bestimmte Wechselwirkung zwischen den beiden Kulturkreisen
herausbilden. Still und unmerklich ging der Prozeß der Einwirkung
des Judaismus auf die hellenische Welt vor sich, nur langsam sicker-
v. d. ehr. Ära geführt werden konnten, so erhellt daraus, daß diese autonomen
Gemeinden hier auch schon früher bestanden und darum auch allen Grund
hatten, sich auf die alten Vorrechte aus den Zeiten Antiochus III. zu berufen (oben,
S 4)- Über jüdische Gemeinden in einzelnen Punkten Kleinasiens (Ephesus u. a.)
zur Zeit der griechischen Herrschaft und der Hasmonäer besitzen wir auch epigra-
phische Daten. Vgl. Schürer, Gesch. III. (4. Aufl. 1909), S. 12—24, 57, 124-
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
ten jüdische religiös-sittliche Begriffe in die heidnische Weltanschau-
ung ein, allmählich so ihre Grundlagen unterwühlend und den gro-
ßen Zusammenbruch des Polytheismus beschleunigend. Greifbarer war
dagegen die Einwirkung des Hellenismus auf gewisse Seiten des jü-
dischen Lebens, vornehmlich im Bereiche der äußeren Kultur. Die
damals im Orient zu immer weiterer Verbreitung gelangende helle-
nische Kultur war nicht ausgesprochen national gefärbt: sie war viel-
mehr kosmopolitisch; manche ihrer Bestandteile waren zu gangbaren,
durch den Gebrauch verwischten Scheidemünzen geworden, die die
Eigenart ihrer Prägung längst eingebüßt hatten. So konnte auch Ju-
däa, diese kleine Insel im orientalisch-hellenischen Meere, nicht um-
hin, sich dieser gangbaren Münze im internationalen Austausch der
Kulturgüter in ausgiebigster Weise zu bedienen.
Den Hauptfaktor des internationalen Verkehrs bildete der Handel.
Auf dem Küstenstrich des Mittelmeeres, von Ptolemais bis Gaza, hat-
ten schon längst die Griechen und hellenisierten Eingeborenen die ehe-
malige Stelle der Phönizier im Welthandel eingenommen. Mit der An-
gliederung dieses Landstriches an Judäa wird auch der wirtschaftliche
Verkehr zwischen der jüdischen und griechischen Bevölkerung immer
reger. Die Handelsbeziehungen werden lebhafter und damit zugleich
auch der gegenseitige Austausch der Zivilisationsfaktoren. Die schon
längst zur internationalen Sprache des Orients gewordene griechische
Sprache bereichert das Hebräische durch viele ihrer Bestandteile. In
die Umgangssprache der Juden (die hebräisch-aramäische Mundart)
dringt eine Fülle griechischer Wörter ein, vornehmlich technische Be-
zeichnungen, die sich später auch in der Schriftsprache (Sprache der
Mischna) das volle Bürgerrecht erkämpften1). Griechische Eigenna-
men finden gleichfalls eine weite Verbreitung in Judäa; die hasmo-
näischen Könige und Prinzen fügen ihren hebräischen Namen grie-
chische bei (Juda-Aristobulus, Jannäus-Alexander, Salome-Alexandra
usf.), und manche von ihnen begnügen sich zuweilen mit dem grie-
chischen Namen allein (Aristobulus II., Antigonus u. a.). Die klein-
asiatischen Griechen in den Mietstruppen Judäas tragen auch ihrerseits
!) So die Fachausdrücke des Handels, wie: Monopol, Siton (Getreidehändler),
Pinkas (Rechenbuch); Ausdrücke aus dem Gerichtswesen, wie: Synhedrion, Kategor
(Ankläger), Parakiel (Verteidiger), Epitropos (Vormund); aus dem Militärwesen:
Polemos (Krieg), Astratia (Heer), Astrategos (Heerführer); schließlich — die mit
der üblichen Lebensführung zusammenhängenden Wörter, wie: Sandal (Schuh), Ra-
thedra und viele andere.
186
§ 35. Der Kulturkampf zwischen Sadduzäern und Pharisäern
viel Fremdartiges in die Lebensgewohnheiten verschiedener jüdischer
Gesellschaftsklassen hinein. Die vorwiegend der sadduzäischen Rich-
tung nahestehenden Hasmonäerherrscher begünstigen aus staatspoli-
tischen Rücksichten nur allzu gern diese gegenseitige kulturelle An-
näherung der verschiedenen Bevölkerungsteile, während sich die Phari-
säer gleichzeitig alle Mühe geben, gegen den mächtigen Anprall der
heidnischen Kultur einen unzerstörbaren Damm zu errichten. Nicht
ohne Grund befürchten sie, daß die fremden Einflüsse aus der Sphäre
des alltäglichen Lebens sich auch in das geistige Leben des Volkes
Eingang verschaffen werden, da doch eine scharfe Abgrenzung der
beiden Lebenssphären voneinander überhaupt unmöglich ist. Dieser
künstlich errichtete Damm, in Form einer religiösen „Umzäunung“,
erfüllte denn auch die ihm zugewiesene Aufgabe. Der national-reli-
giöse Selbsterhaltungstrieb führte dem Juden gleichsam vor Augen,
daß ihm eine ganz besondere geistige Wachsamkeit not tue, um in dem
ihn umbrandenden heidnischen Meere sich an der Oberfläche halten
zu können. Dieser Trieb war es gerade, der die Volksmassen dazu ge-
neigt machte, die schwere Bürde der strengen religiösen Zucht der
Pharisäer auf sich zu nehmen und diese Partei in ihrem Kampfe wider
die Sadduzäer aufs kräftigste zu unterstützen.
§35. Der Kulturkampf zwischen den Sadduzäern und den Pharisäern
Der oben dargestellte politische Kampf zwischen den Sadduzäern
und den Pharisäern wurzelte in dem verschiedenartigen Verhalten je-
der der sich gegenseitig befehdenden Parteien zu dem Typus des na-
tionalen Staates (§ 2 4) und mußte sich daher in seinen Verzweigun-
gen auch auf das kulturelle Gebiet erstrecken: auf das der Religion,
des Kultus, der Dogmatik. Auf diesem Gebiete fällt es jedoch schwer,
die allmähliche Entwicklung des Streites ins Einzelne zu verfol-
gen, da er sich hier über zwei bis drei Jahrhunderte erstreckte, und
wir heute nicht mehr festzustellen vermögen, worin sich die Meinungs-
verschiedenheiten schon in der Hasmonäerzeit äußerten und worin
erst in der nachfolgenden Epoche der römischen Herrschaft, als der
soziale Hintergrund des Kampfes eine merkliche Änderung erfahren
hatte. Die Nachrichten über die religiösen Streitigkeiten zwischen Sad-
duzäern und Pharisäern liegen uns in erst späterer Zeit entstammen-
den Quellen vor (die Bücher des Josephus Flavius, des Neuen Testa-
187
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
ments und des Talmud), die über das Anfangsstadium des Zwiespal-
tes auf Grund jener Formen urteilen, die er in der ihnen unmittel-i
bar bekannten Zeit angenommen hatte. Hinsichtlich der Hasmonäer-
epoche ist der Geschichtsschreiber daher berechtigt, nur die allge-
meinen religiösen Meinungsverschiedenheiten, namentlich aber die mit
dem damals herrschenden politischen Kampfe in Zusammenhang ste-
henden zu beachten, in der Annahme, daß der religiöse Streit in sei-
nem vollen Umfange erst in den folgenden Jahrhunderten zur Ent-
faltung kam, als das Problem der Staatsform von dem Problem der
Errettung der Nation durch Verschärfung der geistigen Zucht ganz
in den Hintergrund gedrängt worden war1).
Man kann wohl annehmen, daß zuallererst sich jene Mei-
nungsverschiedenheit zwischen den Sadduzäern und Pharisäern gel-
tend machte, die die Anerkennung der mündlichen Lehre (Thora
sche’baal pe) oder die „Überlieferung der Ältesten“ („paradosis
ton presbyteron“ bei Josephus) betraf. Sind all die mündlichen
Überlieferungen der Rechtsgelehrten nebst den Volksbräuchen, die
im Laufe von Jahrhunderten die hochragende „Umzäunung der
Thora“, der geschriebenen Verfassung des jüdischen Volkes, geschaf-
fen hatten, als verbindlich anzusehen? Und, bejahendenfalls, in wel-
chem Maße? — Die Antwort der Sadduzäer lautete im allgemeinen
verneinend. Das geschriebene „Mosesgesetz“ für unbedingt verbind-
lich erklärend, lehnten sie indessen gar manches von den späteren
Überlieferungen, den Gelehrteninterpretationen und den im Volke ein-
gebürgerten Bräuchen mit Entschiedenheit ab. Für sie war der Judais-
mus erstarrt, in seiner Entwicklung an einem toten Punkt angelangt,
und so empfanden sie auch kein Bedürfnis nach jener Kette von In-
terpretationen und Bräuchen, die die Lehre mit dem Leben verband
und sie aus einem Mittel der persönlichen Zucht zu einem Werkzeuge
gesellschaftlicher Bindung machte. In der Befolgung des geschriebe-
nen Buchstabens der Thora legten die Sadduzäer einen ungewöhnlichen
religiösen Konservativismus an den Tag, behielten sich aber um so
größere Handlungsfreiheit jenseits des Herrschaftsbereiches der Thora
vor, den zu erweitern sie in keiner Weise gewillt waren. Männer welt-
licher Kultur, die sie nun einmal waren, vermochten sie sich nur
schwer mit den sie behindernden Vorschriften über Speise, Sabbat-
ruhe und rituelle Reinheit abzufinden, die auf dem Wege der Aus-
U S. Anhang zu diesem Bande, Note 2.
188
§ 55. Der Kulturkampf zwischen Sadduzäern und Pharisäern
legung der Thoragebote sich breit verzweigten und die Absonderung
des jüdischen Volkes von der es umgebenden heidnischen Welt be-
zweckten. Die Sadduzäer verspotteten den übermäßigen Eifer der Pha-
risäer in der Einhaltung der die rituelle Reinheit betreffenden Bräuche
und als sie sahen, wie die Pharisäer im Jerusalemer Tempel die Ge-
fäße zu Reinigungszwecken ins Wasser tauchten, sprachen sie höh-
nisch: „Bald werden die Pharisäer auch die Sonnenscheibe mit Was-
ser abwaschen“. Meinungsverschiedenheiten bestanden auch in Fragen
des Zeremoniells des Festgottesdienstes. Hinsichtlich des sommer-
lichen „Erntefestes“ oder der „Wochen“ (Schebuoth, Pfingsten)
erwies sich selbst die Frist des Feiems als umstritten. Nach
dem Thorabuchstaben tritt die Frist nach Ablauf von sie- •
ben Wochen „vom Tage nach dem Sabbat, da der Omer (d. i.
die Passahgetreidegarbe) dargebracht“ wurde, ein (Lev. 2 3, n, i5).
Aus diesem Grunde glaubten die Sadduzäer schließen zu müssen, daß
Schebuoth immer an einem dem Sabbat folgenden Tage, d. i. am
Sonntage, zu feiern sei, und zwar sieben Wochen nach dem Passah-
sonntage. Die Pharisäer waren hingegen der Meinung, daß die sieben
Wochen nicht unbedingt von einem Sabbat ab gerechnet werden müß-
ten, sondern von dem zweiten Passahtage, an dem im Tempel der
,/)mer“, die erste Getreidegarbe, als Symbol des Erntebeginns dar-
gebracht zu werden pflegte, so daß das Schebuothfest infolgedessen
auf jeden beliebigen fünfzigsten Tag nach dem „Omer“ fallen könne
und den Ernteschluß zu versinnbildlichen hätte1). So wurde denn auch,
wie es scheint, der Festtag verschieden angesetzt, je nachdem im Syn-
hedrion zur gegebenen Zeit eine sadduzäische oder eine pharisäische
Mehrheit vorhanden war. Am herbstlichen Sukkothfest hielten sich die
Pharisäer an den durch die Anerkennung des Volkes geheiligten Brauch
der „Wasserlibation“ am Tempelaltar, ebenso wie an die Sitte des
Tragens von Weidenzweigen am siebenten Festtage, während die Sad-
duzäer diese Bräuche als von der Thora nicht erwähnt rundweg ab-
lehnten. Die Mißachtung des Libationszeremoniells durch den könig-
lichen Sadduzäer Jannäus gab sogar, wie bereits erwähnt, den unmit-
telbaren Anlaß zu einem blutigen Zusammenstoß im Jerusalemer
Tempel (§ 28).
Ein dumpf er Widerhall dringt auch zu uns von Streitigkeiten zwi-
1) Die Karäer halten sich bis zum heutigen Tage an die sadduzäische Interpre-
tation und begehen das Schebuothfest stets an einem Sonntage.
189
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
sehen Sadduzäern und Pharisäern, deren Gegenstand das Gerichts-
wesen und die Prozeßordnung bildeten, ein Gebiet,- das der Kompe-
tenz der höchsten Gerichtsstelle, des Synhedrion, unterstand. In die-
sem Punkte erwiesen sich die Sadduzäer, der Überlieferung zufolge,
als viel strenger und konservativer denn ihre Gegner. In ihren Ge-
richtsentscheidungen ließen sich die Sadduzäer sogar von den ganz
veralteten Normen der biblischen Gesetzgebung leiten; so legten sie
das Gesetz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ buchstäblich aus, näm-
lich in dem Sinne, daß jeder, der irgendeine Körperverletzung sich
hatte zuschulden kommen lassen, vom Gericht zu der gleichen Schä-
digung seines Körpers verurteilt werden müsse, während die Phari-
säer die grausame Strafart durch eine Geldstrafe zu ersetzen pfleg-
ten. Die pharisäischen Quellen, aus denen wir diese letzte Nachricht
schöpfen, mögen in diesem Falle die Grausamkeit der Sadduzäer über-
trieben haben, es erscheint jedoch nicht ausgeschlossen, daß diese in
der Tat vielfach zur Anwendung von antiquierten Strafarten neigten.
Will doch eine erhaltengebliebene Überlieferung wissen, daß der i4-
Tammus vom Volke aus dem Grunde gefeiert zu werden pflegte, weil
an diesem Tage das Strafstatut der Sadduzäer (Sefer geseroth) außer
Kraft gesetzt worden war. Dies mag unter Salome-Alexandra ge-
schehen sein, als die Pharisäer im Synhedrion die Oberhand über
die Sadduzäer gewonnen hatten und die Wiederherstellung der phari-
säischen Gesetzgebung durchsetzten1).
Wie die Sadduzäer die mündliche Tradition auf dem Gebiete der
Riten und Bräuche verwarfen, so lehnten sie sie auch in Bezug auf
die religiöse Dogmatik ab. Ebenso wie die äußeren Formen des Ju-
daismus behandelten sie auch seine Dogmen als etwas endgültig Abge-
schlossenes. So gab z. B. die offiziell anerkannte Thoralehre keine Ant-
wort auf die Frage vom Leben nach dem Tode wie auch von der Ver-
geltung „in der zukünftigen Welt“, Fragen, die von jeher das Ge-
wissen der Gläubigen bewegten und gefährliche Zweifel an der gött-
lichen Gerechtigkeit wachriefen (Psalmen, Hiob, Kohelet). Das reli-
giöse Nachdenken löste indessen im Laufe der Zeit das Problem
im positiven Sinne, so daß im Judentum zur Zeit der Griechenherr-
schaft der Glaube an die Vergeltung im Jenseits bereits feste Wurzeln
zu fassen vermochte. So brachte denn auch das „Buch Daniel“ diesen
D Megillath Taanith, Kap. 4- Vgl. Anl. XIII, 16, 2 und XX, 9, 1. S. Cxrätz,
Geschichte III, Note 1 (4- Aufl. S. 567 f.).
§ 35. Der Kulturkampf zwischen Sadduzäern und Pharisäern
Glauben in der primitiven Form der „Auferstehung der Toten4 4 zum
Ausdruck: „Und viele von denen, die im Erdenstaube schlafen, wer-
den erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu Schmach,
zu ewigem Abscheu“ (12, 2). Die Chassidäer, aus deren Mitte der
Verfasser des „Daniel“ stammte, sowie deren Nachfolger, die Phari-
säer, erkannten nun dieses Dogma rückhaltslos an, während die Saddu-
zäer es als eine unverbindliche Volksansicht durchaus leugneten1).
„Der Lehre der Sadduzäer zufolge vergehen die Seelen der Menschen
mit ihren Leibern4 4, bestätigt auch der alte Geschichtsschreiber. Und
auch die talmudische Überlieferung bezeugt mit Bestimmtheit, die
Sadduzäer hätten behauptet: „Über die Auferstehung der Toten steht
in der Thora nichts“1 2). Vielleicht ließen die Sadduzäer als Rationa-
listen nur die Unsterblichkeit des Geschlechts gelten, nicht aber die
des Einzelnen; auch mochten sie vielleicht nur die abstrakte Idee der
Unsterblichkeit der Seele anerkennen, nicht aber den Glauben an die
Auferstehung der Toten, die sie als ein unwahrscheinliches Wunder
und allenfalls als ein von der Thora nicht bezeugtes und darum auch
durchaus unverbindliches Dogma betrachteten. Die weltliche Den-
kungsart wie der auf das Praktische gerichtete Sinn der Sadduzäer
konnten sich schlecht mit einem mystischen Glauben vertragen, der
nur den innig religiösen Naturen ein Bedürfnis war. Die Widersprüche
der religiösen Moral berührten sie nur wenig; nüchtern und kühl ab-
1 Die talmudische Sage bringt mit dieser Abweisung des Glaubens an die Un-
sterblichkeit sogar das Aufkommen des Sadduzäertums selbst in Zusammenhang. So
heißt es da (Aboth de’Rabbi Nathan, Kap. 5), der alte Gelehrte Antigonus von So-
cbo hätte zwei Schüler gehabt, die er in der Frage der jenseitigen Vergeltung mit
folgenden Worten unterwies: „Gleichet nicht den Knechten, die dem Herrn (Gott)
um des Lohnes willen dienen, sondern seid denen gleich, die ohne Rücksicht auf
Lohn Dienste leisten“. Des Antigonus Schüler wie auch deren Schüler diskutierten
nicht wenig über den wahren Sinn dieses Spruches, bis einige von ihnen von einem
großen Zweifel übermannt wurden. „Ist es denn möglich — sprachen sie — daß der
Arbeitsmann sich den ganzen Tag abmühe und am Abend seinen Lohn nicht er-
halte? Hätten unsere Väter geahnt, daß es ein kommendes Leben und eine Auf-
erstehung der Toten gibt, so hätten sie so (wie Antigonus) nicht gesprochen“. Bald
gingen die Skeptiker so weit, daß sie sich „von der Thora“ gänzlich lossagten. Von
den zwei Hauptketzern, die Zadok und Boethos hießen, zweigten sich darauf zwei
neue Richtungen ab: die der Sadduzäer und die der Boethosäer. Die hier gegebene sa-
genhafte Erklärung der Bezeichnung „Sadduzäer“ scheint in viel späterer Zeit er-
funden worden zu sein, während die Boethosäer tatsächlich eine bestimmte Saddu-
zäergruppe bildeten, die ihren Namen von dem des Hohepriesters Boethos, aus der
Zeit des Herodes, herleiteten (s. unten, $ 52).
2) Ant. XVIII, 1, 4; vgl. Sanhedrin, 90.
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
wägend, zogen sie ein Mindestmaß an Glauben als das kleinere Übel
vor. So suchten sie auch die Einwirkung der Vorsehung auf die
menschlichen Dinge soweit wie möglich einzuschränken. Der Welt-
schöpfer, meinten sie, mag sich wohl um die Geschicke eines kollek-
tiven Ganzen, des Staates, des Volkes, kümmern, nicht aber um die
des Einzelnen. In den menschlichen Handlungen kam für sie der freie
menschliche Wille zum Vorschein, nicht aber das Walten Gottes in der
Form der Vorbestimmung. „Die Sadduzäer — heißt es bei Josephus —
leugnen das Geschick ganz und gar und setzen Gott außerhalb der
Möglichkeit, etwas Böses zu tun oder vorzusehen. Sie sagen, daß in
des Menschen Wahl das Gute und das Böse stehe und das Tun des
einen oder des anderen nach seinem Belieben“1).
Die Sadduzäer waren die typischen Weltmänner, die sich in streng
konservativer Weise an das Kultuszeremoniell hielten, dabei aber stets
als Gegner jedes Einflusses der religiösen Lehre in dem Umkreise rein
praktischer Interessen oder Erwägungen, sei es persönlicher oder so-
zialer Art, auftraten. Das politische und soziale Leben mochte nach
der Ansicht der Sadduzäer mit dem Judaismus parallel laufen, es
brauchte aber dabei nicht so sehr auf dessen geistige Ideale als viel-
mehr auf die eigenen praktischen Prinzipien und Interessen Rücksicht
zu nehmen.
Das direkt entgegengesetzte Prinzip lag der Lehre der Pharisäer,
der Verfechter einer Vergeistigung des gesamten Lebens, zugrunde.
In politischer Hinsicht Nachfolger der Chassidäer, die sich gegen An-
tiochus Epiphanes einzig und allein um des „Gottesreiches“, nicht aber
um eines weltlichen Staates willen erhoben hatten, waren die Pharisäer
auf dem Gebiete der religiösen Gesetzgebung die unmittelbaren Fort-
setzer des Werkes der Soferim, wenn auch unter ganz anderen poli-
tischen Verhältnissen. Die Umwandlung der Provinz Judäa in einen
selbständigen Staat hatte die Lebensverhältnisse so sehr verändert,
daß es der größten Umsicht bedurfte, um ihnen die alte Gesetzgebung
ohne Beeinträchtigung ihres Geistes anpassen zu können. Angesichts der
Vorherrschaft des allgemein anerkannten Grundsatzes, wonach die Ge-
setze der Thora als einer göttlichen Verfassung weder abgeschafft noch
abgeändert werden durften, gab es nur zwei Möglichkeiten für ihre
Anpassung an das Leben: entweder mußte die alte, den neuen Le-
bensverhältnissen nicht mehr entsprechende Gesetzgebung der Erstar-
!) Bellum, II, 8, i4; Ant. XIII, 5, 9.
§ 35. Der Kulturkampf zwischen Sadduzäern und Pharisäern
rung preisgegeben werden und sich in einen toten, nur äußerlich be-
folgten Buchstaben verwandeln, oder aber sie mußte, sich an das
Leben anpassend, es zugleich selbst ihren Intentionen anzupassen su-
chen, und es so anleitend, sich von ihm leiten lassen. Den ersten, leich-
teren Weg hatten die Sadduzäer eingeschlagen, dagegen waren es die
Pharisäer, die den anderen, unvergleichlich schwierigeren Weg be-
schritten.
Die Pharisäer verbanden das Leben mit dem geschriebenen Thora-
gesetz vermittels einer lebendigen Kette von mündlichen Traditionen,
juristischen Interpretationen und vom Volke gepflegten Bräuchen. Der
Schatz an religiösen und bürgerlichen Gesetzen, die von den Ahnen
auf dem Wege der mündlichen, in den Priester- und Gelehrtenkreisen
treu gehüteten Tradition ererbt worden waren, war nicht unerheblich.
Dieses ererbte Gut ergänzte sich unausgesetzt durch Zufluß aus der
lebendigen Quelle der Gelehrteninterpretation und der Volksbräuche.
Die Gelehrtenauslegung leitete auf Grund logischer Schlußfolgerun-
gen aus dem biblischen Gesetz jene praktischen Normen ab, die unter
den gegebenen Lebensverhältnissen unbedingtes Erfordernis waren1),
und die neuen Normen verwandelten sich im Laufe der Zeit, durch
ihr Alter geheiligt, wiederum in unverbrüchliche „Überlieferungen der
Altvordern“. Sich so von oben her durch die Kunst der rechtskundi-
gen Interpretatoren immer weiter ausdehnend, erfuhr die Gesetzge-
bung zugleich einen steten Zuwachs auch von unten her, indem sie
die im Volke sich einbürgemden Bräuche mit in ihren Bereich auf-
nahm. Die religiöse Disziplin umschlang so das Volk nach und nach
in fast unmerklicher Weise, sich ganz dem Wachstum seiner Begriffs-
welt und seiner Bedürfnisse anschmiegend. „Der Zaun um die Thora“
erweiterte sich immer mehr. Vieles an ihm mochte wohl künstlich
ersonnen sein, gar manches entsproß jedoch unmittelbar dem Boden
des Volkslebens und ließ eine gleichsam lebendige Umfriedung er-
stehen. Es ist nicht mehr möglich, mit Genauigkeit festzustellen, welche
gesetzgeberischen Neuerungen und Ergänzungen ihr Entstehen gerade
der geschilderten Epoche verdanken, und welche erst einer späteren
Zeit entstammen (den erhaltengebliebenen religiösen Denkmälern ge-
bricht es an einer chronologischen Reihenordnung), jedoch ist aus ein-
1) Es ist indessen zu beachten, daß die Methode der logischen Interpretation
zur vollen Entfaltung erst im folgenden Jahrhundert, im Zeitalter Hilleis, gelangte
(s. unten, § 60).
13 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
zelnen geschichtlichen Episoden zu schließen, daß schon im ersten
Jahrhundert ihrer Wirksamkeit die Pharisäer das bürgerliche und re-
ligiöse Leben Judäas durch eine ganze Fülle von Gesetzen, Riten und
Bräuchen zu bereichern vermochten. Die die Sabbatruhe und den
Festgottesdienst betreffenden Vorschriften scheinen auf Grund ihrer
üblichen Handhabung sowie den Volksbräuchen gemäß Ergänzungen
erfahren zu haben. In den Vorschriften über Speise und rituelle Rein-
heit kam dabei anscheinend eine so sehr auf die Spitze getriebene Ten-
denz zur religiös-nationalen Absonderung zum Ausdruck, daß ver-
mutlich gerade diese beengenden Vorschriften den schärfsten Wider-
spruch der Sadduzäer hervorriefen. Jedoch waren es andererseits wie-
derum die Pharisäer, die, wie bereits erwähnt, eine erhebliche Milde-
rung des Strafrechts durchsetzten; so pflegten sie in gewissen Fällen
die Todesstrafe und andere grausame Strafarten durch mildere Ab-
schreckungsmittel, wie Gefängnis oder Geldstrafe, zu ersetzen. Sie
gingen überhaupt darauf aus, das Gesetz dem Rechtsbewußtsein des
Volkes anzupassen, und dies war auch der Grund, warum das Volk
eher ihnen als den Sadduzäern Folge leistete.
In ganz besonderem Maße offenbarten die Pharisäer ihre Fein-
fühligkeit den Regungen der Volkspsyche gegenüber auf dem Felde
der dogmatischen Glaubensfragen. Sie begriffen es, daß die religiöse
Weltanschauung ohne den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit
und an die Vergeltung im Jenseits im Volke nicht fest verankert sein
könne. Die rationalistisch angehauchte biblische Idee von der Unsterb-
lichkeit des Geschlechts oder der kollektiven Unsterblichkeit vermochte
das religiöse Gewissen des gemeinen Mannes nicht zu befriedigen. Die
Notwendigkeit, die Idee der in der Weltordnung waltenden Gerechtig-
keit mit der empirischen Wirklichkeit in Einklang zu bringen, führte
von selbst dazu, daß der Glaube an das Leben nach dem Tode sich im
Volke ausbreitete und Wurzel faßte; dieser Glaube war es, der der
quälenden Sorge wegen „des Wohlseins der Gottlosen und des Lei-
dens der Gerechten auf Erden“ zu entheben vermochte. Das neue,
durchaus nicht von außen her aufgepfropfte, sondern aus dem inne-
ren Bedürfnis der Gläubigen heraus geborene Dogma gewann an-
fänglich feste Form in der obenerwähnten Vorstellung des „Daniel“
von der Auferstehung der Toten, wurde aber dann nach und nach
durch neu hinzukommende Vorstellungen teils philosophischen Cha-
rakters (die Unsterblichkeit der Seele), teils mystischer Prägung (Hölle
§ 35. Der Kulturkampf zwischen Sadduzäern und Pharisäern
und Paradies und dgl.) bereichert. Die ganze Tragweite dieses Dog-
mas wohl begreifend, nahmen es die Pharisäer in das rechtsgültige
System des Judaismus auf, während die formalistisch eingestellten
Sadduzäer es als eine von der heiligen Schrift nicht empfohlene Lehre
grundsätzlich in Abrede stellten.
Josephus Flavius hebt noch eine andere Eigentümlichkeit der pha-
risäischen Weltanschauung hervor: ihren religiösen Fatalismus. Zum
Unterschiede von den Sadduzäern lehrten die Pharisäer, daß bei jeder
menschlichen Handlung neben dem freien Willen des Menschen auch
noch der Eingriff des „Geschicks“ oder der göttlichen Vorherbestim-
mung mitwirke; jedoch hielten sie sich von einem mystischen Fatalis-
mus, der die Willensfreiheit überhaupt negiert, durchaus fern. Diese
Anschauung fand ihren präzisen Ausdruck in dem lapidaren Satz der
späteren Schöpfer der mündlichen Lehre: „Alles ist (von Gott) er-
schaut, aber die Freiheit ist (dem Menschen) gegeben“1). Es kam darin
gleichsam ein Kompromiß zwischen den Prinzipien der Willensfrei-
heit und der Prädestination zum Ausdruck, wodurch dem Menschen
die Verantwortung für seine Handlungen belassen, zugleich aber auch
die göttliche Vorsehung nicht ausgeschaltet wurde.
Was nun die praktische Moral anbelangt, so pflegte man den Pha-
risäern die Vorzüge der griechischen Stoiker zuzuschreiben1 2). Der
Vergleich trifft jedoch nur im allgemeinen, nicht im einzelnen zu.
Die erhabensten und Vernunftgemäßesten Prinzipien des Stoizismus:
1) Aboth, III, 12 (Spruch des Rabbi Akiba). Josephus bringt denselben Ge-
danken in ausführlicherer Formulierung: „Sie (die Pharisäer) sagen, einiges, aber
nicht alles, sei ein Werk des Geschickes („Eimarmene“, Fatum); einiges stehe aber
bei dem Menschen selbst . . .“ (Ant. XIII, 5, § 9). „Sie behaupten, daß alles
durch das Geschick vollbracht werde. Doch berauben sie den menschlichen Willen
nicht der eigenen Tätigkeit hierbei, indem es Gott gefallen habe, daß eine Mischung
stattfinde, und daß zum Willen des Geschickes auch der menschliche Wille hinzu-
komme mit Tugend oder Schlechtigkeit“ (XVIII, 1, $ 3). Die Pharisäer „machen
alles vom Geschick und von Gott abhängig und lehren, daß das Tun und Lassen
des Guten zwar größtenteils Sache der Menschen sei, daß aber zu jeder Handlung
auch das Geschick mithelfe“ (Bellum, II, 8, § i4).
2) „Die Pharisäerpartei kommt den griechischen Stoikern nahe“ (Selbst-
biographie des Josephus: Vita, 2). Die Pharisäer „verzichten auf den Lebensgenuß
und geben sich in nichts der Bequemlichkeit hin. Sie folgen allem, was die Vernunft
gutheißt, weil sie die Vernunft als den besten Hüter (hemmende Kraft) bei aller
Wunscherfüllung betrachten“ (Ant. XVIII, 1, S 3). Eine Bestätigung hierfür fin-
det sich auch in der talmudischen Haggada: „Die Sadduzäer pflegten zu sagen: die
Pharisäer legen sich in dieser Welt Entbehrungen auf und werden auch in der
kommenden (im Jenseits) nichts erhalten“ (Aboth de’ Rabbi Nathan, Kap. 5).
195
13*
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
das Bewußtsein der sittlichen Pflicht, das Streben nach sittlicher Ver-
vollkommnung, die Enthaltsamkeit im Genießen, das mutige Erdulden
von Leiden — all dies zeichnete die jüdische Ethik schon lange vor
dem Auftreten der Pharisäer wie auch der stoischen Schule selbst
aus. Der Pharisäismus ging in der Person seiner erlesensten Repräsen-
tanten nur darauf aus, die sittliche Zucht mit der religiösen und ri-
tuellen zu verbinden; viele Einzelheiten, die uns aus dem Leben der
angesehensten Führer dieser Partei überliefert sind, nötigen uns durch
die sittliche Größe, die darin zum Ausdruck kommt, die tiefste Be-
wunderung ab. Indessen wurde die harmonische Vermählung von
Frömmigkeit und Gerechtigkeit nicht immer erreicht. Infolge der
äußersten Verschärfung der religiös-rituellen Zucht stellte man häm
fig die Frömmigkeit über die Lauterkeit der Seele. In die Reihen der
Pharisäer schlichen sich Scheinheilige und Mucker ein, die ihre Nie-
derträchtigkeit unter der Larve der Frömmigkeit zu verbergen such-
ten. Diese mißratenen Pharisäer, die man die „Gefärbten“ (Zewuim)
nannte, brachten manchmal die gesamte Pharisäerpartei in Verruf1).
Als ein Hauptvertreter der Pharisäerpartei in dieser frühen Epoche
tritt der obenerwähnte Gelehrte Simon ben Schetach auf, der Überliefe-
rung zufolge ein Bruder der Königin Salome-Alexandra, der unter Alex-
ander-Jannäus Verfolgungen ausgesetzt war, während der darauf folgen-
den Regierung der Königin aber zum Führer des Synhedrion wurde. Die
talmudische Legende schreibt Simon die allergrößten Verdienste und
Tugenden zu. Unter Jannäus war er einer der wenigen aktiven Phari-
!) Die in der Folgezeit überwuchernden Auswüchse des Pharisäertums wurden
später zu polemischen Zwecken von den Verfassern der Evangelien ausgenützt, die
uns eine überaus düstere Schilderung der „Schriftgelehrten und Pharisäer“ des I.
und II. Jahrhunderts d. ehr. Ära hinterlassen haben. Es war nur natürlich, daß die
Jünger einer ihrem Wesen nach religiös-individualistischen Lehre, die dem religiös-
nationalen Prinzip der Pharisäer den Krieg erklärt hatte, die gegnerische Doktrin
in tendenziöser Weise zur Darstellung brachten und, schwarz in schwarz malend,
nur ihre Schattenseiten betonten. Durchaus einseitig ist die Kennzeichnung beider
Parteien auch im Talmud, in dem in erster Linie die Abweichungen im Ritus und
nur zum Teil die dogmatischen Streitpunkte hervorgehoben werden. Ergänzungsbe-
dürftig bleibt auch die Darstellung des Josephus, der die Differenzen hinsichtlich
der jjiiten beinahe ganz außer acht läßt und lediglich die religiös-philosophischen
und ethischen Ansichten der Parteien hervorhebt, indem er sie in gekünstelter Weise
den Lehren der griechischen philosophischen Schulen anpaßt. Der geschichtlichen
Kritik fällt so die Aufgabe zu, all diese Zeugnisse der früheren wie der späteren
Zeitgenossen von der tendenziösen Beimischung zu säubern, sie zu ergänzen und die
einen vermittels der anderen zu überprüfen.
196
§ 35. Der Kulturkampf zwischen Sadduzäern und Pharisäern
säer im Synhedrion, in dem die Sadduzäer die Vorherrschaft besaßen.
In der Auslegung des Gesetzes erfahren, brachte Simon seine Gegner
oft in eine schwierige Lage, indem er sie aufforderte, für diese oder
jene Gesetzesbestimmung eine Begründung in der Thora nachzuwei-
sen. Er wagte es, dem königlichen Sadduzäer die Wahrheit frei her-
aus zu sagen, und schwebte daher in ständiger Gefahr. Häufig mußte
er sich außerhalb Jerusalems verbergen, und nur die Königin wußte
dann von seinem Zufluchtsort. Die Überlieferung berichtet, daß einst
zum jüdischen König parthische Gesandte gekommen waren, die den
weisen Simon schon ehedem bei Hofe angetroffen hatten und ihn nun
von neuem zu sehen begehrten. Da rief die Königin, auf die Bitte
ihres Gemahls, Simon aus seinem Versteck zurück, indem sie für
seine Unantastbarkeit einstand. Simon erschien auch in dem Palast,
wo er mit stolzem Selbstbewußtsein auf trat und sich sogar die Frei-
heit nahm, während des Mahles zwischen dem König und der Königin
Platz zu nehmen. Als man ihn fragte, warum er diesen Platz erwählt
hätte, erwiderte er, ein Gelehrter sei ein König auf dem Felde des
Geistes und führte den Ausspruch des Ben Sirah an: „Halte hoch die
Weisheit und sie wird dich erhöhen. Sie wird dich setzen zwischen
Fürsten“. Man erzählte auch, daß Simon einst Jannäus vor Gericht
zitiert hätte, da dessen Sklave einen Mord begangen hatte. Der König
erschien auch, blieb aber beim Verhör vor den Richtern sitzen, statt,
wie es üblich war, stehend zu antworten. Simon gebot ihm jedoch,
aufzustehen, indem er sagte: „Nicht vor uns mußt du stehen, sondern
vor dem Schöpfer der Welt.“ Der König erwiderte, er würde nur
dann gehorchen, wenn alle Gerichtsmitglieder dies einstimmig fordern
würden. Allein keiner von ihnen wagte es, die Forderung des Simon
zu unterstützen, und der stolze Pharisäer warf seinen Amtsgenossen
unvermittelt ihre Feigheit vor.
Nach dem Bürgerkriege, der mit dem vom Könige unter den Pha-
risäern in Bethome angerichteten Blutbad seinen Abschluß fand,
mußte Simon von neuem flüchten und kam erst nach dem Regie-
rungsantritt der Salome-Alexandra in sein Vaterland zurück. Hier
spielte er eine wichtige Rolle bei der Restaurierung der gesetzlichen
Ordnung. Zum Haupte des Synhedrion geworden, entsann er sich,
daß dessen ehemaliger Vorsitzender, der gelehrte Pharisäer Juda ben
Tabai, sich noch immer in der Verbannung im ägyptischen Alexandrien
befinde. Da sandte Simon ein Schreiben an die Vertreter der alexan-
*97
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
drinischen Gemeinde im Namen der Stadt Jerusalem: „Von mir, der
heiligen Gemeinde Jerusalems, zu dir, meine Schwester Alexandrien:
mein Gemahl ist bei dir, und ich sitze hier vereinsamt“. Daraufhin
kehrte Juda nach Jerusalem zurück, und Simon trat ihm die Würde
des Synhedrionpräsidenten ab, indem er selbst sich bescheidenerweise
mit der eines Vizepräsidenten begnügte. Die beiden Gelehrten befaß-
ten sich eifrig mit der Reform der Prozeßordnung, wobei sie die
Opposition der Sadduzäer im Synhedrion nur schwer zu überwinden
vermochten. Ein heftiger Streit unter den Vertretern der beiden Par-
teien entspann sich unter anderem in der Frage der Bestrafung der
falschen Zeugen in Kriminalsachen (Edim somemim). Die Sadduzäer
behaupteten, ein falscher Zeuge sei nur in dem Falle zur Todesstrafe
zu verurteilen, wenn der von ihm Angeschuldigte hingerichtet wor-
den war, während die Pharisäer die Bestrafung des falschen Zeu-
gen auch in dem Falle forderten, wenn der Angeklagte infolge recht-
zeitiger Aufdeckung der falschen Anschuldigung freigesprochen wor-
den war. Juda ben Tabai (nach einer anderen Version Simon ben
Schetach) soll einst, „den Sadduzäern zum Trotz“, dennoch einen fal-
schen Zeugen auf Grund der pharisäischen Gesetzesauslegung zum
Tode verurteilt haben. Dabei ließ er sich einen schweren Rechtsirr-
tum zuschulden kommen, indem er außer acht ließ, daß, dem Sinne
des Gesetzes gemäß, ein falsches Zeugnis nur in dem Falle strafbar
sei, wenn es von zwei Zeugen abgelegt worden ist, nicht aber von einem
einzigen. Denn eine Verurteilung in Kriminalsachen war nur beim Vor-
handensein von mindestens zwei Zeugen möglich, und folglich konnte
ein einziger falscher Zeuge den Strafvollzug an einem Unschuldigen
überhaupt nicht herbeiführen. Es wird ferner erzählt, daß Simon
ben Schetach mit äußerster Strenge in einem Prozeß vorging, bei dem
in Askalon achtzig der Hexerei beschuldigte Frauen zum Tode ver-
urteilt wurden, „da es die Zeit so verlangte und auch ein abschrek-
kendes Exempel statuiert werden mußte“. Übrigens kann die Echtheit
dieser talmudischen Überlieferung in Zweifel gezogen werden, da As-
kalon zu jener Zeit wohl kaum zum jüdischen Landbereich gehörte.
— Solche dem Geiste des Pharisäertums sonst nicht eigene Härten wa-
ren anscheinend durch politische Erwägungen veranlaßt oder standen
in direktem Zusammenhang mit dem damaligen Parteikampf. Die
Sage will wissen, daß der eigene Sohn des Simon einem durch falsche
Anschuldigung verursachten Rechtsirrtum zum Opfer gefallen sei. Die
198
§ 35. Der Kulturkampf zwischen Sadduzäern und Pharisäern
Lebenserfahrung belehrte schließlich die gestrengen obersten Richter
eines Besseren. In den erhaltengebliebenen Aussprüchen Simons und
Judas erteilen diese beiden Pharisäerhäupter den Richtern den Rat,
bei der gerichtlichen Untersuchung, insbesondere aber bei dem Ver-
hör der Angeklagten und der Zeugen, äußerste Sorgfalt walten zu
lassen: „(Richterl) Handle nicht wie ein Sachwalter vor Gericht! So-
lange die Prozeßparteien vor dir stehen, behandle beide Gegner als
ungerecht, sobald sie aber entlassen sind und sich dem richterlichen
Spruche unterworfen haben, sollst du sie als gerecht ansehen“. „Ver-
nimm sorgfältig die Zeugen, gehe indessen behutsam mit deinen Fra-
gen vor, damit die Zeugen (auf Grund hindeutender Fragen) nicht zu
falschen Aussagen verleitet werden“.
Simon ben Schetach wird in der Sage als der Hauptheld der pha-
risäischen Restauration hingestellt. „Er hat das Gesetz in seinen frü-
heren Grenzen wiederhergestellt“, sagt die Legende von Simon, in-
dem sie damit zum Ausdruck bringen will, daß er mehr als alle an-
deren zur Wiederherstellung der Gültigkeit der in der vorhergehenden
Epoche nicht eingehaltenen mündlichen Überlieferungen und Gesetze
beigetragen hat1). Simon werden unter anderem auch zwei bedeu-
tende Reformen auf dem Gebiete des Familienrechts und des Schul-
wesens zugeschrieben. Er verlieh der Ketuba, d. i. dem schriftlichen
Ehevertrag, demzufolge der Mann beim Eingehen einer Ehe sich ver-
pflichtete, seine Frau für den Fall seines Todes oder einer Scheidung
mit einer bestimmten Geldsumme zu versorgen, feste Formen und ver-
schaffte ihr sichere Garantien. Die andere von ihm eingeführte Neue-
rung betraf das Gebiet der Kindererziehung. Simon ordnete an, daß
„die Kinder zur Schule gehen müssen“, er führte, mit anderen Wor-
ten, die allgemeine Schulpflicht ein.
Simon ben Schetach und Juda ben Tabai werden von der talmu-
dischen Tradition unter jene Gelehrten-„Paare“ (Sugoth) gerechnet,
deren Aussprüche im ethischen Mischnatraktat „Aboth“ („Lehren der
Väter“) erhaltengeblieben sind. Diese Paare waren anscheinend in der
Hasmonäerepoche Mitglieder des Präsidiums des Synhedrion oder des
Obersten Gerichts im Amte des Präsidenten und des Vizepräsidenten.
Während des Hasmonäeraufstandes wirkten Jose ben Joeser aus Zere-
1) Über die Wiederherstellung der früher von den Sadduzäern abgeschafften
„'Ergänzungen zum Gesetz“, die auf Geheiß der Königin Salome geschehen sein
soll, berichtet auch Josephus (Ant. XIII, 16, 2).
I99
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
da und Jose ben Jochanan aus Jerusalem, die beide der Schule der
Soferim angehörten. Zwei ihrer Aussprüche, die vornehmlich die För-
derung der Wissenschaft ans Herz legen, sind uns erhaltengeblieben.
„Möge dein Haus die Sammelstätte der Gelehrten sein, liege im Staube
ihrer Füße und stille deinen Durst durch ihre Worte“. „Möge dein
Haus für alle weit geöffnet sein und mögen die Armen deine Haus-
genossen werden“. Diesem „Paare“ folgten als Häupter des Gelehr-
tenstandes Josua ben Perachja und Nittai aus Arbela, wahrscheinlich
Zeitgenossen des Fürsten Jochanan-Hyrkanus. Von ihren Aussprüchen
sind uns folgende bekannt: „Suche dir einen Lehrer, erwirb dir einen
Genossen (für die wissenschaftlichen Arbeiten) und beurteile jeden
Menschen in für ihn günstiger Weise“. „Fliehe den bösen Nachbarn,
befreunde dich nicht mit dem Sünder, gib nicht die Hoffnung auf
Belohnung (im Jenseits) auf“. Nach diesem „Paare“ kamen die oben-
erwähnten Simon und Juda an die Reihe, die Vertreter des Pharisäer-
tums in der Epoche seines Triumphes, im letzten Jahrzehnte des un-
abhängigen Judäa. Seitdem wurden die gelehrten Pharisäer unter je-
dem Regime als die maßgebenden Gesetzesausleger geachtet. Im Syn-
hedrion bildeten sich diese gelehrten Theoretiker zu praktischen Juri-
sten heran; die Rechtskundigen wurden nun zu Gesetzgebern. Waren
die Sadduzäer tonangebend in der Außenpolitik des Staates, so ge-
wannen die Pharisäer, diese Legisten des alten Judäa, immer größeren
Einfluß auf die Entwicklung des inneren Lebens des Volkes, sowie
auf die Vertiefung seiner geistigen Kultur.
§ 36. Die Sekte der Essäer
Dieselbe Krise, die zu Beginn der Hasmonäerepoche die Gegner-
schaft der Pharisäer und Sadduzäer zeitigte, nämlich der Übergang
Judäas von der theokratischen zur weltlichen Verfassung, rief am
Ende dieser Epoche eine neue Organisation ins Leben: die Sekte der
Essäer. Während die Pharisäer und die Sadduzäer um den Staats-
typus und die Verwaltungsformen stritten, tauchten nun Menschen
auf, die den Staat als solchen verdammten und die Wiederherstellung
der Urzelle des Gemeinwesens, der Gemeinde, anstrebten. Von den
Kriegsstürmen und dem Schauspiel des Bürgerzwistes unter Jannäus
und seinen Söhnen im Innersten aufgewühlt, kamen diese religiös-my-
stisch eingestellten Naturen zu der Überzeugung, daß die Staatlichkeit
an und für sich sündhaft und eitel sei, daß sie dem religiösen Prinzip
200
§36. Die Sekte der Essäer
ohne dieses verletzende Kompromisse nicht gänzlich untergeordnet
werden könne, und daß das wahre „Leben in Gott“ deshalb in einem
politischen oder bürgerlichen Gemeinwesen überhaupt nicht zu errei-
chen sei, sondern einzig und allein in einer geistigen Gemeinschaft
oder Brüderschaft gesucht werden müsse. So entstand, als eine Reak-
tion gegen den politischen und kulturellen Parteikampf, gegen Schluß
dieser Epoche eine apolitische Organisation in Form einer Sekte oder
einer geistigen Brüderschaft, deren Anhänger sich „Essäer“* 1) nann-
ten. Während die Sadduzäer der Religion nur eine schmale Ecke im
Staatsleben einräumten und die Pharisäer Religiosität und Staatlich-
keit zu einer unteilbaren Einheit zu verbinden suchten, sagten sich die
Essäer von der Staatlichkeit überhaupt los und stellten das persön-
liche Leben ganz auf die Religion ein. Jene sittliche und rituelle „Heilig-
keit“, die den Pharisäern ein Werkzeug der sozialen Zucht, ein Mit-
tel zur Erhaltung der Nation war, nahm bei den Essäern individuali-
stische F.ormen an und galt ihnen als der Weg zur „Erlösung der
Seele“.
Die Essäersekte scheint am Ende der Hasmonäerepoche zur Ent-
faltung gekommen zu sein, als die negativen Folgen der neuen Staat-
lichkeit: Krieg, innerer Zwist, die Gefahr einer neuen Unterjochung
Judäas, bereits klar vor Augen standen. Die Zahl der Anhänger der
Sekte vergrößerte sich immer mehr, in dem Maße, als unter Einwir-
kung der weiteren politischen Krisen in Judäa in einem gewissen Teile
der Gesellschaft der zentrifugale Hang zum Individuellen und My-
stischen immer mehr zur Geltung kam; jedoch auch zur Zeit ihrer
1) In den alten Quellen finden wir zwei voneinander abweichende Bezeichnun-
gen der Sekte: Essaioi und Essenoi. Die erstere ist bei Philo (Quod omnis probus
liber, §§ 12—13) anzutreffen, die letztere — das lateinische Esseni — bei dem Ge-
schichtsschreiber Plinius, der an der Eroberung Judäas unter Titus teilgenommen
hatte (Hist, natur. V, 17, S 73), schließlich beide Bezeichnungen durcheinander —
bei Josephus: Ant. XIII, 5, 10-11; XY, 10, 4; XVII, i3, 3; XVIII, 1; Bellum,
I, 3, 3; II, 7, 3; II, 8 u. a. Im Talmud erscheint die Essäersekte bald unter dem
Namen „Toble schacharith“ („die am Morgen Badenden“), bald unter dem der
„Chassidim“ („die Frommen“). Die wahre Bedeutung des Wortes „Essäer“
bleibt unklar. Die einen wollen es vom aramäischen „Assia“ (Arzt, Heilkundiger)
ableiten, die anderen vom aramäischen „Chassaio“, das mit dem hebräischen „Chas-
sidäer“, d. i. der. Fromme, der Gottesfürchtige, gleichbedeutend ist. Die letzte Ab-
leitung scheint die zutreffendste zu sein. Die Erklärung Philos, wonach der Name
der Sekte mit dem griechischen „Osioi“, Heilige, im Zusammenhang stehen soll,
kann nicht richtig sein, weil eine jüdische fromme Sekte sich nicht einen griechi-
schen Namen beilegen konnte.
201
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
größten Blüte, im I. Jahrhundert d. ehr. Ära (der Epoche der
Herodesdynastie und der römischen Prokuratoren), .zählte die Essäer-
sekte nicht mehr als 4ooo Mitglieder, wie dies von Philo von Alex-
andrien und von Josephus bezeugt wird. Nur wenige waren anschei-
nend der strengen Ordnung dieser einem Mönchsorden ähnlichen
Gemeinschaft gewachsen. Die Essäer verwarfen nicht nur das Leben der
Städter, sondern auch die Städte selbst. Sie hatten das Ideal der alten
„Nasiräer“ von neuem ins Leben gerufen. Sie lebten in abgesonderten
Gemeinden oder Kommunen, vornehmlich auf dem Lande; in den
Städten, die ihnen als Brutstätten des Lasters galten, sah man sie nur
selten. Eine bedeutende Essäerkolonie war späterhin in der Wüste En-
gedi, westlich vom Toten Meere (dem Asphaltmeere bei Plinius), an-
zutreffen. Die Essäer besaßen eine feste Organisation, die sich auf
das Prinzip einer strengen Unterordnung aller Mitglieder und einer
fest geregelten Disziplin gründete. Neueintretende wurden erst nach
einer langen Prüfungszeit (Noviziat) in die Sekte aufgenommen. Nach
einjähriger Prüfungsdauer wurde das neue Mitglied zur Zeremonie
der „Waschung“ oder der Wassertaufe zugelassen und erst nach wei-
teren zwei Jahren zu den gemeinsamen Brudermahlen. Dieser end-
gültigen Aufnahme in die Sekte ging die Ablegung eines Eides voraus,
in dem der Eintretende gelobte, den Befehlen der „Ältesten“ oder
Häupter der Brüderschaft unweigerlich Folge zu leisten, mit den an-
deren Mitgliedern in unbedingter Offenheit zu verkehren und Un-
eingeweihten die geheimen Angelegenheiten der Sekte nicht zu ver-
raten. Sonst enthielten sich jedoch die Essäer grundsätzlich der Eides-
leistung wie des Schwörens überhaupt.
Die wirtschaftliche Organisation der Essäergemeinde war auf
kommunistischen Prinzipien aufgebaut. Unter den Mitgliedern gab es
weder Reiche noch Arme. Jedes Mitglied übergab seine Einkünfte der
Gemeindekasse, und die Kassenvorsteher bestritten davon den Unter-
halt der Brüderwohnstätten sowie die Kosten der gemeinsamen Mahl-
zeiten und der Kleidung. Die Mitglieder der Brüderschaft hatten alle
dieselbe Tracht, die aus einem groben Mantel für den Winter und
einem leichten Überwurf für den Sommer bestand; sie wurde mei-
stens aus weißem Stoff angefertigt. Jeder mußte durch persönliche
körperliche Arbeit zum Lebensunterhalt beitragen. Dienstboten oder
Sklaven gab es in der Gemeinde nicht. Die Essäer trieben vorwiegend
Ackerbau und verschiedene Handwerke; der Handel, als eine die Hab-
202
§36. Die Sekte der Essäer
sucht fördernde Betätigungsart, war untersagt; verboten war auch
die Anfertigung von Waffen und überhaupt von Geräten, durch wel-
che den Mitmenschen Schaden zugefügt werden könnte. Die Mehrzahl
der Essäer entsagte auch dem ehelichen Leben, das sie für sündhaft
hielten; diejenigen unter ihnen, die dennoch eine Ehe eingehen woll-
ten, stellten die Frauen vorerst auf die Probe und erblickten in der
Ehe nur das Mittel zur Kinderzeugung.
Das Tagewerk war bei den Essäern streng geregelt. Frühmorgens
sprachen sie ein Gebet mit zur Sonne gewendetem Antlitz; dann gin-
gen sie ihrer Arbeit nach. Nach Beendigung des Tagewerkes badeten
sie in kaltem Wasser. Das Baden bildete bei den Essäern eine wich-
tige religiöse Handlung; sie nahmen eine Waschung nach jeder Mahl-
zeit sowie nach Verrichtung der Notdurft und nach jeder Berührung
von „Unreinem“ vor. Bei den stets weihevoll verlaufenden gemeinsa-
men Mahlzeiten pflegte sich die gesamte Gemeinde zu versammeln. So
verwandelten die Essäer, die den Opferdarbringungsritus im Jerusa-
lemer Tempel verwarfen, ihre alltäglichen Mahlzeiten selbst in hei-
lige Opfermahle. Die Speisen wurden dabei von den Priestern, unter
Beobachtung von zahlreichen rituellen Vorschriften, zubereitet. Jo-
sephus schildert die Essäermahle folgendermaßen: „Nach dem rei-
nigenden Bade begeben sie sich in eine eigene Wohnung, wohin kei-
nem Andersgläubigen der Zutritt gestattet ist. Und sie selbst gehen
als Reine in den Speisesaal wie in ein Heiligtum. Und nachdem sie
sich in Ruine gesetzt haben, legt der Bäcker der Reihe nach Brote
vor, und der Koch setzt einem jeden ein Gefäß mit einem einzigen
Gerichte vor. Der Priester aber betet vor der Mahlzeit, und keiner
darf vor dem Gebete etwas genießen. Nach der Mahlzeit betet er
wieder. Am Anfang und am Ende ehren sie Gott als Spender der Nah-
rung. Darauf legen sie ihre Kleider als Heilige ab und wenden sich
wieder zur Arbeit bis abends. Zurückkehrend speisen sie dann in der-
selben Weise wieder“. Die Meinung, wonach die Essäer dem Fleisch-
und Weingenusse völlig entsagt hätten, findet keine Bestätigung in
den ältesten Quellen. Im allgemeinen strebten jedoch die Essäer die
größtmögliche Einfachheit und Mäßigkeit in der Befriedigung kör-
perlicher Bedürfnisse an, wobei ihre Enthaltsamkeit sich zuweilen
bis zum Asketismus steigerte, namentlich in späterer Zeit.
Die Essäer brachten keine Tieropfer im Jerusalemer Tempel dar,
sandten aber andere Weihgeschenke hin. Beim Gottesdienst lasen sie
2 03
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
aus den Büchern der Heiligen Schrift. Die Gebote über die Sabbat-
ruhe wurden aufs strengste befolgt. An Sabbattagen unterließen sie
es sogar, irgend etwas von der Stelle zu rücken, und vermieden alles,
was den Körper „verunreinigen“ könnte. Hierin trieben sie freilich
nur die „rituelle Reinheit“ der Pharisäer und deren strenge Auffas-
sung der Sabbatruhe auf die Spitze. So wurden denn auch später viele
dieser extremen Anschauungen mit in den Bestand des talmudischen
Judaismus aufgenommen.
Auf dem Gebiete der religiösen Dogmen und der mystischen Glau-
bensformen stellt das Essäertum gleichfalls eine extreme, dem prak-
tischen Leben gänzlich fernstehende Abart des Pharisäertums dar.
Das dem Fatalismus nahekommende Prinzip der göttlichen Vorse-
hung war ein Grundpfeiler ihrer Lehre, dem indessen die Anerken-
nung der Willensfreiheit nicht die Wage hielt, wie es in der Doktrin
der Pharisäer der Fall war. Die Menschenseele galt ihnen als unsterb-
lich : im irdischen Dasein mit dem sündhaften Körper verbunden, löst
sich die Seele mit dem Tode aus ihrer Hülle und wird der Erde ent-
rückt; die guten Seelen gelangen dann in das jenseits des Ozeans ge-
legene Paradies, während die bösen in dunklen Höhlen furchtbaren
Qualen verfallen. Großen Wert legten die Essäer auch auf die Lehre
von den Engeln und auf die von dem Einfluß böser und guter Dä-
monen. Sie kannten auch die Heilkraft der Wurzeln und maßen ge-
wissen Steinen Zauberkraft bei. Dank diesen Kenntnissen heilten sie
verschiedene Krankheiten und galten im Volke als gewandte Heil-
künstler. Das gemeine Volk erblickte in ihnen Heilige oder Wunder-
täter und schrieb ihnen die Kraft des Hellsehens und des Prophe-
zeiens zu. Sogar der Geschichtsschreiber Josephus zeigt sich geneigt,
an ihre Hellsehergabe zu glauben, und so treten sie in seinem Bericht
zuweilen auch als Wahrsager auf. Allem Anscheine nach gehörte auch
jener heilige Onias, den die den Tempelberg belagernden Parteigän-
ger des Hyrkan um Verfluchung der Anhänger des Aristobul angingen,
der Sekte der Essäer an (§ 3i). Sein an Gott gerichtetes Flehen, den
gegenseitigen Verwünschungen der beiden Parteien kein Gehör schen-
ken zu wollen, könnte gerade für einen Essäer bezeichnend sein, der
keiner der sich bekämpfenden politischen Parteien beizupflichten ver-
mochte und in dem brudermörderischen Kampf um die Königsgewalt
nichts als die Fluch Würdigkeit dieser Gewalt selbst erblickt haben
mag.
§ 37. Die Literatur in Judäa. Die ältesten Apokryphen
Der zweifellos auf dem Boden des Judaismus emporgekommene
Essäismus schloß jedoch auch manche Elemente fremder religiöser
und philosophischer Systeme mit ein. Zwei seiner Hauptzüge, der
Hang zum Mönchstum und der Mystizismus, waren dem Geiste des
alten Judaismus durchaus fremd, denn dieser stellte vor allen Dingen
eine klare und realistische, der sozialen Ordnung allseitig angepaßte
und darum jedem Einsiedlertum fremde „Lebenslehre“ dar. Der in
der Form des Goelibats hier zum Ausdruck gekommene Hang zum
Asketismus war der gesunden, lebensbejahenden jüdischen Ethik be-
sonders fremd. So weist denn der Essäismus in gar mancher Hinsicht
eine gewisse Verwandtschaft mit dem im letzten Jahrhundert v. d. ehr.
Ära weitverbreiteten griechischen Pythagoreismus auf1); wir besitzen
jedoch keine festen Anhaltspunkte, auf Grund deren der geschicht-
liche Zusammenhang dieser beiden Weltanschauungen nachgewiesen
werden könnte. Die Tatsache, daß im Essäertum das individuelle Prin-
zip ein entschiedenes Übergewicht über das nationale gewonnen hat,
wie auch daß in dieser Lehre sich manche fremdartigen Anschauun-
gen breitmachten, hatte eine immer mehr zunehmende Entfremdung
dieser Richtung dem Judaismus gegenüber zur Folge, was zu ihrer
allmählichen Auflösung im Chaos jener jüdisch-hellenistischen Glau-
benslehren führte, aus dem schließlich das ursprüngliche Christentum
hervorging.
§ 37. Die Literatur in Judäa. Die ältesten Apokryphen
Der Aufschwung des nationalen Geistes in der Hasmonäerepoche
mußte unausbleiblich auch eine entsprechende Neubelebung des li-
terarischen Schaffens mit sich bringen. Daß neue schöpferische
Kräfte sich tatsächlich im Schrifttum zu regen begannen, ist zweifel-
los, nur fehlen uns genügend Anhaltspunkte, um über seinen wahren
Umfang urteilen zu können. Der Kampf dreier Weltanschauungen —
des Pharisäismus, des Sadduzäismus und des Essäismus — zeugt von
D Darauf hatte schon Josephus hingewiesen (Ant. XV, io, 4): »Die Essäer
sind eine Art Menschen, die ihrer Lebensführung nach den griechischen Anhängern
des Pythagoras gleichen“. Von einem ursprünglichen unmittelbaren Einfluß des
Pythagoreismus auf das Essäertum kann keine Rede sein, da dieses der hellenisti-
schen Kultur überhaupt fern stand, späterhin mochten jedoch Elemente des Pytha-
goreismus in die Lehre der jüdischen Sekte von dem alexandrinischen Synkretismus
her eingedrungen sein.
205
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
einem intensiven geistigen Leben der neu erstandenen Nation,
während das erhaltengebliebene Schrifttum aus .jener Zeit uns
nur einen schwachen Widerhall dieser sprudelnden geistigen Reg-
samkeit vermittelt. Soll man annehmen, daß manche hervorragende
Schriftwerke dieser Zeit spurlos verschollen sind, oder aber, daß
die geistigen Kräfte von dem Parteikampf so auf gebraucht wurden,
daß sie für ein ungestörtes literarisches Schaffen nicht mehr ausreich-
ten? Diese letzte Vermutung findet ihre indirekte Bestätigung in der
Tatsache, daß die literarische Produktivität der Juden in Ägypten um
dieselbe Zeit, wenigstens quantitativ, derjenigen in der Metropole nicht
nachstand1). Übrigens muß dabei auch nicht außer acht gelassen wer-
den, daß im Judäa dieser Epoche, dank den Pharisäern, neben dem
Schrifttum jene traditionelle „mündliche Lehre“, die eine Weiter-
führung der religiös-bürgerlichen Gesetzgebung bedeutete und in
schriftlichen Denkmälern nicht festgelegt zu werden pflegte, zu ganz
besonderer Entfaltung gelangte.
Als eine überaus wertvolle literarische Schöpfung der hasmonäi-
schen Periode ist jenes geschichtliche Werk anzusprechen, das unter
dem Namen des „Ersten Makkabäerbuches“ bekannt ist. In diesem
Buche wird die Geschichte des Freiheitskampfes Judäas, von dem
hasmonäischen Aufstand bis zu dem Tode des Simon, zur Darstel-
lung gebracht. Im ersten Kapitel wird kurz über die Verfolgungen
unter Antiochus Epiphanes berichtet, während in den übrigen vier-
zehn Kapiteln jene Heldentaten des Mattathias und Juda Makkabäus,
des Jonathan und des Simon, die die völlige Unabhängigkeit Judäas
begründeten, zur Darstellung gelangen. Seinem Stil und seiner klar-
pragmatischen Darstellungsweise nach reicht das „Erste Makkabäer-
buch“ an die besten geschichtlichen Bibelbücher heran, unterscheidet
sich aber von diesen durch seine weltliche Gesinnung: in diesem
!) Werke, wie das „Buch Henoch“, das „Buch der Jubiläen“ und „Die Testa-
mente der zwölf Patriarchen**, die man jetzt in die Hasmonäerzeit und sogar in
noch ältere Zeit zu verlegen pflegt (Annahmen des Pseudepigraphenforschers Char-
les, J. Klausners und Ed. Meyers), entstammen kaum dieser frühen Epoche. Viel
eher ist anzunehmen, daß sie erst in den nachfolgenden Epochen der römischen
Herrschaft und der Herodesdynastie zur Entstehung gelangt sind, worauf das Fehlen
jeder Spur einer Bezugnahme auf das Bestehen eines nationalen Staates, sowie das
Vorwiegen der mystischen Stimmung hinweist; dabei kommen in einigen dieser
Schriften (Buch Henoch) überdies auch noch ausgesprochen essäische Tendenzen
zum Vorschein, die ja erst nach dem Sturze des Hasmonäerstaates Verbreitung ge-
funden hatten. S. unten, §§ 61 und 93.
206
§ 37. Die Literatur in Judäa. Die ältesten Apokryphen
Buche wird das national-politische Element durch das religiöse nicht
nur nicht verdrängt, sondern im Gegenteil in den Vordergrund des
Interesses gerückt. Die Erfolge der Hasmonäer oder „Makkabäer“
werden hier nicht so sehr auf das Eingreifen Gottes als vielmehr auf
den Heldenmut und den politischen Weitblick der handelnden Per-
sonen zurückgeführt. Der unbekannte Verfasser des Buches ist ein
feuriger Patriot und ein unentwegter Anhänger der Hasmonäer-
dynastie, in der er die von Gott berufene Befreierin Judäas zu sehen
glaubt (s. z. B. Kap. 5, 61—64; i4, 25 ff.). Es könnte den An-
schein haben, als gehörte der Verfasser der regierenden Sadduzäer-
partei an, erginge sich das Buch nicht in Lobpreisungen der Chassi-
däer und in Mißbilligung der „gottlosen“ Hellenisten. Jedenfalls
kann ein in diesem Tone gehaltenes Geschichtswerk entweder der
Feder eines außerhalb der Parteien stehenden Verfassers entstammen
oder aber der eines gemäßigten Pharisäers aus den Zeiten der Salome-
Alexandra, als die am Ruder stehende Pharisäerpartei sich mit der
Hasmonäerdynastie ausgesöhnt hatte. Daß das Buch eben um diese
Zeit verfaßt worden ist, erhellt daraus, daß der Autor sich zum
Schluß auf die verschollene „Geschichte des Hohepriesters Jochanan“
(Hyrkan I.) beruft; das Buch mußte also (will man diesen Hinweis
nicht als Nachbemerkung eines späteren Autors ansehen) entweder
unter Alexander-Jannäus oder unter Salome abgefaßt worden sein.
Während der ersten dieser Regierungen hätte jedoch ein gemäßigter
und über den Parteien stehender Geschichtsschreiber der Hasmonäer-
dynastie keinesfalls Lob angedeihen lassen können. Nach Salome
dürfte das Buch wohl auch kaum verfaßt worden sein, da zu jener
Zeit die Hasmonäerdynastie durch den Bruderkrieg bereits viel von
ihrem Ansehen eingebüßt hatte und der Verfasser überdies in freund-
schaftlicher Weise der Römer Erwähnung tut, denen er zugute hält,
daß sie durch ihren Bündnisvertrag mit Judäa zu dessen Befreiung
beigetragen haben; ein solches Verhalten den Römern gegenüber wäre
aber nach dem Einfall des Pompejus, der Judäa unterjocht und die
nationale Partei gegen Rom aufgebracht hatte, nicht mehr möglich
gewesen.
Das „Erste Makkabäerbuch“ war ursprünglich in hebräischer
Sprache geschrieben, der Urtext ging indessen mit der Zeit verloren
und erhaltengeblieben ist nur die griechische Übersetzung, die der
207
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
alexandrinischen Bibel (Septuaginta) einverleibt wurde. In den he-
bräischen Kanon der Heiligen Schrift wurde dieses Buch dagegen
nicht mehr auf genommen; so geriet es unter die in den letzten, lite-
rarischen, Teil der Bibel, die sogenannten „Schriften“ (Ketubim),
nicht einbezogenen „verborgenen Bücher“ (Sefarim genusim) oder
Apokryphen. Nach dem Niedergange der Hasmonäerdynastie büßte
auch das Buch, das ihre Taten pries und das zugleich einer ausge-
sprochenen religiösen Färbung ermangelte, seine Bedeutung ein. Aus
diesem Grunde ging wohl auch der hebräische Urtext mit der Zeit
verloren, und die so bedeutsame nationale Geschichte blieb dem
Schrifttum nur dank den Bemühungen der alexandrinischen Juden
erhalten, die sie ins Griechische übersetzen ließen. — Die die Fort-
setzung des „Ersten Makkabäerbuches“ bildende „Geschichte des Jo-
chanan-Hyrkanus“ ist gänzlich verschollen und weder im Urtext noch
in irgendeiner Übersetzung erhaltengeblieben.
Neben der Historiographie taucht um diese Zeit auch die lite-
rarische Gattung der historischen Novelle auf, die auf einem erdich-
teten geschichtlichen Hintergründe die großen nationalen Helden-
taten einzelner für Glaube und Volkstum sich einsetzender Persön-
lichkeiten zur Darstellung bringt. Diesem Novellenzyklus gehört unter
anderem das kleine Buch „Judith“ an, das gleichfalls nur in einer
griechischen Übersetzung aus dem ursprünglichen hebräischen Text
erhalten und mit in die „Apokryphen“ auf genommen worden ist1).
Darin wird erzählt, wie die von Vaterlandsliebe beseelte jüdische Hel-
din Judith ihre von den Assyrern unter dem Oberbefehl des Holo-
fernes belagerte Heimatstadt errettet: sie dringt in das feindliche La-
ger ein, bezaubert Holofernes durch ihre Schönheit und durch ge-
heuchelte Liebe, und als er dann einschläft, schlägt sie ihm das Haupt
ab, ruft so Bestürzung unter den Belagernden hervor und verhilft
den Juden zum Siege. Das Buch strotzt von Anachronismen: Nebu-
kadnezar, der „König von Ninive“, wünscht wie ein Gott verehrt zu
werden und sendet zur Züchtigung der ungefügigen Länder ein Heer
unter dem Oberbefehl des Holofernes aus (Name eines Satrapen aus
der Zeit des persischen Königs Artaxerxes Ochus); die Handlung
D Der nicht erhaltengebliebene aramäische Text des Judith-Buches, den noch
der heilige Hieronymus im IY. Jahrhundert d. ehr. Ära kannte, scheint eine Toch-
terübersetzung aus dem Griechischen gewesen zu sein.
208
§ 37. Die Literatur in Judäa. Die ältesten Apokryphen
spielt unter den eben erst aus der „Gefangenschaft“ (der babyloni-
schen) heimgekehrten Juden, die mit der Wiederherstellung ihres
Tempels unter Anleitung des Hohepriesters Jojakim beschäftigt sind.
Der Sinn des Buches liegt jedoch durchaus nicht in der Wiedergabe
geschichtlicher Ereignisse, sondern in der moralischen Belehrung, die
es bezweckt. Der Verfasser will dartun, daß das mächtigste heidnische
Heer nichts gegen die geistige Macht eines seinem Gesetze treu erge-
benen, frommen Volkes auszurichten vermag. Judith erscheint hier
als das Ideal der Frömmigkeit, wie sie die Pharisäer auffaßten: sie
ist voll sittlicher Strenge und Keuschheit und hält alle rituellen Rein-
heits- und Speisegesetze genauestens ein; sogar im Lager des Holo-
fernes weist sie die ihr dargebotenen Speisen zurück, weil sie sich
nicht durch heidnische Kost verunreinigen will. Das Buch klingt in
einem Triumphliede der Judith aus, in dem die Verherrlichung der
Nation zum Ausdruck kommt: „Wehe den Völkern, die sich erheben
wider mein Volk; der Herr, der Allmächtige, wird sie strafen am
Tage des Gerichts“. Diese durch Erinnerungen an die Heldentaten
aus der Zeit des hasmonäischen Aufstandes angeregte Erzählung mag
von einem Pharisäer der darauffolgenden Epoche verfaßt worden sein,
als das Judentum über das Heidentum triumphierte und das freie Ju-
däa die »es umgebenden Fremdstämmigen zu unterwerfen begann.
Wird in dem Buche Judith die nationale Heldentat verherrlicht,
so kommt in der demselben Apokryphenzyklus angehörenden Novelle
„Tobit“1) der Heldenmut auf dem Felde individueller Sittlichkeit
und Tugend zur Darstellung. Die Handlung spielt in der Diaspora.
Der vom assyrischen König nach Ninive gebrachte israelitische Ge-
fangene Tobit führt auch in der Fremde Werke der Frömmigkeit
und Barmherzigkeit aus: er genießt nicht von „der Speise der Hei-
den“, teilt Brot und Kleidung mit seinen hungrigen und nackten
Brüdern und trägt insbesondere Sorge darum, daß die Leichen der
von König Sanherib hingerichteten Israeliten, die man hinter die
D Das Buch „Tobit“ ist in mehreren Versionen in griechischer Sprache und
in späteren Übersetzungen ins Lateinische, Aramäische und Hebräische erhaltenge-
blieben. In welcher Sprache der Urtext abgefaßt worden war, ob in hebräischer,
aramäischer oder griechischer, ist schwer zu sagen, da die Frage, ob das Buch in
Judäa oder aber in der Diaspora (in Babylonien oder Alexandrien) entstanden ist,
noch immer unentschieden bleibt. Doch scheint die Annahme von dem palästinischen
Ursprung des Buches, und folglich auch von seinem später verschollenen, hebräi-
schen Urtexte, am zutreffendsten zu sein.
14 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd.II
209
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
Mauern der Stadt warf, in gebührender Weise bestattet werden. Den
Zorn des Königs fürchtend, pflegte er die Leichen .in der Nacht auf-
zulesen und sie heimlich zu begraben. Als er einst nach Vollbringung
eines solchen Liebesdienstes im Freien einschlief, fiel ihm Vogelkot
in die Augen und er erblindete. Der neue Hiob murrte jedoch nicht
gegen Gott, sondern ging auch fernerhin unbeirrt dem Guten nach.
Eines Tages sandte er seinen Sohn Tobias nach Medien, um eine alte
Schuld einzutreiben. Der Sohn nahm auf seinen weiten Weg einen
unbekannten jungen Reisegefährten mit sich, der sich später als der
heilspendende Engel Raphael erwies, der Menschengestalt angenom-
men hatte. Unterwegs, während eines Rades im Tigris, fängt Tobias
einen Fisch, schneidet ihm auf Geheiß seines Genossen die Einge-
weide heraus und nimmt diese mit sich. In Ekbatana angelangt, kehrt
er zufällig bei der ihm verwandten Familie des Raguel ein und will
dessen Tochter Sara zum Weibe nehmen. Da erfährt er nun von dem
wunderlichen Schicksal des Mädchens: sie wurde schon sieben Män-
nern gegeben, die jedoch einer nach dem anderen im Rrautgemach
von dem bösen Dämon Asmodai getötet worden waren. Auf Anraten
des Engels legt Tobias in der verhängnisvollen Rrautnacht die Fisch-
eingeweide auf glühende Kohlen und vertreibt durch den Qualm den
auch diesmal erscheinenden Dämon Asmodai. Die Hochzeitsnacht ver-
läuft nun ohne Störung und die Neuvermählten machen sich sogleich
auf den Weg nach Ninive, zu Tobit. Hier gibt Tobias seinem Vater
das Augenlicht wieder, indem er ihm Fischgalle auf die Augen
streicht. So nimmt alles ein gutes Ende, und der greise Tobit preist
Gott und prophezeit eine glänzende Zukunft für Jerusalem, in das
alle Verbannten wiederkehren und alle Völker zusammenströmen wer-
den, denn auch die Heiden werden sich einstmals zum wahren Gotte
bekehren. In dieser didaktischen Novelle kommen, neben der üblichen
Predigt der sittlichen Reinheit und Nächstenliebe1), auch noch man-
che Elemente der Essäerlehre zur Geltung. Der Glaube an Engel
(Raphael), an Dämonen (Asmodai) und an die Heilkraft der Einge-
weide bestimmter Tiere erinnert lebhaft an die Engel- und Dämonen-
lehre sowie an die Heilkunde der Essäer. Es ist anzunehmen, daß
!) Hier finden wir auch zuerst jene Formel der Sittlichkeit, die um diese Zeit
von Hillel ausgesprochen und späterhin in das Evangelium aufgenommen wurde
(Matth. 7, 12): „Was dir selbst unangenehm ist, das tue niemandem“ (Tob. l\> i5).
2 10
§ 37. Die Literatur in Judäa. Die ältesten Apokryphen
das Buch „Tobit“ in Judäa im I. Jahrhundert v. d. ehr. Ära verfaßt
worden ist1).
Im Buche „Tobit“ w/rd mehrmals des assyrischen Hof Würden-
trägers Aliikar Erwähnung getan, jenes sagenhaften morgenländischen
Weisen, dessen Sprüche den Juden der Diaspora noch im V. Jahr-
hundert v. d. ehr. Ära wohl bekannt waren (Band I, § 87). In der
Novelle wird Ahikar als Zeitgenosse des Tobit (beide leben unter
Sanherib), als dessen Neffe und Gönner dargestellt. Offenbar kannte
der Verfasser des Buches „Tobit“ jene Geschichte von Ahikar, die
uns in verschiedenen Texten (in arabischer, syrischer, aramäischer,
zum Teil auch in griechischer Sprache) erhaltengeblieben ist und die
seinerzeit in Judäa und der jüdischen Diaspora weit verbreitet war.
Der Inhalt dieser Sage ist in den Hauptzügen der folgende: ein weiser
Hofmann des assyrischen Königs, der Heide Ahikar, der nach dem
wahren Glauben strebt, gibt sich mit der Erziehung seines Neffen
Nadan ab, indem er ihn in den Lehren tder höchsten Sittlichkeit un-
terweist. Sein Zögling legt jedoch gar bald einen Hang zur Laster^
haftigkeit an den Tag und bringt durch Fälschung und durch Denun-
ziation bei dem König Sanherib seinen Onkel und Wohltäter an den
Rand des Verderbens. Nach vielen ZwischenfäUen kommt nun die
Wahrheit an den Tag, das in der Gestalt Nadans verkörperte La-
ster wird bestraft, während der tugendhafte Ahikar in jeder Weise
triumphiert. Die wesentliche Bedeutung des Buches „Ahikar“ liegt
jedoch nicht in seinem Inhalt, sondern in den zahlreichen Sentenzen
zur Lebensweisheit, die es den zwei klassischen Werken des hebräi-
schen Schrifttums, den „Sprüchen Salomos“ und der „Weisheit Ben
Sirahs“, verwandt machen. Der assyrische Weise erscheint in dem
Buche „Tobit“ seiner Nationalität nach als Jude. Daraus ist jeden-
falls der Schluß zu ziehen, daß die hebräische oder aramäische Um-
D Man neigt oft zu der Annahme, daß das Buch nicht später als im Jahre
2 5, dem Jahre der Errichtung des Herodestempels zu Jerusalem, verfaßt worden
sei, da andernfalls der Autor die Verwandlung des bescheidenen Tempels in ein
prächtiges Gebäude nicht hätte Voraussagen können, wie dies im Kap. i!\, 5 ge-
schieht. Diese Begründung scheint uns indessen recht naiv zu sein; ist denn das
Buch „Daniel“ kein genügender Beweis dafür, daß derartige nachträgliche Prophe-
zeiungen nichts Ungewöhnliches waren? Überhaupt ist es in solchen Fällen gewagt,
genaue Daten feststellen zu wollen, und es erscheint ratsam, sich nur mit der hypo-
thetischen Bestimmung des Jahrhunderts, in dem das Buch zur Entstehung kam,
zu bescheiden.
14*
21 I
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
arbeitung des Buches „Ahikar“ auch im Judäa der Hasmonäerepoche
verbreitet war und einen wesentlichen Bestandteil des damaligen di-
daktischen Schrifttums bildete.
§ 38. Das jüdische Zentrum in Ägypten
Unter den in Asien und Afrika verstreuten jüdischen Kolonien
nahm die zahlreiche jüdische Bevölkerung Ägyptens die wichtigste
Stelle ein. Das im Reiche der Ptolemäer, der ehemaligen Souveräne
Judäas, entstandene Kulturzentrum unterschied sich von dem in Je-
rusalem in vieler Hinsicht. Als unter Ftolemäus V. Judäa Ägypten
entrissen und Syrien einverleibt wurde (§ 4), sonderten sich auch die
ägyptischen Juden von ihren palästinischen Stammesbrüdern in po-
litischer Beziehung ab, und so gestaltete sich denn auch die Geschichte
der beiden Teile der Nation in ganz verschiedener Weise. Zu derselben
Zeit, als in Judäa der syrische Despot Antiochus Epiphanes sein Un-
wesen trieb, war es den ägyptischen Juden beschieden, sich völliger
Sicherheit unter dem Schutze des Königs Ptolemäus VI. Philometor
(181—145) zu erfreuen. Als Feind Syriens nahm dieser König auch
jüdische Auswanderer, die vor der syrischen Bedrückung in Ägypten
Zuflucht suchten, gern in seinem Lande auf.
Einer dieser jüdischen Emigranten war Onias IV., der Sohn des
von den Hellenisten abgesetzten und dann auch ermordeten Hohe-
priesters aus dem Zadokitengeschlechte, Onias III. Während der has-
monäischen Befreiungskriege vermochte der gesetzliche Erbe der
hohepriesterlichen Würde weder mit den hellenistischen Hierarchen
(Menelaus, Alcimus) noch mit der dih alte Zadokitendynastie verdrän-
genden, zur Macht kommenden Hasmonäerdynastie den Wettstreit
aufzunehmen; so mußte er der Hoffnung, das väterliche Amt in
Jerusalem für sich zu gewinnen, entsagen, und er entschloß sich nun,
nach Ägypten auszuwandern (um 160). In Alexandrien wurde Onias
von König Ptolemäus Philometor und der Königin Kleopatra aufs
freundlichste empfangen. Das ägyptische königliche Paar mochte viel-
leicht die Hoffnung hegen, mit Hilfe des Onias und seiner Partei-
gänger die gegen die syrische Unterjochung empörten Juden zur
Wiederaufrichtung der ehemaligen ägyptischen Herrschaft geneigt zu
machen. Onias versäumte seinerseits nicht, sich die günstige Lage zu-
nutze zu machen, und faßte den kühnen Plan, in Ägypten einen selb-
212
§ 38. Das jüdische Zentrum in Ägypten
ständigen religiösen Mittelpunkt in Form eines kleinen Tempels mit
einem Altar, gleichsam einer Miniaturnachbildung des Jerusalemer
Tempels, zu gründen. Die Tradition alter Zeiten sprach zugunsten die-
ses Unternehmens: bestand doch in Ägypten schon zur Zeit der per-
sischen Herrschaft ein besonderer jüdischer Tempel (in Elephantine)
mit einem Altar für Opferdarbringungen (Band I, § 80). Unter den
ersten fünf Königen aus der Ptolemäerdynastie finden wir in Ägypten
wohl jüdische Bethäuser oder Synagogen, deren bedeutendste in Alex-
andrien1) anzutreffen waren, es fehlte aber an einem zentralen Tempel
mit einer geordneten priesterlichen Hierarchie und mit einem Opfer-
kultus. Dieser Mangel war es, der die ägyptischen Juden in religiöser
Hinsicht von Jerusalem abhängig machte. Die Zeit der Wirren unter
Antiochus Epiphanes sowie die der hasmonäischen Kriege machte der
ägyptischen Kolonie die Unzuträglichkeit dieser Abhängigkeit von der
Metropole besonders fühlbar. Überdies büßte der Jerusalemer Tempel
in der Diaspora nach seiner Entweihung durch den Zeuskultus viel
von dem Nimbus der Heiligkeit ein. Aus allen diesen Gründen konnte
den ägyptischen Juden sowohl das Erscheinen des Onias, des Spröß-
lings der gesetzlichen geistlichen Dynastie, in ihrer Mitte, wie dessen
Plan der Gründung eines besonderen Tempels in Ägypten nur will-
kommen sein.
Auf die Fürbitte des Onias hin wies ihm der König Ptolemäus
einen Landanteil in dem Städtchen Leontopolis, im Bezirke von Helio-
polis, in der Nähe von Memphis, an, wo sich bereits eine autonome
jüdische Kolonie* 2) befand. Hier, ,auf der Trümmerstätte eines alten
ägyptischen Götzentempels, errichtete Onias einen Jahvetempel nach
!) Die epigraphischen Funde (Papyri und Grabschriften in griechischer Spra-
che) bezeugen das Bestehen jüdischer Gemeinden oder „Synagogen“ mit Gebet-
stätten (griechisch: „Proseuche“) an verschiedenen Orten Ober- und Unterägyptens,
Die Synagoge oder „Proseuche“ in Schedis war zu Ehren des Königs Ptolemäus III.
und seiner Gemahlin und Schwester Berenice erbaut. In Athribis, im südlichen
Delta, war, mit Genehmigung des Königs Ptolemäus (VI.?) und der Königin Kleo-
patra, eine Proseuche dem „höchsten Gotte“ erbaut worden. (Die Quellen sind in
der Papyrussammlung von Mitteis, Wilcken u. a. wiedergegeben. Vgl. Bibliographie
am Ende des Bandes.) Über die Synagoge in Alexandrien s. unten, § 62.
2) In diesem Bezirk hat sich bis auf den heutigen Tag eine Ortschaft namens
Tell-el-Jehudijeh erhalten, was von dem Bestehen einer jüdischen Ansiedlung an
dieser Stelle schon in ältester Zeit Zeugnis ablegt. Hier in der Nähe ist auch eine
Nekropole mit jüdisch-griechischen Grabschriften entdeckt worden.
2l3
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
Jerusalemer Vorbild, jedoch in viel kleinerem Maßstabe und mit einer
viel bescheideneren inneren Ausstattung. Es gelang ihm, für den Got-
tesdienst im neuen Tempel die während der syrischen Verfolgungen
aus Judäa geflüchteten Priester und Leviten zu gewinnen. In Jerusa-
lem stand man, wie es scheint, diesem Versuche einer religiösen De-
zentralisation mit geteilten Gefühlen gegenüber, und der Opferkultus
im „Hause des Onias“ (Beth Chonia) wurde nur wider Willen als
gesetzlich anerkannt. Die Stifter des ägyptischen Heiligtums konnten
sich indessen zu ihrer Rechtfertigung auf einen wichtigen Präzedenz-
fall berufen: auf den Altartempel zu Elephantine, der bereits drei
Jahrhunderte früher zu Recht bestand. Übrigens begnügten sich die
gesetzestreuesten unter den ägyptischen Juden mit diesem örtlichen
Kultus keineswegs und hielten ihre Beziehungen zum Jerusalemer
Tempel auch weiter aufrecht. Sie fuhren fort, ihre Weihgaben dort-
hin zu senden, und gar viele von ihnen pilgerten auch fernerhin zu
den großen Jahresfesten in die heilige Stadt. Nach Beendigung der
hasmonäischen Kriege luden die Jerusalemer Juden ihrerseits die Ver-
treter der ägyptischen Gemeinden alljährlich zum Fest der Tempel-
weihe oder „Chanuka“ ein. Der Tempel des Onias in Leontopolis be-
stand mehr als zwei Jahrhunderte lang und überdauerte noch drei
Jahre sein Jerusalemer Vorbild, nach dessen Zerstörung durch die
Römer.
Die staatsbürgerlichen Verhältnisse der Juden in Ägypten unter
Philometor und dessen Nachfolgern waren dermaßen günstig, daß
nicht einmal das der Unabhängigkeit teilhaftig gewordene Judäa be-
deutendere Auswanderermassen von dort herbeizulocken vermochte.
Besonders gesichert war die Lage der Juden in Alexandrien, dem nach
Rom zweitgrößten Zentrum der damaligen zivilisierten Welt, das,
wie die Griechen zu sagen pflegten, am „Knoten der Erde“ gelegen
war und allen drei Teilen der Alten Welt als Hafen diente. Von den
fünf weit ausgedehnten Bezirken dieser Stadt waren einer oder zwei
vornehmlich von Juden bewohnt. In der „Judenstadt“ herrschte ein
reger Handel, hauptsächlich in der Ein- und Ausfuhr von Waren
bestehend. Im Besitze der bürgerlichen Gleichberechtigung („Isopoli-
teia“), verfügten die alexandrinischen Juden überdies auch noch über
eine autonome gesellschaftliche Organisation. An der Spitze ihrer
Gemeinde stand ein besonderer Ethnccrch, der mit weitgehenden Ver-
2 I 4
§ 38. Das jüdische Zentrum in Ägypten
waltungs- und Gerichtsvollmachten ausgestattet war1). Die Juden ta-
ten sich in den verschiedenen Zweigen des Staatsdienstes, den Heeres-
dienst nicht ausgenommen, rühmlichst hervor. Unter Ptolemäus Philo-
metor hatten die Juden Onias und Dositheus sogar die hohen Ämter
von Befehlshabern der ägyptischen Armee inne.
Nur ein einziges Mal schwebten die Juden von Alexandrien in
großer Gefahr. Es war dies nach dem Tode des Ptolemäus Philometor,
als sein Bruder und Mitregent Ptolemäus VII. Physkon (auch Euer-
getes II. genannt) mit der Königin-Witwe Kleopatra um den Thron
rang (i45—i3o). An der Spitze des Heeres der Kleopatra stand der
eben erwähnte jüdische Feldherr Onias, und die Sympathien aller Ju-
den Alexandriens scheinen sich der Partei der Königin zugewandt zu
haben. Dies erweckte den Groll des Physkon gegen die Juden, der
nun einen fürchterlichen Racheplan ausheckte. Ehe er gegen Onias
ins Feld zog, befahl er seinen Soldaten, eine Menge alexandrinischer
Juden mitsamt ihren Familien auf einen Stadtplatz zu jagen und in
Wut gebrachte Elephanten gegen sie loszulassen, die sie zerstampfen
sollten. Aber ehe man sich dessen versah, geschah etwas ganz Seltsames:
die rasenden Elephanten stürzten sich nicht auf die Juden, sondern
auf die sie hetzenden königlichen Diener und zertraten gar viele von
ihnen. Aus Anlaß dieser Errettung, in der das Volk ein Wunder Got-
tes erblickte, wurde in der alexandrinisclien Gemeinde alljährlich ein
Fest begangen* 2). Indessen war auch diese Judenverfolgung, wie er-
sichtlich, nicht ein Ergebnis des Rassen- oder des Religionshasses,
sondern vielmehr die Folge eines politischen Zusammenstoßes: der
Kronprätendent verfolgte die Juden nicht als Juden, sondern aus-
!) Das diesbezügliche Zeugnis des Strabo, der allerdings die nachfolgende
Epoche der römischen Herrschaft in Ägypten im Auge hat, behält im allgemeinen
seine Gültigkeit auch in bezug auf die Ptolemäer zeit: Rom konnte wohl den Juden
ihre frühere Autonomie zusichern und sie erweitern, nicht aber sie ex nihilo er-
schaffen. Vgl. unten, § 62. Dasselbe ist von dem Bericht des Philo über die Ge-
meinde zu Alexandrien zu sagen.
2) Der geschichtliche Kern des Ereignisses hat sich bei Josephus (Contra
Apion. II, 5) erhalten. In dem apokryphischen ,,Dritten Makkabäerbuch'‘ ist von einer
Hetze der alexandrinischen Juden mit Elephanten und von einer „wunderbaren
Errettung" während der früheren Regierung des Ptolemäus Philopator die Rede
(s. oben, § 4)- Indessen ist einem so Sagenreichen, zum Teil auch tendenziösen
Werke wie dem „Dritten Makkabäerbuch" viel eher ein Anachronismus zuzumuten,
als der Schrift des jüdischen Geschichtsschreibers, weshalb dessen Datierung auch
vorzuziehen ist, obwohl die Erzählung selbst in ihren Einzelheiten auch bei ihm
halb sagenhaft erscheint. S. unten, S 3g.
2l5
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
schließlich als Anhänger seiner Rivalin Kleopatra. So war -es nur
natürlich, daß auch Ptolemäus Physkon, als er dann des Thrones
sicher war, die Juden nicht weiter behelligte, so daß sie auch ferner-
hin frei leben und sich entwickeln konnten, als einer der kulturell
höchststehenden Bestandteile der vielstämmigen Bevölkerung Ägyptens.
Daß die politische Lage der ägyptischen Juden sich auch unter
den Nachfolgern Ptolemäus VII. nicht verschlimmert hatte, ist dar-
aus zu ersehen, daß während des Krieges des Alexander-Jannäus mit
dem ägyptischen Königssohne Ptolemäus Lathurus (um ioo) dessen
Mutter, die ägyptische Königin Kleopatra III., gegen den ihr miß-
liebigen Sohn eine Streitmacht unter der Führung zweier jüdischer
Feldherren, der Söhne des Hohepriesters Onias, Chelkia und Gha-
nanja, ausgesandt hatte. Diese jüdischen Feldherren waren es gerade,
die, wie bereits erwähnt (§ 27), Alexander-Jannäus aus seiner schwie-
rigen Lage befreiten und den Anschlag auf die Unabhängigkeit Ju-
däas vereitelten.
§ 39. Die jüdisch-hellenistische Literatur
In den letzten zwei Jahrhunderten v. d. ehr. Ära war die alte
„Kosmopolis“ Alexandrien, die im Rufe eines „Athen des Morgen-
landes“ stand, der gegebene Sammelpunkt für die Vertreter der gei-
stigen Aristokratie der gesamten hellenistischen Welt. Die sogenannte
„alexandrinische Literatur“ stellt ein Gemisch wissenschaftlicher, phi-
losophischer und dichterischer Werke von Schriftstellern dar, die den
allerverschiedensten hellenisierten Völkern entstammten. Die grie-
chische Sprache verlieh allerdings diesem Gemisch den Anschein der
Geschlossenheit und der Gleichartigkeit, was jedoch dem inneren
Gehalte in keiner Weise entsprach. Unter der kosmopolitischen Über-
tünchung kamen in der alexandrinischen Literatur deutlich die der
einen oder der anderen Nation eigentümlichen schöpferischen Züge
zum Vorschein, die nur ihrer Ausdrucksform nach nivelliert waren.
Am ausgesprochensten bewahrte seine originelle Färbung das von Ju-
den beigesteuerte Element, das sich in diesem Schrifttum eine der
ersten Stellen errungen hatte. Dies hatte schon allein darin seinen
Grund, daß einen bedeutenden Teil der alexandrinischen Literatur,
ihre eigentliche geschichtliche Grundlage, die griechischen Überset-
zungen der Bücher der Bibel sowie der sich ihnen anschließenden
216
§ 39. Die jüdisch-hellenistische Literatur
jüdischen Apokryphen oder aber Kompilationen dieser Bücher bil-
deten.
Den bedeutendsten Beitrag zur damaligen Weltliteratur stellt die
griechische Übertragung der Bibel dar. Die im III. Jahrhundert mit
der Übersetzung des Pentateuch (§ 19) begonnene Übertragung der
Bibel ins Griechische wurde im II. Jahrhundert, in der Regierungs-
zeit des Ptolemäus Philometor und seiner nächsten Nachfolger, zu
Ende geführt. Es wurden die der Thora folgenden historischen und
prophetischen Bücher, die poetischen und religiös-philosophischen
„Schriften“ (Ketubim) übersetzt, sowie manche neue Werke, die spä-
ter in den Bestand der biblischen Apokryphen aufgenommen wurden.
Der im Jahre i32 v. d. ehr. Ära nach Ägypten gekommene Enkel
des Verfassers der „Weisheit Ben Sirahs“ überträgt dieses Buch ins
Griechische und erwähnt in dem Vorwort zu seinem Werke die schon
vorhandenen Übersetzungen der „Propheten und übrigen Bücher“.
Die jüdischen Schriftsteller, die die Übersetzungen der biblischen
Bücher ins Griechische, zum Zwecke ihrer Verbreitung im Volke oder zu
dem der religiösen Propaganda unter den Heiden, besorgten, ließen sich
die Genauigkeit der Übersetzung nur bei der Übertragung der Thora
und der ältesten prophetischen und geschichtlichen Bücher angelegen
sein; dagegen nahmen sie es mit den des Nimbus der Heiligkeit ent-
behrenden, späterer Zeit entstammenden Schriften zuweilen durchaus
nicht so genau, indem sie dem Texte verschiedene Erzählungen, religiöse
Hymnen und Belehrungen beifügten. So wurde beispielsweise das bi-
blische „Esrabuch“ bei der Übertragung ins Griechische einer gründ-
lichen Umarbeitung unterzogen: in die Erzählung von der Heimkehr
der Juden aus dem babylonischen Exil und von der Wiederherstellung
des Tempels wurden langatmige moralisierende Betrachtungen einge-
flochten und auch die Darstellung der Ereignisse selbst erlitt bedeutende
Änderungen1). In den griechischen Text des „Estherbuches“ wurden 1 2
1) In die griechische Bibel (Septuaginta) ist diese Rezension als das ,,Erste
Buch Esra“ aufgenommen. In der späteren lateinischen Bibel (Vulgata) wurde ihr
unter dem Namen „Drittes Buch Esra“ eine Stelle unter den Apokryphen ange-
wiesen. Daß das Buch bereits im I. Jahrhundert v. d. ehr. Ära bekannt war, ist
aus den großen Auszügen zu ersehen, die der Geschichtsschreiber Josephus Flavius
daraus gemacht hat (Ant. XI, 1—5). Das schöne Stück, in dem die Reden der drei
Leibwächter des Königs Darius Vorkommen, die die Frage behandeln, was in der
Welt am mächtigsten sei: der Wein, der König, das Weib oder die Wahrheit (Ant.
XI, 3), ist von Anfang bis zu Ende der griechischen Umarbeitung des „Esra“
(Kap. 3) entlehnt.
2 X']
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
ergänzende Stücke (wie die Gebete des Mardochai und der Esther,
die Erlässe des Haman und des Mardochai) eingeschoben, die darauf
ausgingen, dieser seltsamen biblischen Chronik, in der nichts von
einem Eingriffe Gottes in den Gang der Ereignisse zu finden war,
einen mehr religiösen Charakter zu verleihen. In das „Buch Daniel“
wurden bei der griechischen Übersetzung folgende drei Stücke einge-
fügt: i. Das Gebet der drei Jünglinge, die von Nebukadrezzar in den
Feuerofen geworfen wurden; 2. Die Erzählung von Bel und dem
Drachen (zur Überführung der Heiden); 3. Die belehrende Ge-
schichte von Susanna. In der letzteren wird erzählt, wie eine schöne
jüdische Ehefrau, namens Susanna, sich in ihrem Garten zu Babylon
erging und hier von zwei Gemeindeältesten, die sich an ihr vergehen
wollten, belauert und überfallen wurde. Als nun auf Susannas Hilfe-
rufe Leute herbeigeeilt kamen, wurde sie von den Ältesten fälschlich
angeschuldigt, unter einem Baume mit einem Jüngling die Ehe ge-
brochen zu haben. Die schuldlose junge Frau wurde wegen Ehebruchs
vom Gerichte zur Todesstrafe verurteilt; im letzten Augenblick, als
man Susanna auf den Richtplatz führte, gelang es jedoch dem weisen
Jüngling Daniel, durch gewandte Fragestellung die Ältesten der Lüge
zu überführen, die Schuldlosigkeit der Susanna zu beweisen und sie
so dem Tode zu entreißen.
Auch die in Judäa entstandenen literarischen Neuschöpfungen
pflegte man oft in Alexandrien ins Griechische zu übertragen, und
so wurden sie zu einem Gemeingut der Gebildeten der ganzen Welt.
Diese Übertragungen bewahrten jene Bücher, deren Verbreitung in
Judäa aus religiöser oder politischer Voreingenommenheit unterbun-
den wurde und deren Urtexte infolgedessen der Verschollenheit an-
heimgefallen sind, vor dem gänzlichen Untergang. „Die Weisheit
Ben Sirahs“, „Das Erste Makkabäerbuch“, „Judith“, „Tobit“, sowie
andere Apokryphen verdanken somit ihre Erhaltung den außer-
palästinischen Juden, die deren Übertragung besorgen ließen.
Die Alexandriner begnügten sich jedoch nicht allein mit der Rolle
von Vermittlern zwischen der jüdischen und hellenistischen Literatur.
Sie schufen auch ihr eigenes Schrifttum in griechischer Sprache, in
dem das national-jüdische Element sich in höherem oder geringerem
Maße mit dem international-hellenistischen vermengte, so daß dieses
Schrifttum mit vollem Rechte das jüdisch-hellenistische genannt zu
werden pflegt. Ganz besonders wurde dabei die Geschichte des jüdi-
218
§ 39. Die jüdisch-hellenistische Literatur
sehen Volkes gepflegt, vornehmlich als Gegenstand sittlicher Beleh-
rung und Unterweisung. So hat ein jüdischer Schriftsteller namens
Jason von Cyrene eine ausführliche Schilderung der hasmonäischen
Befreiungskriege in fünf Büchern in griechischer Sprache verfaßt,
von denen uns jedoch nur ein von einem anderen Verfasser gemach-
ter Auszug („Epitome“) erhalten blieb, der unter dem Titel „Zweites
Makkabäerbuch“ bekannt ist. In diesem Auszug wird von der Juden-
not unter Seleucus IV. und Antiochus Epiphanes, sowie von der dar-
auffolgenden Volkserhebung berichtet; das Buch schließt mit der
Darstellung des Sieges des Juda Makkabäus über Nikanor. In die
Erzählung sind didaktische Volkssagen (wie z. B. das Martyrium des
greisen Eleasar und der sieben Brüder) eingeflochten, die in dem
dieselbe Epoche behandelnden „Ersten Makkabäerbuch“ fehlen. Der
Verfasser schreibt in der Art der griechischen rhetorischen Historio-
graphie und weicht in seiner eleganten, jedoch gezierten Schreibart
sowohl von der biblischen Schlichtheit wie auch von der strengen
Sachlichkeit des Jerusalemer „Makkabäerbuches“ auffallend ab. Ein
Grundunterschied zwischen diesen beiden Büchern besteht auch noch
darin, daß im „Ersten Makkabäerbuch“ die national-politische Tendenz
vorherrscht, während im „Zweiten“ das rein erbauliche Element aus-
schlaggebend ist. Für den außerhalb Palästinas lebenden Verfasser des
„Zweiten Makkabäerbuches“ war an der Hasmonäergeschichte nicht
so sehr die politische Wiedergeburt Judäas das wertvollste, als die Er-
rettung des Judaismus von den heidnischen Verfolgungen. Er suchte
der umgebenden heidnischen Welt gleichsam vor Augen zu führen,
wie kraftvoll die jüdische Religion sei und wie sie aus allen Prüfun-
gen unversehrt hervorzugehen vermöge. Diese Tendenz kommt schon
in den einleitenden Kapiteln des Buches zum Vorschein, in denen
Briefe von Jerusalemer Juden an ägyptische mit der Einladung, an
der Feier der Tempelweihe am „Chanuka“-Fest teilzunehmen, Auf-
nahme gefunden haben. Zum höchsten Pathos schwingt sich der Ver-
fasser in der Erzählung von der Mutter und ihnen sieben Söhnen
auf, die in ihrer unverbrüchlichen Treue der jüdischen Religion ge-
genüber heldenmütig ihr Leben opfern und vor dem Tode dem König
Antiochus und in seiner Person der ganzen heidnischen Welt eine
stolze Herausforderung ins Gesicht schleudern (Kap. 7). Neben dem
Reichtum an Gedanken zeichnet sich das Buch auch durch eine Fülle
stofflichen Inhalts aus: vieles, was hier über die Geschichte der Has-
219
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
monäererhebung berichtet wird, bildet eine wichtige Ergänzung zu
der Darstellung des „Ersten Makkabäerbuches“. Vermutlich enthiel-
ten auch die verlorengegangenen Teile des Werkes des Jason von
Cyrene reichhaltigen Stoff zur Geschichte dieser Epoche.
Das „Dritte Makkabäerbuch“ dagegen, das Werk eines unbekannten
Verfassers, das sich in griechischer Sprache erhalten hat, und in dem
übrigens die Makkabäer mit keinem Worte erwähnt werden, ist eher
der Gattung der didaktischen geschichtlichen Erzählungen zuzurech-
nen. In diesem kleinen Buche wird unter allerlei phantastischen Aus-
schmückungen die obenerwähnte Geschichte erzählt, wie der König
Ptolemäus Philopator, auf dem Rückwege von seinem syrischen Feld-
zuge gegen Antiochus III., gewaltsam in das Allerheiligste des Jerusa-
lemer Tempels eindrang und besinnungslos von dort hinausgetragen
werden mußte (oben, § l\), wie er darauf seinen Zorn an den ägypti-
schen Juden ausließ, indem er sie zu Sklaven machte und zum Göt-
zendienst nötigte („alexandrinische Bürgerrechte“ wurden nur denen
zugesichert, die bereit waren, dem bacchantischen Dionysoskultus ob-
zuliegen und in dessen Mysterien eingeweiht zu werden), wie der
über ihre religiöse Standhaftigkeit erbitterte König sie dann aus allen
Teilen Ägyptens nach Alexandrien zusammenzutreiben befahl, um sie
dort in der Rennbahn von wütend gewordenen Elephanten zerstamp-
fen zu lassen, wobei das obenerwähnte Wunder geschah (§ 38), und
wie der König hierauf, völlig umgestimmt, schließlich zu einem Juden-
freunde wird. Sagen aus der Zeit Seleucus IV. (der Versuch des He-
liodor, in den Jerusalemer Tempel einzudringen, oben, § 7) und aus
der des Ptolemäus Physkon (§ 38) sind in dieser Erzählung von
poetisch nicht besonders hochwertigen Erdichtungen reichlich durch-
setzt. Es ließe sich hierin auch ein später -Widerhall der Verhöhnun-
gen der alexandrinischen Juden durch den römischen Kaiser üaligula
erkennen (s. unten, § 72). Dies ist der Grund, warum die Ansetzung
der Entstehungszeit des „Dritten Makkabäerbuches“ zwischen dem
I. Jahrhundert v. d. ehr. Ära und dem I. d. ehr. Ära schwankt. Bei
alledem bleibt jedoch die Zugehörigkeit des Buches zur «alexandrini-
sdhen jüdisch-hellenistischen Literatur ziemlich sicher.
Die Verbreitung der Bibel in der griechischen Übersetzung er-
zeugte ihrerseits eine umfangreiche Literatur, deren Mittelpunkt
gleichfalls Alexandrien war. Diese jüdisch-hellenistische Literatur
zeichnet sich durch zweierlei Besonderheiten aus: erstens durch die
220
§ 39. Die jüdisch-hellenistische Literatur
Vermischung der Ideen des Judaismus mit denen des Hellenismus
oder durch einen religiös-philosophischen Synkretismus, und zweitens
durch das Bestreben, den Judaismus gegen die feindselige Kritik zu
verteidigen, d. i. durch den Geist der Apologie. Die mit der griechi-
schen Philosophie wohl vertrauten, gebildeten alexandr mischen Juden
suchten natürlicherweise diese mit ihrer eigenen nationalen Weltan-
schauung in Einklang zu bringen. Von den tiefgründigen Ideen der
griechischen Philosophen durchdrungen, gingen die jüdisch-hellenisti-
schen Schriftsteller darauf aus, den den Judaismus vom Hellenismus
trennenden Abgrund zu überbrücken und nachzuweisen, daß beide
Weltanschauungen einer gemeinsamen alten Wurzel entstammen.
Diese Tendenz war den jüdischen Schriftstellern durch das Bewußt-
sein nahegelegt, daß ihre Werke nicht allein von Juden, sondern auch
von Griechen gelesen würden, denen die ihnen fremden Anschauungen
in einer ihnen geläufigen Form geboten werden mußten. So verfaßte
der jüdische Denker Aristobulus, der in Alexandrien unter Ptolemäus
Philometor lebte (um 170—i5o), ein diesem König gewidmetes Werk
über die Gesetze Moses’. Aus den erfialtengebliebenen kurzen Frag-
menten dieses Werkes1) ist zu ersehen, daß sein Verfasser sich gut
in den philosophischen Systemen des Pythagoras, Plato und Aristo-
teles zurechtf and und auch die Poesie des Homer ,und Hesiod wohl
kannte, wobei er die Lehren der hellenischen Weisen aus dem Judais-
mus herzuleiten suchte. Er stellte die Behauptung auf, daß die richtig
verstandene Lehre Moses’ bereits das Wertvollste dessen in sich berge,
was die späteren griechischen Philosophen lehrten. Er nahm sogar an,
daß die letzteren ihre Ideen unmittelbar den Büchern Moses’ verdank-
ten. Um die Theosophie der Bibel der griechischen Metaphysik näher
zu bringen, bemühte sich Aristobulus zu beweisen, daß die biblischen
1) Diese Fragmente sind in den Werken der christlichen Gelehrten des III.
und IY. Jahrhunderts, des Clemens Alexandrinus („Stromata“) und des Eusebius
(„Praeparatio Evangelica“) erhaltengeblieben. Im „Zweiten Makkabäerbuch“ (1, 10)
wird ein „Aristobulus, der Lehrer des Königs Ptolemäus, der von hohepriesterlichem
Stamme ist“, erwähnt, an den sich die Jerusalemer Gemeinde als an das Haupt der
ägyptischen Juden mit einer Benachrichtigung von dem bevorstehenden Feste der
Tempelweihe nach den Hasmonäersiegen wandte. Ob nun dieser Aristobulus mit sei-
nem Zeitgenossen, dem alexandrinischen Philosophen gleichen Namens, identisch
ist, bleibt fraglich. Dagegen kann die Kontroverse über die Echtheit der Aristobulus-
fragmente selbst nunmehr, nach der überzeugenden Beweisführung E. Schürers
(Gesch. B. III, 4- Aufl., S. 5i2—Ö22), als in positivem Sinne entschieden angesehen
werden.
22 1
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
Anthropomorphismen (die Gott dem Menschen gleichmachenden
Redewendungen, wie z. B.: „Gott sprach“, „Gott streckte seinen Arm
aus“ u. dergl.) nicht buchstäblich, sondern in übertragenem Sinne
verstanden werden müßten, nämlich in dem einer Einwirkung der
Macht oder des Willens Gottes auf die sichtbare Welt. Damit wandte
er als erster die Methode der allegorischen Ausdeutung der Bibel an,
dieselbe Methode, die später die Grundlage der gesamten Religions-
philosophie des Philo von Alexandrien bildete.
Das Bestreben, den Judaismus mit dem Hellenismus organisch zu
verbinden, macht sich ganz besonders auf dem Gebiete der Historio-
graphie bemerkbar. So bearbeiteten drei hellenisierte jüdische Schrift-
steller, die in Ägypten im II. Jahrhundert v. d. ehr. Ära lebten, De-
metrius, Eupolemus und Artapanus, in einer ganzen Reihe von Wer-
ken, von denen sich allerdings nur unbedeutende Bruchstücke erhalten
haben1), die alte Geschichte Israels. Demetrius beschränkte sich in
seiner Schrift „Über die jüdischen Könige“ anscheinend nur darauf,
die Ereignisse seit den Erzvätern und Moses bis zur Zeit Ptolemäus IY.
in chronologischer Reihenfolge wiederzugeben. Eupolemus stellt in
einem gleichgearteten Werke Moses als den „ersten Weisen“ hin, der
den Juden die Kunst des Schreibens beigebracht hätte, die sie dann
den Phöniziern übermittelten, von denen sie später die Griechen er-
lernten. Artapanus schließlich versteigt sich zu der widersinnigen
anachronistischen Behauptung, die Ägypter hätten all ihre Glaubens-
lehren, Kenntnisse, Erfindungen und Einrichtungen den alten Juden
zu verdanken. Noch der Erzvater Abraham soll, seiner Meinung nach,
während seines Aufenthaltes in Ägypten den Pharao mit der Astro-
logie bekannt gemacht haben; Joseph soll dann als oberster Verwalter
Ägyptens für bessere Bebauung des Landes Sorge getragen haben,
während der wahre Begründer der ägyptischen Kultur kein anderer
als der mit dem griechischen Musäus, dem Lehrer des Orpheus und
dem Urheber der Wissenschaften und Künste, identische Moses ge-
wesen sein soll. Er war es, der zuerst Ägypten in 36 Bezirke oder
Nomen einteilte, dort die Gottesverehrung einführte, die Staatsord-
nung begründete und überdies die Priester in die Kunst des Schrei-
U Diese Bruchstücke wurden von dem griechischen Schriftsteller Alexander
Polyhistor (80— 4o v. d. ehr. Ära) gesammelt. Aus seiner Zusammenstellung: „Über
die Juden“ („Peri Judaion“) gingen sie dann in die Werke christlicher Schrift-
steller der ersten Jahrhunderte über, aus denen wir sie auch kennen (s. die vorher-
gehende Anmerkung).
222
§ 39. Die jüdisch-hellenistische Literatur
bens einführte. Aus Neid wollte der König Chenephres Moses um-
bringen lassen, jedoch erhielt dieser noch rechtzeitig von Gott den
Befehl, mit seinem Volke aus Ägypten zu ziehen.
Der biblische Stoff, der sogar die Phantasie der Geschichtsschrei-
ber beflügelte, mußte um so mehr die jüdisch-hellenistischen Dichter
mit Begeisterung erfüllen. So hat denn auch ein wenig bekannter
Schriftsteller dieser Zeit, Philo (der Ältere), ein episches Gedicht
„Über Jerusalem“ verfaßt, worin er in griechischen Hexametern das
Leben des Erzvaters Abraham, das Los Josephs sowie den Ruhm der
judäischen Hauptstadt besang. Ein anderer Dichter (vielleicht ein
Samaritaner), Theodotus, war der Verfasser eines Heldengedichtes
über Sichern, die heilige Stadt der Samaritaner, und über die Ge-
schichte der Unterwerfung dieser Stadt durch die Söhne des Erzvaters
Jakob nach der Entführung der Dina. Auch dramatische Werke, die
den biblischen Stoff zum Inhalte hatten, tauchten auf. Von diesen
ist nur ein einziges, das Drama Ezechiels, „Der Auszug“ („Exagoge“),
das das Leben Moses* und den Auszug der Juden aus Ägypten zum
Gegenstand hatte, in Fragmenten erhaltengeblieben1).
Diese künstliche Vermengung jüdischer und hellenischer An-
schauungen in Geschichte und Philosophie rührte jedoch nicht allein
von dem rein theoretischen Bestreben her, die Lehren der Juden mit
den Ideen der sie umgebenden Kulturwelt in Verbindung zu bringen;
gar oft wurde diese Verbindung von der unabweisbaren Notwendig-
keit diktiert, den Judaismus gegen die Verleumdungen und Verspot-
tungen der Heiden in Schutz zu nehmen. War doch die Literatur der
alexandrinischen Griechen nur allzu reich an judenfeindlichen Ten-
denzen. Böswillige Erdichtungen judenfeindlicher Geschichtsschrei-
ber, wie die des ägyptischen Priesters Manetho (§ 19), fanden weite
Verbreitung und entfachten eine den Juden gegenüber feindselige
Stimmung. Derartigen verletzenden Darstellungen der geschichtlichen
Schicksale des Judentums traten nun die jüdischen alexandrinischen
Schriftsteller mit Apologien entgegen, in denen die Vergangenheit der
israelitischen Nation wie deren Lehre als ein Quell allmenschlicher
Kultur dargetan werden sollte. Um ihrer Verteidigung des Judaismus
besonderen Nachdruck zu verleihen, pflegten sie sie dem einen oder
1) Bruchstücke all dieser Werke der jüdisch-hellenistischen Dichter sind in den
in den vorhergehenden Anmerkungen angeführten Quellen erhaltengeblieben.
223
Das innere Leben Judäas und die Diaspora
anderen alten griechischen Schriftsteller in den Mund zu legen. Von
dieser „pseudepigraphischen“ Literatur verdient besondere Erwäh-
nung das Buch des sogenannten Pseudo-Hekatäus, das eben jenem
griechischen Schriftsteller Hekatäus von Abdera zugeschrieben wurde,
der sich in seiner „Geschichte Ägyptens“ einst in ganz unvoreinge-
nommener Weise über die Juden geäußert hatte (§ 19)* Seinen Na-
men machte sich nun der spätere jüdische Apologet zunutze, als er
sein eigenes Werk „Über die Juden“ (wahrscheinlich im II. Jahr-
hundert v. d. ehr. Ära) veröffentlichte. Nach den unversehrt geblie-
benen Bruchstücken zu urteilen, wurde in diesem Werke die Treue
der Juden ihrem Gesetze gegenüber verherrlicht, ihre Loyalität Alex-
ander dem Großen und Ptolemäus I. gegenüber gerühmt und end-
lich die Pracht Jerusalems und seines Tempels gepriesen. Bezeichnend
ist die folgende Episode, die Pseudo-Hekatäus als Beweis dafür an-
führt, wie sich die Juden vom heidnischen Aberglauben frei zu halten
wußten1):
„Als ich mich zum Roten Meere begab, befand sich unter den
uns begleitenden Reitern ein Jude namens Mosolam (Meschullam),
ein Mann von geistiger Kraft und Mannesmut, der beste Bogen-
schütze nach dem Urteil sowohl der Hellenen wie der Barbaren. Un-
terwegs forderte ein auf den Vogelflug begierig achtender Wahr-
sager die ganze Schar auf, innezuhalten. Da fragte jener Mann (Mo-
solam), warum sie denn den Weg nicht fortsetzten. Der Wahrsager
zeigte ihm den Vogel und sprach: ,Bleibt er hier unbeweglich, so
müssen alle stehen bleiben; wird er sich aber empor schwingen und
vorwärts fliegen, so können auch wir unseren Weg weiter verfolgen;
sollte er sich jedoch rückwärts wenden, so müssen auch wir kehrt
machen/ Schweigend spannte nun Mosolam seinen Bogen und
tötete mit sicherem Pfeile den Vogel. Da erzürnte der Wahrsager und
auch einige andere und fluchten ihm gar sehr; er aber sprach zu
ihnen: ,Weshalb seid ihr denn so wütend, ihr Unglückseligen?' Und
indem er den Vogel in die Hand nahm, fuhr er fort: ,Wi,e könnte
denn er, der nicht einmal um seine eigene, Rettung Sorge zu tragen
vermochte, uns etwas Gescheites über unseren Weg Voraussagen?
Würde er das Zukünftige ahnen, so käme -er nicht dahergeflogen,
D Bedeutende Exzerpte aus dem Pseudo-Hekatäus finden wir in der Apologie
des Josephus Flavius „Gegen Apion“ (Contra Apion. I, 22).
224
§ 39. Die jüdisch-hellenistische Literatur
um nicht von dem Pfeile des Juden Mosolam tödlich getroffen zu
werden'1).'*
Gleichsam einen begeisterten Lobgesang auf das Judentum stellt
der „Aristeasbrief“ dar, eine ziemlich umfangreiche, im II. Jahr-
hundert v. d. ehr. Ära abgefaßte Schrift, die sich völlig unversehrt
erhalten hat. Der unbekannte jüdische Autor verfaßte sie in Form
eines Briefes des Griechen Aristeas, eines Beamten des Königs Ptole-
mäus Philadelphus, an seinen Bruder, in dem er die Geschichte der
Übertragung des Mosesgesetzes ins Griechische wiedergibt. Den ei-
gentlichen Kern des Buches bildet übrigens nicht die Sage von der
„Übersetzung der Siebzig“ (oben, § 19), sondern jene philosophische
Auseinandersetzung, die zwischen den Helden der Sage, dem Hohe-
priester Eleasar und den jüdischen Weisen auf der einen Seite und
dem König Ptolemäus nebst seinen Hofleuten auf der anderen, durch
die Übersetzung veranlaßt wird. Bei der Tafel legt der König den
jüdischen Weisen eine ganze Reihe von Fragen vor, die Ethik, Philo-
sophie, Politik und Lebensweisheit betreffen. Auf diese werden ihm
Antworten zuteil, die durch ihren Tiefsinn und ihre Wahrhaftigkeit
die Hellenen in Staunen versetzen. Mit besonderer Sorgfalt wird da-
bei der erhabene symbolische oder sittliche Sinn verschiedener ritu-
eller Thoravorschriften, die den Griechen durchaus unverständlich
zu sein schienen, erläutert. Alle diese Dialoge gehen darauf aus, den
gebildeten Heiden die Überzeugung von der Erhabenheit des Judais-
mus, seiner religiösen Gebote und seiner Moral beizubringen.
Von der Apologie des Judaismus bis zu dessen Propaganda blieb
nun nur noch ein Schritt. Anzeichen dieser neuen Strömung inner-
halb der jüdisch-hellenistischen Gesellschaft treten bereits im Zeit-
alter der letzten Ptolemäer zutage, jedoch kommt sie in aller Klar-
heit erst in der folgenden Epoche zum Vorschein, in der der römi-
schen Herrschaft in Ägypten.
■*■) Das Wahrsagen nach dem Vogelfluge (Ornlthomantie) war bekanntlich so-
gar unter den gebildeten Griechen und Römern sehr verbreitet; es wurde besonders
von den römischen Auguren sowohl zur Zeit der Republik als zu der des Kaiser-
reiches gepflegt.
15 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
2 2 5
■1
-
n • i : • : !.
,
.
■. : , ■ , •
■
:
.
\:4; .e;?b ■=
■
Drittes Buch
Das römische Protektorat
Die letzten Hasmonäer und die Dynastie des Herodes
(63 vor der christlichen bis 6 der christlichen Ära)
§ 40. Allgemeine Übersicht
Rom kam, sah und siegte. Nach Assyrien, Babylonien, Persien und
dem hellenisierten Ägypten und Syrien bezog auch die sechste, die ge-
waltigste Weltmacht Judäa in ihren Herrschaftsbereich ein. Die ehe-
maligen souveränen Gebieter Judäas, das Seleuciden- und Ptolemäer-
reich, mußten sich selbst vor dem römischen Hierrschaftswillen beu-
gen. Auch das unabhängige Hasmonäerreich fiel dem unersättlichen
Eroberer zur Beute, indem es unter die Vormundschaft Roms gestellt
wurde. Indessen verschlang Rom Judäa nicht auf einmal. Vorher
kreiste der Geier erst lange über seiner Beute, gleichsam „schütz
zend“ seine Flügel über sie breitend. Allein das in Todeszuckungen lie-
gende Opfer wußte wohl, daß bei der leisesten Freiheitsregung die
scharfen Krallen des Raubvogels sich in sein Fleisch bohren wür-
den. Die römische Herrschaft sollte erst kommen: einstweilen be-
stand nur das römische Protektorat. Nahezu siebzig Jahre dauerte es,
von dem Eindringen des Pompe jus bis zur Unterstellung Judäas un-
ter die Verwaltung der römischen Prokuratoren (63 v. d. ehr. Ära
bis 6 d. ehr. Ära). Während dieses Zeitraumes hatte auch der rö-
mische Staat selbst eine tiefgreifende Krise durchgemacht: aus einer
Republik wurde er zum Kaiserreiche (3i—27 v. d. ehr. Ära); jedoch
gewann seine Eroberungspolitik dadurch nur neue Stoßkraft.
Während dieser ganzen Periode befindet sich Judäa in der Lage
eines halbwegs unabhängigen Staates. Die römische Obergewalt, zu-
nächst die republikanische und dann auch die kaiserliche, bestätigte
die judäischen Regenten in ihrem Amte — in der ersten Zeit die
dem Hasmonäerhause und hernach die dem judaisierten edomi-
tischen Geschlechte des Antipater und des Herodes entstammenden.
Das Land steht unter der Oberaufsicht der römischen Statthalter in
der Provinz Syrien. Diese Proconsuln, die zugleich Führer der Le-
gionen sind, beobachten scharf die leiseste Freiheitsbewegung in Ju-
däa, um sie mit raschem Zugriff zu unterdrücken. Der schwächliche
229
Das römische Protektorat
Ethnarch Hyrkan sowie sein „Majordomus“ Antipater machten Rom
nur wenig Sorge: diese Regenten waren nur zu demütig und liebedie-
nerisch; unangenehm fühlbar machten sich dagegen die rastlosen
Patrioten, die Parteigänger des Aristobul, die sich auf die Sympathien
eines bedeutenden Teiles des Volkes stützen. Bald ist es der Sohn des
gefangenen Aristobul, bald er selbst, die, aus der römischen Gefan-
genschaft flüchtend, in ihrer Heimat dRe Fahne des Aufstandes ent-
rollen und so den römischen Legionen viel zu schaffen machen; da-
bei sehen sich die Römer oft veranlaßt, die Hilfe der gehorsamen
jüdischen Regierung selbst in Anspruch zu nehmen (57—Ö2). Der
Proconsul Gabinius scheut sich nicht, Judäa in kleine Bezirke zu zer-
stückeln, während der habgierige Triumvir Crassus den Jerusalemer
Tempel plündert (54); nur Julius Caesar versteht es, großmütig
mit der besiegten Nation umzugehen (48—44)* Er streckt seinen Arm
schützend über ihre Autonomie aus, aber auch er unterstützt eine Re-
gierung, die längst die Achtung des besten Teiles des Volkes einge-
büßt hat: die des schlaffen Hyrkan und seines offiziellen Vor-
mundes Antipater. Der hinterlistige Edomiter, der tatsächliche Re-
gent Judäas, bereitet inzwischen den Triumph seiner eigenen Dy-
nastie und die Vernichtung des Hasmonäerhausies vor. Selbstherrlich
verteilt er die Macht unter seine Söhne, von denen der eine, He-
rodes, in raschem Aufstiege emporkommt und mit seinem düsteren
Schatten dann vierzig Jahre der jüdischen Geschichte verdunkelt.
Zunächst „Strateg“ Galiläas, der sich durch die Unterdrückung
der galiläischen Patrioten (47) traurigen Ruhm erwirbt, darauf „Te-
trarch“ auf Verfügung des Caesar ablösenden Triumvirn Antonius
(4i), schließlich Gatte der stolzen hasmonäischen Prinzessin Ma-
riamme — so schreitet Herodes unverwandt und sicher den Stufen des
Thrones zu. Eine Zeit lang wird jedoch seiner verwegenen Machtgier
ein Riegel vorgeschoben, indem die nationale Partei, sich die Sorg-
losigkeit des Antonius und die Hilfe der Parther zunutze machend,
den zweiten Sohn des abgesetzten Königs Aristobulus, Antigonus, auf
den jüdischen Thron bringt (4o). Nahezu vier Jahre lang dauert
dieser Schein einer Unabhängigkeit, unter unausgesetzten Kriegen mit
Herodes, dem es gelungen war, in Rom den Königstitel für sich zu
erwirken; jedoch war das rühmlose Ende des letzten Hasmonäerkö-
nigs nicht mehr abzuwenden. So besteigt den jüdischen Thron, um-
geben von den römischen Legionen, mit dem Blute der Vaterlands-
23o
§ 40. Allgemeine Übersicht
freunde besudelt, der auf dem römischen Kapitol gekrönte Edomi-
tersprößling (37).
Die lange, an dramatischen Zwischenfällen überreiche Regierungs-
zeit des Herodes (37—4 v. d. ehr. Ära) bietet das Bild äußeren Glan-
zes und innerer Zersetzung. Der von den römischen Waffen gestützte
Thron des Herodes steht allerdings fest. Nicht einmal die große
Krise, die das republikanische Rom in ein Kaiserreich verwandelte,
vermochte ihn zu erschüttern. Herodes verstand es stets, dem zu
Füßen zu liegen, der im gegebenen Moment zu gebieten hatte: so
hatte er es denn auch nicht versäumt, aus einem Freunde des An-
tonius rechtzeitig ein Freund und Klient des allgewaltigen Octavia-
nus Augustus zu werden. In seinem eig'enen Staate gibt er sich alle
Mühe, sich selbst zu einem kleinen Augustus aufzublasen, und will
Judäa nach dem römischen Vorbild umformen. Er erweitert das von
Pompe jus seinerzeit verkleinerte Staatsterritorium, stellt zerstörte
Städte wieder her und erbaut neue, errichtet prächtige Gebäude und
Denkmäler und läßt sogar den Jerusalemer Tempel umbauen. Allein
hinter den prunkvollen Dekorationen wird das Röcheln der zugrunde
gerichteten Glieder des Hasmonäerhauses vernehmbar, dringt das
Geschrei der miteinander hadernden Mitglieder des königlichen
Hauses hervor, es ertönen die Verwünschungen des ruinierten Vol-
kes und die Drohrufe der den „halb-jüdischen“ König aus tiefstem
Herzen hassenden Patrioten. Die unterdrückte Freiheit, die Willkür
des Selbstherrschers, die Hinrichtungen und Verfolgungen werfen
einen finsteren Schatten auf diese Regierung. Sie nimmt ihr Ende
mitten in einem jähen Ausbruch des Volkszornes.
Die Sünden des Herodes haben seine Söhne und Erben zu büßen.
Archelaus darf mit dem Segen Roms in Judäa regieren, jedoch un-
ter dem lauten Fluch der gesamten Nation. Das Land leidet schwer
unter den inneren Wirren. Nunmehr scheint Rom der Augenblick
gekommen zu sein, um Zentral-Judäa ganz der Verwaltung der rö-
mischen Statthalter zu unterstellen, während es den herodianischen
Tetrarchen nur noch die Randgebiete überläßt (6 v. d. ehr. Ära).
So wird das römische Protektorat im Herzen des jüdischen Staates
durch die römische Herrschaft abgelöst, die sich dann nach und nanh
auch auf die Grenzgebiete des Landes ausdehnt.
Was für eine Wendung nahm nun der Widerstreit der jüdischen
Parteien, der die Geschichte der voraufgehenden Periode ganz aus-
23i
Das römische Protektorat
füllt? Die Einmischung Roms und der Sturz der hasmonäischen Dy-
nastie wurde von jeder der Parteien verschieden, eingeschätzt. Die
Sadduzäer trauerten um den Verlust der politischen Freiheit, der un-
abhängigen Dynastie und eines bedeutenden Teijles des Landgebietes;
auch die Pharisäer erfüllte die fremdländische Vormundschaft mit
Sorge, jedoch hauptsächlich darum, weil diese Fremdherrschaft un-
würdigen Herrschern zugute kam und die nationale Eigenart des Ju-
dentums unmittelbar bedrohte. Während jene somit vor allen Dingen
um das Schicksal des Staates bekümmert waren, lag diesen vornehm-
lich das Schicksal der Nation am Herzen. Beide Parteien waren also
mit der neuen Lage der Dinge unzufrieden, dabei erwiesen sich aber
die Sadduzäer in ihrer Opposition als die weniger Standhaften. Ein
bedeutender Teil der sadduzäischen Aristokratie, die der Hof durch
seinen äußeren Glanz und durch die dort gepflegten hellenistisch-
römischen kulturellen Neuerungen anzog, fand sich bald mit dem
Regime des Herodes ab (Boethosäer). Die Pharisäer erblickten da-
gegen in diesem Regime eine Neubelebung der ehemaligen griechi-
schen Assimilation in römischem Geiste und hielten sich dement-
sprechend von der Regierung fern, indem sie ihr gegenüber teils
eine aktive, teils eine passive Opposition trieben. Die einen von ihnen
waren die geistigen Urheber jener Volkserhebungen, die gegen Schluß
der Regierung des Herodes und zu Beginn der Regentschaft seiner
Nachfolger aufflammten (die Gesetzeslehrer Mathias, Juda u. a.); an-
dere setzten die von den früheren Pharisäern begonnene Arbeit der
„Umzäunung der Thora“ weiter fort, indem sie den Bereich der
„mündlichen Lehre“ bedeutend erweiterten, und widmeten sich über-
haupt dem Werke der Befestigung des jüdischen geistigen Herr-
schaftsgebietes (Hillel, Schammai und ihre Schüler). Nur die demuts-
vollen Essäer, die sich längst von allem politischen Streben losge-
sagt hatten, sahen in Ruhe auf die vor ihnen sich abspielenden ge-
schichtlichen Krisen herab und gaben sich ganz dem Traum von dem
herannahenden „Gottesreiche“ hin. So lockerten sie den Boden für
die Verkünder einer neuen Religion: gar bald sollte in dem lärmen-
den Chor des wogenden Judäa eine seltsame Stimme ertönen, eine
Stimme „nicht von dieser Welt“, die von den Ufern des galiläischen
Sees nach Jerusalem dringt, um dann allerdings eine Zeit lang in
dem Wirbeltanz der Ereignisse der nachfolgenden katastrophenrei-
chen Epoche wieder zu verstummen.
232
§ 40. Allgemeine Übersicht
Inzwischen breitet sich auch die Diaspora immer weiter aus, die
noch vor kurzem griechisch war und nunmehr griechisch-römisch wird.
Der erste Schlag, den Pompe jus Judäa versetzte, war zugleich der Gna-
denstoß für die zertrümmerte Seleucidenmonarchie. Kleinasien, Syrien
und Palästina mit der ganzen Masse der dort verstreuten Juden wird in
die römische Einflußsphäre einbezogen. Nur am Euphrat, an den Gren-
zen des unbezwingbaren Partherlandes, wird dem Ansturm Roms Halt
geboten. Aus Asien dringen die siegreichen Legionen in das große hel-
lenistische Reich Afrikas, und auch hier, in Ägypten, kommt die drei
Jahrhunderte alte Dynastie der Ptolemäer zu Fall (3o). Drei Dy-
nastien, die der Seleuciden, der Ptolemäer und der Hasmonäer, bre-
chen fast gleichzeitig in der kurzen Zeitspanne von drei Jahrzehnten
zusammen. Ein ungeheures Netz wird über das Morgenland aus-
gebreitet, und in ihm stoßen die der Freiheit beraubten Völker zu-
sammen; zugleich kommen auch die verschiedenen jüdischen Diaspo-
razentren in nächste Rerührung miteinander. Für die in den helle-
nisierten Städten Asiens und Afrikas verstreuten jüdischen Gemein-
den bedeutet dabei die Macht Roms gar oft die Gewähr der ihnen
von den einheimischen Griechen streitig gemachten Autonomie und
Freiheit. Während die Gaesaren Judäa bedrängen, gewähren sie zu-
gleich der Diaspora ihren Schutz. So erstarkt sie und entfaltet sich
vorerst, bis auch sie dann die Nachwirkungen des verzweifelten To-
deskampfes des Mutterlandes zu spüren bekommt.
233
Erstes Kapitel
Die Regentschaft Hyrkans II. und der
Antipatriden
(63 — 4°)
§ 41. Aufstandsversuche; Gabinius und Grassus
Von dem ihm durch Pompejus versetzten Schlage betäubt, war Ju-
däa einige Jahre gleichsam von einem Starrkrampf befallen. Das
Land besaß zwar in der Person Hyrkans II., der mit den Würden
eines Hohepriesters und Ethnarchen ausgestattet war, seinen eigenen
Herrscher, es hatte aber zugleich auch in der Person des römischen
Statthalters in Syrien einen Vormund über sich, der für alles, was in
Judäa vor sich ging, ein wachsames Auge hatte. Fürs erste machte
das unterjochte Land Rom gar keine Sorgen. Die Regierung des
Schwächlings Hyrkan, die eigentlich in den Händen des Edomiters
Antipater lag, söhnte sich rasch mit der nationalen Erniedrigung
aus und verstand es, Rom gefällig zu sein. Der von Pompejus in Sy-
rien zurückgelassene Statthalter Scaurus konnte so, die Ruhe in Ju-
däa ausnützend, ganz ungehindert die Züchtigung der Araber betrei-
ben, deren König Aretas es gewagt hatte, Anspruch auf einen An-
teil am Seleucidenerbe zu erheben.
Die Unruhen setzten erst unter dem neuen Schützling des Pom-
pejus, unter dem Proconsul1) Gabinius, ein (57—55). Es war dies
einer jener römischen Provinzialbeamten, die, wie ihr Ankläger Ci-
cero einmal sagte, „ungeheure Goldmengen aus den überreichen Schatz-
1) Die „Proconsuln“ waren römische Provinzialstatthalter, die man aus der
Reihe der ehemaligen Consuln oder Prätoren zu ernennen pflegte und die mit weitest-
gehenden Vollmachten innerhalb der Grenzen der ihnen unterstellten Provinzen
ausgestattet wurden. Gabinius war der erste Proconsul des eroberten Syrien.
234
§ Ul. Aufstandsversuche; Gabinius und Crassus
kammern Syriens schöpften und Kriege gegen friedliche Einwohner
vom Zaune brachen, um deren unermeßliche Reichtümer in den Ab-
grund ihrer Lüsternheit verschwinden zu lassen“1). Gabinius begann
nun jenes System der Zerstückelung der Länder in winzige Ver-
waltungsbezirke, das die Römer bereits in ganz Syrien zur Anwen-
dung gebracht hatten, in Judäa anzuwenden. Nachdem Pompejus Ju-
däa dessen Randgebiete bereits entrissen hatte, ging Gabinius auch
noch auf die Vernichtung des zentralistischen Systems in dem übrigge-
bliebenen Landgebiete aus. Er teilte Judäa in fünf Bezirke oder „Syn-
hedrien“ auf, mit einer selbständigen Verwaltung oder einem „Syn-
hedrion“ in jedem von ihnen. So entstanden die Bezirke von Je-
rusalem, Gazara und Jericho im eigentlichen Judäa, der Bezirk Zi-
pora (Sepphoris) in Galiläa und der von Amathus jenseits des Jor-
dan. Durch diese Maßnahme war die monarchische Verfassung, wie
es Josephus Flavius bezeugt, vernichtet und durch eine aristokratische
Oligarchie ersetzt, da auf diese Weise einige autonome Munizipien mit
einem aristokratischen Rat oder Senat an der Spitze einer jeden von
ihnen erstanden, ganz nach dem Vorbild der autonomen Stadtstaa-
ten Griechenlands und Kleinasiens. Das System der Dezentralisie-
rung vermochte jedoch in dem national zusammenhaltenden Judäa
nicht Wurzel zu fassen und wurde auch bald, unter Julius ’Ceasar,
wieder beseitigt.
Nach einer sechsjährigen äußeren Ruhe wurde nun in Judäa, wie
es auch anders nicht hätte sein können, das Wetterleuchten der Volks-
empörung gegen die römische Obergewalt sichtbar. Schon als Pom-
pejus den abgesetzten König Aristobul mitsamt seinen Kindern als
Kriegsgefangene nach Rom abführte, gelang es einem der Königs-
söhne, Alexander, von unterwegs zu fliehen. Von dem Verlangen nach
Befreiung seiner Heimat beseelt, tauchte der tapfere Prinz einige
Jahre später in Judäa auf und bewog hier, in der Gegend von Je-
richo, das Volk zu einer Erhebung (57). Er verstand es, eine be-
deutende Streitmacht zusammenzubringen, und es glückte ihm auch,
drei Festungen zu besetzen, von denen die wichtigste die bei Jericho
gelegene Burg Alexandrium war. Die jüdischen Patrioten unterstütz-
ten mit Freuden den heldenmütigen Sohn des Aristobulus. Indessen
1) Cicero (Pro Sestio, c. 43) gebraucht diese Wendung geradezu zur Kenn-
zeichnung des Gabinius. Dasselbe sagt von diesem in seiner Römischen Geschichte,
XXXIX, 55, 56, Dio Cassius aus.
235
Die Regentschaft Hyrkans II. und der Antipatriden
säumte Gabinius nicht, sobald er von dem Aufruhr Kunde erhalten
hatte, gegen die Aufständischen seinen Untergebenen, den später als
Triumvir berühmt gewordenen Marcus Antonius, auszusenden, dem
er bald auch selbst mit der Hauptstreitmacht nachfolgte. In der Nähe
von Jerusalem brachten die Römer den dorthin vorgerückten Auf-
rührern eine Niederlage bei, und Alexander mußte sich wieder zu-
rückziehen. Von Gabinius dann in Alexandrium belagert, war er ge-
nötigt, ihm dieses sowie die zwei anderen von ihm besetzten Festun-
gen, Machärus und Hyrkania, zu übergeben, wofür er sich seine per-
sönliche Freiheit ausbedungen hatte.
Aber auch nach diesem Zwischenfall kam das Land nicht zur
Ruhe. Diesmal war es Aristobulus selbst, der mit seinem zweiten
Sohne Antigonus aus Rom geflohen war und plötzlich in Judäa er-
schien (56). Die jüdischen Patrioten und die Anhänger der Has-
monäer begrüßten ihren entthronten König mit hellem Jubel. Auch
der ehemalige hasmonäische Hauptmann Pitholaus schloß sich ihm
mit einer Abteilung jüdischer Krieger an, die freilich nur unzuläng-
lich bewaffnet waren. Aristobulus versuchte nun in denselben Stütz-
punkten Fuß zu fassen, in denen noch vor kurzem sein Sohn ge-
kämpft hatte, hatte aber auch nicht mehr Glück als dieser. Nach
einem blutigen Kampfe bei Machärus wurde der mit Wunden be-
deckte Aristobulus samt seinem Sohn Antigonus von den Kriegern
des Gabinius gefangen genommen und von neuem nach Rom ver-
bannt, wo er fortan in strengem Gewahrsam gehalten wurde. Dage-
gen wurde Antigonus auf eine Eingabe des Gabinius an den römischen
Senat hin auf freien Fuß gesetzt. Es ist anzunehmen, daß hierbei
große Restechungsgelder, die der römische Proconsul stets gern an-
zunehmen bereit war, eine Rolle gespielt haben.
Bald darauf zog Gabinius nach Ägypten, wo er sich in die dy-
nastischen Streitigkeiten der Ptolemäer verwickelte. Der heißblütige
Alexander hielt nun den Augenblick für günstig, um den Freiheits-
kampf von neuem zu beginnen. Von einer Schar von Patrioten be-
gleitet, zog er durch das Land, rief zum- Aufstande auf und ließ alle
ihm in den Weg kommenden Römer umbringen. Da kehrte aber Ga-
binius aus Ägypten wieder zurück und schlug die jüdischen Auf-
rührer in einem Treffen am Berge Tabor aufs Haupt (55). In diesem
Kampfe stand auf seiten der Römer und gegen die selbstlosen jüdi-
schen Patrioten auch der Vormund des Hyrkan, Antipater. Er be-
236
§ 42. Judäa unter Julius Caesar
mühte sich, dem Gabinius allerlei Liebesdienste zu erweisen und es
gelang ihm auch, viele Juden von dem „wahnwitzigen Unternehmen*
des Alexander abzubringen. Der auf seinen Vorteil bedachte Edomiter
trieb schon zu dieser Zeit die Politik der knechtischen Liebedienerei
Rom gegenüber, die später zur Erniedrigung der Nation und zur Er-
höhung des Geschlechts des Antipater und des Herodes führte.
Im Jahre 54 traf in Syrien als Proconsul an Stelle des nach Rom
abberufenen Gabinius der berühmte Triumvir Crassus ein, der Amts-
genosse des Pompe jus und des Caesar. Da er sich zum Kriegszug
gegen die Parther rüstete, ließ sich Crassus nicht davon zurückhalten,
zur Auffüllung seines Kriegsschatzes die Juden gründlich auszuplün-
dern. Er drang in den Jerusalemer Tempel ein und entwendete die
dort aufgehäuften Schätze von Riesenwert. Dieser offene Raub, be-
gangen von einem der Häupter der römischen Republik, empörte so-
wohl die nationalen als auch die religiösen Gefühle des Volkes. Als
dann im nächstfolgenden Jahre Crassus auf dem Zuge gegen die
Parther den Tod fand, brach denn auch ein Aufstand der Juden in
Galiläa aus (53). An der Spitze der Insurgenten stand derselbe has-
monäische Befehlshaber Pitholaus, der noch vor kurzem bei der Er-
hebung des Aristobul mitgewirkt hatte. Sein Hauptlager befand sich
in Taricheae, in der Nähe des Genezarethsees. Hier trat ihm der Nach-
folger des Crassus in der Verwaltung Syriens, Cassius, entgegen (der
später durch die Teilnahme an der Verschwörung des Brutus gegen
Julius Caesar berühmt wurde), nahm Taricheae ein und machte viele
der Aufständischen zu Gefangenen. Dreißigtausend Juden wurden
dann als Sklaven verkauft, während Pitholaus selbst auf Zureden des
Antipater, des treuen Verbündeten der Römer und des geschworenen
Feindes der jüdischen Freiheitskämpfer, hingerichtet wurde.
§ 42. Judäa unter Julius Caesar
Im Jahre 49 begann in Rom jener grandiose Bürgerkrieg zu wü-
ten, der zwanzig Jahre später die Umwandlung der Republik in ein
Kaiserreich zur Folge hatte. Der Kampf der zwei Triumvirn, Pom-
pe jus und Julius Caesar, erfüllte sowohl das Mutterland wie die
Provinzen mit seinem Lärm; Abendland und Morgenland waren nun
eine einzige ungeheure Arena des Zweikampfes dieser politischen Ti-
287
Die Regentschaft Hyrkans II. und der Antipatriden
tanen. Als Caesar den Rubikon überschritten hatte und sich des von
Pompejus verlassenen Italien bemächtigte, stellte er im Hinblick auf
den ihm bevorstehenden Krieg gegen den nach Osten gezogenen Gegner
auch die Dienste des ehemaligen jüdischen, auf Anordnung des Pom-
pejus in Gefangenschaft schmachtenden Königs in seine Berechnun-
gen ein. Daher setzte er Aristobulus nicht nur in Freiheit, sondern
unterstellte ihm sogar zwei Legionen, damit er nach Syrien ziehe
und dort gegen die Legionen des Pompejus ins Feld rücke. In dem
Herzen des alten hasmonäischen Kämpen loderte von neuem die Hoff-
nung auf die Befreiung oder wenigstens auf eine Besserung der Lage
seiner Heimat auf. Auch sagte ihm die Aussicht auf ein Ringen mit
seinem persönlichen Feinde und dem Unterjocher Judäas, Pompejus,
ganz besonders zu. Mit Freuden ging er darum auf den Vorschlag
Caesars ein und traf seine Vorkehrungen zur Abreise. Einige von den
in Rom zurückgebliebenen Parteigängern des Pompejus erfuhren je-
doch von dem für ihren Führer so gefährlichen Vorhaben und es ge-
lang ihnen kurz vor der Abreise des Aristobulus, ihn zu vergiften.
Zur gleichen Zeit ließ der Statthalter des Pompejus in Syrien, sein
Schwiegervater Scipio, in Antiochia den Sohn des Aristobulus, den ju-
gendlichen Helden Alexander, enthaupten, da auch er sich in die Rei-
hen der Krieger Caesars zu stellen anschickte. — So gingen die zwei
Kämpfer, zwei unerschrockene Helden aus dem Hasmonäerhause, die
mit aller Glut die Wiedergeburt ihres Vaterlandes herbeisehnten, zu-
grunde. Nunmehr blieben nur noch zwei Vertreter dieser Dynastie
am Leben: der Hohepriester Hyrkan, der indessen nichts als ein
blindes Werkzeug in den Händen des Antipater war, und der zweite
Sohn des Aristobulus, Antigonus, der seinem Oheim die oberste Ge-
walt streitig maeilte, sich jedoch durch politische Befähigung in kei-
ner Weise auszeichnete.
Die Regierung des Hyrkan und des Antipater hatte sich sehr
bald dem in Rom vollzogenen politischen Umschwung angepaßt. Nach
dem Siege der Streitkräfte Caesars bei Pharsalus (48), als die Sache
des Pompejus endgültig verloren war, fiel der geschmeidige Antipater,
der noch vor kurzem Pompejus mit Leib und Seele ergeben gewesen
war, um und schlug sich auf die Seite des Siegers, in dessen Händen
nunmehr das Schicksal aller römischen Provinzen lag. Der judäische
Herrscher suchte Caesar in jeder Weise gefällig zu sein und ihm
Kriegsdienste bei seinem östlichen Feldzuge zu erweisen. Als in dem
238
§ 42, Judäa unter Julius Caesar
Kriege gegen Ägypten das Heer Caesars in eine schwierige Lage ge-
riet, eilte ihm Antipater mit einer bedeutenden Heeresmacht zu Hilfe
und beteiligte sich an den Kämpfen gegen die Ägypter. Dabei
machte er sich auch die Autorität des Hohepriesters Hyrkan zunutze,
um die in „dem Bezirk des Onias“ (rings um den Tempel in Leonto-
polis) lebenden ägyptischen Juden auf die Seite der Römer zu brin-
gen, indem er ihnen ein Sendschreiben des Hyrkan vorwies, worin
dieser ihnen zuredete, sich Caesar gegenüber freundschaftlich zu ver-
halten und sein Heer mit Nahrungsmitteln zu versorgen. ' Diese
Dienstfertigkeit der judäischen Herrscher in einem für ihn so schwie-
rigen Augenblick konnte Caesar nicht gleichgültig lassen. So be-
zeugte er denn auch nach Beendigung des ägyptischen Feldzuges,
als er nach Syrien gekommen war, um die dortigen Angelegenheiten
zu regeln, dem Hyrkan und Antipater eine ganz besondere Gunst.
Da erschien jedoch vor dem römischen Gebieter auch der hasmonä-
ische Kronprätendent Antigonus und machte vor Caesar seine eigenen
Ansprüche geltend; er brachte das Verdienst seines Vaters in Erin-
nerung, der bei der Ausführung des Auftrags Caesars den Tod gefun-
den hatte, und beschwerte sich auch über die schlechte Verwaltung
des Hyrkan und Antipater. Allein der Prinz kam mit seiner Bitte
schon zu spät: dem gewandten Antipater war es bereits ohne beson-
dere Mühe gelungen, Caesar zu überzeugen, daß Antigonus eine den
Römern feindliche, aus „aufrührerischen, unruhigen Menschen“ be-
stehende judäische Partei vertrete, und daß somit die Regierung des
Hyrkan den Interessen Roms viel eher entspräche. Darauf wies Caesar
die Ansprüche des Antigonus zurück und ließ es bei der bestehenden
Ordnung. Er bestätigte Hyrkan als Ethnarch und Hohepriester („Ar-
chiereus“), während er Antipater das römische Bürgerrecht ver-
lieh und ihn zum „Epitropos“, d. i. zum verwaltenden Vormund
von Judäa ernannte (47). Zum Zeichen seines vollen Vertrauens ge-
stattete er den Juden, die Festungsmauern Jerusalems, die bei der
Einnahme der Stadt durch Pompe jus zerstört worden waren, wieder-
herzustellen, was von den früheren römischen Statthaltern in Sy-
rien aufs strengste untersagt worden war.
Während seiner vierjährigen Diktatur (48—44) erweiterte Cae-
sar die Rechte der Selbstverwaltung in Judäa, die durch die Unter-
drückungsmaßnahmen des Gabinius verkürzt worden waren. In die-
sen Jahren bekam das Volk die Oberherrschaft Roms nur wenig zu
2^9
Die Regentschaft Hyrkans II. und der Antipatriden
spüren. Durch eine Reihe von Erlassen1) gewährleistete Caesar dem
Volke Judäas die Unantastbarkeit seiner Autonomie und seines Land-
gebietes. Hyrkan und seine Kinder wurden als „Freunde und Ver-
bündete“ des römischen Staates in Friedens- wie in Kriegszeiten an-
erkannt. Caesar befreite Judäa von der Entrichtung jeglicher Ab-
gaben an Rom, von der Rekrutenaushebung und von Einquartierun-
gen. Auch gliederte er dem jüdischen Gebiet den Meereshafen Jaffa
sowie manche andere, durch die Willkür des Pompe jus dem Lande
entrissene Ortschaft von neuem an. Von besonderer Wichtigkeit war
die Rückgabe von Jaffa, da dadurch dem Außenhandel das Meer wie-
der offen stand.
Auch den in allen syrischen und kleinasiatischen, Rom untergebe-
nen Ländern verstreuten jüdischen Kolonien ließ Caesar seinen Schutz
angedeihen. Gar oft mußten die jüdischen Gemeinden der Diaspora
bei der römischen Regierung, sei es vor deren örtlichen oder den zen-
tralen Behörden, Klage über das ihnen von einheimischen Griechen
in religiösen, bürgerlichen und geschäftlichen Angelegenheiten zu-
gefügte Unrecht führen, und jedesmal ergriff Caesar die Partei der
Unterdrückten. Er gestattete den Juden, allerorten den Gottesdienst
öffentlich zu verrichten, Sammlungen zugunsten des Jerusalemer
Tempels zu veranstalten, Beratungen über öffentliche Angelegenheiten
zusammenzuberufen, eine eigene Gerichtsbarkeit zu pflegen, und si-
cherte ihnen überhaupt in jeder Weise ihre Autonomie zu (s. unten,
§ 63). — Die Juden wußten diesen mächtigen Schutz des ihnen
wohlwollenden Julius Caesar vollauf zu würdigen. Seinen vorzeitigen
tragischen Tod beweinten sicherlich nicht nur die Mitglieder der jü-
dischen Kolonie Roms, worüber das Zeugnis des Geschichtsschreibers
Suetonius vorliegt, sondern nicht minder auch die breiten Massen der
gesamten Diaspora.
§ 43. Die Erhöhung des Her ödes
Der tatsächliche Inhaber der obersten Gewalt in Judäa war zu
dieser Zeit der „Epitropos“ oder Vormund Antipater. Der hoheprie-
sterliche Ethnarch Hyrkan war gleichsam nur das nationale Aus-
■*) Anl. XIV, io, §§ 1—7. Die Analyse des Textes ist bei Graetz (B. III,
Beil. 9) und bei Schürer (B. I, 345—347), wo auch die gesamte Literatur an,-
geführt ist, und neuerdings auch bei Juster (Les Juifs dans l’empire romain,
yoI. I, p. i35—i4o) zu finden. S. Bibliographie.
2 40
§ 45. Die Erhöhung des Herodes
hängeschild für eine nichtnationale Regierung. Er versah wohl die
geistlichen Obliegenheiten eines Hohepriesters, stand auch von Amts
wegen dem Jerusalemer Symhedrion vor, vermochte sich jedoch we-
der für die höheren politischen Interessen des Volkes noch für die
Ehre seiner eigenen Dynastie einzusetzen. Was aber Antipater betrifft,
so pflegte er seinen persönlichen Vorteil sowie die Interessen seiner
Gönner, der Römer, stets über die Interessen des Volkes zu stellen.
Die Haltlosigkeit des Hyrkan ausnützend, begnügte sich der allmäch-
tige „Epitropos“ nicht allein damit, seine eigene Gewalt soweit wie
möglich auszudehnen, sondern bereitete zugleich auch den Boden für
die kommende Herrschaft seiner Söhne, für seine „Dynastie“, vor.
Zu diesem Zwecke ernannte er zwei seiner Söhne zu „Strategen“ oder
zu Statthaltern, indem er dem älteren, Phasael, die Verwaltung des
Bezirkes von Jerusalem, und dem zweiten, Herodes, die von Galiläa
zuwies (47)- Herodes, dem es beschieden war, später eine so ver-
hängnisvolle Rolle in der jüdischen Geschichte zu spielen, war damals
erst fünfundzwanzig Jahre alt. Er war ein Krieger ganz nach römi-
schem Vorbild, zugleich aber auch ein geschickter Politiker, der sich
auf die Kunst verstand, den Gewaltigen zu Willen zu sein, um mit
deren Hilfe die Macht für sich selbst zu gewinnen. Den geistigen
Idealen des Judentums durchaus fernstehend, nur der physischen Ge-
walt der Römer und der äußerlichen Kultur der Griechen huldigend,
war Herodes für die Rolle eines Herrschers von Roms Gnaden
wie geschaffen. So wurde er zu dem bösen Dämon der Has-
monäer und später auch zum Henker dieser zermürbten nationalen
Dynastie.
Seine politische Laufbahn begann Herodes mit einer Tat, die eher
von römischem denn von jüdischem Patriotismus zeugte. In dem von
ihm verwalteten Galiläa ging es um diese Zeit ziemlich unruhig zu.
Die Reste der auseinandergejagten revolutionären Freunde des Ari-
stobulus versammelten sich von neuem unter der Anführung des ga-
liläischen Patrioten Ezechias (Hiskia) und überfielen bald die Ge-
treuen des Antipater, bald die ortsansässigen Syrer, und auch die Rö-
mer. Die terroristische Kampfesweise dieser Freischärler gab der Re-
gierung des Antipater den Anlaß, sie als „Räuberbanden“ in Verruf
zu bringen. Um Rom gefällig zu sein, nahm Herodes die Unterdrük-
kung der Aufstandsbewegung in seine eigene Hand. Es gelang ihm
alsbald, des Hauptes der Aufrührer und seiner Genossen habhaft zu
16 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
2 41
Die Regentschaft Hyrlcans II. und der Antipatriden
werden, und nun verfuhr er mit ilmen, wie es einem Diktator ge-
ziemte : Ezechias und seine nächsten Mitstreiter wurden standrechtlich
hingerichtet. Die von den „Anarchisten“ befreiten galiläischen Fremd-
stämmigen jubelten; die Entschlossenheit des Herodes fand auch bei
dem römischen Statthalter in Syrien, Sextus Caesar, einem Verwandten
des Julius Caesar, Beifall. Mit ganz anderen Augen sahen jedoch die
Juden sie an: die besten Vertreter der Jerusalemer Gesellschaft, so
die der Pharisäerpartei, waren über die Selbstherrlichkeit des Herodes,
der mit den Vaterlandsfreunden wie mit gemeinen Räubern kurzen
Prozeß gemacht hatte, ohne die Sache — wie es das Gesetz verlangte —
vor das Forum des Synhedrion zu bringen, aufs tiefste empört. Die
Freunde der Hasmonäer wie die Mitglieder des Synhedrion sahen nun
zu ihrem Entsetzen, daß Willkürherrschaft und Gesetzwidrigkeit von
den Antipatriden gleichsam zum System erhoben wurden.
Bald erschien eine Abordnung der vornehmen Jerusalemer Bürger
vor Hyrkan und sprach zu ihm also: „Wie lange willst du denn noch
ruhig zusehen? Merkst du nicht, daß Antipater und seine Söhne alle
Gewalt in Händen haben und dir selbst nur noch den Namen eines
Königs lassen? Du darfst dagegen niqht blind sein, noch dich selbst
außer Gefahr wähnen, wenn du so leichtsinnig an dir und dem
Reiche handelst. Denn nicht deine Verwalter sind Antipater imd des-
sen Söhne, wie du dir vielleicht trügerischerweise einredest, sondern
sie werden für die wirklichen Herrscher gehalten. Herodes hat zu-
dem den Ezechias und dessen Genossen in durchaus gesetzwidriger
Weise hinrichten lassen. Denn das Gesetz verbietet ausdrücklich, einen
wenn auch noch so verbrecherischen Menschen umbringen zu lassen,
ehe er vom Synhedrion zum Tode verurteilt ist. Und doch hat Herodes,
ohne deine Ermächtigung, das gewagt.“ — Auch die Mütter der hin-
gerichteten galiläischen Kämpfer ließen nicht locker und forderten
gleichfalls, daß Herodes zur gerichtlichen Verantwortung gezogen
werde, indem sie tagein tagaus im Tempel Hyrkan und dem Volke
ihre Klagen zu Gehör brachten.
Hyrkan mußte nachgeben. Er beorderte den Herodes aus Galiläa
nach Jerusalem und ersuchte ihn, seine Handlungsweise vor dem Syn-
hedriongericht zu rechtfertigen. Herodes erschien auch in einer Sit-
zung des Synhedrion, jedoch nicht als ein Angeklagter, sondern eher
als ein Sieger, mit einem Purpurmantel angetan und in Begleitung
eines militärischen Gefolges. Dem Gerichtsspruch sah er in aller See-
242
§ 43. Die Erhöhung des Iierodes
lenruhe entgegen, da er fest auf den Beistand seines Gönners, des
Statthalters Sextus Caesar, vertraute, der sich gebieterisch an Hyrkan
mit der Forderung gewandt hatte, unbedingt die Freisprechung des
Herodes herbeizuführen. Die Mitglieder des Synhedrion waren in
Verlegenheit; es fehlte ihnen der Mut, offen mit der Anklage gegen
den von den Römern begünstigten kecken Emporkömmling hervor-
zutreten. Da erhob sich jedoch einer der gelehrtesten Männer des Syn-
hedrion, der Pharisäer Sameas oder Schemaja, und sprach: „Wer
sonst vor den Gerichtshof des hohen Rates kam, erschien in demüti-
ger und zaghafter Haltung, als wenn er unser Mitleid herausforderte,
mit lang herabhängendem Haar und schwarzem Kleide. Unser Freund
Herodes aber, der des Mordes beschuldigt und eines so schweren Ver-
brechens angeklagt ist, steht da in Purpur, mit geschniegeltem Haupt-
haar und von Bewaffneten umgeben, um uns, wenn wir ihn dem Ge-
setz gemäß verurteilen, niederzumachen und alles Recht zu verhöhnen.
Doch ich will Herodes keinen Vorwurf daraus machen. Euch viel-
mehr und den König muß ich tadeln, daß ihr euch so etwas bieten
lasset. Denket aber daran, daß es einen allmächtigen Gott gibt und
daß der, den ihr jetzt dem Hyrkan zu Gefallen freisprechen wollt,
einst euch und den König dafür züchtigen wird“. Das mutige Wort
des Schemaja, das sich später als ein prophetisches erwies, machte
auf die Versammlung einen erschütternden Eindruck. Schon war das
Synhedrion bereit, den Herodes zu verurteilen; Hyrkan jedoch, der
den Zorn der Römer befürchtete, veranlaßte die Hinausschiebung des
Urteilsspruches bis zur nächsten Sitzung und machte es Herodes in-
zwischen möglich, nach Damaskus zu entfliehen. Hier wurde der
Flüchtling von Sextus Caesar aufs freundlichste empfangen und als
ein zuverlässiger römischer Patriot zum Strategen oder Landvogt von
CoeleSyrien (der Libanongegend) ernannt.
t Nachdem nun Herodes auf diese Weise in römische* Dienste getreten
war, beschloß er, für die ihm vom Synhedrion und den Jerusalemer
Patrioten zugefügte Kränkung unnachsichtig Rache zu nehmen. Er
rückte an der Spitze einer römischen Heeresabteilung gegen Jerusalem
vor und traf schon die Vorbereitungen zum Angriff auf die Haupt-
stadt, als es noch im letzten Augenblick dem Antipater gelang, seinen
Sohn von seinem sinnlosen Vorhaben zurückzuhalten. Er machte dem
Herodes klar, daß ein derartiger Racheakt den Volkshaß gegen ihn
nur noch steigern und seiner politischen Laufbahn in Zukunft durch-
16*
243
Die Regentschaft Hyrkans II. und der Antipatriden
aus abträglich, sein würde. Herodes mußte dies einsehen und kehrte
nach Galiläa zurück, schon davon befriedigt, daß es ihm gelungen
war, durch die imposante militärische Demonstration den Jerusa-
lemern wenigstens Schrecken einzujagen. Nach diesem Zwischenfall
erhielt er die Möglichkeit, als Landvogt Coelesyriens dem Statthalter
Caesars wichtige Dienste bei der endgültigen Ausrottung der Freunde
des Pomp ejus in Syrien zu erweisen.
§ 44. Cassius und Antonius. Die Antipatriden als Tetrarchen
Nachdem Julius Caesar in Rom als Opfer der Verschwörung des
Cassius und Brutus gefallen war (44), begann im Morgenlande die
Anarchie rasch um sich zu greifen. Der „Republikaner“ Cassius, dem
es an dem politischen Genie und der Toleranz des ermordeten Caesar
gebrach, stellte sich im Orient an die Spitze der syrischen Legionen
und benahm sich dabei nicht viel besser als ein persischer Satrap.
In Judäa stand sein Ruf bereits von früher her fest: noch war daä
Andenken an die Grausamkeit nicht verwischt, mit der er im Jahre
53 den galiläischen Aufstand des Pitholaus niedergeschlagen hatte
(§ 4i). Jetzt gingen aber seine Vollmachten viel weiter. Sich zum
Feldzuge gegen die Erben des Caesar rüstend, belegte Cassius die öst-
lichen Provinzen mit sch wer drückenden Kriegssteuern, die mit äußer-
ster Rücksichtslosigkeit eingetrieben zu werden pflegten. Wieder ein-
mal wurde das in allen Farben schillernde Wesen des tatsächlichen
Machthabers in Judäa, Antipaters, vor aller Augen offenbar. Seinen
Wohltäter Caesar ganz verleugnend, lag er nunmehr dem neuen Ge-
bieter zu Füßen. Den von Cassius Judäa auf erlegten Tribut in der
Höhe von siebenhundert Talenten trieben Antipater und Herodes mit
allergrößtem Eifer ein und gewannen so das Wohlwollen des römi-
schen Herrn. Um dieses willen waren sie dem Stöhnen des unbarm-
herzig ausgebeuteten Volkes gegenüber taub. Und in der Tat, Barm-
herzigkeit ließ Cassius gegen die Juden in keiner Weise walten: so
ließ er die Einwohnerschaft von vier Städten (Lydda, Emmaus u. a.),
die die ihnen auferlegten Abgaben nicht zu entrichten vermochte,
kurzerhand in die Sklaverei verkaufen.
Der Mißmut in Judäa wuchs immer mehr. Antipater und seine
Kinder waren die bestgehaßten Menschen im Lande. Der Volkszorn
machte sich bald in einer Palastverschwörung Luft. Der alte Trup-
244
§ 44. Cassius und Antonius. Die Antipatriden als Tetrarchen
penführer Malichus, der dem Hasmonäerhause treu ergeben und ein
Freund des Hyrkan war, faßte nämlich den Plan, Antipater, der ihm
der Urheber aller Übel zu sein dünkte, zu beseitigen. Vielleicht ge-
schah dies auch nicht ohne Wissen des Hyrkan selbst, der die un-
sanfte Vormundschaft des Antipater schon längst satt hatte; an der
Verschwörung des Malichus waren in der Tat auch einige Hofdiener
beteiligt. Den Verschwörern gelang es durch Bestechung den Mund-
schenk des Hyrkan zu gewinnen, der Antipater während einer Mahl-
zeit durch Gift tötete (43). Herodes ließ den Tod seines Vaters nicht
ungesühnt: bald darauf wurde Malichus in der Nähe von Tyrus von
Getreuen des Herodes und des Gassius meuchlings überfallen und er-
mordet.
Die Verschwörung des Malichus führte somit die von den Pa-
trioten erhoffte Staatsumwälzung nicht herbei. Dem Herodes drohte
allerdings noch eine andere Gefahr, aber er verstand es, auch ihr zu
begegnen. Der noch am Leben gebliebene Sohn des Aristobulus, Anti-
gonus, versuchte nämlich, von seinem Schwager, dem Fürsten von
Chalkis, Ptolemäus Mennäi, unterstützt, in Judäa mit einem Heere
einzubrechen; dabei schloß sich ihnen auch der Herr von Tyrus,
Marion, an, der einige Grenzstädte in Galiläa besetzt hatte. Die Streit-
macht des hasmonäischen Kronprätendenten wurde jedoch von Hero-
des schon an der Grenze Judäas geschlagen, und nun ging die Ernied-
rigung der Nation so weit, daß Hyrkan und die Vertreter des Vol-
kes dem nach der „Niederschlagung des Aufruhrs“ in Jerusalem
feierlichen Einzug haltenden Herodes als dem Sieger mit Ehrenkrän-
zen entgegenkamen (42). Zugleich nahm Hyrkan den Herodes in
den Schoß seiner eigenen Familie auf, indem er ihm seine Enkelin,
die schöne Mariamme, die Tochter seines hingerichteten Neffen und
Schwiegersohnes, des heldenhaften Prinzen Alexander (der, wie er-
wähnt, die Tochter des Hyrkan, Alexandra, die ihn überlebte, zur
Frau hatte), verlobte. So bekränzten die Besiegten selbst den Sieger,
und der geschworene Feind des Hasmonäerhauses, der Nachkomme
der Edomiter, drang in die königliche Familie ein wie ein beutel-
gieriger Habicht in ein Taubennest.
In demselben Jahre kam es im römischen Staate zu einem neuen
Umsturz. Die republikanischen Truppen des Gassius und Brutus wur-
den bei Philippi von der Armee der neuen Triumvirn, Antonius und
Octavianus, geschlagen. Alle östlichen Provinzen Roms gerieten nun-
245
Die Regentschaft Ilyrkans II. und der Antipatriden
mehr unter die Herrschaft des Antonius. Von neuem erhob die Jeru-
salemer Opposition ihr Haupt; jetzt hoffte sie .das Joch der ihr ver-
haßten Antipatriden endlich abschütteln zu können. Als Antonius auf
einer Rundreise durch Kleinasien und Syrien seine Besitztümer in-
spizierte, erschien denn auch vor ihm eine Gesandtschaft der Jerusa-
lemer Bürger, die ihm die wahre Sachlage in Judäa vor Augen zu
führen suchte und namentlich betonte, daß Hyrkan nur noch eine
Scheinregierung führe und nichts als ein Spielball in den Händen
des Herodes und Phasael sei, die die ganze Macht an sich gerissen
hätten. Aber auch diesmal kam Herodes seinen Gegnern zuvor. Mit
der von seinem Vater ererbten Geschicklichkeit beeilte er sich, sich
auf die Seite des Antonius zu schlagen und ihn durch Dienstfertigkeit
und Bestechung für sich zu gewinnen. So wies denn der römische
Feldherr die Beschwerden der judäischen Gesandtschaft ab und
brachte fortan den Antipatriden dasselbe unerschütterliche Vertrauen
entgegen, wie seine Vorgänger.
Während des Aufenthalts des Antonius in Ephesus erschien noch
einmal eine judäische Gesandtschaft vor ihm, diesmal von Hyrkan
selbst. Die Gesandten des judäischen Ethnarchen baten um Freilas-
sung der von Gassius wegen der versäumten Abgabenentrichtung als
Sklaven verkauften Juden, sowie um die Rückgabe jener Teile des
galiläischen Gebietes, die während des letzten Krieges mit Antigonus
und Ptolemäus Mennäi von deren Verbündeten, den Tyrern, erobert
worden waren. Antonius gab diesen Bitten zwar bereitwillig statt, als
er aber dann in Antiochia von einer neuen Deputation, der des Jeru-
salemer Adels, um die Beseitigung der usurpatorischen Herrschaft
des Herodes und seines Bruders angegangen wurde, erwies er sich als
durchaus unnachgiebig. Dabei fragte Antonius Hyrkan selbst, ob er
wohl den Herodes für zur Staatsregierung fähig halte; der feige
Ethnarch mußte dies bejahen, wodurch er noch einmal seine eigene
politische Hilflosigkeit offenbarte. Übrigens war alles nur ein Ko-
mödienspiel. Kannte doch Marcus Antonius die Parteiverhältnisse in
Judäa nur zu gut aus persönlicher Anschauung, da kein anderer als
er selbst unter Gabinius dort den Aufstand der Aristobuluspartei un-
terdrückt und mit Antipater Freundschaft geschlossen hatte (§ 4i)-
Als echter Römer konnte er nicht umhin, die Ergebenheit und den
Diensteifer der Antipatriden hoch zu schätzen, während er die Bestre-
bungen der Patrioten, die deren Verdrängung von der Herrschaft
246
§ 44. Cassius und Antonius. Die Antipatriden als Tetrarchen
sich zum Ziele setzten, was ja schließlich auf eine Schwächung der
römischen Schutzherrschaft selbst hinausgelaufen wäre, nur mit äu-
ßerstem Argwohn betrachten mußte. Dies alles veranlaßte Antonius,
in seiner Begünstigung der Antipatriden sogar noch einen,Schritt wei-
ter als seine Vorgänger zu gehen. Nicht nur erklärte er die Herrschaft
des Herodes und Phasael für durchaus rechtsgültig, er verlieh ihr
sogar neue Kraft, indem er die beiden Brüder zu Tetrarchen, d. i.
zu gemeinschaftlichen Regenten Judäas, und zu unmittelbaren Schutz-
befohlenen Roms machte (4i). Nunmehr war Hyrkan nur noch dem
Namen nach Ethnarch; in Wirklichkeit versah er jedoch nur noch das
Amt des Hohepriesters. Das Volk empfand schmerzlich den ihm von
Rom wieder einmal versetzten Schlag. So nahmen denn die Sympathien
für den patriotischen Königssohn Antigonus rasch zu: dieser wurde
jetzt in der Phantasie des Volkes zu einer Heldengestalt und schien
dazu auserkoren zu sein, das Lanc| von der Gewaltherrschaft der rö-
mischen Schützlinge, der Antipatriden, zu befreien.
247
Zweites Kapitel
König Antigonus
(4o—37 vor der christlichen Ära)
§ 45. Die Parther und die Thronbesteigung des Antigonus
Antonius war zum Herrn des gesamten römischen Orients gewor-
den, zugleich aber auch zum treuesten Diener der ägyptischen Zauber-
künstlerin, der Königin Kleopatra. Der Mann, der die ganze Welt zu
unterwerfen gedachte, lag nun einem Weibe zu Füßen, das ihn seine
politische Mission ganz und gar vergessen ließ. Während der römische
Triumvir, von der Leidenschaft zu der „Geliebten der Caesaren“ ganz
trunken, seine Zeit in Ägypten so mit Belustigungen und Trinkgelagen
vergeudete, griff im Orient eine stets bedrohlicher werdende Bewe-
gung gegen Rom immer mehr um sich. Die zügellose Verschwendungs-
sucht des Antonius verschlang ungeheure Geldsummen, die in Form
von schwer lastenden Zwangsabgaben aus den östlichen Provinzen
herausgepreßt werden mußten. Die willkürliche Steuereintreibung und
die Kriegskontributionen, wie die römische Beamtenkorruption über-
haupt, trieben schließlich den Unwillen der über alle Maßen bedrück-
ten Bevölkerung auf den Siedepunkt. Nach einer dreiundzwanzig Jahre
lang geduldig getragenen Gewaltherrschaft machten die empörten Völ-
ker Syriens, Palästinas und Kleinasiens nun den Versuch, sich mit
Hilfe des jenseits des Euphrat gelegenen mächtigen Reiches der Parther
von dem unerträglich gewordenen fremden Druck zu befreien.
Das Partherreich in Mesopotamien und Persien, das in den vor-
hergehenden Jahrhunderten eine Schutzwehr gegen die Monarchie der
Seleuciden gebildet hatte, (oben, §§ 6, 22, 32), nahm jetzt die gleiche
Stellung dem Erben des Seleucidenreiches, dem römischen Staate, ge-
genüber ein. Dem siegreichen Zuge der Legionen des Pompe jus wurde
im Jahre 63 an den Ufern des Euphrat, der Grenze des kriegerischen
2 48
§ 45. Die Parther und die Thronbesteigung des Antigonus
Partherlandes, Einhalt geboten. Der Untergang des Kriegsgenossen
des Pompe jus, des Triumvirn Grassus, in dem Feldzuge gegen die
Parther machte für eine lange Zeit allen weiteren Anschlägen Roms
auf das unbezwingbare Reich, ein Ende. Fortan bildet der Euphrat
die Grenze zwischen den beiden in Asien miteinander rivalisierenden
Staaten. Die parthischen Arsacidenkönige benützten jedes politische
Wirrsal in Rom, jede revolutionäre Bewegung in den diesem Untertanen
östlichen Provinzen, um die Macht des gefährlichen Nachbars zu
schwächen. Die erste Gelegenheit bot sich den Parthern während des
Streites der beiden Triumvirn Octavianus und Antonius mit den Re-
publikanern Cassius und Brutus. Cassius rief nämlich selbst die Par-
ther zu Hilfe, jedoch ehe noch die Unterhandlungen beendet waren,
war seine Sache in der Schlacht bei Philippi bereits endgültig ver-
loren. Allein der an der Spitze der römischen Gesandtschaft stehende
Labienus, der im Namen des Cassius mit dem parthischen König
Orodes verhandelte, blieb an dessen Hofe und stachelte ihn auch wei-
terhin zu einem Angriff gegen den neuen Herrscher Asiens, Antonius,
auf. Eine günstige Gelegenheit dazu bot sich in jenen Jahren (4i bis
4o), als Antonius, nachdem er Syrien einen ungeheuren Tribut auf-
erlegt und dadurch die Empörung der einheimischen Bevölkerung er-
regt hatte, die Zügel der Regierung seinen Händen entgleiten ließ
und die Zeit in Ägypten mit Schwelgereien an der Seite der Kö-
nigin Kleopatra verbrachte. Zu Beginn des Jahres 4o fiel ein
großes parthisches Heer unter Anführung des Königssohnes Pa-
corus in Syrien ein, vertrieb den dortigen römischen Statthalter
und besetzte die ganze Provinz sowie das benachbarte Phönizien mit
Ausnahme von Tyrus. Die Sieger stießen bis tief nach Palästina, bis
zu den Grenzen Judäas vor. Der Glücksstern Roms schien für einen
Augenblick erloschen. Die unter römischem Joche stöhnenden Völker
empfingen die Parther als ihre Befreier. Am freudigsten waren durch
den neuen politischen Umschwung die jüdischen Patrioten erregt, in
denen nun wieder die Hoffnung wach wurde, die Macht der römi-
schen Günstlinge, der Antipatriden, niederringen zu können und die
hasmonäische Dynastie von neuem auf den Thron zu bringen. Der
unfähige Hyrkan war jedoch wenig geeignet, der Held dieser Re-
stauration zu werden; so wandten sich denn die Blicke der Patrioten
auf dessen Neffen Antigonus, der nach seinem mißlungenen Versuche,
sich des jüdischen Thrones zu bemächtigen, in Syrien weilte.
2 49
König Antigonus
Audi Antigonus selbst schien der Augenblick günstig zu sein, und
so trat er in Unterhandlungen mit den parthischen Führern, um sich
die Erreichung seines Zieles zu sichern. Diese erklärten sich in der
Tat bereit, für eine hohe Belohnung dem Antigonus zum Throne zu
verhelfen und die von Antonius eingesetzten Tetrarchen Herodes und
Phasael zu beseitigen. So zog denn das in zwei Abteilungen geteilte
part'hische Heer nach Judäa, wobei Pacorus von der phönizischen
Küste und der Satrap Barsaphranes vom Binnenlande her einfiel.
Zugleich erschien auch Antigonus selbst in Judäa, und tausende jü-
discher Patrioten scharten sich um seine Fahne. Mit Hilfe dieser
Kriegerschar gelang es ihm, in Jerusalem einzudringen. Nun ent-
spann sich zwischen der Hasmonäerpartei und den Anhängern der
Tetrarchen ein erbitterter Kampf in den Mauern der Stadt selbst.
Die treu zu Antigonus haltende Bevölkerung besetzte nach einem blu-
tigen Gefecht auf dem Marktplatze den Tempel, während sich He-
rodes und Phasael im Königspalast und in der Zitadelle verschanz-
ten. Die Lage wurde für die letzteren noch bedrohlicher, als aus An-
laß des Sommerfestes Schebuoth zahllose Scharen von Pilgern aus
der Provinz in Jerusalem eintrafen. Der sich auf seine organisierten
Streitkräfte stützende Herodes hatte nun gegen die zu Antigonus hal-
tende Mehrzahl des Volkes einen verzweifelten Kampf zu bestehen.
Um diese Zeit erschien auch eine Truppenabteilung der Parther
an den Toren Jerusalems und wurde von der Partei des Antigonus
in die Stadt eingelassen. Der Führer des Truppenteils forderte Pha-
sael und Hyrkan auf, sich zu Unterhandlungen in das in Galiläa be-
findliche Lager des Barsaphranes zu begeben. Hier angelangt, wur-
den sie jedoch sogleich in Haft genommen. Als Herodes davon Kunde
erhielt, floh er des Nachts unter militärischer Bedeckung mit sei-
nen Angehörigen (unter denen sich auch seine Braut Mariamme be-
fand) aus Jerusalem. Unterwegs mußte er sich noch mit bewaffne-
ter Hand durah die Reihen der Parther und der jüdischen Auf-
ständischen durchschlagen, gelangte aber doch schließlich zu der Fe-
stung Masada, die auf einem steilen Felsen in der Nähe des Toten
Meeres gelegen war. Hier ließ er seine Familie unter dem Schutze
treuer Soldaten und des Festungskommandanten, seines Bruders Jo-
seph, zurück und eilte selbst in die Hauptstadt Arabiens, Petra, um
sich dort militärischen Beistand zu verschaffen.
Mittlerweile wurden die gefangen genommenen Hyrkan und Pha-
2 5o
§ 45. Die Parther und die Thronbesteigung des Antigonus
sael von den Parthern ihrem Verbündeten, dem Antigonus, ausge-
liefert. Phasael, der einer schmählichen Hinrichtung entgehen wollte,
nahm sich selbst das Leben, indem er sich den Kopf an einem Fel-
sen zerschmetterte. Hyrkan aber wurden auf Befehl des Antigonus
die Ohren abgeschnitten, damit er für das Hohepriesteramt für im-
mer untauglich werde (Verstümmelte durften dem Gesetze zufolge
das Hohepriesteramt nicht bekleiden). Sodann wurde der unglück-
liche Greis den Parthern übergeben, die ihn nach Babylonien in die
Gefangenschaft führten. Nachdem dann die Parther die verspro-
chene Belohnung erhalten hatten, verließen sie das Land und zogen
nach Syrien. Die sich noch haltenden unbedeutenden römischen Gar-
nisonen wurden mit Leichtigkeit aufgehoben, und nun stand An-
tigonus als unabhängiger Herrscher an der Spitze Judäas.
DreiundzAvanzig Jahre nach der Niederwerfung der hasmonäischen
Königsgewalt erstand sie nun zu neuem Leben in der Person des
Antigonus, des Sohnes des letzten Königs Aristobulus (4o). Gleich
seinen Vorfahren nahm auch Antigonus den Doppeltitel eines Kö-
nigs-Hohepriesters an. Als König trug er den weltlichen griechischen
Namen Antigonus; als Hohepriester hieß er mit seinem hebräisohen
Namen Mattathias. Auf den während seiner Regierung geschlagenen
Münzen finden sich zwei Aufschriften: eine griechische — „Basileos
Antigonus“ (des Königs Antigonus) und eine hebräische — „Ma-
tatiah ha’kohen ha’gadol“ (Mattathias der Hohepriester).
Allein diese Restauration der hasmonäischen Königsgewalt konnte
nicht von langer Dauer sein. Weder die damalige internationale Lage
Judäas noch die Persönlichkeit seines neuen Regenten waren dazu
geeignet, die Dauerhaftigkeit der errungenen Unabhängigkeit zu si-
chern. Antigonus verdankte die ihm zuteil gewordene Königsgewalt
einerseits dem Siege der Parther über die in ihrer Wachsamkeit zeit-
weilig lässig gewordenen Römer, andererseits der Volksempörung
gegen die Antipatriden. Allein der schlummernde römische Löwe
konnte jeden Augenblick erwachen und die aufrührerische Provinz
von neuem unter dem Schlag seiner mächtigen Tatze erdrücken, und
auch der Volksunwille gegen die Antipatriden reichte wohl dazu aus,
den Antigonus auf den Thron zu bringen, nicht aber, ihm seinen Thron
zu sichern. Dazu hätten dem neuen Regenten hervorragende persön-
liche Eigenschaften zu Gebote stehen müssen: es hätte eines feurigen
Heldenmutes bedurft, um die Befreiungsenergie der Nation in Span-
25l
König Antigonus
nung zu halten, sowie eines politischen Genies, um sich in den ver-
wickelten internationalen Beziehungen zurech.tzufinden: — und an
alledem fehlte es gerade dem Antigonus gänzlich. Zugleich gebrach
es ihm aber auch an jenen geistigen Eigenschaften, die die geistigen
Patrioten, die Pharisäer, auf seine Seite hätten bringen können. Ein
echter Sohn des Aristobulus, der ehemals von der sadduzäischen Op-
position auf den Schild gehoben worden war, stellte auch Antigonus
die weltliche Staatlichkeit und die Unabhängigkeit der Dynastie über
alles. So entstammten seine Anhänger den beiden extremen und ein-
ander direkt entgegengesetzten Lagern: dem der sadduzäisch gesinn-
ten Jerusalemer Aristokratie einerseits und dem der galiläischen re-
volutionären Patrioten, der Parteigänger des seinerzeit von Herodes
hingerichteten Ezechias, andererseits. Der pharisäisch gesinnte Mit-
telstand dagegen hatte zwar gleichfalls keine Sympathien für die An-
tipatriden, war aber auch dem den Sadduzäern nahestehenden Anti-
gonus, der dazu noch Hyrkan II., den Gefolgsmann der Pharisäer,
so grausam hatte verstümmeln lassen, nur wenig gewogen.
Der zur Herrschaft gelangte Antigonus versäumte es, die im gan-
zen Lande verstreuten, von Haß gegen Herodes und Rom erfüllten
Freischärlertruppen zu einer mächtigen nationalen Streitmacht zu ver-
einigen, die es vermocht hätte, den Römern Achtung für die Macht
Judäas abzugewinnen. Statt sich gegen den drohenden Einfall der
Römer zu rüsten, vergeudete er seine Zeit in dynastischen Händeln mit
den Antipatriden. So belagerte er die in der Festung Masada zurück-
gebliebene Familie des Herodes samt dem Überreste seiner Truppen,
der sich unter der Anführung des Festungskommandanten Joseph
tapfer wehrte. Als nun der nach Syrien zur Züchtigung der Parther
gesandte römische Feldherr Ventidius in Judäa eintraf, gelang es
dem Antigonus nur durch reichliche Bestechung des käuflichen Rö-
mers, die Gefahr von Jerusalem abzuwenden. Dieser entfernte sich
darauf aus Judäa und ließ nur zum Schein eine römische Garnison
unter dem Oberbefehl des Silo im Lande zurück. Silo, der von dem
judäischen König einen regelrechten Sold bezog, hielt es für gera-
ten, Frieden mit ihm zu halten, ohne sich daran zu kehren, daß An-
tigonus ein Aufrührer war, der den Schützlingen der römischen Re-
gierung die Macht gewaltsam entrissen hatte.
Während nun Antigonus sich so auf seinen Lorbeeren ausruhte
und nichts zur Sicherung seiner Lage unternahm, ließ Herodes die
2Ö2
§ 45. Die Parther und die Thronbesteigung des Antigonus
Zeit nicht ungenützt verstreichen und verstand es, aus den verschieden-
sten politischen Kombinationen für sich Vorteil zu ziehen. Nach sei-
ner nächtlichen Flucht aus Jerusalem begab er sich geradeswegs
nach Arabien, um dessen König Malchus als Verbündeten für sich
zu gewinnen. Als dies Herodes mißglückte, brach er nach Ägypten
auf, wo er in Alexandrien den Antonius anzutreffen hoffte. Dieser
war aber inzwischen nach Rom abgereist. Die Königin Kleopatra bat
nun Herodes, bei ihr zu verweilen, er lehnte aber ihren Vorschlag
ab, da das Herannahen des Winters und der stürmischen Jahreszeit
es ihm ratsam erscheinen ließ, seine Reise nach Rom ohne Verzöge-
rung anzutreten. Nach einer langen schwierigen Fahrt kam er dort
an und erschien unverzüglich vor Antonius. Er schilderte seinem Gön-
ner die elende Lage, in die ihn die Revolution in Judäa versetzt hatte,
die einen Hasmonäer an die Spitze des Staates gebracht und die von
Rom ernannten Tetrarchen beseitigt hatte. Antonius sprach dem ab-
gesetzten Tetrarchen Mut zu und versprach ihm seinen Beistand. Er
stimmte auch seinen Mitregenten Octavianus, der sich der von dem
Vater des Herodes seinem Pflegevater, Julius Caesar, in Ägypten er-
wiesenen Dienste noch wohl entsinnen konnte, zugunsten des Hero-
des. Jedoch nicht die persönlichen Sympathien allein kamen dem
Herodes zugute. Auch die Interessen Roms und dessen politisches An-
sehen verlangten es, daß das revolutionäre Königtum Judäas der ehe-
maligen gefügigen Regierung wieder Platz mache. Da aber Hyrkan
sich bei den Parthern in Gefangenschaft befand, so konnte allein He-
rodes der Rom willkommene Kronprätendent sein. So wurde denn die-
ser, auf den Vorschlag des Antonius hin, in einer feierlichen Senats-
sitzung in der Tat zum König von Judäa und zum Verbündeten und
Vasallen Roms proklamiert. Nach Schluß der Sitzung wurde Herodes
in Begleitung des Antonius, des Octavianus und der Konsuln auf
das Kapitol hinaufgeführt. Hier wurde den Göttern ein Opfer dar-
gebracht und die Urkunde über die Ernennung des Herodes zum
König von Judäa im Tempel niedergelegt (Ende des Jahres 4o).
Durch die Verleihung des Königstitels gedachte der Senat Herodes
zum Kampfe gegen die Feinde Roms in Judäa anzuspornen. Dem auf
revolutionärem Wege zur Königsgewalt gelangten Antigonus wurde so
ein Gegenkönig entgegengestellt, der ihn absetzen und das Land von
neuem in Vasallenabhängigkeit von Rom bringen sollte. Herodes trat
mit der ihm eigenen Energie an diese Aufgabe heran. Schon schien
König Antigonus
es, daß er seinem ersehnten Ziele nahe sei. Doch war es Judäa noch
beschieden, durch die Schrecken eines zweijährigen Bürgerkrieges hin-
durchzugehen, ehe der in Rom gekrönte König sich auch in dem be-
friedeten Jerusalem die Krone aufs Haupt zu setzen vermochte.
§ 46. Der Widerstreit der zwei Könige und der Untergang des
Antigonus
Im Jahre 3g landete Herodes, von Italien zurückgekehrt, im pa-
lästinischen Hafen Ptolemais. Es gelang ihm, ein Heer zu sammeln,
vornehmlich aus Fremdstämmigen: aus palästinischen Griechen, aus
der gemischten Bevölkerung Samarias und aus seinen Stammesge-
nossen, den „Idumäern“ oder Edomitern. Auch vom syrischen Statt-
halter Ventidius erhielt er, auf Anordnung des Antonius, einige Un-
terstützung. Gleich mit dem ersten Schlag bemächtigte sich Herodes
eines Teiles von Galiläa, besetzte auch Jaffa und entsetzte die be-
lagerte Festung Masada, in der seine Verwandten und treuergebenen
Krieger eingeschlossen waren. Schon nahte er Jerusalem, um es zu be-
lagern, wurde aber noch im letzten Augenblick von Antigonus zu-
rückgeworfen. Die in Judäa unter dem Oberbefehl des von Äntigo-
nus bestochenen Silo stehende römische Garnison machte sich im
kritischen Augenblick aus dem Staube und begab sich in die Win-
terquartiere, während die römische Hauptarmee in Syrien von den
Kämpfen mit den Parthern in Anspruch genommen war. Dazu lo-
derte im Rücken des Herodes eine sich über ganz Galiläa ausbreitende
Volkserhebung auf, und er war gezwungen, seine Streitmacht zu de-
ren Unterdrückung zu verwenden.
Fast zwei Jahre dauerte in Galiläa der Kampf zwischen den Krie-
gerscharen des Herodes und den jüdischen Patrioten. Herodes gelang
es in gar manchem Treffen, die regulären Truppen des Antigonus
zu besiegen, es fiel ihm jedoch sehr schwer, gegen die Freischärler-
truppen der Patrioten anzukämpfen, die in den Bergschluchten Fuß
gefaßt hatten und von dort aus die gewagtesten Ausfälle zu unter-
nehmen pflegten. Nachdem Herodes die Stadt Zipora besetzt und
sie als Operationsbasis eingerichtet hatte, machte er sich endlich dar-
an, auch die im Gebirge umherstreifenden Banden zu verfolgen, von
denen die bedeutendsten sich in der Nähe Arbelas, in der Gegend des
Genezarethsees, verbargen. Ein von ihm bei dieser Gelegenheit an-
254
§ 46. Der Widerstreit der zwei Könige
gewandtes, überaus geschicktes, wenn auch äußerst grausames Kriegs-
manöver ist besonders berühmt geworden. Die Höhlen, in denen die
Aufständischen Zuflucht suchten, lagen nämlich auf abschüssigen Ber-
gen, auf den Vorsprüngen steiler, fast senkrechter Felsen mit spitz-
zackigen Gipfeln. In diesen Schlupfwinkeln hausten die Patrioten
mit ihren Familien, hier brachten sie auch ihre Proviantvorräte un-
ter. Um nun in diese Bergnester gelangen zu können, befahl Herodes,
große, mit Eisen beschlagene Kästen anzufertigen, diese mit Bewaff-
neten zu füllen und an eisernen Ketten von den Berggipfeln bis zu
den Eingängen der Höhlen herunterzulassen. Die Soldaten wurden
mit langen Haken ausgerüstet, um damit die Aufständischen heran-
zuziehen und in die Tiefe herunterzustoßen. Aus diesen über gäh-
nenden Abgründen hängenden Kästen drangen die Krieger des He-
rodes in die Höhlen ein, töteten ihre Insassen oder zogen sie mit ihren
Haken heran, um sie in den Abgrund hinabzuschleudern. Viele von
den Patrioten, die keine Rettungsmöglichkeit mehr sahen, ergaben
sich dem Herodes; andere dagegen leisteten verzweifelten Widerstand
und gingen, den Usurpator verfluchend, in den Tod. Ein Greis, der
mit seinem Weibe und seinen Söhnen in einer Höhle eingeschlossen
wurde, erschlug alle seine Angehörigen, die sich dem Feinde ergeben
wollten, warf ihre Leichen in den Abgrund und stürzte sich dann
selbst hinunter, den Tod der Sklaverei vorziehend. Vorher erging er
sich aber noch in lauten Schmähungen gegen den unfern der Höhle
sich aufhaltenden Herodes, erinnerte ihn an seine niedrige Herkunft
und wies den Vorschlag, sich zu ergeben, mit Verachtung zurück.
Mittlerweile wurden die Parther, die einen Teil Syriens besetzt
hielten, von den Römern geschlagen, und Ventidius sandte nun He-
rodes aus seiner frei gewordenen Armee zwei Reiterlegionen zur Un-
terdrückung des galiläischen Aufstandes (38). Allein auch jetzt be-
teiligten sich die Römer nur ungern an dem judäischen Bürgerkriege
und leisteten dem Herodes nur unzureichenden Beistand, da einige
von Antigonus bestochene Truppenführer auch fernerhin in Untätig-
keit verharrten. Um diese Zeit kam Antonius selbst nach Syrien in
das römische Lager, das vor dem belagerten Samosata in der den
Parthern verbündeten Provinz Kommagene auf geschlagen war. So-
fort übergab Herodes den Oberbefehl über das galiläische Heer sei-
nem Bruder Joseph und eilte selbst zu seinem Gönner, um ihn um
kräftigeren militärischen Beistand in seinem Kampfe mit dem Feinde
255
König Antigonus
Roms, Antigonus, anzugehen. Antonius empfing ihn sehr gnädig und
beauftragte sogleich nach der Eroberung von. Samosata den neuen
Statthalter Syriens, Sosius, Herodes tatkräftige Unterstützung zuteil
werden zu lassen, damit dem sich so lange hinziehenden Kriege in
Judäa endlich ein Ziel gesetzt werde.
Der Krieg war jedoch noch lange nicht zu Ende. Während der
Abwesenheit des Herodes, als in Galiläa sein Bruder Joseph den Oberbe-
fehl führte, errangen die Truppen des Antigonus einen Sieg nach dem
anderen. Schließlich wurde das Heer des Joseph bei Jericho aufs
Haupt geschlagen und er selbst auf Befehl des Antigonus enthauptet.
Überhaupt häuften sich in dem wütenden Freischärlerkrieg die grau-
samen Racheakte immer mehr: so ergriffen einst galiläische Patri-
oten viele von den Anhängern des Herodes und ertränkten sie kurzer-
hand im Genezarethsee. Herodes erfuhr in Antiochia von diesen Er-
eignissen und eilte unverzüglich nach Judäa, um den Tod seines Bru-
ders und die Vernichtung seiner Anhänger zu rächen. Zornentbrannt
stürzte er sich auf die Feinde und in mehreren Gefechten gelang es
ihm mit Hilfe der römischen Legionen, die Truppen der Patrioten
zu besiegen. Die jüdischen Patrioten wurden übrigens nicht allein
auf den Schlachtfeldern, sondern auch in den von ihnen überfüllten
Städten und Dörfern erbarmungslos niedergemacht. Ganze Haufen
von Leichen säumten so den Weg, den Herodes bis zur völligen Un-
terwerfung Galiläas, Samarias und des zentralen Judäa ging.
Gegen Ende des Jahres 38 hatte sich Herodes bereits fast des gan-
zen Landes, mit Ausnahme von Jerusalem, bemächtigt. Der Anbruch
des Winters hinderte ihn, seinen Angriff auf die Hauptstadt unver-
züglich zu beginnen; kaum war jedoch der Winter vorbei, als Herodes
an die Belagerung der heiligen Stadt schritt, deren Unterwerfung
sein Lebens werk krönen sollte.
Das Heer des Herodes näherte sich Jerusalem im Frühjahr des
Jahres 37. Bald darauf gesellten sich ihm auch die römischen Legi-
onen unter Anführung des Sosius zu. Das riesige Heer der Verbün-
deten lagerte am Fuße des Tempelberges, an dessen nördlicher Seite.
Herodes gedachte die Jerusalemer Feste in derselben Weise anzugrei-
fen, wie es schon vorher Pomp ejus getan hatte. Er ließ mächtige
Wälle, mit Türmen darauf, nach allen Regeln der römischen Kriegs-
kunst errichten. Während die Belagerungsarbeiten in vollem Gange
waren, begab sich Herodes selbst nach Samaria und feierte dort seine
256
§ hß. Der Widerstreit der zwei Könige
Hochzeit mit der hasmonäischen Prinzessin Mariamme, mit der er
schon lange verlobt war. Er wollte wohl angesichts seiner bevorste-
henden Krönung in Jerusalem diesem feierlichen Akte durch die Ehe
mit einer Prinzessin von königlichem Geblüt, eine Ehe, die ihn gleich-
sam zu einem Mitgliede des Hasmonäerhauses machte, einen schein-
bar gesetzlichen Charakter verleihen. Auf diese Weise hoffte er, wie
es scheint, einen Teil des Volkes für sich zu gewinnen und sich so
die Unterwerfung der Hauptstadt zu erleichtern.
Nach seiner Rückkehr aus Samaria gaben Herodes und sein Ver-
bündeter Sosius den Befehl zum Sturmangriff gegen Jerusalem. Die
auf hohen Wällen aufgestellten Belagerungsmaschinen ließen die Fe-
stungsmauern bis auf den Grund erzittern. Indessen säumten auch
die Belagerten nicht: sie unternahmen nach guter alter Kriegsart Aus-
fälle aus der Stadt, zerstörten oder verbrannten die Belagerungsvor-
richtungen und kämpften in den unterirdischen Gängen mit den feind-
lichen Minengräbern. Allein das Los der Belagerten war besiegelt: ihr
Widerstand gegen die starke Verbündeten-Armee konnte nur von be-
grenzter Dauer sein. Einige der Vertreter der Pharisäerpartei, die die
Zwecklosigkeit des Widerstandes wohl einsahen und das unnötige
Blutvergießen vermeiden wollten, rieten daher auch zur Übergabe
der Stadt an Herodes1), jedoch die Mehrzahl der Führer war dage-
gen. Das verhängnisvolle Ende trat denn auch gar bald ein. Vierzig
Tage nach Beginn der Belagerung wurde die erste Festungsmauer
erstürmt, fünfzehn Tage darauf auch die zweite. Antigonus und seine
Mitkämpfer leisteten noch in der Oberstadt und in den geräumigen
Tempelhöfen verzweifelten Widerstand, bald wurden jedoch auch
diese letzten Stützpunkte von den Truppen des Herodes erobert
(Juli 3 7).
Nun begann ein entsetzliches Blutbad. Über die langwierige Be-
lagerung erbittert, vernichteten die Römer und die Söldnertruppen
des Herodes die Besiegten mit rasender Wut. In den engen Gassen, in
den Tempelhöfen, wo die Unglücklichen Zuflucht suchten, wurden
sie haufenweise niedergemacht. Der König Antigonus selbst bewies
im letzten Augenblick einen erbärmlichen Kleinmut: er kam aus dem
Turm hervor, warf sich dem Sosius zu Füßen und flehte um Gnade.
1) An der Spitze dieser Gruppe der „Friedfertigen“ standen die gelehrten
Pharisäerführer Abtalion und Schema ja, wie dies Josephus Flavius bezeugt („Pol-
lio und Sameas“ — in Ant. XV, 1, 1; vgl. daselbst, XV, 10, 4)-
17 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II.
König Antigonus
Allein der Römer stieß den unglückseligen König zurück und nannte
ihn, seine Feigheit verspottend, mit dem weiblichen Namen „Anti-
gone“. Er ließ ihn sodann in Fesseln legen und hielt ihn unter stren-
ger Bewachung.
Es kostete den Herodes die größte Anstrengung, um dem Mor-
den und Plündern, dem sich die rasenden römischen Krieger mit Ge-
nehmigung des Sosius hingaben, Einhalt zu tun. Dem künftigen Kö-
nig der Juden war es darum zu tun, in einer nicht völlig verwüsteten
Hauptstadt zu herrschen, und er bat daher Sosius um Einstellung des
wütenden Treibens. „Wollt Ihr denn — so sprach er zu seinem Ver-
bündeten — die Stadt von Menschen und Kostbarkeiten völlig leeren
und mich als König einer Wüste zurücklassen?“ Als die Römer in
die inneren Tempelräume eindringen wollten, hielt sie Herodes davon
zurück, indem er erklärte, sein Sieg würde für ihn anderenfalls noch
schlimmer als eine Niederlage sein, da das Volk ihn für die Ent-
weihung des Heiligtums durch die Heiden verantwortlich machen
würde. Im allgemeinen wirkten aber solche Reden nur wenig auf die
rohen Römer, die auf das gute Recht der Sieger auf Kriegsbeute
nicht verzichten wollten. Erst als Herodes ihnen versprach, sie aus
eigenen Mitteln zu belohnen, nahm ihr Wüten ein Ende. Der König
hielt sein Versprechen in vollem Maße: dem Sosius ließ er „wahr-
haft königliche“ Geschenke zukommen und beschenkte auch die ein-
zelnen Hauptleute und Soldaten in so ausgiebiger Weise, daß „kei-
ner Jerusalem ohne Geld verließ“.
Darauf zog Sosius aus Jerusalem ab und führte den Antigonus
in Fesseln mit sich fort. Der abgesetzte König wurde nach Antiochia
gebracht, wo Antonius selbst über sein Schicksal entscheiden sollte.
Dieser wollte vorerst Antigonus am Leben lassen, um seinem Tri-
umpheinzug in Rom durch die Person des gefesselten Königs einen
besonderen Glanz zu verleihen. Herodes befürchtete jedoch, daß der
begnadigte Antigonus mit der Zeit in Rom Gönner finden und so,
als gesetzlicher Thronerbe, ein für ihn gefährlicher Rivale werden
könnte; überdies wußte er sehr wohl, daß das Volk, solange ein Prä-
tendent aus dem Hasmonäerhause noch am Leben war, sich nicht be-
ruhigen und die neue Dynastie nicht anerkennen werde. All diese Er-
wägungen führte Herodes geschickt seinem Gönner Antonius zu Ge-
müt und bekräftigte sie noch durch das den verschwenderischen Tri-
umvirn am meisten überzeugende Argument, nämlich durch das Ver-
258
§ 46. Der Widerstreit der zwei Könige
sprechen einer großen Geldsumme aus der künftigen Staatskasse Ju-
däas. Auf diese Weise gelang es dem Herodes schließlich, den An-
tonius zu überreden. Antigonus wurde zu einem bei den Römern für
einen ehemaligen König als schmählich geltenden Tode verurteilt:
er wurde in Antiochia mit dem Beile hingerichtet. „Antonius — so
schreibt der Geograph Strabo — war der erste unter den Römern,
der einen König mit dem Beile vom Leben zum Tode bringen ließ.
Er glaubte eben auf keine andere Weise die Juden dahin bringen
zu können, daß sie den Herodes an Antigonus’ Stelle als König an-
erkannten ... Er meinte, durch eine schmachvolle Hinrichtung das
Andenken an Antigonus schwächen und den Haß der Juden gegen
Herodes dämpfen zu können.44
Mit dem Tode des Antigonus war die Herrschaft des Hasmonäer-
hauses in Judäa für immer zu Ende. Diese Herrschaft hatte somit,
von der Proklamierung Simons des Hasmonäers zum erblichen Für-
sten-Hohepriester an gerechnet, im ganzen hundertunddrei Jahre ge-
dauert (i 4o—37).
25g
17*
Drittes Kapitel
Der König Herodes I.
(37 — 4 vor der christlichen Ära)
§ 47. Die Beseitigung der Hasmonäer
Von neuem bestieg ein Herrscher mit dem Titel eines „Königs“
den judäischen Thron, diesmal war es aber nur ein „Halbjude“ (wie
man ihn im Volke verächtlich nannte), ein König, der seine Krone
aus den Händen der Römer erlangt und sich mit dem Blute der Has-
monäer befleckt hatte. Herodes war in Judäa der erste Inhaber einer
obersten Gewalt, die sowohl der theokratischen als der nationalen
Grundlage entbehrte. Einstmals stand an der Spitze der Nation der
Hohepi'iester, dann der König-Hohepriester aus der vom Volke er-
wählten Dynastie, nun trat an deren Stelle ein weltlicher König, der
nicht nur nicht priesterlichen Geblüts, sondern nicht einmal voll-
bürtiger Jude und nicht vom Volke erwählt, sondern von den Rö-
mern ernannt worden war. Die Pharisäer sowie die von ihnen ge-
führte Demokratie waren dem Herodes als einem „Halbjuden“, als
einem Manne der griechisch-römischen Kultur nichts weniger als ge-
wogen und verhielten sich ihm gegenüber, als wäre er nur römischer
Statthalter in Judäa. Aber auch der Aristokratie aus der Sadduzäer-
partei war Herodes als der Verderber des Hasmonäerhauses verhaßt,
und erst nach und nach vermochte sich ein Teil der Sadduzäer mit
dem neuen Regime abzufinden.
Seine Regierung leitete Herodes gleich einem römischen Diktator
mit Hinrichtungen und „Proskriptionen“ ein. Nach der Hinrichtung
des Königs Antigonus setzten die Verfolgungen seiner Parteigänger
ein. Nicht weniger als fünfundvierzig vornehme Jerusalemer Bür-
ger, die zu der Anhängerschaft der früheren Regierung gehörten, ver-
fielen auf Verfügung des Herodes der Todesstrafe. Ihr beschlagnahm-
260
»
§ 47. Die Beseitigung der Hasmonäer
ter Besitz floß dem Schatz des neuen Königs zu, der mit diesem Gelde
in freigebigster Weise seinen Gönner, den verschwenderischen An-
tonius, sowie andere habgierige römische Beamte beschenkte. Die ein-
flußreichen Mitglieder des Synhedrion, die einst den Herodes wegen
seiner Eigenmächtigkeit in Galiläa verurteilen wollten (§ 43), sahen
sich nun selbst Verfolgungen ausgesetzt oder wurden aus dem Lande
gewiesen. Unbehelligt blieben nur die pharisäischen Gesetzeslehrer Ab-
talion und Schema ja, die bei der letzten Belagerung Jerusalems, die
Aussichtslosigkeit des Widerstandes einsehend, für die Übergabe der
Hauptstadt an Herodes und die Römer eingetreten waren (§ 46).
Und dennoch konnte der König, ungeachtet all dieser harten Maß-
nahmen, seine Lage noch immer nicht als gesichert ansehen. Besorg-
niserregend war für Herodes nämlich der Umstand, daß Mitglieder
der Hasmonäerdynastie noch immer am Leben waren, denen er jedoch
nicht offen entgegentreten konnte, da sie mit dem König nach dessen
Ehe mit Mariamme durch verwandtschaftliche Bande verknüpft wa-
ren. So lebte noch in Babylonien der von den Parthern dorthin ver-
schleppte Hyrkan II., aber auch in Jerusalem selbst weilten am Hofe
des Herodes die Tochter des Hyrkan, die Mutter der Königin Ma-
riamme, Alexandra1), sowie deren Sohn, Aristobulus III. Der hoch-
betagte Hyrkan stand als ehemaliger Hohepriester bei den babyloni-
schen Juden in hohen Ehren. Der Greis sehnte sich jedoch nach seiner
Heimat, und so entschloß er sich denn, sobald er Kunde davon erhielt,
daß in Judäa Herodes, den er noch vor kurzem begünstigt hatte, den
Thron bestiegen hatte, dorthin zurückzukehren. Auch Herodes zog es
seinerseits vor, Hyrkan in seiner Nähe und unter seiner Aufsicht zu
wissen, für den Fall einer aufständischen Bewegung zugunsten der
Hasmonäer. Darum zögerte er auch nicht, Hyrkan aus Babylonien
nach Jerusalem zu holen (36). Der König behandelte den Greis mit
Ehrerbietung und nannte ihn mit geheuchelter Zärtlichkeit, als den
Großvater seiner Gattin, seinen Vater, dabei unterließ er es aber nicht,
ihn scharf zu beobachten, um die Anknüpfung jeglicher Beziehungen
zwischen ihm und den politischen Gegnern des neuen Regimes un-
*) Sie war die Witwe des von den Kriegern des Pompejus hingerichteten
Prinzen Alexander, ihres Vetters, des Sohnes Aristobulus II. Dieser Vetternehe
(s. oben, § 3i) entstammten zwei Kinder: Mariamme (die Gattin des Herodes) und
Aristobulus III.
2ÖI
Der König Iierodes 1.
möglich zu machen. Da Hyrkan wegen seiner Verstümmelung in das
Hohepriesteramt nicht mehr eingesetzt werden konnte, so verlieh
Herodes diese Würde einem gewissen Chananel, einem babylonischen
oder ägyptischen Juden aus priesterlichem Geschlechte. Der König
überging dabei mit Absicht den Enkel des Hyrkan, seinen jugend-
lichen Schwager Aristobul III., der von Rechts wegen der Nachfolger
seines Großvaters im Hohepriestertum sein sollte.
Diese Ehrenverletzung vermochte Alexandra, die Mutter Aristo-
buls III., nicht zu verwinden. Die rührige Frau trat nun als Rächerin
für das den Hasmonäern zugefügte Unrecht auf; in der Person seiner
Schwiegermutter erstand Herodes ein gefährlicher Feind, der bei der
Verfolgung seiner Ziele alle Feinheiten der politischen Agitationskunst
sich zunutze zu machen verstand. Zur Verteidigung der gesetzlichen
Rechte ihres Sohnes setzte Alexandra alle Hebel der Hofdiplomatie
in Bewegung. So wandte sie sich auch an die ägyptische Königin
Kleopatra mit der Bitte, auf ihren Liebhaber Antonius einzuwirken,,
damit er den Herodes zur Einsetzung des Aristobul in das Hoheprie-
steramt veranlasse. Antonius ließ sich in der Tat das Los des jugend-
lichen Aristobul nahegehen, besonders nachdem er die Bilder des
Prinzen wie seiner Schwester Mariamme, die ihn durch ihre Schön-
heit bezauberten, zu Gesicht bekommen hatte. Herodes war nun in
eine schwierige Lage geraten: einerseits erfüllte ihn die zu gewärti-
gende Einmischung seines Souveräns mit Besorgnis, andererseits aber
auch der Unwille in seiner eigenen Familie, die Ränke seiner Schwie-
germutter, die Fürbitte der Mariamme und schließlich die Unzufrie-
denheit im Volke. So mußte der König nachgeben. Er setzte den
Chananel ab (trotz des Gesetzes von der Unabsetzbarkeit des höchsten
Hierarchen) und ernannte zum Hohepriester Aristobul III., der da-
mals erst siebzehn Jahre alt war.
Nachdem Herodes sich so dem Zwang der Umstände hatte fügen
müssen, begann er unausgesetzt darauf zu sinnen, wie er die Lage der
Dinge zu seinen Gunsten wenden könne. Es ging über seine Kraft,
Zusehen zu müssen, daß ein hasmonäischer Prinz an seiner Seite
das hohepriesterliche Amt versehe. Aristobuls Gegenwart war gleich-
sam ein leibhaftiger Vorwurf, der das Volk an den Thronraub des
Herodes erinnerte. Ein edomitischer König mußte freilich neben
einem vollbürtigen hasmonäischen Hohepriester eine schlechte Figur
machen. Die Befürchtung lag nahe, daß sich das Volk mit der Zeit
§ 47. Die Beseitigung der Hasmonäer
wieder einmal entschließen könnte, beide Würden in der Person des
Aristobul zu vereinigen. Das Verhalten der Alexandra mußte die Be-
fürchtungen des Herodes nur noch verstärken, da das ränkeschmie-
dende Weib auch nach der Ernennung ihres Sohnes zum Hohepriester
von ihrem Tun nicht abließ. Sie fuhr fort, mit ICleopatra auch wei-
terhin geheime Unterhandlungen zu pflegen, so daß Herodes allen
Grund hatte, seine Schwiegermutter der energischen Vorbereitung
einer Staatsumwälzung zugunsten des Hasmonäerhauses zu verdäch-
tigen. Daher blieb ihm nichts übrig, als sie strengstens überwachen zu
lassen und die Hof wache anzuweisen, Alexandra nicht aus dem Palaste
herauszulassen, sowie ihren verdächtigen Verkehr mit der Außenwelt
auf jede Weise zu unterbinden.
Alexandra empfand diese vorbeugenden Maßnahmen als äußerst
lästig. Nun mußte sie das Schlimmste von ihrem argwöhnischen
Schwiegersöhne erwarten und hatte Grund genug, auch um das Los
ihres jungen Sohnes besorgt zu sein. Sie faßte daher den Plan, zu-
sammen mit ihrem Sohne insgeheim nach Ägypten, zu Kleopatra, zu
flüchten. Schon waren zwei Särge bereitgestellt, in denen Mutter und
Sohn im Dunkel der Nacht als Leichen aus dem Palast hinausgetra-
gen werden sollten, um dann in unauffälliger Weise ans Meer auf ein
nach Ägypten gehendes Schiff befördert zu werden. Herodes wurde
jedoch durch seine Getreuen von dem Fluchtplan in Kenntnis gesetzt
und konnte ihn noch rechtzeitig vereiteln. Um jegliches unerwünschte
Gerede, das bis zu Kleopatra dringen könnte, zu vermeiden, suchte
der König den peinlichen Zwischenfall zu vertuschen, indem er sich
den Anschein gab, als hätte er Alexandra großmütig alles vergeben;
in seiner Seele reifte jedoch ein fürchterlicher Plan, den er alsbald
auch in die Tat umsetzte.
Es war am Laubhüttenfeste (Sukkoth) des Jahres 35. Im Jerusa-
lemer Tempel ging der hochfeierliche Gottesdienst vor sich. Der An-
blick der strahlenden Schönheit des am Altar in prächtigem hoheprie-
sterlichen Gewände vor dem Volke erschienenen jungen Aristobulus
rief unwillkürlich die allgemeine Begeisterung wach. Die lichten Ge-
stalten der ersten Hasmonäer und ihre patriotischen Heldentaten, der
blendende Glanz der ehemaligen fürstlichen Hohepriester erstanden
vor dem geistigen Auge des Volkes. So machten sich denn die patrio-
tischen Gefühle der im Tempel versammelten Menge in stürmischem
Jubel und in lauten, dem Aristobulus zugerufenen Segenswünschen
263
Der König Herodes L
Luft. Diese spontane Kundgebung zu Eihren der Hasmonäer bedeutete
aber gleichzeitig eine Herausforderung dem Herodes gegenüber. Der
König verbarg jedoch vorerst seine Erbitterung, um seinen höllischen
Plan um so erfolgreicher durchführen zu können. Mit geheucheltem
Frohsinn beteiligte er sich an allen festlichen Veranstaltungen und
nahm auch nach dem Feste die Einladung der Alexandra zu einem
Familienmahle in Jericho ohne weiteres an. Während des Gastmahls
unterhielt sich der König unbefangen mit Aristobulus und mit dem
Gefolge und ergötzte sich hernach gleich allen anderen an den ver-
anstalteten Spielen und Wettkämpfen. Es war ein heißer Tag, und
die heiter gestimmte Gesellschaft begab sich nun an einen Teich, um
Kühlung zu suchen. Aristobulus mischte sich unter die anderen und
beteiligte sich neben den übrigen jungen Leuten aus dem Gefolge
des Herodes an verschiedenen gymnastischen Übungen im Wasser.
Da tauchten einige dieser Jünglinge Aristobulus gleichsam zum
Scherze unter und hielten ihn so lange nieder, bis sie ihn ertränkt
hatten. So wurde der Jüngling als Leiche aus dem Wasser gezogen.
Die Kunde von dem „Unfall“ erregte allgemeines Entsetzen. Auch
der König trug Trauer zur Schau und beweinte den vorzeitigen Tod
des Hohepriesters; er veranstaltete ein prunkvolles Leichenbegängnis
und weinte bitterlich vor dem gesamten Volke. Allein niemand glaubte
an die Aufrichtigkeit seines Schmerzes. Die vom Kummer nieder-
gedrückte Alexandra sowie alle in die Geheimnisse des Hofes Ein-
geweihten wußten nur zu gut, daß der Tod Aristobulus III. ein „Zu-
fall“ war, den man aufs sorgfältigste vorbereitet hatte. Auch der
Volksmund machte für diesen tragischen Tod keinen anderen als
Herodes verantwortlich.
§ 48. Herodes, Antonius und Kleopatra
Der Tod Aristobulus III. verschärfte das Zerwürfnis in der Fa-
milie des Herodes noch mehr. Seit diesem Augenblicke mochte in
dem Herzen der Königin Mariamme jener Groll gegen ihren Gatten
entstanden sein, der ihr späterhin zum Verhängnis werden sollte.
Auch Alexandra war von Rachedurst ganz erfüllt und trat von neuem
mit Kleopatra in Verbindung. Auf die eindringliche Bitte der Alex-
andra veranlaßte nun die ägyptische Königin Antonius, den Herodes
für das ihm zur Last gelegte Verbrechen zur Verantwortung zu zie-
264
§ 48. Herodes, Antonius und Kleopatra
hen. Als Antonius dann, im Frühjahr des Jahres 34, auf dem Feld-
zuge gegen Armenien in dem kleinasiatischen Laodicea eintrat, lud
er den judäischen König vor, um Rechenschaft von ihm zu verlangen.
Herodes sah das Bedrohliche seiner Lage wohl ein, wagte jedoch
nicht, den Gehorsam zu verweigern. Vor Antritt der Reise, deren
Ausgang ganz ungewiß war, übergab der König die Regierungsge-
schäfte seinem Schwager Joseph, dem Gatten seiner Schwester Sa-
lome, und legte ihm namentlich die Überwachung des königlichen
Hauses ans Herz. Dabei erteilte er Joseph den geheimen Befehl, falls
er nach Judäa nicht zurückkehren sollte, die Königin Mariamme um-
zubringen. Diesen scheußlichen Befehl entschuldigte der König damit,
daß er in seiner leidenschaftlichen Liebe zu seiner Gattin den Ge-
danken nicht ertragen könne, sie nach seinem Tode einem anderen
überlassen zu müssen, am Ende gar dem Wollüstling Antonius, den
er schon längst in Verdacht hatte, Mariamme zu begehren.
Schweren Herzens, aber auch mit imponierenden Geschenken er-
schien nun Herodes in Laodicea vor Antonius. Trotz seiner Befürch-
tungen gelang es dem Herodes mit Leichtigkeit, den Zorn seines Ge-
bieters zu beschwichtigen. Es wirkten sowohl die dem Antonius und
der Kleopatra dargebrachten prächtigen Geschenke wie auch die
Schmeichelreden des geschmeidigen Vasallen, ferner auch Staatserwä-
gungen zusammen, da man Herodes nicht fallen lassen konnte, ohne
zugleich den Interessen der römischen Politik in Judäa Abbruch zu
tun. So wurde denn Herodes von seinem Gebieter in Gnaden entlassen
und kehrte wohlbehalten nach Jerusalem zurück.
In seinem eigenen Hause fand jedoch Herodes bei weitem nicht al-
les in Ordnung. Während seiner Abwesenheit verbreitete sich nämlich
in Jerusalem das falsche Gerücht, daß er auf Befehl des Antonius
bereits ums Leben gebracht worden sei. Dies löste im Palaste eine
große Verwirrung aus. Schon wollten Alexandra und die Königin
Mariamme bei der in der Nähe von Jerusalem lagernden römischen
Legion Schutz suchen. Der Reichsverweser Joseph versprach den
Frauen seinen Beistand. Von der edlen Persönlichkeit der Mariamme
bezaubert, eröffnete ihr Joseph aber noch überdies das schreckliche
Geheimnis von dem sie betreffenden Befehle des Herodes. Diese Ent-
deckung erfüllte das Herz der Mariamme mit Entrüstung und stei-
gerte noch mehr ihren Haß gegen ihren königlichen Gemahl. Herodes
erfuhr nun von seiner Schwester Salome vieles von dem, was sich
205
Der König Herodes I.
in seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Das böse Weib haßte aus dem
Grunde ihres Herzens ihre stolze Schwägerin Mariamme, die Salome
ihrer niederen Abstammung wegen stets von oben herab behandelte;
außerdem mochte in Salome auch noch das Gefühl der Eifersucht
aufgekommen sein, veranlaßt durch die freundliche Anteilnahme
ihres Mannes Joseph an dem Schicksal der schönen Mariamme. So
ließ sich denn Salome hinreißen, ihrem Bruder den ganzen Flucht-
plan der Hasmonäerinnen aufs lebhafteste zu schildern, und unterließ
es dabei auch nicht, seine Aufmerksamkeit auf die Vertraulichkeiten
des Joseph mit der Königin zu lenken. Durch all dies aufgestachelt,
vermochte Herodes kaum seiner Wut Herr zu werden. Nach einer
ganzen Reihe von heftigen Familienauftritten befahl er, den Joseph
hinzurichten. Die ihm verhaßte Alexandra vermochte er jedoch nicht
zu bestrafen, wie es ihn gelüstete, da er die Einmischung ihrer Be-
schützerin Kleopatra befürchten mußte, und er beschränkte sich daher
auch fernerhin auf ihre strengste Überwachung. Was aber Mariamme
selbst betrifft, so stand auch sie nunmehr in dem schweren Verdacht
sowohl der ehelichen Untreue als auch der politischen Unzuverlässig-
keit. Nur seine leidenschaftliche Liebe vermochte diesmal den König
von einem nicht mehr gutzumachenden Schritt der Königin gegenüber
zurückzuhalten. Zwar war Mariamme des Ehebruchs völlig grundlos
angeschuldigt, es konnte aber kaum noch zweifelhaft sein, daß sie mit
ihren politischen Sympathien durchaus nicht auf Seiten des Herodes
stand. Für sie war der Gatte von dem König, dem geschworenen
Feinde ihrer Familie und dem Mörder ihres Bruders, nicht mehr zu
trennen.
Wie wenig glich dieser judäischen Königin, dem Sinnbild der
Reinheit und des Edelmutes, die ägyptische Königin Kleopatra, die
verkörperte Lasterhaftigkeit, der böse Dämon des gesamten Morgen-
landes! Aus allen politischen Wirren jener Zeit zog sie nur für sich
allein Vorteil. Sie erreichte es, daß Antonius ihr einen Teil des gali-
läischen Uferlandes sowie eine der fruchtbarsten Gegenden Judäas,
nämlich die Gegend von Jericho mit den überaus ertragreichen Dat-
telpalmen- und Balsampflanzungen, zum Geschenk gab. Dem Herodes
blieb so nichts anderes übrig, als seinen eigenen ihm entwendeten ge-
winnbringenden Besitz bei Kleopatra zu pachten und der Königin da-
für alljährlich einen hohen Pachtzins zu entrichten. Überdies mußte
er noch der Kleopatra, als sie auf dem Wege von Syrien Judäa pas-
266
§ 49. Herodes und Octavianus Augustus
sierte, verschiedene Ehren erweisen. Freilich brachte die ägyptische
Königin als sie in Jerusalem bei Herodes zu Gast weilte, auch ihrer-
seits dem König Wohlwollen entgegen und versuchte sogar, in nähere
Beziehungen zu ihm zu treten und ihn in ihre Netze einzufangen; da-
zu mochten sie sowohl politische Erwägungen als auch der unstillbare
Drang nach dem Triumph über Königsherzen bewogen haben. Allein
Herodes gelang es, allen Nachstellungen klug aus dem Wege zu gehen.
Inzwischen kam aber der Sturz des allmächtigen, über die Ge-
schicke des Orients eigenwillig waltenden Paares immer näher. Im
Jahre 32 entbrannte ein Krieg zwischen den beiden römischen Herr-
schern Antonius und Octavianus. Herodes wollte seinem Schutzherrn
Antonius mit seinem Heere zu Hilfe eilen, auf Verlangen der Kleo-
patra trug ihm indessen dieser auf, den Judäa benachbarten arabi-
schen König Malchus zu bekriegen, der der ägyptischen Königin für
einen von ihm abgetretenen Teil des arabischen Landgebietes den Tri-
but nicht pünktlich genug entrichtete. Der Kleopatra kam es in ihren
politischen Plänen durchaus zustatten, daß beide Vasallen, der ju-
däische und der arabische, sich gegenseitig durch ihren Kampf
schwächten. Der Krieg des Herodes gegen die Araber zog sich in der
Tat in die Länge und forderte unzählige Opfer; er endete aber mit
einem Siege des judäischen Königs, der das benachbarte arabische
Gebiet unterwarf und es der Vormundschaft Judäas unterstellte; auch
verpflichteten sich die Araber, dem Herodes für das an den nördlichen
Teil ihres Reiches, an Damaskus, angrenzende umstrittene Gebiet
einen Tribut zu entrichten. Kleopatra, die sich um diese Zeit bereits
am Rande des Verderbens befand, war nicht mehr in der Lage, der
Eroberungspolitik des Herodes, zu der sie selbst Anlaß gegeben hatte,
Einhalt zu gebieten.
Während dieses Krieges wurde Judäa von einem schweren Un-
glück heimgesucht: ein fürchterliches Erdbeben zerstörte zahllose Ge-
bäude im Lande, unter deren Trümmern viele Tausende von Menschen
und eine Unmenge Vieh begraben wurden (3i).
§ 49. Herodes und Octavianus Augustus
Mittlerweile war die für die gesamte römische Geschichte so ent-
scheidende Schlacht bei Aktium geschlagen worden (3i). Der end-
gültig niedergerungene Antonius floh nach Ägypten und Octavianus
267
Der König Herodes /.
wurde der alleinherrschende Gebieter Roms. Die weltbezwingende Re-
publik wurde alsbald in ein Imperium umgewandelt, und Octavianus
selbst erhielt den Beinamen Augustus, wie es sich für eine „sakro-
sankte“ Persönlichkeit, die „von Gottes Gnaden“ regierte, ge-
ziemte (27).
Herodes, der es bis dahin mit dem gestürzten Herrscher gehalten
hatte, mußte nun auch um sein eigenes Los besorgt sein. Er war über-
zeugt, daß Octavianus ihn für seine treue Ergebenheit dem Antonius
gegenüber unnachsichtig bestrafen werde. Allerdings hatte sich
Herodes unmittelbar an dem Kriege des Antonius gegen Octavianus
nicht beteiligt, da er um jene Zeit ganz von dem arabischen Feldzug
in Anspruch genommen war; dem neuen Herrscher Roms konnte es
jedoch nicht unbekannt geblieben sein, daß Herodes mit seinen Sym-
pathien ganz auf Seiten des Antonius gestanden hatte. Um sich aus
der schwierigen Lage herauszuwinden, griff nun Herodes zu jenen
gewandten politischen Schachzügen, deren sich in ähnlichen Fällen
sein Vater Antipater so erfolgreich zu bedienen wußte. Gleich nach
der Schlacht bei Aktium, als sich ihm eine Gelegenheit bot, dem Sie-
ger Octavianus einen Kriegsdienst zu erweisen, vollzog er die Schwen-
kung: eine Schar von Gladiatoren, die Antonius in Syrien unterhielt,
versuchte nämlich von dort nach Ägypten ihrem Herrn zu Hilfe zu
eilen; da vereinigte Herodes schleunigst seine Kräfte mit denen des
syrischen Statthalters Didius, und es gelang ihnen gemeinsam, den
aufrührerischen Trupp zu vernichten.
Nachdem Herodes so seine Vasallentreue dem neuen Gebieter be-
kundet hatte, machte er sich auf, um persönlich vor ihm zu erschei-
nen. Noch war er durchaus nicht sicher, was für ein Empfang ihm
bei Octavianus zuteil werden würde, und seinem angstvollen Gemüte
schien auch der Ausgang nicht ausgeschlossen, daß der Imperator ihn
entthronen und den Vertreter der alten Hasmonäerdynastie, den grei-
sen Hyrkanus II., als König in Judäa einsetzen würde. Der achtzig-
jährige Greis brachte mittlerweile seinen Lebensabend in Jerusalem
zu, fern von allen politischen Geschäften, ohne den geringsten An-
spruch auf Macht; dem Herodes war jedoch in der kritischen Lage,
in der er sich befand, schon die Tatsache allein ungelegen, daß ein
Mann da war, der das Recht auf die Königswürde besaß und mög-
licherweise zum Werkzeuge einer Staatsumwälzung werden konnte.
Außerdem schien dem König das Verhalten seiner Schwiegermutter
§ 49. Her ödes und Octavianus Augustus
Alexandra wieder einmal überaus verdächtig. Das rastlose Weib be-
reitete von neuem den Boden für eine Hasmonäer-Restauration für
den Fall eines Sturzes des ihr verhaßten Schwiegersohnes vor. Es ge-
lang ihr, ihren willenlosen Yater Hyrkan zu überreden, für eine Zeit
lang bei dem arabischen König Schutz zu suchen, bis zur Klärung
der Sachlage in Judäa, die ja bei einer günstigen Schicksalswendung
den Hasmonäern wieder den Thron verschaffen konnte. Will man
dem den Annalen des Herodes entnommenen Bericht (des Nicolaus
Damascenus) Glauben schenken, so gelang es dem Herodes, einem
Briefwechsel des Hyrkan mit dem arabischen Fürsten dieses Inhaltes
auf die Spur zu kommen, und er soll auch die Hyrkan bloß stellende
Korrespondenz dem Syrihedrion vorgelegt haben. Die Folge all
dieser Intrigen war die, daß Hyrkan des Landesverrats ange-
klagt und zum Tode verurteilt wurde. So fiel durch die Hand des
Henkers der ehemalige hohepriesterliche Ethnarch, der nahezu vierzig
Jahre im Mittelpunkt der tiefstgreifenden Krisen im Leben Judäas
gestanden hatte und dem höchstens zur Last gelegt werden könnte,
daß er durch seine Sanftmut selbst die Bahn für die Tyrannenherr-
schaft der Antipatriden, die Verderber seiner Dynastie, freigelegt hatte.
Ehe sich Herodes auf den Weg zu Augustus machte, ergriff er
die gewohnten Maßnahmen. Seine Gemahlin und seine Schwieger-
mutter schickte er nach der Festung Alexandrium und unterstellte sie
dort der Obhut des Ituräers Soemus. Dabei erhielt Soemus, wie einst
Joseph, den geheimen Befehl, die beiden Frauen umzubringen, falls
Herodes ein Unglück zustoßen sollte. Erst nachdem alle diese xAnord-
nungen getroffen waren, begab sich Herodes nach Rhodus, wo sich
damals Octavianus aufhielt. Hier setzte nun der Despot die Larve der
Demut auf. Er streifte sein königliches Diadem ab und erschien vor
dem Gebieter Roms als ein treuergebener Vasall, dem der Wille des
Souveräns als höchstes Gesetz gelte. In seiner Rechtfertigungsrede
machte er nicht nur kein Hehl aus seiner Vasallentreue dem Antonius
gegenüber, sondern betonte sie sogar geflissentlich, indem er sich
seine Handlungsweise zu einem besonderen Verdienste anrechnete. Er
suchte zu beweisen, daß sein dem Antonius geleisteter Beistand vor
allen Dingen den orientalischen Interessen Roms zugute kommen
sollte, so daß auch jeder andere Herrscher des römischen Imperiums
in ihm einen treuen Diener und ergebenen Verbündeten finden würde.
Dem politischen Scharfblick des Octavianus konnte es nicht entgehen,
269
Der König Herodes L
daß Herodes in der Tat der zuverlässigste, wenn auch durchaus nicht
uneigennützigste Freund und Verbündete der Römer im Orient war,
und daß seine Dienste in dem bevorstehenden Kriegszug nach Ägyp-
ten sehr wohl verwertet werden konnten. So nahm er denn Herodes,
in Gnaden auf und bestätigte ihn in seiner königlichen Würde, in-
dem er ihm das Diadem wieder aufsetzte (3o). Wider allgemeines
Erwarten kehrte Herodes wohlbehalten nach Judäa zurück, hoch er-
freut über die glückliche Wendung, die sein Schicksal genommen
hatte.
Voll Erkenntlichkeit beeilte sich jetzt der König Judäas, seinem
neuen Gebieter alle möglichen Dienste zu erweisen. Als Octavianus
bald darauf, von Kleinasien kommend, an der palästinischen Küste
entlang nach Ägypten zog, bereitete ihm Herodes in Ptolemais einen
prunkvollen Empfang und versah sein Heer reichlich mit allem Nö-
tigen. Auch beschenkte er den Octavianus mit derartig großen Geld-
summen, daß es schier unbegreiflich scheinen konnte, wie der Regent
eines winzigen Staates sie aufzubringen vermochte. Der Diensteifer
des jüdischen Vasallen blieb auch nicht ohne Relohnung. Nach Be-
endigung des siegreichen ägyptischen Feldzuges, als Octavianus das
ehemalige Ptolemäerreich, unter dessen Trümmern auch Antonius mit-
samt der Kleopatra ihr Grab gefunden hatten, in eine römische Pro-
vinz verwandelte, versäumte er es nicht, seinen treuen Verbündeten
in freigebigster Weise zu entlohnen. So gab Octavianus dem Herodes
nicht nur die von Kleopatra in Besitz genommene Landschaft von
Jericho zurück, sondern gliederte überdies seinen Besitzungen noch
eine Reihe halb-griechischer Städte an der Meeresküste (Jaffa, Gaza,
Stratonsturm u. a.) sowie das Gebiet von Samaria an. Auf diese Weise
kam Judäa von neuem in den Besitz eines Teiles des ihm seinerzeit
von Pomp ejus entrissenen Gebietes. Nun stand Herodes an der Spitze
eines Staates mit erweitertem Territorium, als Verbündeter und Klient
Roms, der sich mehr denn je in seiner Stellung sicher fühlen durfte
(Ende des Jahres 3o).
§ 50. Die Hinrichtung der Mariamme und der letzten Hasmonäer
Die freudige Erregung des Herodes nach seiner Rückkehr aus
Rhodus schwand sogleich, als er in den Kreis seiner Familie trat.
Seine Gattin Mariamme und seine Schwiegermutter Alexandra fand
§ 50. Die Hinrichtung der letzten Hasmonäer
er in äußerster Verstimmung. Beide Frauen begriffen sehr wohl,
daß sie während der Abwesenheit des Königs weniger um ihrer per-
sönlichen Sicherheit willen auf der Burg Alexandrium zurückgehalten
worden waren, als vielmehr darum, um so schärfer überwacht werden
zu können. Außerdem gelang es der Mariamme auch diesmal, dem
Wacheobersten Soemus das furchtbare Geheimnis des königlichen Be-
fehls zu entlocken, der beide Frauen im Falle des Unterganges des
Herodes zum Tode verurteilte. Die Königin konnte es nun nicht län-
ger über sich bringen, mit einem Manne zusammenzuleben, der den
Tod ihres Bruders und ihres Großvaters auf dem Gewissen hatte, und
nun auch sie wie ihre Mutter dem Verderben preiszugeben bereit war.
Sie hoffte, daß der Zorn des Octavianus sie von dem verhaßten Gat-
ten erlösen würde, mußte aber durch dessen Wiederkehr eine schwere
Enttäuschung erleben. Als nun der König von seiner Reise nach Rho-
dus überglücklich heimgekehrt war, empfing ihn die jeder Heuche-
lei abholde Mariamme mit unverhohlener Feindseligkeit. Dieser offen
zur Schau getragene Haß des ihm am nächsten stehenden Wesens,
von dem Herodes eher Freude über seinen Sieg erwartet hätte, ver-
setzte den König in Verwirrung und verletzte ihn aufs tiefste. He-
rodes liebte seine Gattin inbrünstig, jedoch war die Liebe, die er ihr
entgegenbrachte, von einer so sinnlichen, selbstsüchtigen Art, daß sie
gar nicht danach angetan war, der Seelenverfassung der Geliebten
Rechnung zu tragen. Durch das Verhalten seiner Gemahlin gekränkt,
empfand er nun vor allem einen unstillbaren Rachedurst. So wäre er
denn bereit gewesen, sie auf der Stelle umbringen zu lassen, und
wenn ihn noch irgend etwas davon zurückhielt, so war es gewiß nicht
das Mitgefühl mit dem unglückseligen Weibe, sondern viel eher die
selbstsüchtige Erwägung, daß ihr Tod, der seine Liebesglut nicht
aus|zulöschen vermocht hätte, für ihn eine viel härtere Strafe bedeu-
ten würde als für sie selbst.
Während der König so zwischen Leidenschaft und Rachedurst hin
und her schwankte, versäumten seine nächsten Angehörigen nicht,
durch ihre Ränke seine Rachegefühle zu schüren. Die Schwester des
Herodes, Salome, und seine Mutter Kypros waren es nämlich, die,
von Haß und Mißgunst gegen die stolze Hasmonäerin erfüllt, den
König in jeder Weise gegen Mariamme auf stachelten. Eines Tages,
als Herodes von neuem von seiner Gattin abgewiesen wurde und
darüber in äußerste Erregung geriet, nützte Salome diese Gelegenheit,
Der König Herodes I.
um durch einen von ihr bestochenen Diener dem Könige hinterbrin-
gen zu lassen, Mariamme hätte diesen zu bewegen gesucht, dem He-
rodes einen Gifttrank zu reichen. Der auf der Folter verhörte Eunuch
der Mariamme konnte über die Wahrheit dieser Denunziation nichts
aussagen, bekannte aber, daß der Haß der Königin gegen ihren Ge-
mahl in dem ihr verratenen, dem Soemus erteilten Geheimbefehl sei-
nen Grund hätte. Da stieg der Grimm des Herodes bis zur Raserei.
In der verräterischen Offenheit des Soemus erblickte er einen Beweis
für dessen unerlaubten Verkehr mit Mariamme und beschuldigte sie,
wie schon einmal bei dem ähnlichen Vorfall mit Joseph, in hef-
tigster Weise des Ehebruchs. Den Soemus ließ der König unverzüg-
lich hinrichten, während er seine Gattin dem Gerichte übergab. Zu
Richtern wurden Freunde und Getreue des Herodes bestellt, wobei
der König in der Gerichtsverhandlung seine Gemahlin in eigener Per-
son ungestüm der fürchterlichsten Verbrechen anklagte. Der Stim-
mung des Königs Rechnung tragend, verurteilten die ihm gefälligen
Richter die Angeklagte zum Tode.
Noch im letzten Augenblick zögerte der König, in dem seine
Leidenschaft zu der Verurteilten von neuem wach wurde, das Ur-
teil vollstrecken zu lassen. Die niederträchtige Salome brachte es je-
doch fertig, ihn zu überzeugen, daß eine Hinausschiebung der Hin-
richtung politische Gefahr mit sich bringen müsse, da das Volk sich
zur Befreiung der Königin erheben könnte. So wurde Mariamme zum
Tode geführt. Stolz und unerschütterten Gemütes schritt die Königin
zum Schafott. Aber auch in diesem letzten Augenblick blieb ihr ein
häßlicher Auftritt nicht erspart. Die von Schrecken gepackte Mutter
der Königin, Alexandra, wollte nämlich jeden Verdacht einer Mit-
schuld an den ihrer Tochter zur Last gelegten Verbrechen von sich
abwälzen und fand kein besseres Mittel dazu, als die zum Richtplatz ge-
führte unglückselige Mariamme mit Schmähungen und Schimpfre-
den zu überhäufen. Zu dieser schmählichen Heuchelei mochte Alex-
andra vielleicht der verborgene Wunsch bewogen haben, ihr Leben
um jeden Preis zu erhalten, um sich dereinst an dem verhaßten Ver-
derber ihres Geschlechtes rächen zu können. Aber auch dieses Motiv
würde nur von der geistigen Perversität dieser Politik treibenden Frau
zeugen, in der der Haß gegen ihren Schwiegersohn jedes Mitgefühl
für ihre eigene Tochter zu verdrängen vermochte. Mariamme hatte
nur einen mitleidigen Blick für ihre Mutter und setzte ihren letzten
§ 50. Die Hinrichtung der letzten Hasmonäer
Gang lautlos und gelassen fort, dem Alltag entrückt und durch die
Glorie des Heldentodes verklärt. In blühendem Alter und in strah-
lender Schönheit schied dieses Opfer ihrer patriotischen Gesinnung
und Hochherzigkeit, die würdige Tochter des Hasmonäergeschlechtes,
aus dem Leben (Ende des Jahres 29).
Herodes hatte sich nun der Mariamme entledigt, nicht so leicht
aber vermochte er, seine Leidenschaft zu ihr aus dem Herzen zu til-
gen. Ja, jetzt erst loderte diese Leidenschaft mit aller Wucht auf.
Verzweiflung und Sehnsucht nach dem unwiederbringlichen, von ihm
selbst zerstörten Glücke marterten die Seele des Tyrannen. Verge-
bens suchte er seinen Kummer durch Belustigungen, Gastmähler und
Trinkgelage zu verscheuchen: überallhin verfolgte den Mörder die
blendende Gestalt der Mariamme. In Anwandlungen wahnsinniger
Sehnsucht vergoß Herodes bitterste Tränen, rief Mariamme beim Na-
men und gebot auch seinen Dienern, laut nach ihr zu rufen, um sich,
wenn auch nur für einen Augenblick, Vortäuschen zu können, als sei
sie noch am Leben, als könne sie noch Antwort geben. Schließlich
begab sich Herodes, um seines Kummers Herr zu werden, in weit ab-
gelegene Gegenden, wo er sich ganz der Jagd und allerlei Ausschwei-
fungen hingab. In Samaria befiel ihn indessen ein gefährliches Siech-
tum. Bald verbreitete sich das Gerücht, der König sei unheilbar krank.
Die durch die letzten Ereignisse ganz niedergedrückte Schwieger-
mutter des Königs, Alexandra, die damals in Jerusalem weilte,
schöpfte nun neuen Mut. Während Herodes in Samaria krank darnie-
derlag, traf das ruhelose Weib Vorbereitungen, um sich im Falle
seines Todes die Regentschaft zu sichern. Sie versuchte die Komman-
danten der beiden Festungen der Hauptstadt für sich zu gewinnen,
indem sie als Grund für ihr Machtstreben den Wunsch vorgab, den
Thron für die minderjährigen Söhne des Herodes und der Mariamme
bereit zu halten. Die dem König ergebenen Kommandanten fanden
es jedoch für richtig, ihm darüber Bericht zu erstatten. Noch war
der König von seiner Krankheit nicht ganz genesen, als er schon den
Befehl gab, seine Schwiegermutter mit dem Tode zu bestrafen (28).
Die ehrgeizige und rachsüchtige Frau machte ihrem Schwiegersöhne,
als seine gefährlichste Gegnerin, nicht wenig Sorge, aber auch sie
ging zugrunde, ohne auch nur den kleinsten ihrer politischen Pläne
verwirklicht zu haben. Mit dem Tode der Alexandra war das letzte
Mitglied des Hasmonäerhauses, das für die Rechte dieser Dynastie
18 Dubnow Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
273
Der König Herodes 1.
gekämpft hatte, aus dem Leben geschieden. So fielen in der kurzen
Zeitspanne von sieben Jahren als Opfer des .Grimmes des Herodes
die Vertreter dreier hasmonäischer Generationen: der Großvater (Hyr-
kan), die Mutter (Alexandra) und die Enkelkinder (Aristobul III.,
Mariamme).
Nun blieb Herodes nur noch übrig, die letzten, entfernten Zweige
des hasmonäischen Stammes abzuschlagen. Noch war die den Has-
monäern verwandte Familie der Bne-Baba am Leben, die einstmals
den König Antigonus in seinem Kampfe gegen Herodes unterstützt
hatte. Damals, als der auf den Thron gekommene Herodes die Par-
teigänger des Antigonus ausrottete, gelang es dieser Familie, dem kö-
niglichen Zorne zu entgehen. Einer der Befehlshaber der königlichen
Wache, Kostobarus, erbarmte sich nämlich der Unglücklichen und
verbarg sie zwölf volle Jahre an einem entlegenen Orte. Endlich wurde
aber ihr Versteck entdeckt, und zwar auf folgende Weise: Kosto-
barus hatte die nach der Hinrichtung ihres Mannes Joseph verwit-
wete Schwester des Herodes, Salome, zum Weibe genommen und
wurde darauf in das Amt des Statthalters von Edom eingesetzt. Als
Nachkomme eines edomitischen Priestergeschlechtes trug sich Kosto-
barus von jeher mit dem Plane, seine Heimat von der Gewalt Ju-
däas zu befreien, und trat seinerzeit sogar in geheime Unterhandlun-
gen darüber mit der Königin Kleopatra. Als es dann später zu einem
Zerwürfnis zwischen Salome und ihrem Manne kam, verriet sie, um
ihn zu verderben, dem Herodes gleichzeitig zwei von ihm begangene
Verbrechen: die mit Kleopatra gepflogenen Verhandlungen und auch,,
daß er zwölf Jahre lang die Familie Bne-Baba versteckt hielt. So-
bald die Angebereien der Salome sich als wahr erwiesen hatten, ließ
Herödes den Kostobarus hinrichten, und auch die Familie Bne-Baba
wurde aus ihrem Versteck geholt und gleichfalls umgebracht (2 5).
§ 51. Neugründungen und Bauten
Die ersten zwölf Jahre der Herrschaft des Herodes waren von dem
unablässigen Kampfe um die Befestigung seiner Macht ausgefüllt.
Es gelang ihm durch Gewandtheit oder durch Grausamkeit, durch
Kunstgriffe eines Diplomaten oder durch Maßregeln eines Despoten,
alle ihm in den Weg tretenden äußeren und inneren Widerstände zu
überwinden. Er überlebte den Sturz des Antonius und der Kleopatra.,
§ 5i. Neugründungen und Bauten
gewann die Gunst des zum Imperator Augustus gewordenen Octavia-
nus, schaufelte das Grab für die letzten Mitglieder des Hasmonäer-
hauses und vernichtete oder verscheuchte somit alle seine gefährli-
chen politischen Widersacher. Nun konnte er in Ruhe über ein be-
schwichtigtes Land, über ein niedergehaltenes Volk herrschen. Es be-
ginnt die zweite Periode seiner Regierung (2 5—i4), die Periode des
äußeren Glanzes und Wohlstandes, der allerdings nicht dem Volke,
sondern allein dem Könige mitsamt den regierenden Gesellschaftskrei-
sen zugute kam.
Seiner Abstammung nach ein Fremdling, den Volksidealen durch-
aus fernstehend und einzig und allein die Lebensweisheit der grie-
chisch-römischen Welt als Richtschnur anerkennend, regierte Herodes
in Judäa viel eher wie ein fremdländischer Statthalter denn als ein
nationaler Herrscher. Den Maßstab aller seiner Handlungen bildete
das Bestreben, seinem Souverän, dem Kaiser Augustus, gefällig zu
sein, in der höchsten internationalen Gesellschaft Roms einen guten
Ruf zu genießen und als Träger der griechisch-römischen Kultur in
dem „zurückgebliebenen“ Judäa zu gelten. Gleich der Mehrzahl der
stets von fremder Weisheit zehrenden Weltmänner verstand auch er
nur, blindlings dem nachzueifern, was im gegebenen Augenblick in
den „höchsten Sphären“ als Mode galt. Äußerer Glanz, prächtige
Bauten, königlicher Prunk, lärmende Prozessionen, öffentliche Wett-
kämpfe und Schauspiele — zu alledem fühlte er sich unwiderstehlich
hingezogen, und zwar aus dem Grunde, weil dies alles auch in der
„großen Welt“ Roms in höchstem Ansehen stand und weil durch
Bemühungen um all diese Dinge man sich bei den Großen und Mäch-
tigen berühmt und beliebt machen konnte.
So ging denn auch Herodes, sobald er der drückendsten häus-
lichen und politischen Sorgen ledig geworden war, an die Verpflan-
zung der neuen Kultur nach Judäa. Um seine Hauptstadt Jerusalem
den anderen Residenzen seiner Zeit ähnlich zu machen, ließ er mitten
in der Stadt nach griechischem Vorbild ein Theater erbauen und
außerhalb der Stadt, unter freiem Himmel, ein riesiges Amphitheater.
Derartige Bauten nebst öffentlichen Spielplätzen wurden auch in der
neuen „Kaiserstadt“ Caesarea angelegt, die Herodes als Musterbei-
spiel einer griechisch-römischen Stadt in Judäa erbauen ließ. Um
jene Zeit war es Sitte geworden, in den verschiedenen Provinzen des
römischen Reiches öffentliche Festspiele zu Ehren des Imperators
18*
275
Der König Herodes 1.
Augustus zu veranstalten; besonders berühmt waren dabei die in
den September fallenden Aktiaden, die man zum Andenken an den
Sieg bei Aktium nach der Art der griechischen Olympiaden fest-
setzte. Herodes hielt nun diese Zeremonien peinlichst und führte auch
in Judäa Volksspiele zu Ehren des Caesar ein, die alle vier Jahre statt-
fanden. Zu den Caesarspielen pflegte er Teilnehmer und Zuschauer
aus allen Enden Judäas und sogar aus anderen Ländern einzuladen.
In den Amphitheatern und Rennbahnen spielten sich die Wettkämpfe
der Athleten, Gymnasten und Musikanten ab, und auch Kämpfe von
Menschen mit wilden Tieren, wobei die Sieger kostbare Preise davon-
trugen. Das bunte Gemisch von Artisten und Gauklern aus aller Her-
ren Ländern, der Lärm der müßigen und genußsüchtigen Volks-
menge, die rohen Belustigungen — all dies mußte in Jerusalem, in
dieser keuschen, geistig hochstehenden Hauptstadt, wo schon andert-
halb Jahrhunderte früher die gleichen Neuerungen der Hellenisten
einer der Hauptgründe der Volkserhebung gewesen waren, einen über-
aus befremdenden Eindruck erwecken.
Die geistigen Führer des Volkes sowie die patriarchalisch gesinn-
ten Volksmassen verwahrten sich auch jetzt gegen die modischen
Neuerungen. Dieser Protest fand meist seinen Ausdruck in einem pas-
siven Widerstand: die Mehrzahl der Juden hielt sich von den
ihr religiöses oder sittliches Empfinden verletzenden Schauspielen fern.
Namentlich dem jüdischen sittlichen Gefühle widersprach es,
wenn beispielsweise so grausame Belustigungen veranstaltet wurden,
wie die Gladiatorenkämpfe mit den wilden Tieren, Kämpfe, in de-
nen „Menschen zur Ergötzung anderer Menschen wilden Bestien vor-
geworfen wurden“. Auch widerstrebte es besonders dem religiösen
Gefühl der Jerusalemer Bevölkerung, wenn an öffentlichen Plätzen
„Trophäen“, das waren Gliederpuppen in Rüstungen, aufgestellt wur-
den, die den Eindruck von Götzenbildern machten. Die dadurch ent-
standene Volkserregung ging einmal so hoch, daß Herodes zur Be-
schwichtigung der Geister es für ratsam fand, vornehme Bürger ins
Theater einzuladen, um vor ihnen die „Trophäen“ ihres Schmuckes
zu entkleiden und so zu zeigen, daß die vermeintlichen Götzenbilder
nichts als schlichte Holzklötze seien. Indessen reizten das Volksgefühl
weniger die einzelnen Neuerungen wie deren Gesamtheit, das ganze
System des „aufgeklärten Despoten“, der im Lande fremdländische
Sitten heimisch machen wollte. Schon reiften in den erhitzten Köpfen
276
§ 51. Neugründungen und Bauten
terroristische Pläne. Zehn Jerusalemer Bürger bildeten eine Verschwö-
rung, um den durch seine Neuerungen die heilige Stadt entweihenden
König zu beseitigen. Die Verschwörer erschienen mit in ihren Klei-
dern versteckten Dolchen im Theater, wurden aber noch im letzten
Augenblick ergriffen, da Herodes durch einen seiner Kundschafter
rechtzeitig gewarnt worden war. Bei dem Verhör gestanden die Ver-
hafteten freimütig ihr Vorhaben ein, das sie als eine patriotische Hel-
dentat verherrlichten. Sie wurden unter vielfachen Martern hingerich-
tet. Die Sympathien des Volkes gehörten dabei ganz den politischen
Märtyrern. Darum wurde auch der Spion, der die Verschwörer ver-
raten hatte, später vom Volke aufgegriffen und in Stücke gerissen.
Der König vergalt diesen Ausbruch des Volkszornes mit neuen Un-
terdrückungsmaßnahmen und mit einer Verschärfung des polizeili-
chen Druckes.
Eine besondere Leidenschaft hegte Herodes für die Errichtung
prächtiger Bauten und Denkmäler. Es machte ihm Freude, neue
Städte zu gründen und die alten in modernem, griechisch-römischem
Stile umbauen zu lassen. Die neuerbauten Städte taufte er auf die
Namen der Mitglieder des römischen kaiserlichen Hauses oder auf
die der Angehörigen seiner eigenen Dynastie. In der Jerusalemer
Oberstadt ließ sich der König einen Palast erbauen, der durch seine
Pracht und durch den hohen Wert der Baumaterialien (ganz ver-
schwenderisch wurde dabei Marmor und Gold verwendet) von den
früheren bescheidenen Palästen der Hasmonäer merklich abstach. Der
Palast war auch mit starken Befestigungen versehen, die zugleich zur
Verteidigung der Oberstadt dienen sollten. Zu Verteidigungszwecken
wurde außerdem der Turm auf dem Tempelberge umgebaut und auf
den Namen Antonia umgetauft. Große Sorgfalt verwendete Herodes
auch auf die Wiederherstellung der hellenisierten Stadt Samaria, die
ehedem unter Jochanan-Hyrkanus zerstört und unter Pompejus nur
zum Teil wieder auf gebaut worden war. Für diese Stadt war Herodes
besonders eingenommen und machte sie zu seiner zweiten Residenz.
Er ließ dort eine starke Festung errichten sowie einen heidnischen
Tempel zu Ehren des Augustus. Die Stadt erhielt den griechischen
Namen Sebaste, was mit dem lateinischen „Augustus“ („heilig“)
gleichbedeutend war. „Die heilige Stadt des Augustus“ bildete gleich-
sam ein Gegenstück zu der heiligen Stadt Jahves und der jüdischen
Nation, zu Jerusalem.
277
Der König Her ödes I.
An der Meeresküste zwischen Ptolemais und Jaffa, an dem Orte,
der den Namen Stratonsturm trug, gründete der König eine neue Ha-
fenstadt, die er Caesarea (Kaisarea, Kisrin), gleichfalls zu Ehren des
römischen Caesar, benannte. Der hier von Herodes angelegte Hafen
war durch seine außergewöhnlichen Vorrichtungen weit berühmt. Im
Mittelpunkte der neuen Stadt, auf einem Hügel, erhob sich ein „Tem-
pel des Augustus“. An der Stadt wurde zwölf volle Jahre gebaut
(22—10), und auch sie wurde von festen Mauern umgeben. Dabei
ließ sich Herodes nicht nur von seiner Eitelkeit, sondern auch von
dem Wunsche leiten, einen festen Stützpunkt am Meere zu besitzen.
Da jedoch die Einwohnerschaft Caesareas sich vornehmlich aus Grie-
chen und Römern zusammensetzte, so wurde die Stadt weniger eine
Schutzwehr für Judäa als vielmehr ein Bollwerk der ihm feindlichen
Kräfte. Späterhin residierten in Caesarea die römischen Statthalter
von Judäa, und so verwandelte sich die Stadt vollends in ein Anti-
Jerusalem. „Caesarea erhob sich stets mit dem Niedergange Jerusa-
lems“ — lautete ein späteres jüdisches Sprichwort.
Außer diesen bedeutenderen Stadtgründungen legte Herodes noch
eine ganze Reihe kleinerer Städte und Festungen an, die er mit seinem
eigenen Namen und dem seiner Angehörigen benannte. So die Fe-
stung Herodeion, südlich von Jerusalem, die Stadt Antipatris, in der
Umgegend von Jaffa, die Stadt Phasaelis und die Burg Kypros in
der Nähe von Jericho. Die Freigebigkeit des Herodes erstreckte sich
aber auch auf außerhalb Judäas gelegene Städte. Er gab Geld für die
Errichtung von heidnischen Tempeln und öffentlichen Bauten in Rho-
dus, Antiochia, Damaskus, ja sogar in Athen und Sparta her.
Der Zweck, den er bei alledem verfolgte, wurde aber in der
Tat erreicht. Außerhalb des Landes wurde Herodes als ein freigebiger
und aufgeklärter Hellenenfreund nunmehr rühmlichst bekannt; sein
eigenes Volk jedoch hatte nichts als Verwünschungen für ihn übrig.
Diese ganze Pracht, das ungestüme Gründungsfieber, die teuren Mode-
neuerungen, sowie die königliche Freigebigkeit überhaupt bedrückten
mit all ihrer Last die jüdische Bevölkerung. Damit all diese unge-
heuren Ausgaben von dem kleinen Staat bestritten werden konnten,
mußte man aus dem Volke durch Steuerdruck das Letzte herauspres-
sen. Die werktätige Bevölkerung wurde darum ruiniert, weil es den
König gelüstete, ihr im Schweiße des Angesichts verdientes Geld für
„Caesaren“-Denkmäler, für heidnische Städte und Tempel, für Thea-
278
§ 51. Neugründungen und Bauten
ter, Zirkusse und allerhand Vergnügungen zu verschwenden. Das A'olk
murrte und entrüstete sich, der königliche Despot verstand es
jedoch, alle laut werdenden Proteste rücksichtslos zu unterdrücken.
Nur in den Augenblicken, wenn ein offener Ausbruch der Empörung
unabwendbar zu werden schien, pflegte Herodes nachgiebiger zu wer-
den und der Bevölkerung entgegenzukommen. So war es zum Beispiel
im Jahre 2 4, als infolge einer lange anhaltenden Dürre Hungersnot
ein trat und die notleidende Bevölkerung in ihrem Haß gegen die
verschwenderische Regierung mit offener Erhebung drohte. Da sah
Herodes das Gefahrvolle seiner Lage ein und entschloß sich zu einer
großmütigen Geste. Mit großer Mühe machte er Geld flüssig, indem
er einen Teil des kostbaren Palastgerätes in die Münze schickte, und
ließ in Ägypten Getreide einkaufen, das er dann unter das Volk für
Nahrungszwecke und als Saatgut unentgeltlich verteilte. Dadurch ge-
lang es ihm, das gemeine Volk für eine Weile für sich zu gewinnen.
Eine andere auf Beruhigung des Volkes abzielende Maßnahme
war der von Herodes unternommene Umbau des Jerusalemer Tempels.
Der König wollte sich gleichsam den Ruhm eines neuen Salomo er-
werben. Der alte, noch unter Serubbabel erbaute und unter den Has-
monäern restaurierte Tempel nahm sich neben der Pracht des neuen
königlichen Palastes und der anderen die Hauptstadt jetzt schmücken-
den Bauten nur zu bescheiden aus; er sollte nun seiner glänzenden
Umgebung angepaßt werden. Die Jerusalemer empfingen die Kunde
von dem neuen Vorhaben des Königs zunächst mit dem größten Miß-
trauen. Herodes trug jedoch ihrem religiösen Empfinden insofern
Rechnung, als er den Baumeistern auftrug, bei dem Entwurf des Bau-
planes sich von den Anweisungen der Priester und der gesetzeskundi-
gen Pharisäer leiten zu lassen. Der Neubau wurde in seinen Haupt-
teilen im 20. und 19. Jahre (v. d. ehr. Ära) zu Ende geführt, aber
noch weitere acht Jahre nahm die Errichtung der Nebenbauten und
die innere Ausschmückung in Anspruch, bei der an Gold und Marmor
nicht gespart wurde. Der erneuerte Tempel erregte durch seine Pracht
und seinen Glanz die allgemeine Bewunderung. Ein altes, uns über-
liefertes Sprichwort besagt: „Wer nicht den Bau des Herodes ge-
sehen hat, hat nie etwas Schönes gesehen/4 Aber auch bei diesem hei-
ligen Werke konnte Herodes nicht umhin, das Volksempfinden zu
verletzen. Um seine Ergebenheit Rom gegenüber aller Welt vor Augen
zu führen, ließ er nämlich später über dem Haupteingang des Tem-
279
Der König Herodes 1.
pels einen riesigen goldenen Adler anbringen, das Sinnbild der römi-
schen Kriegsmacht. Diese auffällige Übertretung des religiösen Ge-
botes, wonach alle bildlichen Darstellungen am heiligen Orte untersagt
waren, sowie die Schaustellung des Symbols der jüdischen Abhängig-
keit von Rom verletzte das nationale Gefühl der Juden aufs tiefste.
Späterhin bildete dieser römische Adler einen Anlaß mehr für rom-
feindliche politische Demonstrationen.
§ 52. Äußere und innere Politik
In seiner Politik zeigte Herodes das Doppelantlitz eines Janus:
mit seiner lächelnden Hälfte war es dem Imperator Augustus zuge-
wandt, seine düstere und mitunter zornige Hälfte galt dem eigenen
Volke. Äußerste Untertänigkeit dem Souverän gegenüber paarte sich
bei Herodes mit grenzenlosem Hochmut gegenüber seinen eigenen
„Untertanen“.
Offiziell galt Herodes als ein „verbündeter König und Freund
des römischen Volkes“ (rex socius et amicus populi Romani), d. i.
als ein zum Teil unabhängiger Vasallenfürst. Die Abhängigkeit eines
solchen Regenten äußerte sich darin, daß er wie seine Erben den Kö-
nigstitel ausschließlich aus den Händen des römischen Imperators er-
halten konnten; ohne dessen Wissen durfte der Vasall weder einen
Krieg unternehmen noch internationale Bündnisse eingehen; er war
verpflichtet, im Kriegsfälle den Römern Hilfstruppen zu stellen, so-
wie die benachbarten Grenzgebiete gegen die Reichsfeinde zu ver-
teidigen; auch das Münzrecht war ihm nur unter gewissen Einschrän-
kungen eingeräumt. Um so freier und uneingeschränkter durfte je-
doch ein solcher rex socius im Innern seines Staates walten: hier war
seine Steuerhoheit den eigenen Untertanen gegenüber grenzenlos, die
Regierungsform stand ganz in seinem Belieben und auch über seine
Armee durfte er im Innern des Landes ganz nach seinem Ermessen
verfügen. Aus dieser Lage suchte nun Herodes allerlei Vorteile so-
wohl für sich und seine Dynastie als auch für die äußeren Staats-
interessen zu ziehen. Durch seine Unterwürfigkeit und Dienstfertig-
keit dem Augustus gegenüber gewann er dessen volle Gunst. Als
Augustus im Jahre 20 nach Syrien kam, eilte ihm Herodes entgegen
imd gab ihm während seiner Reise das Geleit. 'Auch kam Herodes
selbst zu wiederholten Malen nach Rom und durfte sich dort der Gast-
§ 52. Äußere und innere Politik
freundschaft des Kaisers erfreuen. Auf diese Weise erlangte er die
Freundschaft des Marcus Agrippa, des Schwiegersohnes und Mit-
regenten des Augustus, den der jüdische König auf seinen asiatischen
Reisen häufig begleitete. Einstmals (im Jahre iS) besuchte auch
Agrippa Herodes in Jerusalem und opferte hier im jüdischen Tempel
eine Hekatombe (hundert Stiere). Diese Ehrfurchtsbezeugungen dem
jüdischen Kultus gegenüber durch den heidnischen Würdenträger ent-
zückte die Judäer so sehr, daß bei Agrippas Abreise das Volk ihn bis
zum Schiff begleitete und seinen Weg mit Blumen bestreute. Die
freundschaftlichen Beziehungen des Herodes zu der kaiserlichen Fa-
milie kennzeichnet der alte Geschichtsschreiber Josephus Flavius in
folgender übertriebener Weise: dem Caesar war nach Agrippa
Herodes der Liebste, und auch im Herzen des Agrippa behauptete
Herodes nach dem Caesar den ersten Platz.
Herodes machte sich nun dieses Wohlwollen Roms zunutze,
um den Besitzstand seines Staates zu vergrößern. Es wurde bereits
erwähnt, daß Augustus unmittelbar nach der Schlacht bei Aktium Ju-
däa einige der von Pompe jus entrissenen Gebietsteile wieder anglie-
derte. Einige Jahre später schenkte nun der Kaiser dem Herodes dar-
über hinaus auch noch die tr ans jordanischen Gebiete Trachonitis, Ba-
tanäa und Auranitis (Basan und Hauran). Die hier umherstreifenden,
noch nicht seßhaft gewordenen Araber oder Beduinen belästigten mit-
unter durch ihre Einfälle das römische Syrien; der einheimische Herr-
scher oder „Tetrarch“ Zenodorus aber konnte oder wollte die Räu-
berbanden nicht bändigen. Nachdem Herodes diese Landschaften von
Augustus geschenkt bekommen hatte, gelang es ihm bald Ruhe zu
schaffen, so daß der Kaiser nach drei Jahren ihm auch den rest-
lichen Besitz des Zenodorus, nördlich vom Genezarethsee, übertrug.
Auf Vorstellungen des judäischen Königs hin ernannte Augustus den
Bruder des Herodes, Pheroras, zum Tetrarchen des ganzen nördlichen
und mittleren Teils Transjordaniens, der den griechischen Namen
Peräa erhielt. So ging denn das Landgebiet Judäas unter Herodes so-
gar über die Grenzen, die es in der Glanzperiode der Hasmonäer ge-
habt hatte, hinaus. Aber auch auf die Juden der Diaspora erstreckte
sich die Fürsorge des Herodes. So erwirkte er bei dem Kaiser und
bei Marcus Agrippa verschiedene Freiheiten und Rechte für die in
den griechischen Städten Syriens und Kleinasiens verstreuten jüdi-
281
Der König Her ödes I.
sehen Kolonien, wo die Juden gar oft der Bedrückung ihrer griechi-
schen Mitbürger ausgesetzt waren (s. unten, § 63).
Indessen traten die Sympathien des Herodes für die griechisch-
römische Lebensweise so sehr in seinem ganzen Gebaren zutage, daß
ihn dies unausbleiblich seinem Volke entfremden mußte. Seine Söhne,
die künftigen Regenten Judäas, ließ er in Rom erziehen. Seine näch-
sten Freunde und Ratgeber waren gebildete Griechen. So lebte lange
Zeit am Hofe des Herodes auch der berühmte griechische Ge-
schichtsschreiber und Rhetor Nicolaus Damascenus als einer der ver-
trautesten Freunde des Königs, der nicht selten mit wichtigen diplo-
matischen Aufträgen betraut wurde. Von ihm ließ sich Herodes auch
in der Philosophie und der Redekunst unterweisen, weil ihm eben
daran gelegen war, sich den „guten Ton“ der gebildeten griechischen
Gesellschaft in jeder Weise zu eigen zu machen. Nicolaus Damascenus
war der Verfasser einer allgemeinen Geschichte in i44 Büchern, in
denen ausführlich und in lobender Weise auch über die Regierung
seines Gönners, des Herodes, berichtet wurde1). Ein anderer Grieche.
Ptolemäus, hatte das Amt eines Finanzministers des Herodes inne.
Umherziehende griechische Gelehrte und Politiker waren am Hofe
des jüdischen Königs überhaupt gern gesehene Gäste. So kann
denn in seiner ganzen Lebensweise und in seinen Neigungen (seine
Lieblingsbeschäftigungen waren Jagd und Wettschießen) das Typisch-
Jüdische nirgends zum Vorschein. Rühmte sich doch Herodes sogar,
den Hellenen näherzustehen als den Juden.
Die Grundlagen der alten jüdischen Verfassung gerieten so im-
mer mehr ins Wanken. Das Hohepriestertum verlor unter Herodes
ganz seine ehemalige Bedeutung. Das altüberkommene hohepriester-
liche Erbfolgerecht mußte dem neuen System willkürlicher Ernen-
nungen Platz machen. Herodes nützte es zu politischen Zwecken oder
in eigenem Interesse in weitestem Maße aus. Nachdem er den letzten
hasmonäischen Hierarchen Aristobulus III. auf verbrecherische Weise
aus dem Wege geräumt hatte, setzte er erneut den aus Babylonien
gebürtigen Chananel in das Hohepriesteramt ein. Bald trat an die
Stelle des Chananel ein gewisser Josua ben Phiabi. Nach der Hinrich-
tung der Königin Mariamme entbrannte der König in Liebe zu der
!) In seiner Darstellung der Herodeszeit benutzte Josephus Flavius, allerdings
mit aller kritischen Zurückhaltung, auch das später verlorengegangene Geschichts-
werk des Nicolaus Damascenus.
282
§ 52. Äußere und innere Politik
Tochter eines Priesters, Simon ben Boethos, der aus Alexandrien
stammte. Nachdem er das schöne Mädchen, das gleichfalls Mariamme
hieß, zum Weibe genommen hatte, zögerte er nicht, ihren Vater mit
dem Amt des Jerusalemer Hohepriesters zu bekleiden (24). Der hel-
lenisierte Alexandriner vertrug sich als Hohepriester sehr wohl mit
seinem königlichen Schwiegersöhne und verschrieb sich mit Leib und
Seele der Hofpartei. So wurden Tempel und Hof in gemeinsamem
Streben vereinigt. Der Kreis um den Hohepriester aus dem Ge-
schlecht des Boethos verwandelte sich allmählich in die politische
Partei der Boethosäer, die nun die Rolle zu spielen begann, die ehe-
mals die Sadduzäerpartei unter den hasmonäischen Hohepriestern ge-
spielt hatte1). Aus dem Boethosgeschlechte scheint Herodes später
auch die Nachfolger des Simon im Hohepriesteramte ernannt zu
haben.
Gleich dem Hohepriestertum büßte unter Herodes auch das Syn-
hedrion seine ehemalige staatspolitische Bedeutung ein: es schrumpfte
zu einem aus Verwandten und Freunden des Königs bestehenden
Kronrat zusammen, der jedem königlichen Wunsche gefügig war.
Der Wille oder gar die Laune des Selbstherrschers traten nun an
Stelle der Macht des Gesetzes. Die gesetzeskundigen Pharisäer standen
ganz abseits von allen Staatsgeschäften; betrachteten sie doch die Re-
gierung des Herodes als ein fremdländisches, dem nationalen und re-
ligiösen Geiste des Judentums fremdes, ja zuweilen sogar feindliches
Regime. Viele unter den Pharisäern, die in dem römischen Schütz-
ling alles weniger als einen gesetzlichen König erblickten, verweigerten
dem Herodes wie auch seinem Souverän, dem römischen Kaiser, so-
gar den Treueid. Den Widerspenstigen gegenüber wurde jedoch Nach-
sicht geübt, indem man ihnen nur eine Geldbuße auferlegte. Herodes
mußte sich nämlich wohl oder übel mit dieser passiven Opposition
vertragen, da er nur zu gut wußte, daß eine Vergewaltigung des Ge-
wissens der Gesetzestreuen schließlich zur Rebellion führen würde.
Er hütete sich, die Pharisäerpartei zu reizen, und war zufrieden, daß
sie wenigstens nicht ausfallend gegen ihn wurde.
Die nationale Partei bewahrte jedoch nicht immer Schweigen. In
ihrer Mitte gärte es dauernd fort, so daß die Gefahr einer revolutio-
nären Eruption stets gegeben war. Die Patrioten nannten den Herodes
1) Dies der Grund, warum in der Folgezeit die „Sadduzäer“ und die „Boe-
thosäer“ zur selben Partei gerechnet wurden. Vgl. oben, § 35, Anm.
s83
Der König Herodes L
verächtlich einen „edomitischen Knecht“ und einen „Halbjuden“
(Ebed edomi, Hemijudaios). Politische Verschwörungen von der Art
der bereits erwähnten waren in der Regierungszeit des Herodes keine
seltene Erscheinung; jedoch wurden alle revolutionären Anwandlun-
gen durch ein wohlorganisiertes Spitzelsystem immer wieder im
Keime erstickt. „Herodes, berichtet Josephus Flavius auf Grund der
ihm zugänglich gewesenen Quellen, beobachtete alles scharf und nahm
seinen Untertanen jede Gelegenheit zum Aufruhr. Er verbot den Bür-
gern alle Zusammenkünfte, öffentliche wie geheime, und stellte über-
all Spione an. Wurde jemand bei Übertretungen ertappt, so bestrafte
er ihn streng, und es wurden viele offen oder heimlich in die Festung
Hyrkania abgeführt und dort hingerichtet. Überall, in der Stadt wie
auf den Landstraßen, gab es bestimmte Menschen, die alle Zusam-
menkünfte auszuforschen suchten. Ja, man sagt, der König habe sich
oft selbst in der Kleidung eines Privatmannes bei Nacht unter die
Menge begeben, um die Meinung des Volkes über seine Regierung zu
erfahren.“ Als Stütze seines Thrones unterhielt der König ein zuver-
lässiges Söldnerheer, das sich aus Thraciem, Germanen und Galliern
zusammensetzte. Auch die Festungen, die er an verschiedenen Orten
des Landes erbauen ließ, dienten nicht nur zum Schutze gegen äußere
Feinde, sondern ebensosehr zur Bekämpfung des inneren Feindes.
Der Unwille des Volkes steigerte sich so immer mehr und verwan-
delte sich schließlich in einen unerbittlichen Haß gegen das herodia-
nische Regime.
§ 53, Der Familienzwist und die Hinrichtung der Söhne
der Mariamme
Nach einer Periode verhältnismäßigen häuslichen Friedens und
nach den großen Erfolgen in der Außenpolitik brach für Herodes
von neuem eine Zeit des häuslichen Elends an. Das letzte Jahrzehnt
seines Lebens (i4—4) stellt eine ununterbrochene Kette von tragi-
schen Zerwürfnissen, Hofintrigen, grausigen Taten und Hinrichtun-
gen dar. Eine dumpfe Schwüle herrschte in dem prächtigen Königs-
palaste in der Oberstadt, und es war kein Einvernehmen unter seinen
Bewohnern. Hier hauste die zahlreiche königliche Familie, die aus
den nächsten Angehörigen des Herodes: etlichen Frauen und vielen
Kindern, sowie aus seiner Schwester Salome und seinem Bruder Phe-
284
§ 53. Die Hinrichtung der Söhne der Mariamme
roras mitsamt anderen nahen Verwandten bestand. Überdies gehörte
noch eine ganze Schar von Höflingen, Dienern und Gästen dazu.
Alle diese Menschen waren von einem fortwährenden Intrigenfieber
ergriffen, alle waren von Machttrieb und Vorteilsucht wie besessen,
es bildeten sich immer neue Gruppen, die unausgesetzt miteinander
haderten und den Palast gleichsam in ein Schlachtfeld verwandel-
ten.
Zum Unterschiede von den hasmonäischen Königen besaß Herodes
viele Frauen. Ein Rivale des alten Königs Salomo in seinen Bauwer-
ken, schien der Erneuerer des Jerusalemer Tempels mit seinem Vor-
gänger auch in seinem Hang zur Vielweiberei wetteifern zu wollen* 1).
In seiner frühen Jugend, als er von der Königsgewalt noch nicht
einmal zu träumen wagte, hatte er Doris, ein Mädchen von gemeiner
Herkunft, zum Weibe genommen, die ihm einen Sohn mit Namen
Antipater gebar. Nachdem er sich mit der Hasmonäerin Mariamme
vermählt hatte, verstieß er jedoch die Doris mitsamt ihrem Sohne,
und nur zu den hohen Festen durfte Antipater aus der Provinz nach
Jerusalem kommen. Von der Königin Mariamme hatte Herodes fünf
Kinder, von denen nur die beiden Söhne Alexander und Aristobulus
in der Geschichte dieser Zeit eine Rolle spielen. Nach der Hinrichtung
der Mariamme nahm Herodes die Tochter des obenerwähnten Hohe-
priesters Simon Boethos zur Gemahlin, die gleichfalls Mariamme hieß
und die ihm einen Sohn namens Herodes schenkte. Nun setzte die
Vielweiberei ein. In den letzten zwanzig Jahren seiner Regierung be-
saß Herodes nicht weniger als sieben Frauen, von denen die Samari-
tanerin Malthake und die Jerusalemerin Kleopatra als die Mütter je-
ner Prinzen bekannt sind, die späterhin das Reich des Herodes unter
sich aufteilten. Es waren dies Archelans und Her ödes-Antipas, die
Söhne der ersten, und Philippus, der Sohn der letzteren.
Zunächst galten als Thronerben die Söhne der Hasmonäerin Mari-
amme, Alexander und Aristobulus. Nach dem Tode ihrer Mutter
schickte Herodes seine Söhne zur Erziehung nach Rom (um 2 3). Eine
1) Aus zwei beiläufigen Bemerkungen des Josephus (Ant. XVII, i, 2; Bell.
I, 24, § 2) ist zu ersehen, daß Herodes in ausgiebiger Weise von dem Rechte auf
Vielweiberei Gebrauch machte, die, wenn auch vom Gesetze gestattet, dennoch nur
selten vorkam. In dieser Periode, wie auch in der biblischen (vgl. Bd. I, $ 46).
herrschte in der jüdischen Familie die monogame Ehe vor, oder es war höchstens
die Bigamie anzutreffen. Herodes fand indessen, wie Josephus sich ausdrückt,
an der Polygamie „sein Vergnügen*
285
Der König Herodes L
national-jüdische Erziehung schien ihm für die künftigen Herrscher
Judäas unnötig zu sein; um seinen Kindern den Erfolg in ihrem Le-
ben zu sichern, hielt er es für geboten, sie eine römische Bildung ge-
nießen zu lassen, und sie gleichzeitig unter den unmittelbaren Schutz
seines Gönners Augustus zu stellen. Von diesem neuen Beweis der Er-
gebenheit angenehm berührt, empfing der Kaiser die Prinzen äußerst
huldreich und nahm sie in den Kreis seiner Hofleute auf. Die Jüng-
linge lebten in Rom im Hause des Asinius Pollio, eines hochgebilde-
ten Würdenträgers, der die großen Dichter Virgil und Horaz zu sei-
nen Freunden zählte. Fünf Jahre später, als Alexander und Aristo-
bulus ihre Studien in Rom vollendet hatten, kam Herodes selbst nach
Rom, um sie nach Jerusalem zurückzubegleiten. Hier beeilte er sich,
die jungen Leute, die jetzt im Alter von 17—18 Jahren standen, zu
verheiraten. Der ältere Prinz, Alexander, bekam eine Tochter des kap-
padocischen Königs Archelaus, Glaphyra, die eigens zu diesem Zwecke
zum Judentum übergetreten war, zum Weibe, während dem,jüngeren,
Aristobulus, Herodes seine Nichte, die Tochter der Salome, ßerenike,
zur Frau gab.
Das Volk von Jerusalem empfing die Prinzen, die sich durch äu-
ßere Anmut auszeichneten und ihrer verstorbenen Mutter überaus
ähnlich sahen, mit großer Begeisterung. Seine Zuneigung zu der tra-
gisch umgekommenen Königin übertrug nun das Volk auf deren Kin-
der, in denen es weniger Herodäer als Hasmonäer zu sehen Avähnte.
Allein bei der dumpfen Feindseligkeit, die schon längst in den Be-
ziehungen zwischen dem Volke und dem königlichen Hofe herrschte,
mußten die Volkssympathien unausbleiblich Befürchtungen in den
Hofkreisen wachrufen. Besondere Unruhe bemächtigte sich der Schwe-
ster des Herodes, der stets wachsamen Salome. Dieses unselige Weib
übertrug auf die Kinder des Herodes jenen Haß, den sie gegen deren
Mutter gehegt hatte. Dem scharfen Auge der Salome mochte es nicht
entgangen sein, daß auch die Prinzen Alexander und Aristobulus ihre
gesamte Verwandtschaft väterlicherseits über die Achsel ansahen. Zu-
dem beschwerte sich auch Berenike zu wiederholten Malen bei ihrer
Mutter Salome über ihren Gatten Aristobulus, der sie ihrer Abstam-
mung wegen angeblich nicht mit genügender Hochachtung behandelte.
Es scheint, daß in den Herzen der Prinzen tatsächlich eine tiefe Ab-
neigung gegen den Vater und dessen Schwester, die Urheber der Lei-
den und des Todes ihrer Mutter, Wurzel gefaßt hatte. All diese Be-
§ 53. Die Hinrichtung der Söhne der Mariamme
obachtungen sowie allerhand Gerüchte trug nun die Salome emsig
zusammen, um sie dem König in übertriebener Form zu hinterbrin-
gen und ihn so glauben zu machen, seine Söhne hegten bitteren Haß
gegen ihn und erwarteten mit Ungeduld seinen Tod.
Einst, von einer Reise nach Kleinasien, einem Besuch bei seinem
römischen Freunde Marcus Agrippa, zurückgekehrt, fand Her ödes
den ganzen königlichen Hof in größter Aufregung. Salome und Phe-
roras erklärten ihm, das Verhalten der Prinzen gäbe Anlaß zu der
Befürchtung, daß sie, um den Tod ihrer Mutter zu rächen, sich ge-
gen ihren Vater verschworen hätten. Darauf erwachte in Herodes
von neuem jener krankhafte Argwohn, der seinerzeit für die schöne
Mariamme so verhängnisvoll geworden war. Fürs erste legte er sich
jedoch Zurückhaltung auf und beschränkte sich auf die folgende ab-
schreckende Maßnahme. Um nämlich dem Hochmut des Alexander
und Aristobulus Einhalt zu gebieten, und ihnen vor Augen zu füh-
ren, daß sie nicht die einzig möglichen Thronerben seien, berief er sei-
nen ältesten Sohn Antipater, der bis dahin fern vom Hofe gelebt hatte,
nach Jerusalem und wandte ihm nun seine besondere Gunst zu. An-
tipater gewann rasch einen Überblick über die neue Lage der Dinge
und begriff auch, daß allein das Verderben des Alexander und Ari-
stobulus ihm den Weg zum Throne ebnen könne. Seine „Halbbrü-
der“, die Söhne der stolzen Hasmonäerin, um derentwillen man ihn
seinerzeit als den Sohn einer Frau niederen Standes verstoßen hatte,
haßte er aus dem tiefsten Grunde seines Herzens; aber auch gegen
seinen Vater, der ihn so unväterlich behandelt hatte, hegte er einen
tief verborgenen Groll. Der hinterlistige und gehässige Mann ver-
stand es jedoch, Unschuld und Sanftmut zu heucheln. So wich er
nicht von der Seite des Herodes, dessen Tod er sehnlichst herbei-
wünschte, und spielte sich als den liebenden Sohn auf, der die kost-
bare Gesundheit und Ruhe seines Vaters zu betreuen bemüht sei.
Allmählich faßte der König in der Tat uneingeschränktes Vertrauen
zu Antipater und es machte ihm Freude, diesem, den Söhnen der Ma-
riamme zum Trotz, besondere Huld zu erweisen. Als nun im Jahre
i3 Marcus Agrippa aus Asien nach Rom zurückkehrte, bat ihn He-
rodes, den Antipater mitzunehmen und ihn dem Kaiser als Thron-
erben vorzustellen.
Der Wechsel in der Stimmung ihres Vaters konnte auch Alexan-
ander und Aristobulus nicht gleichgültig bleiben. Die Prinzen gaben
\
j
287
Der König Herodes I.
laut ihrer Unzufriedenheit über die dem Antipater zuteil gewordene
Bevorzugung Ausdruck, und jede ihrer Äußerungen gelangte in einer
übertriebenen oder verzerrten Form zum König. In seinen Briefen
aus Rom verstand es Antipater seinerseits, den Vater in verschlagener
Weise gegen die Brüder zu stimmen. Dieses ganze Intrigenspiel ver-
setzte den König in einen so trüben Gemütszustand, daß er sich zu-
letzt entschloß, persönlich vor dem Kaiser selbst gegen seine beiden
Söhne Klage zu führen. So nahm er denn Alexander und Aristobulus
mit sich und fuhr nach Italien, wo alle drei in Aquilea vor den Kai-
ser traten (12). Augustus ließ beide Parteien reden und es gelang
ihm diesmal noch, die Streitenden zu versöhnen. Der Wiederherstel-
lung des Hausfriedens froh, kehrten Vater und Söhne heim. Ihnen
schloß sich auch Antipater an, der, seine Enttäuschung verbergend,
Freude über die Versöhnung heuchelte. Für eine kurze Zeit war so-
mit die Ruhe im Hause wiederhergestellt.
Bald entbrannte jedoch der Familienzwist mit neuer Kraft. Der
verschlagene Antipater war unablässig bemüht, die komplizierte Ma-
schinerie der Hofintrigen von neuem in Gang zu bringen, worin er
von Salome und Pheroras getreulich unterstützt wurde. Alexander
und Aristobulus sahen sich wieder einmal in dem Netze niederträch-
tiger Verleumdungen verfangen und ließen in ihrer jugendlichen Un-
erfahrenheit ihrer Entrüstung freien Lauf. Unverhohlen trugen sie
ihre Verachtung gegen die ganze väterliche Sippe zur Schau. Dem
König wurde hinterbracht, die Prinzen hätten verlauten lassen, sie
wollten, wenn sie einmal im Besitze der Macht seien, die männlichen
Angehörigen der königlichen Familie zu Dorfschreibern machen, die
Weiber aber an den Webstuhl schicken. Wohl hatten die Prinzen am
Hofe auch einen kleinen Anhang, der jedoch sowohl an Einfluß als
auch an Gewandtheit der Gegenpartei durchaus nachstand. So zün-
gelten im königlichen Palaste die Flammen des gegenseitigen Hasses
immer höher empor, und die ungeheuerlichsten Verleumdungen fan-
den Gehör; nicht einmal vor den intimsten Familiengeheimnissen
machte man Halt; es wurde an der Ehrbarkeit der Männer wie der
Frauen gemäkelt, und nicht einmal die Person des Königs, den man
namentlich unerlaubter Beziehungen zu seiner Schwiegertochter Gla-
phyra, der Gattin des Alexander, bezichtigte, wurde aus dem Spiel
gelassen.
Auf Herodes machte dies alles einen niederschmetternden Ein-
§ 53. Die Hinrichtung der Söhne der Mariamme
druck. Sein krankhafter Argwohn fand immer neue Nahrung,
sein eingeschüchtertes Gemüt wurde von Halluzinationen gequält
Überall witterte er Verschwörung, Verrat und Verbrechen. Auf
Befehl des Königs ergriff man die Diener und Anhänger des
Alexander und Aristobulus und ließ sie auf der Folter verhören, um
ein Geständnis über die verbrecherischen Pläne der Prinzen aus ihnen
herauszupressen. Die Unglücklichen starben auf der Folterbank, konn-
ten aber nichts verraten. Nur einer der Eunuchen legte dem *Mexan-
der die Abneigung gegen seinen Vater und den Wunsch, so schnell wie
möglich zur Macht zu gelangen, zur Last. Ein anderes Opfer der Fol-
terqualen sagte aus, beide Prinzen hätten den Plan gefaßt, nach Rom
zu fliehen, um vor ihrem Vater bei dem Kaiser Zuflucht zu suchen.
Überdies wurde auch noch ein Brief des Alexander abgefangen, in
dem er sich über die Ungerechtigkeit seines Vaters, der dem Antipa-
ter in jeder Weise den Vorzug gab, beschwerte. Auf Grund dieser In-
dizien ließ nun Herodes den Alexander einkerkern (io). Der Gefan-
gene wurde nur dank dem Eingreifen seines Schwiegervaters, des
kappadocischen Königs Archelaus, wieder auf freien Fuß gesetzt.
Allein das Verhängnis war von den hasmonäischen Prinzen nicht
mehr abzuwenden. Es ging über ihre Kraft, sich aus dem Netze von
Intrigen und Verleumdungen, das böse Geister am Jerusalemer Hofe
um sie spannen, herauszuwinden. Die Denunziationen hagelten un-
ausgesetzt und zogen Verhaftungen und Verhöre derjenigen nach sich,
die im Verdachte standen, mit den Prinzen zu sympathisieren. Auf
der Folterbank erpreßte Aussagen und zweifelhafte Schriftstücke
mußten als Beweis dafür herhalten, daß Alexander und Aristobulus
ein Komplott angezettelt hätten. Die Prinzen bestritten mit Entschie-
denheit ihre Beteiligung an irgendeiner Verschwörung gegen ihren
Vater und gaben nur zu, daß sie in der Tat vor den fürchterlichen
Zuständen im väterlichen Hause durch Flucht Rettung suchen woll-
ten. Darauf ließ Herodes beide in Haft nehmen und durch Gesandte
bei dem Kaiser wegen Hochverrats verklagen. Augustus stellte es He-
rodes anheim, mit den Prinzen nach seinem eigenen Gutdünken zu
verfahren, riet ihm jedoch, vorerst die ganze Sache einem besonderen
Gerichte in der syrischen Stadt Berytus (Beirut), unter Hinzuziehung
römischer Beamten, zu unterbreiten. Der König befolgte den Rat des
Kaisers. Recht und Gerechtigkeit hatten aber dadurch nur wenig ge-
wonnen. Das in Berytus eingesetzte, aus Freunden des Herodes be-
19 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
289
Der König Herodes /.
stellende Gericht vernahm seine wütenden Anklagen gegen die Prin-
zen und verurteilte die Angeschuldigten zum Tode. Nicolaus Damas-
cenus redete dem König zu, die Vollziehung des verhängnisvollen Ur-
teilsspruches hinauszuschieben, und beinahe wäre es ihm gelungen, den
Herodes dazu zu bestimmen, als plötzlich Gerüchte auf tauchten, wo-
nach sich unter den Hauptleuten und Soldaten der Garnison von
Caesarea gefährliche Sympathien für die unglücklichen Prinzen be-
merkbar gemacht hätten und ein Komplott zu deren Befreiung ange-
zettelt worden sei. Da entschloß sich der König, das Urteil ohne Säu-
men zu vollziehen. Alexander und Aristobulus wurden nach Samaria-
Sebaste gebracht, und hier erlitten sie nun den Tod durch den Strang
(7). So wurde in derselben Stadt, wo dreißig Jahre zuvor die Hoch-
zeit des Herodes mit Mariamme gefeiert worden war, der Lebensfa-
den der dieser unglückseligen Ehe entsprossenen Kinder jäh abge-
rissen. Die Tragödie des Hasmonäerhauses war nun zu ihrem ent-
setzlichen Abschluß gekommen.
§ 54. Die Verschwörung des Antipater, der Beginn des Aufruhrs
und der Tod des Herodes
In dieser Atmosphäre des düsteren Hofterrors und der lautlosen
Volkstrauer mochte sich nur Antipater allein wohlgefühlt haben. Nun
war er seinem ersehnten Ziele nahe. Die Prinzen, seine Rivalen, wa-
ren bereits beseitigt, er genoß das volle Vertrauen des Vaters, dessen
eigentlicher Mitregent er jetzt war, und galt als der nächste Thronerbe
und als der künftige König von Judäa. Und trotzdem schlichen sich
in das Herz des Antipater Befürchtungen ein: vor allem wußte er
wohl, daß das Volk ihm, als einem „Edomiter“ und als dem Urheber
des Verderbens der Prinzen, abhold war; nur dem König allein waren
seine geheimen Ränke bisher verborgen geblieben, aber auch diesem
konnten sie früher oder später offenkundig werden; außerdem wuch-
sen mittlerweile in Rom die dort erzogenen jungen Prinzen Arche-
laus und Philippus heran, die späterhin gleich ihm ihr Recht auf
das väterliche Thronerbe geltend machen konnten. Es galt also zu
handeln, ehe eine neue Komplikation der Lage entstand; es war höch-
ste Zeit, den Tod des greisen Vaters, der sich schon überlebt hatte, zu
beschleunigen, um sich dann mit der Genehmigung Roms des Thro-
nes zu bemächtigen und die Früchte in Ruhe ernten zu können. So
290
§ 54. Der Beginn des Aufruhrs und der Tod des Herodes
tritt denn Antipater zwecks Ausführung des anscheinend Erfolg ver-
heißenden Planes mit dem Bruder des Königs, Pheroras, in Verbin-
dung, der gemeinsam mit ihm nun die Sache betreiben sollte.
Zwischen Herodes und Pheroras war es zu jener Zeit zu einem Zer-
würfnis gekommen, das ihr ehemaliges brüderliches Einvernehmen
getrübt hatte. Pheroras scheint die allgemeine Politik seines Bruders
überhaupt nicht zugesagt zu haben, während die Gemahlin des Phero-
ras sogar ganz offen zu den Pharisäern hielt. Sie war es nämlich, die
für die sechstausend Pharisäer, die sich geweigert hatten, dem König
den Treueid zu leisten und deswegen zu einer Geldstrafe verurteilt
worden waren (oben, § 5 s), die ganze ihnen auf erlegte Geldbuße ent-
richtet hatte. Die Unzufriedenheit des Pheroras nützte nun Antipater
aus, um ihn in sein Komplott hineinzuziehen. Unter dem Vorwand
häuslicher Gastmähler hielten die Verschwörer geheime Zusammen-
künfte ab, in denen sie ihr Vorhaben besprachen. Der königlichen
Ausspäherin Salome — vielleicht dem einzigen Herodes wahrhaf t er-
gebenen Wesen — war die verdachterregende Annäherung des Anti-
pater an Pheroras nicht entgangen, und so säumte sie denn nicht,
dem König ihre Befürchtungen kundzutun. Zunächst glaubte Herodes
der Denunziation keine besondere Bedeutung beimessen zu brauchen
und beschränkte sich nur darauf, den Pheroras von Antipater zu tren-
nen, indem er seinen Bruder in die transjordanische Tetrarchie beor-
derte. Kurz darauf gelang es dem Antipater mit Hilfe seiner römi-
schen Freunde, den Vater zu veranlassen, ihn persönlich mit einem
Aufträge an den Caesar nach Rom zu schicken. Der nichts Arges
ahnende Herodes hatte inzwischen sein Testament aufgesetzt, in dem
er Antipater zu seinem Nachfolger ernannte, und sandte nun seinen
Sohn nach Rom, um das Testament vom Kaiser bestätigen zu lassen (6).
Während Antipater in Rom weilte, trat ein Ereignis ein, das alle
seine heimlichen Pläne ans Tageslicht brachte. Pheroras starb nämlich
ganz plötzlich in seiner Tetrarchie. Der König war über den Tod sei-
nes Bruders sehr betrübt und ließ den Leichnam zur Bestattung nach
Jerusalem bringen. Als nun einige Freigelassene des Pheroras die
Trauer des Königs sahen, hielten sie es für nötig, ihm ihre Vermutung
mitzuteilen, daß Pheroras durch Gift gestorben sei. Die darauf einge-
leitete Untersuchung ergab, daß im Hause des Pheroras allerdings
Gift vorhanden war, zugleich erwies sich aber auch, daß dieses Gift
nicht dem. Pheroras, sondern Herodes selbst zugedacht war. Die Witwe
19*
291
Der König Her ödes I.
des Pheroras gestand nämlich, daß Antipater ihren Gemahl in ein auf
die Vergiftung des Königs abzielendes Komplott hineingezogen hätta
Auch die Mutter des Antipater, Doris, war, wie sich herausstellte, an
der Verschwörung beteiligt. Andere Zeugen sagten aus, daß Antipater
im Kreise seine:’ Gesinnungsgenossen gehässige Äußerungen über sei-
nen Vater getan und dessen langes Leben sowie die Tatsache beklagt
hätte, daß die jüngeren Königssöhne in Rom als künftige Herrscher
erzogen würden.
Nun wurde Herodes alles klar. Jetzt sah er, daß er sein Vertrauen
einem Unwürdigen geschenkt hatte. Die verbrecherischen Anschläge sei-
nes ältesten Sohnes, auf den er alle Hoffnungen gesetzt hatte, standen
nunmehr außer Zweifel, und Herodes beschloß, den Verräter exempla-
risch zu bestrafen. Dazu mußte jedoch der verbrecherische Sohn aus
Rom nach Jerusalem gelockt werden, ehe er noch hätte Verdacht
schöpfen können, daß er in Ungnade gefallen sei. Diese x4bsicht
glückte auch aufs beste. Von dem Tode des Pheroras nicht unterrich-
tet, fuhr Antipater fort, ihm auch fernerhin über die geplante Ver-
giftung des Königs zu schreiben; diesen selbst überhäufte er aber
zugleich mit zärtlichen Briefen, in denen er nebenbei in ver-
leumderischer Weise seine jüngeren Brüder Archelaus und Philippus
des Hasses gegen den Vater bezichtigte. Herodes drängte nun den
Sohn unter allerlei Vorspiegelungen zur Rückkehr; schon befand sich
Antipater auf dem Wege nach Judäa. Unterwegs erhielt er jedoch die
besorgniserregende Nachricht von dem Tode des Pheroras; auch der
kühle Empfang, der ihm auf der Durchreise in Caesarea zuteil wurde,
schien dem Antipater verdächtig; dennoch setzte er seine Reise fort.
Als er aber in Jerusalem anlangte und in dem Palaste erschien, emp-
fing ihn nicht mehr das freundliche Auge eines Vaters, sondern der
strenge Blick eines Richters und Anklägers. Schon tags darauf wurde
Antipater vor ein Gericht gestellt, unter dem Vorsitz des römischen
Statthalters in Syrien, des berühmten Varus, der um diese Zeit in Je-
rusalem weilte. In der gerichtlichen Untersuchung kamen durch das
Kreuzverhör der Zeugen alle niederträchtigen Ränke des Angeklagten
sowohl gegen seinen Vater als auch gegen seine zugrunde gegangenen
Brüder ans Licht. Antipater vermochte nichts zu seinen Gunsten an-
zuführen und auch sein unterwürfiges Flehen um Gnade vermochte
niemanden zu rühren. So wurde denn der Stab über ihn gebrochen.
Herodes ließ den Sohn in Fesseln legen und erstattete darauf nach
§ 54. Der Beginn des Aufruhrs und der Tod des Hemdes
Rom Bericht, 'in dem, er den Kaiser um den endgültigen Urteils-
spruch bat (5).
Herodes stand bereits in hohem Alter (er war fast siebzig
Jahre alt) und litt überdies an einer unheilbaren Krankheit. Die Er-
schütterungen der letzten Zeit unterwühlten vollends seine Gesund-
heit. Der König gab fast alle Hoffnung auf Genesung auf, und auch
im Volke lief das Gerücht um, daß seine Tage gezahlt seien.
Die Kunde von der tödlichen Krankheit des Königs rief die Hoff-
nung auf baldige Befreiung von dem schwer lastenden Despotismus
wach und ließ in manchen Schichten der Bevölkerung nun den lange
zurückgehaltenen Protest laut werden. Zwei gelehrte Pharisäer, Juda
ben Sariphäus und Matthias ben Margaloth, bewogen ihre Schüler zu
einer patriotischen Demonstration, indem sie sie veranlaßten, den von
Herodes über dem Eingang zum Jerusalemer Tempel angebrachten
goldenen römischen Adler, der als das doppelte Symbol des Heiden-
tums und der Unterjochung für das nationale und das religiöse Ge-
fühl der Juden gleich verletzend war, zu zerstören. Durch die Reden
ihrer Lehrer angefeuert, stürzte die Jugend mit diesen zu dem, Tem-
peltore, riß den riesigen Adler herunter und schlug ihn mit Äxten
in Stücke. Es geschah dies um die Mittagszeit vor den Augen einer gro-
ßen Volksmenge, die gerade im Tempel versammelt war. Die Söldner
des Herodes fielen hierauf über das Volk her und, ergriffen, nahezu
vierzig der jungen Demonstranten mitsamt den beiden, Gesetzesleh-
rern, die es unter ihrer Würde hielten, vor den heranrückenden Sol-
daten zu fliehen.
Die Verhafteten wurden, dem Herodes vorgeführt. Der aufbrau-
sende Zorn ließ den kranken, König von seinem Lager jäh aufsprin-
gen. Mutig und erhobenen Hauptes standen jedoch die Demonstranten
vor dem, ergrimmten König. Das Verhör war kurz;; der alte Ge-
schichtsschreiber gibt es in einigen, lakonischen Sätzen wieder1). Auf
die erste Frage des Königs: „Ob sie es gewesen, die sich, erfrecht, den,
goldenen Adler zu zerhauen?1“ antworteten sie mit einem freimütigen
„Ja!“ Auf die weitere Frage: „Wer es sie geheißen?“, antworteten, sie:
„Das Gesetz der Väter?* Auf die dritte Frage endlich: „Warum, sie so
freudig seien, da sie den Tod erleiden, würden?** erwiderten sie:
„Nach, dem, Tode würden sie ein größeres Glück genießen.** Der Kö- 1 2
1) Nach der Version in Bett. I, 33, 3. In Ant. (XVII, 6, 3) ist das. Verhör aus-
führlicher wie derge geben.
2 9 3
Der König Herodes L
nig ließ sie fesseln und nach Jericho bringen. Dort wurde das Todes-
urteil an den Yolkshelden vollzogen. Die Hauptanstifter, darunter auch
die beiden Gesetzeslehrer, wurden bei lebendigem Leibe verbrannt,
während die anderen mit dem Beile hingerichtet wurden (im März des
Jahres 4)* Auch andere, die in die Sache verwickelt waren, kamen
dabei zu Schaden. So wurde der Hohepriester, der die aufrührerische
Kundgebung im Tempel geduldet hatte, von Herodes abgesetzt, und
sein Amt fiel einem gewissen Joasar aus dem Boethos-Geschlechte zu.
Die Krankheit des Königs wurde inzwischen immer schlimmer.
Auch die Heilquellen von Kallirrhoe (am Toten Meere) brachten keine
Heilung mehr und der König kehrte nach Jericho zurück. Hier emp-
fing er von den in der Angelegenheit des Antipater an den Kaiser ent-
sandten Boten die Antwort des Augustus, der es ihm anheimstellte,
seinen verbrecherischen Sohn nach Belieben zu bestrafen. Die Um-
stände veranlaßten Herodes, von seiner Befugnis ungesäumt Ge-
brauch zu machen. Dem König wurde nämlich Mitteilung gemacht,
der durch das Gerücht über das Ableben des Vaters irregeführte An-
tipater hätte den Versuch unternommen, den Kerkermeister zu beste-
chen, um so die Freiheit zu erlangen und sich dann des Thrones zu
bemächtigen. Der darob wütend gewordene König befahl, den Anti-
pater unverzüglich hinzurichten. Man berichtet, der Kaiser Augustus
hätte bei der Nachricht von der letzten Bluttat des Herodes ausgeru-
fen: „Dies ist ein Mensch, bei dem ein Schwein es besser hat als ein
Sohn!“ (eine Anspielung auf das Verbot des Schweinefleischgenusses
bei den Juden).
Die Hinrichtung des Antipater erfolgte nur wenige Tage vor dem
Tode des Königs. Die Sage will wissen, Herodes hätte im Vorgefühl
seines herannahenden Todes durch seine Schwester Salome den gehei-
men Befehl erteilt, in der Rennbahn zu Jericho die dorthin berufenen
judäischen Notabein einzusperren und sie bei seinem Tode umzubrin-
gen, damit das Volk, seine besten Mitbürger betrauernd, um seine
Freude über das Ableben des ihm verhaßten Königs gebracht werde.
Indessen scheint dieser nie zur Ausführung gekommene höllische
Racheplan eher der Gattung politischer Legenden anzugehören1).
!) Diese Erzählung des Josephus über Herodes wird in der talmudischen Über-
lieferung (Megillath Taanith, Kap. XI, Scholion) auf den früheren König Alexander-
Jannäus, den Feind der Pharisäer, bezogen, der angeblich gleichfalls die zu gewär-
tigende Freude des Volkes anläßlich seines Todes durch die Hinrichtung von sieb-
zig Greisen vereiteln wollte. Wir haben es somit mit einer „Wanderlegende“ zu
294
§ 54. Der Beginn des Aufruhrs und der Tod des Her ödes
Fünf Tage nach der Hinrichtung des Antipater ereilte auch Herodes
in Jericho der Tod (4 v. d. ehr. Ära). Die Leiche wurde mit gro-
ßem militärischen Gepränge nach dem auf dem Wege von Jerusalem
nach Jericho gelegenen Herodeion übergeführt und dort bestattet.
Der Tod des Herodes konnte im Volke, das allein der Autorität
seiner Gesetze zu gehorchen gewohnt war, nicht aber der despotischen
Willkür eines Autokraten, der noch überdies von Rom auf gezwun-
gen und dem nationalen Geiste gänzlich fremd war, nur einen Seuf-
zer der Erleichterung auslösen. Wären die Staatsaufgaben einzig und
allein auf die Außenpolitik und auf die diplomatischen Erfolge be-
schränkt, dann müßte allerdings die Regierung des Herodes als eine
glänzende angesprochen werden; betrachtet man jedoch als Erfolge
wahrer Staatskunst die bürgerliche Freiheit, die soziale Gerechtigkeit,
den Wohlstand der Volksmassen und namentlich die Sorge um die
geistige Entwicklung der Nation, dann muß diese Regierung als eine
der traurigsten in den Annalen der Geschichte erscheinen. Die
Schmeichler unter den Griechen und Römern zeichneten Herodes I.
durch den Beinamen des „Großen“ aus, allein diese Auszeichnung ge-
bührt ihm höchstens in dem Sinne, daß er im Vergleich zu den ihm
folgenden kleinen Despoten der größte gewesen war. Ein begünstigter
Vasall Roms, war Herodes in Judäa verhaßt. Grenzenloser Ehrgeiz,
Prunksucht und Machtgier, praktische Klugheit, durch keinerlei gei-
stige Ideale oder höhere sittliche Erwägungen geadelt — dies sind
die Hauptzüge der Persönlichkeit des Herodes* 1). Die Politik ersetzte
ihm die Moral, der Wille des römischen Souveräns den souveränen
ton: hier wie dort ein unbeliebter König, eine letztwillige Verfügung über die Hin-
richtung der erlesensten Männer und die Errettung der dem Tode Geweihten durch
die Mißachtung des letzten Willens des Verstorbenen seitens der Witwe oder der
Schwester (bemerkenswert ist auch, daß beide den Namen Salome tragen). Beach-
tenswert ist noch, daß in dem erwähnten geschichtlichen Kalender aus Anlaß des
Todes der beiden bei den Pharisäern unbeliebten Könige in der Tat Freudentage,
d. s. solche, an denen nicht gefastet werden durfte, festgesetzt wurden (MegiL
Taanith, IX). In dem Kommentar zu dem Kap. XI selbst werden die Namen des
Herodes und des Jannäus nebeneinander erwähnt, was wohl die Folge einer Ver-
wechslung der beiden Helden der Wanderlegende sein mag.
1) „Ein verräterischer Knecht des Hasmonäerhauses, der alle Angehörigen sei-
nes Herrn umgebracht hat“, so wird Herodes im Talmud gekennzeichnet (Baba
bathra, 3). — Eine vortreffliche psychologische Darstellung der Persönlichkeit des
Herodes, wie sie in der alten Historiographie nur selten anzutreffen ist, verdanken
wir den „Jüdischen Altertümern“ des Josephus Flavius (Ant. XVI, 5, 4)» den nur
ein halbes Jahrhundert von Herodes trennt.
295
Der König Herodes 1.
Willen des Volkes, die Eigenmächtigkeit die Macht des Rechts und
der Gerechtigkeit. Die Thora, die altehrwürdige Verfassung Judäas,
hörte unter Herodes auf, ein politischer Faktor zu sein. Die antinatio-
nale Regierung und das Volk standen sich in Judäa als zwei feindliche
Lager gegenüber. Schon zeigten sich die Vorboten des Zusammensto-
ßes dieser beiden Mächte. Das entscheidende Treffen sollte nun bald
folgen.
Viertes Kapitel
Die Nachfolger Herodes I. und die Zeit
der Wirren
(4 vor der christlichen Ära bis 6 der christlichen Ära)
§ 55. Archelaus und der Aufruhr in Jerusalem
In den letzten Jahren seines Lebens hatte Herodes einige Male
sein Testament über die Thronfolge geändert, je nach dem Verhält-
nis, in dem er zu seinen Söhnen stand. So wurde nach der Hinrich-
tung der Söhne der Mariamme Antipater zum einzigen Thronerben er-
nannt; nach dem Verrat des Antipater wurde ein neues Testament zu-
gunsten des Herodes-Antipas aufgesetzt, des jüngeren Sohnes des He-
rodes von der Samariterin Malthake (deren älterer Sohn Archelaus
war, § 53). Vor seinem Tode schließlich entschied sich Herodes für
das Teilfürstensystem, indem er in seinem letzten Testament seinen
Besitzstand unter drei Söhne teilte: Archelaus sollte die eigentlichen
Gebiete Judäas und den Königstitel erben, H er ödes-Antipas — Galiläa
und Peräa mit dem Titel eines Tetrarchen, endlich Philippus (der
jüngste Sohn des Herodes von der Kleopatra) — die tr ans jordanischen
Gebiete Trachonitis und Batanäa, gleichfalls mit der Würde eines
Tetrarchen. Auch hierin zeigt sich, daß dem Herodes der judäische
Staat gleichsam nur ein Erbgut bedeutete und daß ihm nur daran
lag, jeden seiner Söhne mit Landbesitz und Herrschergewalt auszu-
statten. Auch die anderen Mitglieder seiner Familie gingen nicht leer
aus. So vermachte er seiner Schwester Salome die Einkünfte von
einigen Städten, und die übrigen Angehörigen bedachte er mit be-
trächtlichen Jahresrenten und Legaten. Alle diese testamentarischen
Bestimmungen konnten nur nach deren Bestätigung durch den Kai-
ser Augustus Rechtsgültigkeit erlangen, und so gingen denn nun-
297
Die Nachfolger Her ödes L
mehr alle Bemühungen der Erbberechtigten auf die Einholung der
kaiserlichen Sanktion aus.
Unmittelbar nach dem Tode des Herodes zu Jericho verlautbarte
dessen Siegelbewahrer Ptolemäus das Testament des Verstorbenen in
Gegenwart der dort liegenden Truppen. Die vorwiegend aus Söld-
nern bestehende Armee huldigte Archelaus als ihrem König. Sie
war es auch, die sich vornehmlich an dem von Archelaus veranstalte-
ten pomphaften Leichenbegängnis des Herodes in Herodeion betei-
ligte. Den kriegstüchtigen Herrscher beweinte die Armee, nicht aber
die Nation.
Hierauf traf Archelaus in Jerusalem ein. Nach Ablauf der sieben-
tägigen Trauerzeit erschien er im Tempel und wandte sich an die dort
versammelte Volksmenge mit einer Begrüßungsansprache. Das Volk
antwortete mit lauten Rufen nach Reformen. Es verlangte vom neuen
König eine Herabsetzung der jährlichen Abgaben, die Abschaffung
der auf den Marktverkehr gelegten Steuern sowie die Freilassung der
noch immer in den Kerkern schmachtenden politischen Gefangenen.
Archelaus erwiderte, daß er vor der Bestätigung des väterlichen Te-
stamentes durch den Kaiser seine königliche Gewalt nicht frei ent-
falten könne, versprach aber den bescheidenen Volkswünschen soweit
wie möglich entgegenzukommen.
Die geringfügigen Neuerungen in Form von Steuererleichterungen
und politischer Amnestie konnten jedoch bei weitem nicht alle zu-
friedenstellen. Es bestand eine zahlreiche Partei unversöhnlicher Pa-
trioten, die durch das despotische Regime des Herodes zu äußerster
Erbitterung getrieben worden waren. Diese Partei konnte noch im-
mer den Untergang ihrer Helden nicht verschmerzen, die kurz vor
dem Tode des Tyrannen ihre nationale Tat, die Vernichtung des gol-
denen römischen Adlers über dem Haupttore des Tempels, mit ihrem
Leben hatten büßen müssen. Sobald die Hoftrauer anläßlich des To-
des des Herodes vorbei war, veranstalteten die Patrioten ihre eigene
nationale Trauerfeier, bei der die politischen Märtyrer der verflos-
senen Regierungszeit beklagt wurden, insbesondere die erst vor kur-
zem hingerichteten Gesetzeslehrer Juda und Matthias. Sie versam-
melten sich in Scharen und gaben ihrem Protest gegen die herodia-
nische Dynastie laut Ausdruck. Auch verlangten sie die Bestrafung
der böswilligen Ratgeber des Herodes sowie die Ernennung eines
§ 55. Archelaus und der Aufruhr in Jerusalem
neuen Hohepriesters, der des Amtes in jeder Weise würdig wäre. Ar-
chelaus suchte nun durch Vermittlung seiner Freunde die aufgeregte
Menge zu beschwichtigen, indem er das Versprechen gab, nach der
Bestätigung des Testamentes durch den Kaiser in Verhandlungen über
die vorgebrachten Forderungen einzutreten. Stürmische Entrüstungs-
rufe übertönten jedoch die Worte der königlichen Boten. Schon stand
die Revolution vor der Tür.
Als dann anläßlich des Passahfestes große Pilgerscharen nach Je-
rusalem herbeigeströmt kamen, stieg die Volkserregung in der Tat
bis zum höchsten Grade (4 v. d. ehr. Ära). Ein großer Teil der
Angekommenen schloß sich den Jerusalemer Aufrührern an. Am Vor-
abend des Festes, als die Patrioten von neuem lärmende Kundgebun-
gen im Tempel veranstalteten, kam es zu einem großen Blutvergießen.
Zunächst sandte Archelaus eine Truppenabteilung nur zur Abschrek-
kung der Aufrührer hin, die zahlreiche Menge bewarf jedoch die Sol-
daten mit Steinen, so daß sie eiligst fliehen mußten. Als Archelaus
nun erkannte, daß die Volksunruhen bedrohliche Dimensionen ange-
nommen hatten, ließ er die gesamte ihm zu Gebote stehende Heeres-
macht, Fußvolk wie Reiterei, an den Tempel heranrücken. Die Sol-
daten stürzten sich auf die den Tempel und den benachbarten Platz
füllende Menge und machten gegen dreitausend Mann nieder. Nach
diesem Gemetzel gab der König den Befehl, daß jedermann in seine
Heimat zurückkehren solle. Die nach Tausenden zählende Pilgermenge
mußte nun Jerusalem verlassen und auf die Feier des Passahfestes
in der heiligen Stadt verzichten. Fortan war Archelaus dem Volke
ebenso verhaßt wie sein Vater. Es war klar, daß von den Herodia-
nern die Wiederherstellung des nationalen Regimes und der politi-
schen Freiheit nicht zu erhoffen war. Die Bewegung gegen die von
Rom begünstigte Dynastie griff immer weiter um sich. Aus der
Hauptstadt griff sie auf die Provinz über, und das Land stand nun-
mehr unmittelbar vor der allgemeinen Volkserhebung.
Unterdessen begab sich Archelaus, gleich nach der Unterdrückung
des Aufruhrs im Tempel, nach Rom, um dort persönlich beim Kaiser
die Bestätigung seiner königlichen Würde zu erwirken. Für die Zeit
seiner Abwesenheit setzte er seinen Bruder und Miterben Philippus
zum Reichsverweser ein.
399
Die Nachfolger Herodes I.
§56. Der Aufstand und die Anarchie in Judäa
Die in Jerusalem ausgebrochenen Unruhen, die indirekt gegen das
römische Protektorat gerichtet waren, veranlaßten den römischen
Statthalter in Syrien, Quintilius Varus (§ 54), eine der drei ihm un-
terstellten Legionen in der aufrührerischen Hauptstadt zusammenzu-
ziehen. Yarus selbst blieb vorerst in Antiochia. In Judäa traf mittler-
weile, gerade als Archelaus sich zur Abreise rüstete, der vom Kaiser
zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Lande während der Zeit des
Interims entsandte und mit außerordentlichen Vollmachten ausge-
stattete „Procurator“ Sabinus ein. Eine unglücklichere Wahl zur Er-
füllung einer solchen Mission hätte wohl schwerlich getroffen wer-
den können. Statt das Volk zu befrieden, reizte es der grausame und
habgierige Sabinus durch sein herausforderndes Benehmen und seine
Erpressungen nur noch mehr. Eigentlich sollte er seinen Wohnsitz
in dem am Meere gelegenen Caesarea nehmen, er zog es jedoch vor,
seine Residenz zu verlassen und in Jerusalem, im königlichen Palaste,
Wohnung zu nehmen, wobei er die königlichen Schätze plünderte und
das Volk unter dem Vorwände, der „Meuterei“ Vorbeugen zu wol-
len, rücksichtslos bedrückte. Statt die Revolution abzuwenden, trug
er auf diese Weise nur zu ihrer Beschleunigung bei. Schon allein die
Anwesenheit des römischen Befehlshabers in der heiligen Stadt mußte
als Vorbote der herannahenden römischen Gewaltherrschaft auf ge-
faßt werden, und so beantwortete denn auch das in Erregung ver-
setzte Judäa diesen Schritt mit einem Ausbruch des Volkszornes.
Am Wochenfest (Schebuoth) desselben Jahres überfluteten Je-
rusalem von neuem ungeheure Pilgerscharen aus der Provinz. Gar
viele eilten in die Hauptstadt, nicht, um an den religiösen Feierlich-
keiten, sondern um an den politischen Kundgebungen gegen den ver-
haßten römischen Befehlshaber teilzunehmen. Das Volk, das die Rö-
mer von allen Seiten umzingeln wollte, teilte sich in drei Haufen: der
eine besetzte den von Herodes angelegten Zirkusplatz oder das Hippo-
drom, ein anderer nahm am Tempel Aufstellung, während der dritte
unmittelbar an den befestigten Königspalast, wo sich Sabinus selbst
befand, heranrückte. Als der feige Procurator den bedrohlichen An-
sturm des Volkes gewahrte, verkroch er sich in den Phasaelsturm,
den höchsten Turm der Palastburg, den römischen Soldaten befahl
er aber, gegen die Judäer vorzurücken. Vor dem Tempel kam es zu
§ 56. Der Aufstand und die Anarchie in Judäa
einem blutigen Gefecht. Die Römer überrannten den Tempelplatz,
die Juden stiegen jedoch auf die Dächer der den Tempel umgebenden
Hallen und warfen von hier aus Steine auf die Feinde herab und be-
schossen sie mit Pfeilen. Nun steckten die römischen Soldaten die
hölzernen Säulenhallen in Brand. Rasch wurde das gewaltige Bauwerk
bis zur Bedachung ein Raub der Flammen. Die oben aufgestellten
judäischen Kämpfer stürzten mit dem einbrechenden Dache herab
und fanden in den brennenden Trümmern den Tod. Viele, die keinen
Ausweg sahen, warfen sich selbst ins Feuer, und die den Flammen
zu entgehen vermochten, wurden von den Römern niedergemetzelt.
Hierauf drangen die Römer in den Tempel ein und fielen über seine
Schätze her. Da kam auch der beute witternde Sabinus aus seinem Ver-
steck hervor und nahm für sich allein vierhundert Talente aus dem
Tempelschatze fort.
Allein die Patrioten verloren nicht den Mut. Sie zogen ihre Kräfte
an einem Ort in der Nähe des Königspalastes zusammen, wo sich
Sabinus mitsamt seinen Kriegern verschanzt hatte. Das Volk umzin-
gelte den Palast und drohte den Bau in Brand zu stecken oder zu
unterwühlen. Den Patrioten schloß sich auch ein Teil der königlichen
Truppen an. Die Belagerer schlugen dem Sabinus und seiner Heeres-
abteilung vor, freiwillig aus Jerusalem abzuziehen, indem sie freien
Durchzug gewährleisteten. Sabinus, der unzählige Gewalttaten und
Plünderungen auf seinem Gewissen hatte, fürchtete sich jedoch, die Fe-
stung zu verlassen, und zog es vor, die Hilfe der Legionen des Statt-
halters Syriens, Varus, abzuwarten, den er unverzüglich von seiner
gefahrvollen Lage benachrichtigt hatte.
Nicht in der Hauptstadt allein kämpfte indessen das Volk für
seine Befreiung von den Herodianern und den Römern. Auch die alte
Stätte des revolutionären Geistes, Galiläa, rührte sich. Hier stellte sich
an die Spitze der Aufständischen Juda, der Sohn jenes Führers der
galiläischen Patrioten Ezechias, mit welchem Herodes seinerzeit wie
mit einem Räuberhäuptling kurzen Prozeß gemacht hatte (§ 43). Mit
seiner heldenmütigen Schar überfiel Juda der Galiläer die Stadt Zi-
pora (Sepphoris), bemächtigte sich der im königlichen Arsenal auf-
bewahrten Waffen und bewaffnete eine Menge von Insurgenten. Die
Haufen des Juda bedrängten in ganz Galiläa die Römer und die An-
hänger der Herodianer und verbreiteten überall Furcht und Entsetzen.
Um dieselbe Zeit meuterte in Transjordanien ein gewisser Simon,
3oi
Die Nachfolger Herodes I.
ein ehemaliger Diener des Herodes, der sich selbst zum „Könige“
ausgerufen hatte. An der Spitze einer Bande drang er in Jericho ein,
plünderte und verbrannte dort den königlichen Palast; auch an ande-
ren Orten wüteten, sengend und plündernd, seine Banden. Ein ehe-
maliger Hirte namens Athronges sowie dessen vier Brüder, Männer
von riesenhaftem Körperbau und gewaltiger Stärke, bildeten gleich-
falls Freischärlertruppen, die die Römer und die königlichen Sol-
daten nicht zur Ruhe kommen ließen. Bei Emmaus gelang es ihnen
sogar, eine ganze römische Kohorte zu besiegen. Es herrschte allge-
meine Verwirrung im Lande. Die mit elementarer Kraft ausgebrochene
Volkserhebung artete in Anarchie aus, der Befreiungskrieg in sinn-
lose, verheerende Überfälle, die nicht nur die Feinde der Nation schä-
digten, sondern auch die friedliche Bevölkerung in Mitleidenschaft
zogen. Es fehlte an einem gemeinsamen Führer und einem umfassen-
den Aktionsplan.
Als der Statthalter Syriens, Varus, endlich von allem, was in Ju-
däa vor sich ging, Kunde erhielt, brach er mit den ihm noch übrig-
gebliebenen zwei Legionen von Antiochia auf; unterwegs schlossen
sich ihm auch noch arabische Hilfstruppen an, und bald rückte die
ganze Heeresmacht in Galiläa ein. Der Mittelpunkt des galiläischen
Aufstandes, die Stadt Zipora, wurde den Flammen preisgegeben und
die dort gefangengenommenen Parteigänger des Juda Galiläus wur-
den als Sklaven verkauft. Darauf überschritt Varus die Grenzen Sa-
marias, das er jedoch verschonte, da dessen Bewohner an dem Auf-
stand nicht beteiligt waren. Nur die mit dem römischen Heere mit-
ziehenden, den Juden feindlich gesinnten Araber verheerten und plün-
derten wahllos alles auf ihrem Wege. Endlich erschien die Armee des
Varus vor Jerusalem, um den dort noch immer im Palaste belager-
ten Sabinus zu entsetzen. Nunmehr erst ließen die Belagerer locker
und suchten sich durch Flucht zu retten; die Leute aus der Provinz
verließen die Hauptstadt und auch die Jerusalemer Bürger kamen
zur Besinnung. Der nun befreite Sabinus beeilte sich, Jerusalem zu
verlassen, und vermied es, mit Varus zusammenzutreffen, der ihn für
seine Übergriffe hätte zur Verantwortung ziehen können. Varus ließ
nun seine Truppen das Land durchziehen, um die Anstifter des Auf-
standes zu ergreifen und die noch übriggebliebenen Freischärler-
haufen zu zerstreuen. Nahezu zweitausend aktive Teilnehmer des Auf-
§ 57. Die Erben des Herodes in Rom
Standes wurden auf diese Weise an verschiedenen Orten eingefangen.
Sie wurden alle auf Befehl des Varus ans Kreuz geschlagen.
So ging das Jahr 4 v. d. ehr. Ära hin, das Jahr der blutigen re-
volutionären Aufstände und der Anarchie. Es war dies gleichsam die
Antwort der in Verzweiflung geratenen Nation auf das langjährige
antinationale Regime des Herodes und auf die kränkende Vormund-
schaft Roms. Der Nachfolger des Herodes begegnete der Volkserhe-
bung mit einem Gemetzel im Tempel, Rom aber mit der Kreuzigung
von zweitausend Freiheitskämpfern. Entsetzlich waren die Erinnerun-
gen, die das Volk aus diesem schwarzen Jahre mit sich nahm. Der
talmudischen Überlieferung ist diese Zeit unter der Bezeichnung:
„Epoche der Varuskriege“ bekannt (polemos Asveros)1). Der dieser
Zeit nahestehende Josephus Flavius vergleicht den Einbruch der Le-
gionen des Varus mit den Einfällen des Antiochus Epiphanes und des
Pompejus (Contra Apion. I, 7).
§57. Die Erben des Herodes in Rom
Während Judäa von diesen blutigen Wirren heimgesucht wurde,
harrten die in Rom versammelten Erben des Herodes der Entschei-
dung des Augustus hinsichtlich des väterlichen Testaments. Dem Ar-
chelaus, der sich in Begleitung des Nicolaus Damascenus und anderer
Ratgeber seines Vaters nach Rom begeben hatte, folgten dorthin auch
Herodes-Antipas mit Gefolge, sowie deren Muhme Salome mit ihrem
Sohne Antipater. Zwischen den beiden Brüdern kam es alsbald zu
einem Konflikt. Herodes-Antipas wollte sich mit der Würde eines
galilälschen Tetrarchen nicht zufriedengeben und beanspruchte den
Königstitel Judäas, indem er sich darauf berief, daß der Vater in sei-
nem, vorletzten Testamente diese Würde gerade ihm, zugedacht hatte.
Dagegen betrachtete Archelaus, auf Grund des letzten, geänderten Te-
staments des Herodes, sich allein als den gesetzlichen Thronerben.
In einer Versammlung seiner Freunde und Würdenträger ließ nun
der Kaiser beide Brüder sowie deren Wortführer ihre Ansprüche und,
Beweisgründe geltend machen. Die Interessen, des Herodes-Antipas
■*■) In der talmudischen. Weltchronik „Seder dam" heißt es am, Schluß';: „Vom;
Kriege des ,Asveros (Varus) bis zum Kriege des Vespasian vergingen achtzig' Jahre“.
Dieser Überlieferung entspricht annäherungsweise' der Zeitraum, .zwischen, dem. Jahr 4
v. d. ehr. Ära, und dem, Jahr 70 d. ehr. Ära, d. i. dem Zeitpunkte des Falles Jeru-
salems unter' Vespasian und, Titus.
3o3
Die Nachfolger Herodes I.
vertrat mit großer Beredsamkeit dessen Vetter Antipater. Seine Rede
war zugleich eine Anklage gegen Archelaus.- Er suchte nämlich zu
beweisen, daß Archelaus, der, ohne die Entscheidung des Kaisers ab-
zuwarten, sich in Judäa bereits als Selbstherrscher auf gespielt und
die verbrecherische Nieder me tzelung von dreitausend Menschen im
Jerusalemer Tempel verschuldet hatte, des Königstitels in keiner Weise
würdig sei. Auch drang er darauf, daß das vorletzte, den Antipas zum
König einsetzende Testament des Herodes als zu Recht bestehend an-
erkannt werde, nicht aber die letztwillige Verfügung zugunsten des
Archelaus, die der Verstorbene, wie er sagte, im Zustande völligen
geistigen Verfalls getroffen hätte. Dem trat der Wortführer des Ar-
chelaus, Nicolaus Damascenus, entgegen, der in langer Rede seinen
Herrn von dem Vorwurf der Eigenmächtigkeit reinzuwaschen und die
Verantwortung für das Gemetzel im Tempel auf die Führer der Re-
volutionspartei abzuwälzen suchte. Er erklärte, daß das letzte Ver-
mächtnis von Herodes im Vollbesitze seiner geistigen Kräfte abgefaßt
worden sei und sprach im Anschluß daran die Hoffnung aus, der
Kaiser werde den letzten Willen eines Königs, der stets sein treuer
Freund und Vasall gewesen, nicht mißachten. Als die Rede zu Ende
war, sank Archelaus demutsvoll vor dem Kaiser in die Knie. Augustus
befahl ihm aufzustehen und versprach, seine Entscheidung später
kundzutun, nachdem er im Besitze der von Varus erwarteten Nach-
richten über die wirkliche Sachlage im aufrührerischen Judäa sein
werde.
Nun traf aus Judäa der Bericht über die Niederwerfung der
Volkserhebung durch die Legionen des Varus ein. Bald darauf kam
mit der Genehmigung des Varus auch eine Gesandtschaft des „jü-
dischen Volkes“ nach Rom, anscheinend seiner theokratisch gesinnten
Schichten oder der gemäßigten Pharisäer. Diese aus fünfzig Mitglie-
dern bestehende Abordnung war beauftragt, vom Kaiser die Beseiti-
gung aller herodianischen Kronprätendenten überhaupt, sowie die
Ausstattung Judäas mit den Rechten einer autonomen Provinz inner-
halb des römischen Syrien zu erwirken1). Zugleich erschien in Rom
auch der dritte Prätendent Philippus, um sich gleichfalls seinen Erb-
anteil zu sichern. Um sich nun in diesen vielerlei Ansprüchen zurecht-
!) Der Ausdruck „Autonomie*‘ wird im griechischen Text der Jüdischen Al-
tertümer (XVII, n) und des Jüdischen Krieges (II, 6, i) selbst gebraucht; an der
letzteren Stelle heißt es: „peri tes tou ethnous autonomias“.
§ 57. Die Erben des Herodes in Rom
zufinden, berief der Kaiser eine neue Versammlung in den großen
Apollotempel. Hier hörte er zunächst die Gesandten des jüdischen
Volkes an. Diese entwarfen vor der Versammlung ein düsteres Bild
des Königtums des Herodes, erzählten von seiner tyrannischen Regie-
rungsweise und von seiner Mißachtung aller nationalen Bräuche, von
der Bevorzugung der Fremden im Vergleich zu den Juden, von der
Ruinierung des Volkes durch unerträglichen Steuerdruck, von der
Habgier und der Bestechlichkeit seiner Beamten sowie von der von
ihm begünstigten Lockerung der Sitten. Dem fügten die Abgesandten
noch hinzu, der Nachfolger des Herodes, Archelaus, hätte von Anfang
an, wie er es namentlich bei dem Gemetzel im Jerusalemer Tempel
gezeigt habe, seinen Vater an Grausamkeit noch übertroffen. Sie ba-
ten daher den Kaiser, Judäa von solchen Herrschern und überhaupt
von einer königlichen Dynastie zu befreien und statt dessen ihm eine
autonome republikanische Verfassung unter der Aufsicht Roms zuteil
werden zu lassen, damit das Volk seinen eigenen Gesetzen gemäß le-
ben könne. Auch versicherte die Gesandtschaft, daß das judäische
Volk bei genügender Gewährleistung der Selbstverwaltung sich eher
den römischen Statthaltern gefügig erweisen werde, als den Herr-
schern aus der halb-jüdischen Dynastie. In der Versammlung waren
auch Mitglieder der jüdischen Gemeinde Roms zugegen, die die Aus-
führungen mit Beifall auf nahmen1). Da trat wieder der Sachwalter
des Archelaus, Nicolaus Damascenus, auf den Plan. Er machte es den
Volksboten zum Vorwurf, daß sie das Andenken des heimgegangenen
Königs zu beflecken suchten, und rechtfertigte auch die grausamen
Maßnahmen des Archelaus durch die Notwendigkeit, die aufrühre-
rische Gesinnung der Juden und ihren Hang zur Widersetzlichkeit im
Zaume zu halten.
In derselben Versammlung traten anscheinend mit ihren Ansprü-
chen auch die Vertreter der von Herodes unterworfenen griechischen
Städte Palästinas auf: sie verlangten für diese Städte die völlige Un-
abhängigkeit. von Judäa, und der Syrer1 Nicolaus Damascenus riet
1) In diesem Sinne ist der Bericht des Joseph«», der sich in beiden Werken
wiederholt {Ant. XVII, 11, i und Bell. II, 6, i), zu verstehen, wonach der judäi-
schen Abordnung sich mehr als 8000 in Rom wohnhafte Juden angeschlossen hät-
ten. Sie traten eicht der Abordnung, sondern dem von ihr ausgesprochenen Wunsche
hei, dem die jüdische Kolonie durch ihre Vertreter ihre Zustimmung gab.
20' Dnbnov, WeltgesicMcWe des Jüdischen Volkes, BdL. XI
3o5
Die Nachfolger Herodes /.
denn auch seinem Herrn Archelaus, die Forderungen der Griechen
freiwillig zu erfüllen1).
Nach einigen Tagen gab endlich Augustus seine Entscheidung in
der Sache des Vermächtnisses des Herodes bekannt (3 v. d. ehr. Ära).
Das Testament wurde in seinen Hauptzügen bestätigt, nur mit der
Abweichung, daß Archelaus sich, statt des königlichen Titels, mit der
bescheideneren Würde eines Ethnarchen begnügen mußte. Er erhielt
das eigentliche Judäa, Samaria und Edom; dagegen wurde ihm der
ehedem dem Herodes übertragene Besitz der hellenisierten Städte: der
Küstenstadt Gaza und der am Jordan gelegenen Gadara und Hippos
entzogen; deren griechischer Bevölkerung zu Gefallen wurden diese
Städte erneut zur römischen Provinz Syrien geschlagen. Herodes-Anti-
pas erhielt als Anteil Galiläa und Peräa mit dem Titel eines Tetrar-
chen, der dem Titel eines Ethnarchen um einen Grad nachstand.
Philippus wurde eine aus den Landschaften Trachonitis, Batanäa und
Auranitis bestehende Tetrarchie, d. i. das nordöstliche Randgebiet Pa-
lästinas, zuteil. Auch die Schwester des Herodes, Salome, erhielt das
ihr zugedachte Einkommen von den im Landbesitz des Archelaus ge-
legenen drei Städten Jamnia, Asdod und Phasaelis und daneben noch
den Palast des Herodes zu Askalon.
§ 58. Die Regierung des Archelaus und seine Verbannung
Der Streit des Volkes mit der Herodesdynastie war somit zugun-
sten der letzteren entschieden. Der dem Volke verhaßte Archelaus
wurde nunmehr zum rechtmäßigen Gebieter Judäas2). Daß seine
Herrschaft eine Tyrannenherrschaft sein mußte, ist ohne weiteres
klar. Archelaus hatte alle Schattenseiten Herodes I. geerbt, jedoch
ohne seinen staatsmännischen Sinn. Zuerst führte er die von Varus
*) Diese in der Darstellung des Josephus fehlende Episode hat sich in den
Fragmenten der Bücher des Nicolaus Damascenus erhalten. Die Wiedergabe der An-
sprüche der Griechen stimmt indessen so sehr mit der Darstellung des Josephus
überein und erklärt außerdem in so befriedigender Weise die unten angeführte Ent-
scheidung des Augustus, die drei griechischen Städte von dem judäischen Land-
besitz abzutrennen, daß die geschichtliche Glaubwürdigkeit dieser Episode durchaus
unzweifelhaft erscheint.
2) Sein offizieller Name war Her ödes-Archelaus (alle Nachkommen Herodes I.
fügten ihrem eigenen Namen den Familiennamen Herodes bei). Es wird vermutet,
daß die erhaltengebliebenen Münzen jener Zeit mit der griechischen Aufschrift
„Herodou Ethnarchou“ aus der Regierungs zeit des Archelaus stammen.
3o6
§ 58. Die Regierung des Archelaus und seine Verbannung
eingeleitete Züchtigung der jüdischen Revolutionsparteien zu Ende.
Die Hohepriester ernannte er und enthob sie wieder ihres Amtes, als
wären sie untergeordnete Beamte. Während der neunjährigen Regie-
rungsdauer des Archelaus lösten in Jerusalem nicht weniger als drei
Hohepriester einander ab. Zunächst wurde Joasar aus dem Boethos-
Geschlechte wegen politischer Unzuverlässigkeit beseitigt und durch
seinen Bruder Eleasar ersetzt, welch letzterer bald seinen Platz wieder-
um einem gewissen Josua ben Sie abtreten mußte. Auch den leiden-
schaftlichen Hang seines Vaters für Neubauten hatte Archelaus ge-
erbt. Er restaurierte und schmückte den königlichen Palast zu Je-
richo aufs prachtvollste aus und legte in der angrenzenden Ebene
Palmenpflanzungen an, die er mit kunstvollen Bewässerungsvorrich-
tungen versehen ließ. Überdies gründete er hier in der Nähe einen Ort
namens Archelais.
Auch in seinem Familienleben zeigte Archelaus, ganz wie sein Va-
ter, völlige Gleichgültigkeit den seinem Volke heiligen religiösen Vor-
schriften und Gebräuchen gegenüber. Besonderen Anstoß erregte seine
Heirat mit der kappadocischen Prinzessin Glaphyra, der Witwe seines
Stiefbruders Alexander, des Sohnes der Hasmonäerin Mariamme
(§ 53). Nach der Hinrichtung des Alexander heiratete nämlich Gla-
phyra den König von Mauritanien Juba und kehrte dann, nachdem sie
zum zweiten Male Witwe geworden war, nach Kappadocien zurück.
Hier traf sie nun Archelaus und verliebte sich so sehr in sie, daß er
um ihretwillen seine erste Gemahlin verstieß. Diese Ehe mußte als
eine offenkundige Verletzung des Thoragesetzes alle rechtgläubigen
Juden aufs tiefste empören, da Glaphyra von ihrer ersten Ehe mit
Alexander Kinder hatte, dem Gesetze zufolge aber nur die Witwe
eines kinderlosen Bruders geehelicht werden durfte. Bald darauf starb
jedoch Glaphyra; im Volke ging die Sage, sie hätte vor dem Tode
einen bedeutungsvollen Traum gehabt: ihr verstorbener Gemahl Alex-
ander wäre ihr erschienen, der sie der sündhaften Ehe mit seinem
Bruder bezichtigt und ihr angekündigt hätte, sie bald zu sich nehmen
zu wollen.
Die Unzufriedenheit mit der Regierung des Archelaus griff in-
zwischen im Volke immer weiter um sich. Nicht nur die Juden brach-
ten ihren Mißmut zum Ausdruck, sondern auch die Samaritaner, die
unter Herodes I. besondere Vorrechte genossen hatten. Archelaus
kümmerte sich indessen um das Murren des Volkes nicht und ver-
20*
307
Die Nachfolger Herodes I.
gaß sogar, daß er dem Kaiser Rechenschaft für seine Regierung
schuldig sei. Bei der Bestätigung des Archelaus in der Ethnarchen-
würde hatte ihm nämlich Augustus vorgeschrieben, seine Untertanen
mit Sanftmut zu behandeln, und versprach ihm, mit der Zeit ihm
auch den Königstitel zu verleihen, wenn er sich durch eine segens-
reiche Verwaltung dessen würdig erweisen würde. Archelaus erfüllte
aber die auf ihn gesetzten kaiserlichen Hoffnungen in keiner Weise,
und so konnten denn die Boten der unzufriedenen Juden und der
Bürger Samarias mit gutem Grund gegen ihn in Rom Beschwerde
führen. Als Augustus die wahrscheinlich durch recht überzeugende
Tatsachen bekräftigten Klagen vernahm, geriet er in Zorn und be-
orderte Archelaus unverzüglich nach Rom. Archelaus kam, vermochte
jedoch die ihm zur Last gelegten Übergriffe nicht in Abrede zu stel-
len, worauf ihn der Kaiser seines Amtes enthob und zur Verbannung
verurteilte. Als Verbannungsort wurde ihm die Stadt Vienna an der
Rhone, in Gallien, zugewiesen (6 d. ehr. Ära). Im gleichen Jahre
begab sich sein Mithelfer bei der Unterdrückung des jüdischen Auf-
standes, der Statthalter Varus, nach Germanien. Hier erregte er
durch seine Gewaltmaßnahmen den Haß der Bevölkerung und kam
drei Jahre später mit den erlesensten römischen Legionen in der be-
rühmten Schlacht gegen Arminius im Teutoburger Wald um.
Nach der Absetzung des Archelaus wurde sein Herrschaftsbereich
unmittelbar der römischen Verwaltung unterstellt. Nur die Tetrarchien
des Herodes-Antipas (Galiläa und Peräa) und des Philippus (die nord-
östlichen Marken) blieben als Vasallenfürstentümer erhalten. Das ei-
gentliche Judäa (Samaria und Edom miteinbegriffen) wurde hin-
gegen der Provinz Syrien angegliedert, jedoch als ein besonderes Ge-
biet mit einem selbständigen römischen „Procurator“, der seine Re-
sidenz in Caesarea am Meere aufgeschlagen hatte. Somit war für
Zentraljudäa die siebzigjährige Periode des römischen Protektorats
zu Ende und es begann nun die Periode der unmittelbaren römischen
Herrschaft.
3o8
Fünftes Kapitel
Das geistige Leben in Judäa
§ 59. Das Parteiwesen; das gelehrte Pharisäertum
In der Epoche des römischen Protektorats mußten die gegenseiti-
gen Beziehungen der jüdischen politischen Parteien eine wesentliche
Änderung erfahren. Der über ein Jahrhundert währende Streit der
Sadduzäer und Pharisäer über die Formen der Staatsgewalt, über die
Priorität des weltlichen oder des geistlichen Prinzips wurde durch das
Eindringen der fremden Macht, die die innere Politik in Judäa ganz
von der internationalen römischen Politik abhängig gemacht hatte,
völlig in den Hintergrund gedrängt. In dieser Epoche wird die Grund-
richtung jeder der jüdischen Parteien vor allem durch ihr jeweiliges
Verhalten der fremdländischen Vormundschaft gegenüber bestimmt.
Der Hauptkampf spielt sich zunächst zwischen den Anhängern der
nationalen hasmonäischen Dynastie und den Parteigängern der römi-
schen Kreaturen, der Antipatriden, ab, während späterhin, nach dem
Untergange der Hasmonäerdynastie, die Bekämpfung des unpopulären
Regimes des Herodes und seiner Nachfolger in den Vordergrund tritt.
Wie sich nun auf diese politischen Strömungen die Kräfte der drei
alten Parteien, der Pharisäer, Sadduzäer und der apolitischen Essäer,
verteilten, ist nicht mit Genauigkeit zu bestimmen; immerhin ist es
möglich, auch hierüber einige Feststellungen allgemeinen Charakters
zu machen.
Unter den Patrioten, die nach der Invasion des Pompe jus für den
entthronten König Aristobul II. und seine Söhne Alexander und An-
tigonus gekämpft hatten, scheinen die Sadduzäer, die alten Parteigän-
ger des Aristobulus, vorherrschend gewesen zu sein. Der Sturz des
Antigonus und das Erlöschen der hasmonäischen Dynastie beraubten
jedoch die Sadduzäer ihres Hauptstützpunktes, und seitdem ist diese
3og
Das geistige Leben in Judäa
Partei in stetem Niedergange begriffen. Ihre anpassungsfähige-
ren Elemente finden sich mit der die griechisch-römische Kultur be-
günstigenden Politik des Herodes ab. Dieser Teil der Jerusalemer
Aristokratie verschmilzt anscheinend mit den Boethosäern, mit der
Partei des offiziellen Klerus, die die Regierungspolitik in jeder Weise
unterstützt. So hat sich denn auch in der Erinnerung der Nachwelt
die Wortverbindung „Sadduzäer und Boethosäer“ zur Kennzeichnung
des Freidenkertums und der Assimilation erhalten können.
Einen direkten Gegensatz zu den Sadduzäern bildeten die Essäer,
die allen gesellschaftlichen Strömungen überhaupt fernblieben und
ihrer Überzeugung auch in dieser stürmischen Epoche der Staatsum-
wälzungen die Treue hielten. Indem sie alle Staatlichkeit grundsätz-
lich als ein unvermeidliches Übel betrachteten, bewahrten sie ihren
Gleichmut sogar dem antinationalen Regime Herodes I. gegenüber,
der die Demut dieser Menschen, die ihm in seiner politischen Lauf-
bahn keine Schwierigkeiten bereiteten, denn auch wohl zu schätzen
wußte. Nicht um der Heiligkeit ihres Lebenswandels willen hielt er
die Essäer in Ehren, sondern einzig und allein darum, weil sie all den
Missetaten seines Königtums keinen aktiven Widerstand entgegensetz-
ten; sogar dann, als die Essäer, ihren Ordenssatzungen gemäß, sich
weigerten, dem König den Treueid zu leisten, unterließ er es, zu Ge-
waltmaßnahmen zu greifen. Ein besonderes Wohlwollen brachte He-
rodes namentlich einem der Essäerführer namens Menachem entge-
gen. Gleich vielen anderen Mitgliedern des Essäerordens stand näm-
lich auch Menachem im Rufe eines gottbegnadeten Wahrsagers. Noch
dem Jüngling Herodes soll dieser Essäer geweissagt haben, daß er
dereinst der König Judäas werden, zu Macht und Ruhm gelangen,
jedoch Frömmigkeit und Gerechtigkeit mit Füßen treten werde. Zu
dieser Weissagung bedurfte es übrigens keiner prophetischen Gabe;
es genügte, in die Politik des Vaters des Herodes, Antipater, der für
seinen Sohn mit aller Umsicht das Erbe der Hasmonäer bereitzustel-
len suchte, tiefer einzudringen. Als dann später die Weissagung des
Menachem sich in der Tat bewahrheitete, soll der König den weisen
Essäer herbeigerufen und ihn gefragt haben, wieviel Jahre ihm nun
zu regieren beschieden sei. Menachem schwieg, dem Herodes gelang
es jedoch durch indirekte Fragen aus ihm herauszubekommen, daß
seine Regierung mindestens von einer dreißigjährigen Dauer sein
werde. Dadurch befriedigt, entließ der König in Gnaden den demuts-
§ 59. Das Parteiwesen; das gelehrte Pharisäertum
vollen Essäer und stand fortan mit Wohlwollen allen seinen Gesin-
nungsgenossen gegenüber1). *
Viel komplizierter gestaltete sich hingegen während all der Krisen
die Rolle der Pharisäer, der national-geistlichen Partei des Judentums.
Die Pharisäer waren zweifellos zahlreich in jener nationalen Oppo-
sition vertreten, die gegen die Folgen des römischen Protektorats un-
ter Hyrkan II., unter Antipater und Herodes ankämpfte. So feuerten
die Vaterlandsfreunde des linken Flügels der Pharisäerpartei jene
Scharen der galiläischen Insurgenten an, die ihre patriotischen Hel-
dentaten unter Anführung des Ezechias und des Juda (§§ 43 u. 56)
vollbrachten* 2). Auch Juda und Matthias, die Urheber der Volkskund-
gebung, die zur Zeit des Herodes in der Vernichtung des römischen
Adlers über den Toren des Jerusalemer Tempels ihren Ausdruck fand,
waren volkstümliche „Gesetzeslehrer“, mithin Pharisäer. Allein nur
die Minderheit der Pharisäerpartei gehörte zu ihrem linken Flügel,
zu der aktiven Opposition, die gegen Rom und seine Schützlinge mit
revolutionären Mitteln ankämpfte. Die Mehrzahl der Pharisäer leistete
hingegen der Regierung des Antipater, Herodes und Archelaus nur
passiven Widerstand. Trotz Verurteilung des die Volksinteressen den
fremden Interessen opfernden gesetzwidrigen Regimes hielten sich
diese Pharisäer von der Außenpolitik fern und widmeten sich ganz
der Befestigung der geistig-sozialen Grundlagen des Judentums durch
Pflege der religiösen Gesetzgebung3). Dem zwangsläufigen Prozeß
gemäß, der gar oft das Mittel an die Stelle des Zweckes treten läßt,
gingen nun viele dieser Pharisäer von der praktischen Gesetzgebung
zur rein akademischen Gesetzeslehre und Rechtskunde über. Mit der
wachsenden Abneigung gegen jede politische Betätigung geht der Ty-
!) Ant. XV, io, 5.
2) Dies erklärt hinlänglich den Protest des Jerusalemer Synhedrion, in dem die
Pharisäer mit Schemaja und Abtalion an der Spitze die führende Rolle spielten,
"gegen die Eigenmächtigkeit des Herodes bei der Unterdrückung des Aufstandes des
Ezechias in Galiläa. Hinsichtlich Juda des Galiläers erklärt Josephus ausdrücklich
(Ant. XVIII, i), seine Partei hätte der Lehre der Pharisäer beigepflichtet und nur
das Prinzip der nationalen Freiheit mehr in den Vordergrund gerückt.
3) Vermutlich entstammte eben diesem Kreise der „Gemäßigten“ jene Gesandt-
schaft des Volkes, die sich während des Streites um die Erbschaft Herodes I. in
Rom für die alte theokratische Autonomie eingesetzt und dem herodianischen Re-
gime die unmittelbare römische Herrschaft unter der Voraussetzung einer Nichtein-
mischung in die inneren Angelegenheiten Judäas vorgezogen hat ($ 57).
3i 1
Das geistige Leben in Judäa
pus des pharisäischen Praktikers immer mehr in dem des gelehrten
Pharisäers, des Theoretikers, auf. Es bildet sich nun der Typus eines
Legislen heraus, der jetzt nur indirekt, vermittels der ihm zukommen-
den Autorität eines Rechtsgelehrten, auf die gesellschaftliche Verfas-
sung einzuwirken vermag.
Die ersten Anzeichen dieser Verwandlung treten bereits in der
Wirksamkeit jenes „Gelehrtenpaares“ („Sug“), Schemaja und' Ab-
talion1), hervor, die zu Beginn der Epoche des römischen Protek-
torats an der Spitze der Pharisäerpartei gestanden hatten. Zum Unter-
schiede von ihren Vorgängern, Simon ben Schetach und Juda ben
Tabai, spielten diese Gesetzeslehrer weder in den Regierungskreisen
noch in den Reihen der aktiven politischen Opposition eine maß-
gebende Rolle. Unter Hyrkan II. hielt es Schemaja noch für geboten,
gegen die Eigenmächtigkeit des jungen Herodes in Sachen der Züch-
tigung der galiläischen Patrioten Verwahrung einzulegen. Als aber
dann Herodes, der inzwischen in Rom zum König ausgerufen worden
war, den Antigonus in Jerusalem belagerte, waren es gerade Schemaja
und Abtalion, die, die Aussichtslosigkeit des Widerstandes einsehend,
den Einwohnern den Rat erteilten, die Belagerer in die Stadt einzu-
lassen. Nachdem Herodes den Thron bestiegen hatte, verweigerten
ihm Schemaja und Abtalion samt ihren Anhängern (deren Zahl der
alte Geschichtsschreiber auf über 6000 schätzt) allerdings den Treu-
eid, blieben indessen auch jetzt der revolutionären Bewegung fern;
wiewohl sie die Regierung als antinational und gesetzwidrig ansahen,
mischten sie sich dennoch nicht in die Staatsgeschäfte ein.‘So bildete
sich eine gegenseitige Toleranz heraus: während er den aufrühreri-
schen Teil der Pharisäer verfolgte, ließ Herodes die friedlich gesinnte
Mehrzahl dieser Partei in Ruhe, und deren Vertreter, wie z. B. Sche-
maja und Abtalion, wandten ihrerseits den Staatsgeschäften den Rük-
ken, indem sie in der Stille an dem Werke der geistigen Sicherung
der Nation weiter arbeiteten. Aus den von der talmudischen Tradition
überlieferten belehrenden Wahlsprüchen dieser beiden Führer der
1) Daß diese Helden der talmudischen Überlieferung mit den von Josephus er-
wähnten gelehrten Pharisäern Sameas und Pollio identisch sind, unterliegt wohl
kaum einem Zweifel (Ant. XIV, 9, 4; XV, 1, 1 und 10, 4). An einer Stelle
werden von Josephus beide, wie im Talmud, zugleich erwähnt, jedoch mit der fol-
genden Kennzeichnung: „Der Pharisäer Pollio und dessen Schüler Sameas“, wäh-
rend der Talmud beide Gesetzeslehrer als gleichberechtigte Führer der Pharisäer-
partei nebeneinander stellt.
§ 60. Die Reform der mündlichen Lehre (Hillel)
Pharisäerpartei (Aboth, I, 9—10) ist eine indirekte Anspielung auf
ihr Verhalten zu der damaligen Staatsgewalt herauszuhören. So lehrt
Schemaja: „Liebe das Handwerk, scheue die Herrschaft und verkehre
nicht mit den Machthabern“. Und Abtalion sekundiert: „Ihr Weisen,
seid bedacht in euren Reden, sonst verfallt ihr der Verbannung.. ,“1)
Nach ihrer Lossagung von jeder Art politischer Betätigung stellten
sich die geistigen Führer der Pharisäer an die Spitze jenes Teiles des
Synhedrion, der der Erforschung der Rechtsprobleme in ihrem Zu-
sammenhang mit der praktischen Auslegung der Grundgesetze der
Thora oblag.
Das Synhedrion verwandelte sich unter Herodes I., wie bereits er-
wähnt (§ 52), in eine Art Kronrat mit gerichtlichen Funktionen und
büßte somit seine ehemalige Bedeutung beinahe ganz ein. Ihm stan-
den, wie es scheint, die von Herodes ernannten und ihm gefügigen Hohe-
priester vor, denen der Wille ihres Gebieters höchstes Gebot war. Da
die Pharisäer den königlichen Hof mieden und um diese Zeit kaum
an dem regierungsfreundlichen Synhedrion sich beteiligt haben dürf-
ten, so mußte die besondere Betätigungsweise ihrer gelehrten Vertre-
ter, der Gesetzesinterpreten, sich in einer anderen autonomen Institu-
tion eine Zufluchtsstätte verschaffen. So kam ein Gelehrtenkollegium
zur Entstehung, das sich der Ausarbeitung von Gesetzgebungsfragen
auf Grund der heiligen Verfassung, der Thora, und der ergänzenden
„mündlichen Lehre“ widmete und sich als das wahre, rechtmäßige
Synhedrion, zum Unterschiede von dem Regierungsrat gleichen Na-
mens, betrachtete. Die Führer dieses Gelehrtenkollegiums eben waren
zunächst Schemaja und Abtalion und später deren Nachfolger Hillel
und Schammai* 2).
§ 60. Die Reform der mündlichen Lehre (Hillel)
Nach dem Ableben des Schemaja und Abtalion ging die Führer-
schaft im pharisäischen Synhedrion an die wenig bekannten Gelehr-
ten aus dem Geschlechte Bathira (Bne Bathira) über. Die Tradition
1) Die zweite Hälfte des Sinnspruchs („und geratet an einen Ort, wo die bösen
Wasser sind“) bleibt sowohl dem wörtlichen wie dem übertragenen Sinne nach
unklar.
2) Die hier dargelegte geschichtliche Konjektur scheint uns die einzig mögliche
Art zu sein, die äußerst verwickelte Frage von dem Dualismus des Synhedrion zur
Zeit des römischen Protektorates zur Lösung zu bringen. Es kann gar keinem Zvvei-
3i3
Das geistige Leben in Judäa
stellt diese Gesetzeslehrer als für ihr wichtiges Amt wenig geeignet und
nur ungenügend vorbereitet hin. Die Vorrangstellung solcher unbe-
rufener Männer bedrohte die gelehrte Körperschaft mit völligem Ver-
fall. Bald jedoch löste die Bne Bathira ein Mann ab, dem es beschie-
den war, das Pharisäertum auf die höchste Stufe zu erheben und so
eine neue Epoche in der Geschichte des Judaismus anzubahnen.
Der große Gesetzeslehrer Hillel, der ungefähr zwischen 7 5 v. d. ehr.
Ära und 5 d. ehr. Ära lebte, stammte aus Babylonien. Der Reformator
der „mündlichen Lehre“ kam also nach Judäa aus demselben Lande, aus
welchem vier Jahrhunderte früher Esra gekommen war, der der
„schriftlichen Lehre“, der Thora, zur weitesten Verbreitung verhol-
fen hatte. Hillel entstammte einem vornehmen Geschlecht in Babylo-
nien ansässiger Juden, das seinen Stammbaum bis auf den König
David zurückführte. Der Drang nach Wissen bewog den jungen Hil-
lel, sein Geburtsland jenseits des Euphrat zu verlassen und nach Je-
rusalem, dem Brennpunkt jüdischen Geistes, zu ziehen. Hier wurde
er alsbald einer der eifrigsten Schüler Schemajas und Abtalions. Die
Überlieferung will wissen, daß Hillel in diesen Jahren gar oft große
Not litt, daß aber seine Leidenschaft für die Wissenschaft über alle
Bedrängnis Herr wurde. Eines Tages fehlte ihm das Schließgeld für
den Pförtner der Schule, in der Schemaja und Abtalion ihre Vorle-
sungen abzuhalten pflegten; Hillel, der die Vorlesung nicht versäu-
men wollte, drückte sich von außen an das Fenster des Schulgebäudes
und hörte so trotz des kalten Winterabends die Vorträge an. Dank
seinem außerordentlichen Fleiße erwarb er bald so hervorragende
Kenntnisse in dem schriftlichen und mündlichen Gesetz, daß er nicht
fei unterliegen, daß das Synhedrion als der Kronrat des Herodes mit dem Syn-
hedrion der Pharisäer nicht identisch sein konnte (wie es manche Geschichtsschreiber
vermuten). Andererseits ist jedoch auch nicht anzunehmen, daß im Talmud die Be-
zeichnung Synhedrion einer nur theoretischen Schule beigelegt worden wäre, an
deren Spitze Schemaja und Abtalion, Hillel und Schammai standen (wie es andere
vermuten). So bleibt nur die Annahme übrig, daß in dieser Zeitperiode tatsächlich
zwei S>nhedrien nebeneinander bestanden, ein Regierungssynhedrion und ein phari-
säisches, ein weltliches und ein geistliches, deren letzteres schon aus dem Grunde
ein Recht auf diesen Namen beanspruchen konnte, weil es sich zum Teil aus den
Mitgliedern des früheren hasmonäischen Synhedrion zusammensetzte. Es scheint
nicht ausgeschlossen zu sein, daß diese Mitgliedergruppe eine der Sektionen des Gro-
ßen Synhedrion, das sogenannte ,,Kl eine Synhedrion'‘, gebildet hatte, wenn man nur
die traditionsmäßige Einteilung des Großen Synhedrion in drei Sektionen zu je
dreiundzwanzig Mitgliedern auch für die Zeit des Herodes gelten lassen will. Vgl.
oben, S 2 3.
§ 60. Die Reform der mündlichen Lehre (Hillel)
nur in das Gelehrtenkollegium (Synhedrion) als Mitglied aufgenom-
men werden konnte, sondern bald auch dessen Haupt wurde.
Dies geschah der Tradition zufolge auf folgende Weise. In dem
betreffenden Jahre fiel der Vorabend des Passahfestes, an dem, dem
Gesetze gemäß, das Osterlamm geopfert werden mußte, auf einen
Sabbat. Im Gelehrtenkollegium stand nun die Frage zur Diskussion,
ob um des österlichen Opferritus willen die Sabbatruhe verletzt wer-
den dürfe. Die dem Kollegium vorstehenden Bne Bathira waren ganz
ratlos. Da sagte irgend jemand: „Es gibt hier einen Babylonier namens
Hillel, der ein Schüler von Schema ja und Abtalion war und wohl
wissen wird, wie man im vorliegenden Falle zu entscheiden hat.“
Darauf ließ man Hillel kommen und fragte ihn: „Hast du je gehört,
wie mit dem Passahopfer zu verfahren ist, wenn der Vorabend des
Passah auf einen Sabbat fällt?“ Hillel war um die Antwort nicht ver-
legen: „Es Ist zweifellos,“ meinte er, „daß um des Passahopfers wil-
len die Verletzung der Sabbatruhe, die sogar um der gewöhnlichen
Opferdarbringungen willen verletzt wird, durchaus statthaft ist“. Und
nun begann er seine Meinung durch drei logische Beweisführungen zu
begründen: durch die innere und äußere Analogie und durch den
Schluß „a minori ad majus“. Indem er das Passahopfer mit dem
alltäglichen Tempelopfer für das Volkswohl, dem Tamid, verglich,
das auch am Sabbattage dargebracht zu werden pflegte, schloß er:
da diese beiden Opfer von der Gemeinde, nicht von Privaten stam-
men, so müssen sie auch hinsichtlich des Sabbats als gleichberechtigt
betrachtet werden; da es überdies vom Tamid in der Thora heißt,
daß er „zeitgemäß“ („bemoado“) dargebracht werden müsse und
derselbe Ausdruck in dem Passahfe&tgesetz wiederkehrt, so folgt dar-
aus, daß die Zeitgemäßheit in beiden Fällen bindende Vorschrift sei;
nun darf ja die Sabbatruhe um des gewöhnlichen „Tamid“ willen
gestört werden, um so mehr also um des außergewöhnlichen Passah-
opfers willen. Alle diese logischen Beweisgründe des Hillel machten
jedoch auf die gelehrte Körperschaft keinen Eindruck, und sie suchte
sie durch Gegengründe zu entkräften. Es ertönten Stimmen: was ha-
ben wir von einem Babylonier zu erwarten? Da rief Hillel aus: „So
habe ich es von Schemaja und Abtalion gehört“. Als nun die Ver-
sammlung die Namen der beiden maßgebenden Autoritäten vernahm,
machte sie unverzüglich die Meinung des Hillel zu ihrer eigenen. Hier-
3i5
Das geistige Leben in Judäa
auf legten die Bne Bathira ihr Vorstandsamt im Kollegium nieder und
übergaben es Hillel als dem Berufeneren.
Aus dieser talmudischen Legende ist folgendes zu ersehen: Hil-
lels Streben ging darauf aus, in der Gesetzeskunde, in der bis dahin
die Macht der Tradition und der Autorität vorwaltend gewesen war,
der Methode der logischen Interpretationen den Vorrang zu sichern.
Darin bestand auch die Reform der mündlichen Lehre, die zu voll-
bringen ihm beschieden war. Das in stetiger Entwicklung begriffene
„mündliche Gesetz“ als die Gesamtheit der die Thora ergänzenden
Vorschriften und Bräuche hatte um diese Zeit bereits eine hervor-
ragende Stellung im System des Judaismus erlangt. Jedes der Thora-
gesetze war gleichsam von einer „Umzäunung“, von Ergänzungen
und Auslegungen, umgeben, die durch die Autorität „altväterlicher
Überlieferung“ geheiligt waren. Es bestand nun die Gefahr, daß die-
ser Prozeß der Anhäufung des Traditionsstoffes im Judaismus zur
Lahmlegung der schöpferischen Kräfte führen werde, da der blinde
Autoritätsglaube unausbleiblich über das lebendige Denken trium-
phieren müßte; die notwendig gewordenen Änderungen in der prak-
tischen Gesetzgebung fanden in der Trägheit der Tradition ein schwer
zu überwindendes Hindernis. Auf die Abwendung dieser dem Juda-
ismus drohenden Gefahren ging nun die von Hillel inaugurierte wis-
senschaftliche Richtung geradeswegs aus. Indem Hillel sich die wei-
tere unbehinderte Entwicklung der „mündlichen Lehre“ im Geiste des
Pharisäismus und deren Anpassung an die Erfordernisse des Lebens
zum Ziele setzte, suchte er zugleich einen beweglicheren gesetzgeberi-
schen Apparat, auf der Grundlage einer erweiterten Freiheit der Aus-
legung der alten Gesetze, zu schaffen. Der Interpretation wurden in
dem System Hillels so weite Grenzen gesteckt, daß man innerhalb
dieser Grenzen das Thoragesetz, je nach den Lebenserfordernissen,
nicht nur ergänzen und abändern, sondern auch de facto (wenn auch
nicht de jure) außer Kraft setzen konnte. Das Rüstzeug der Interpre-
tation stellten eben die logischen Methoden dar. Hillel wird die For-
mulierung von sieben derartigen Hauptmethoden (Midoth) in der
Gesetzesauslegung zugeschrieben, von denen einige streng logischer
Natur (der Schluß vom Allgemeinen zum Besonderen, nach innerer
Analogie, a fortiori — „kal we’chomar“), andere wieder mehr von
einer kasuistischen Art (die Schlußfolgerung nach äußerer Analogie,
nach der äußeren Ausdrucksform usf.) sind.
3i6
§ 60. Die Reform der mündlichen Lehre (Hillel)
Dank diesen Methoden und Kunstgriffen vermochte sich von der
biblischen Gesetzgebung als dem Grundstamme in formgerechter
Weise ein weitausgedehntes System ergänzender Normen abzuzwei-
gen, deren realer Grund jedoch in dem lebendigen Quell der Volks-
sitten oder in den Bedürfnissen des im Flusse begriffenen Lebens
verborgen lag. Diesen seit Hillel in den Schulen zur Anerkennung
gelangten und später noch erweiterten Methoden ist jene große Menge
von Gesetzesvorschriften zu verdanken, die in den Bestand der spä-
teren Mischna, der Grundlage des Talmud, auf genommen worden
sind. Hillel und seine Schule waren übrigens keine radikalen Neue-
rer; sie brachten nur das in weiterem Maße zur Ausführung, was
in bescheidenerem Umfange schon die ersten Pharisäer begonnen
hatten (§ 35). So waren sie es, die dem gelehrten Pharisäismus ;sein
endgültiges typisches Gepräge verliehen. Fortan versteht man unter
der „mündlichen Lehre“ nicht so sehr das starre Aggregat der „alt-
väterlichen Überlieferungen“ als vielmehr das lebendige Gesetzge-
bungssystem, das vermittels des beweglichen Apparats wissenschaft-
licher Auslegung mit der Thoraverfassung elastisch verbunden war.
„Mündlich“ heißt diese Lehre auch ferner darum, weil ihre Ergeb-
nisse im Gedächtnis eingeprägt und von Mund zu Mund, nicht aber
auf schriftlichem Wege überliefert werden. Eine Nebenfolge all die-
ser Neuerungen war eine gewisse Verwischung der Gegensätze zwi-
schen Pharisäern und Sadduzäern, da in den Fällen, in denen ein
bestimmtes mündliches Gesetz auf logischem Wege aus einer gleich-
artigen Gesetzesbestimmung der Schrift abgeleitet wurde, den Sad-
duzäern der Anlaß fehlte, es abzuweisen, wie sie ehedem grundlose
Traditionen oder Volksbräuche abzuweisen pflegten.
Die von Hillel eingeführte Methode der Interpretation ließ für die
vom Leben verlangten gesetzgeberischen Reformen den weitesten
Spielraum offen. Einige dieser Reformen werden Hillel selbst zuge-
schrieben; als deren wichtigste gilt das Rechtsinstitut des Prosbol
(ein griechisches Wort, das soviel wie Übergabe oder Zession bedeu-
tet). Dem biblischen Gesetz zufolge wurden nämlich alle Schuldver-
pflichtungen mit dem Anbruch des Schemitajahres, d. i. des sieben-
ten oder Sabbatjahres, null und nichtig. Dieses humane Gesetz pfleg-
ten nun viele Schuldner zu mißbrauchen, indem sie Darlehen auf-
nahmen mit dem Hintergedanken, die Zahlung bis zum Schemitajahr
hinauszuzögem, um sich so von Rechts wegen ihrer Verpflichtung
3i7
Das geistige Leben in Judäa
entziehen zu können. Dies hatte wiederum zur Folge, daß die Kre-
ditgeber aus Furcht, im nächsten Sabbatjahr um ihr Geld zu kom-
men, den Kreditbedürftigen jede Hilfe verweigerten. Da bei dieser
Rechtslage das Darlehensgeschäft wie der Handel überhaupt schwer
darniederlagen, führte Hillel den Vorbehalt des „Prosbol“ ein, der
darin bestand, daß der Kreditgeber vor Anbruch des Schemitajahres
vor Gericht erklären durfte, er zediere diesem das ihm geschuldete
Kapital mitsamt dem Rechte, es jederzeit für sich einfordern zu kön-
nen. Eine derartige Erklärung vor Gericht gewährleistete dem Gläu-
biger sein Eigentumsrecht auch nach Anbruch der Schemita. So wur-
den die für das wirtschaftliche Leben schädlichen Folgen des Sabbat-
jahres beseitigt, ohne daß das humane Rechtsinstitut formell außer
Kraft gesetzt worden wäre.
Die Wirksamkeit Hill eis zeitigte überaus wichtige Folgen für die
Gesamtentwicklung des Judaismus, und nicht ohne Grund stellt die
talmudische Überlieferung diese Wirksamkeit der des großen Gesetzes-
lehrers Esra gleich, des Begründers jener Schule der Soferim, aus
der sich im Laufe der Zeit die pharisäische Lehre entwickelte.
Hervorragend auf dem Gebiete der Gesetzeskunde, war Hillel noch
bedeutender als Schöpfer einer erhabenen ethischen Lehre. Den reli-
giösen Ritus betrachtete Hillel nicht als Selbstzweck, sondern nur
als ein Mittel zur sittlichen Vervollkommnung der Persönlichkeit.
„Die Pflichten des Menschen gegen seinen Nächsten“ überwogen in
seinem System die „Pflichten des Menschen gegen Gott“. Ein Heide,
der zum Judentum übertreten wollte, und den die Fülle der jüdi-
schen Gesetze und Bräuche abschreckte, wandte sich einst an Hillel
mit der Bitte, ihm in ganz kurzen Worten das Wesen der jüdischen
Glaubenslehre zu vermitteln. Und Hillel sagte ihm: „Was dir selbst
unangenehm ist, das tue keinem anderen1). Das ist der Grundgehalt
der Thora, alles andere nur eine Erklärung dazu“. Das biblische Ge-
bot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist hier also in seiner
mehr konkreten Umkehrung wiedergegeben: „Tue dem anderen das
nicht, was du nicht wünschest, daß er es dir tun solle“. In seinem
Lebenswandel war Hillel eine wahre Verkörperung jener erhabenen
U Dieser Ausspruch findet sich auch im Buche „Tobit“ in dem Vermächtnis
des Tobit an seinen Sohn (4, i5), woraus zu ersehen ist, daß er in dieser Epoche
als moralischer Sinnspruch in Umlauf gekommen war. Von hier aus fand er den
Weg in das Evangelium.
§ 60. Die Reform der mündlichen Lehre (Hillel)
sittlichen Prinzipien, die er seinen Mitmenschen predigte. Dieser
Weise, der an Sokrates erinnert, zeichnete sich durch außergewöhn-
liche Milde und Sanftmut aus. Seine Milde war sprichwörtlich ge-
worden. Ein Mann — so erzählt die Überlieferung — ging einmal
eine Wette ein, daß es ihm gelingen werde, Hillel außer Fassung und
in Zorn zu bringen. Der Mann erscheint nun dicht vor Sabbatbe^-
ginn bei Hillel, als dieser, wie üblich, vor Eintritt des heiligen Tages
sein Bad nahm, und verlangt ihn in einer dringenden Angelegenheit
zu sprechen. Als Hillel, das Bad unterbrechend, zu dem Besucher*
eilt, vernimmt er eine ganz nichtige Frage, die der milde Lehrer je-
doch durchaus wohlwollend beantwortet. Einige Minuten später er-
scheint der aufdringliche Besucher wiederum mit einer völlig un-
nützen Frage, und dann auch zum dritten Male; Hillel aber läßt
ihm jedesmal in allerfreundlichster Weise die Antwort zuteil wer-
den. Der Besucher gerät schließlich außer Fassung und ruft erzürnt
aus: „Solcher wie du, Hillel, möge es weniger werden in Israel!“ —
„Weshalb denn, mein Sohn?“ fragte Hillel sanft. „Ich habe deinet-
wegen ja eine Wette verloren“, erwiderte jener. „Nun,“ meinte Hil-
lel, „es ist besser, daß du eine Wette verlierst, als daß ich die Geduld
verliere“. — Als Wahlsprüche des Hillel sind folgende Sätze bekannt:
„Liebe den Frieden und jage ihm nach, liebe die Menschen und halte
sie an zur Gotteslehre“. „Wer nach Ruhm hascht, verliert seinen
Namen; wer nicht zunimmt (in der Erkenntnis), nimmt ab; wer
nichts lernen will, ist nicht wert, daß er lebe; und wer die Toga (des
Gelehrten) als ein Werkzeug braucht, geht zugrunde“. „Wenn ich
nichts tue für mich, wer dann für mich? Wenn ich es aber für
mich allein nur tue (d. i. wenn ich mich von der Gemeinschaft ab-
sondere), was bin ich? Und wenn ich jetzt nicht tue (was sich ge-
hört), wann denn?“1)
Im Vorsitz imSynhedrion der Gelehrten stand Hillel der Pharisäer
Schammai zur Seite. Die religiösen Grundsätze dieses Gesetzeslehrers
1) Außer diesen Aussprüchen, die Hillel im ersten Kapitel des ethischen Trak-
tats „Aboth“ zugeschrieben werden, findet sich noch eine Reihe Sinnsprüche in
dessen zweitem Kapitel (3—6), die gleichfalls Hillel in den Mund gelegt werden.
Die Urheberschaft dieser zweiten Reihe, die mit einer Unterbrechung der chronologi-
schen Reihenfolge, nach den Sprüchen des Juda Ha’nassi und der späteren Lehrer,
angeführt ist, steht jedoch nicht fest, da es wohl möglich sein könnte, daß sie nicht
von Hillel I, dem ,,Alten“ (Hillel ha’saken) stammt, sondern von einem der spä-
teren Träger dieses Namens aus der Reihe der palästinischen Patriarchen. Die Echt-
3ig
Das geistige Leben in Judäa
zeichneten sich durch übermäßige Strenge aus. Er pflegte das Gesetz in
rigorosester Weise auszulegen, im Gegensatz zu Hillel, der die- Bürde
des Gesetzes in jeder Weise zu erleichtern suchte. Über die Strenge
des Schammai kamen Legenden in Umlauf. So erzählte man, daß
er seinen minderjährigen Sohn an den festgesetzten Fasttagen zum
Fasten anhielt; auch soll er einmal, als seine Schwiegertochter am
Sukkothfest einen Knaben gebar, den Estrich über dem Zimmer, wo
die Wöchnerin lag, abgebrochen und das Dach mit Laub bedeckt ha-
ben, damit der Neugeborene die Vorschrift über das Verweilen in der
Laubhütte, der „Sukka“, erfülle. Zum Unterschiede von Hillel war
Schammai auch in seinem Verhalten zu den Mitmenschen sehr schroff.
Als ein Heide, der Jude werden wollte, Schammai einst darum bat,
ihm in einigen Worten („solange er es auf einem Beine aushält“) das
Wesen der jüdischen Glaubenslehre auseinanderzusetzen, jagte ihn
der gestrenge Lehrer ohne weiteres weg. Dagegen nahm Hillel den
Wahrheitssucher freundlich auf und gewann ihn für das Judentum
durch den obenangeführten Spruch, der den Sinn der Religion auf das
Prinzip der Nächstenliebe zurückführt. Ein anderer Heide soll, wie
die Überlieferung berichtet, zu Schammai gekommen sein und ihm
erklärt haben, er wolle zum Judentum übertreten, mit der Bedin-
gung jedoch, daß er nur das schriftliche Gesetz, nicht aber auch das
mündliche zu befolgen hätte. Schammai wies das Anerbieten schroff
zurück; dagegen nahm Hillel den Heiden in die Gemeinde der Juden
auf und gab sich mit seiner Unterweisung ab. Am ersten Unter-
richtstage zeigte er ihm die Buchstaben des hebräischen Alphabets
von dem ersten bis zum letzten, und dann am zweiten Tage dieselben
Schriftzeichen in umgekehrter Ordnung, mit dem letzten angefan-
gen. Auf die Frage des Schülers, warum er denn heute anders unter-
wiesen werde als gestern, erwiderte Hillel: „Mitnichten! Es ist das^-
selbe, nur in verschiedener Form. Ebenso verhält es sich mit der
mündlichen und schriftlichen Lehre“ (d. h. das mündliche Gesetz
heit der Aussprüche des Hillel in Aboth, Kap. I, findet zum Teil auch darin ihre
Bestätigung, daß einer dieser Sprüche in aramäischer Sprache, der Muttersprache
des Babyloniers Hillel, angeführt wird. Aus der umstrittenen Reihe kann Hillel noch
folgender aramäischer Sinnspruch zugeschrieben werden: als er einst einen über
dem Wasser schwimmenden Schädel erblickte, soll er nämlich gesagt haben: „Die-
weil du ertränkt hast, haben sie dich ertränkt; zuletzt werden die, die dich er-
tränkt, ertrinken*' — eine Anspielung auf die Umwälzungen und den Kampf um
die Macht im Judäa jener Epoche.
320
§ 61. Die Apokryphen und Apokalypsen
stellt dieselbe Thora nur von einer anderen Seite dar). Der Be-
kehrte mußte dies nun selbst einsehen. Als diese zwei Bekehrten
später einmal zusammenkamen, sagten sie: „Die Strenge des
Schammai hätte uns beinahe vom Heiligtum weggestoßen, die Milde
des Hillel hat uns aber in das Heiligtum eingeführt“. Vielleicht ließ
sich jedoch Schammai in seinem Widerstand gegen die Zulassung
der Proselyten in die Mitte der Juden von politischen Erwägungen all-
gemeiner Natur leiten, während Hillel ebenso grundsätzlich auf die
Bekehrung von Heiden Wert legte.
Wie bereits erwähnt, wich Schammai von Hillel auch in der all-
gemeinen Tendenz der Gesetzesauslegung ab. Er war streng konser-
vativ und strebte zur „Umzäunung' des Gesetzes“ durch ergänzende
prohibitive Normen, um so dessen Übertretung vorzubeugen; dagegen
wandte er das Rüstzeug der Interpretation nur ungern zur Milderung
der Zucht und zur Reformierung veralteter Bestimmungen an. Aber
auch abgesehen von diesen Meinungsverschiedenheiten zwischen der
konservativen und der fortschrittlichen Richtung, zeitigte die neue
Epoche noch viele andere Differenzen innerhalb der Partei der ge-
gelehrten Pharisäer. Die von Hillel vertiefte Methode der „Gesetzes-
forschung“ (Darschanuth) mußte theoretische Meinungsverschieden-
heiten mit sich bringen, die sich dann auch im praktischen Leben
auswirkten. Die gleichen Stellen der Heiligen Schrift wurden von
den verschiedenen Gelehrten in ungleicher Weise ausgelegt, und so
bildeten sich in dem pharisäischen Synhedrion oder Gelehrtenkolle-
gium verschiedene „Schulen“. An die Stelle der ehemaligen, durch
die Zucht der Tradition zusammengehaltenen Gesinnungsgemeinschaft
der Pharisäerpartei trat nun eine Mannigfaltigkeit der Gesinnungsar-
ten, die eine unmittelbare Folge der freien Forschung war. Die Jün-
ger der zwei Gesetzeslehrer spalteten sich in zwei Schulen: die Schule
des Hillel und die des Schammai („Beth-Hillel“ und „Beth-Scham-
mai“), deren Kontroversen von größtem Einfluß auf die weitere Ent-
wicklung der mündlichen Lehre waren. Es begann nun die unver-
meidliche Differenzierung innerhalb der Pharisäerpartei selbst.
§61. Die Apokryphen und Apokalypsen
Neben der „mündlichen Lehre“ der gesetzeskundigen Pharisäer
kam um diese Zeit auch noch ein volkstümliches Schrifttum zur Ent-
21 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd.II
32 1
Das geistige Leben in Judäa
faltung, das sich gleichfalls an die Bibel anschloß, jedoch von einer
anderen Seite her. Bestand die Wirksamkeit der gelehrten Pharisäer
darin, die gesetzgebenden Partien der Bibel, die „Thoraverfassung“
im engeren Sinne, weiter zu entwickeln, so setzten die mehr zur Spe-
kulation und zur Religion des Herzens hinneigenden Männer jene
Arbeit an den großen Problemen des Glaubens und der Sittlichkeit
fort, die in den Werken des letzten Bibelteiles (der „Ketubim“) ihren
Ausdruck gefunden hatte. Dieser Teil der Bibel war um diese Zeit
noch nicht kanonisiert und stand so für die Aufnahme neuer literari-
scher Produkte gleichsam noch offen. Es tauchten nun Nachahmun-
gen der Psalmen, der Sprüche sowie der „Weisheitsliteratur“ über-
haupt auf, insbesondere aber solche des „Danielbuches“, das den
Grund zu den Apokalypsen, dieser mystischen Gattung des Propheten-
tums, gelegt hatte. Das neue pseudo-biblische Schrifttum entstammte
den verschiedensten Kreisen der jüdischen Gesellschaft: den phari-
säischen, den essäischen und sogar den sadduzäischen oder jüdisch-
hellenistischen; es fand sowohl in Judäa als auch in der Diaspora
Verbreitung, wo man den hebräischen und aramäischen Text dieser
Werke ins Griechische übersetzte. Dieses in den Bestand des bibli-
schen Kanons nicht auf genommene spätere Schrifttum ging jedoch
zum größten Teil in seinen hebräischen Urtexten verloren, so daß zu
uns nur vereinzelte Bücher oder gar nur deren Bruchstücke, vornehm-
lich in griechischer Übersetzung, gelangten. Und doch waren alle
diese von den späteren Hütern des Gesetzes verworfenen „verborge-
nen“ und „draußen befindlichen“ Bücher, die „Apokryphen“ und
„Pseudepigraphen“ („Seforim genusim“ und „Seforim chizonim“),
urwüchsige Schöpfungen des Volksgeistes und übten ihren Einfluß
auf die allerverschiedensten Volksschichten aus. Was sich von diesem
Schrifttum erhalten hat, legt beredtes Zeugnis davon ab, daß das
geistige Schaffen des damaligen Judäa nicht allein auf das Gebiet
der pharisäischen Gesetzeskunde beschränkt war, daß der nationale
Geist vielmehr auf allen von der klassischen biblischen Epoche ge-
bahnten Wegen unaufhaltsam vorwärts schritt. Das religiöse Suchen
kam nicht zum Stillstand; mit der größten Anspannung arbeitete der
Geist an den höchsten Problemen der Ethik, und gar oft ließ sich
die Seele des Gläubigen in jene Sphäre des Unerkennbaren, des Jen-
seitigen fortreißen, wohin die Lebensweisheit eines Ben Sirah den
Eintritt verwehrt hatte (§ 17). Nicht selten hören wir aus diesem
§ 61. Die Apokryphen und Apokalypsen
Schrifttum auch einen Nachklang der zeitgenössischen Geschichte. In
dieser Hinsicht ist das apokryphische Schrifttum sogar in seiner
fragmentarischen, von späteren (beispielsweise christlichen) Beimi-
schungen nicht freien Form immer noch ergiebiger für die Erkennt-
nis der Stimmungen dieser Epoche als der Stoff der „mündlichen
Lehre“, der uns in der späteren Mischnaredaktion überliefert ist.
Gleichwie in den alten Psalmen nicht selten die Herzensergüsse
der von den politischen Umwälzungen jener Zeit erschütterten
Männer ihren Ausdruck fanden, so beweint auch in den apo-
kryphischen, nach dem Einfall des Pompejus in Judäa verfaß-
ten „Psalmen Salomos“ der gottesfürchtige Pharisäer die Drangsale
und das Unheil seiner Zeit1). Der neuerstandene Psalmendichter
grämt sich über die Vermehrung der „Sünder“ unter den Be-
sitzenden, wobei er anscheinend vor allen Dingen die zu Anhängern
des Hasmonäerhauses und der regierenden Schicht gewordenen Sad-
duzäer im Auge hat (Kap. i). Er preist das göttliche Gericht über
die sündhafte Dynastie und über seine Heimat, das sich in dem Ein-
dringen der Heiden (der Legionen des Pompejus) „in den Altar
Gottes“ kundgetan habe, sowie darin, daß sie „Jerusalem verhöhnt
und zertreten“ haben (Kap. 2). Er vermag nicht ohne Schaudern der
Einzelheiten der überstandenen Krise zu gedenken:
Gotl führte vom Ende der Erde den gewaltigen Stößer heran,
verhängte Krieg über Jerusalem und sein Land.
Die Fürsten des Landes gingen ihm fröhlich entgegen,
sprachen zu ihm: Erwünscht ist dein Kommen, tretet ein in Frieden!
Sie ebneten rauhe Wege vor seinem Einzug,
öffneten die Tore Jerusalems, bekränzten ihre Mauern.
U Nach der von der neueren Forschung erhärteten Ansicht sind die „Psalmen
Salomos“ in Palästina in den ersten Jahrzehnten nach der Einnahme Jerusalems
durch Pompejus zur Entstehung gekommen. Der Inhalt einiger Kapitel kann, unge-
achtet der in der Psalmendichtung üblichen Weglassung der historischen Namen, nur
auf die Ereignisse des Jahres 63 bezogen werden (Kap. 2, 8, 17), da hier von
„Landesfürsten“, die dem Feinde „freudig entgegengingen“ (die Hasmonäerbrüder
Aristobul und Hyrkan) die Rede ist, sowie von dem Eindringen in den Jerusalemer
Tempel und dem Fortführen der Gefangenen „ins Abendland, zur Verspottung“
(der Triumphzug des Pompejus in Rom) und schließlich von dem Untergang des
Eroberers auf dem Meere, in der Nähe Ägyptens (der Tod des Pompejus im Kampf
der Triumvirn bei Pharsalus, im Jahre 48). Der Urtext war, nach dem Stile zu
urteilen, hebräisch, es ist aber lediglich die griechische Übersetzung in 18 Kapiteln
erhaltengeblieben. Daß das Buch pharisäischen Kreisen entstammt, ergibt sich aus
dem ganzen Grundton, sowie aus dem feindseligen Verhalten des Verfassers zu den
letzten Hasmonäern und der sadduzäischen Aristokratie.
21*
323
Das geistige Leben in Judäa
Er zog wie ein Vater in seiner Kinder Haus mit Frieden,
faßte mit großer Sicherheit festen Fuß,
nahm (aber dann) ihre Turmfesten ein und Jerusalems Mauer . . .
Er richtete ihre Führer hin und alle Weisen im Rate,
vergoß das Blut der Bürger Jerusalems wie unreines Wasser,
führte ihre Söhne und Töchter fort, die sie in Unzucht gezeugt hatten . . .
Der Gottlose hat unser Land von seinen Bewohnern entblößt . . .
In seinem grimmen Zorn schickte er sie weg bis ins Abendland
und die Obersten des Landes (gab er preis) der Verspottung schonungslos.
(8, i5-2i; 17, 11-12.)
Der unbekannte Verfasser der Psalmen, der wahrscheinlich bis
in die Zeit des Herodes hinein gelebt hat, ist tief von dem Bewußtsein
der Sündhaftigkeit der Herrscher und der oberen Schichten durch-
drungen und erwartet einen König-Messias aus dem Hause Davids,
der das Land im Geiste der strengen Theokratie regieren wird (17,
21—46)- Den künftigen Regenten, den „Gesalbten Gottes“, erwäh-
nend, betont er immer wieder: „Der Herr selbst ist unser König,
immer und ewig“. Von dem Herrscher entwirft er das folgende ideale
Bild:
Er (herrscht als) gerechter König, von Gott unterwiesen, über sie (die Juden),
und in seinen Tagen geschieht kein Unrecht unter ihnen,
weil sie alle heilig sind, und ihr König der Gesalbte Gottes ist.
Denn er verläßt sich nicht auf Roß und Reiter und Bogen;
auch sammelt er sich nicht Gold und Silber zum Kriege
und auf die Menge setzt er nicht seine Hoffnung für den Tag der Schlacht.
(17, 32—33.)
Aus diesem wie aus einer Reihe anderer Psalmen desselben Ver-
fassers hören wir eine scharfe Verurteilung der weltlichen Politik
der Hasmonäer sowie der sie unterstützenden Sadduzäerpartei heraus.
Aus den bitteren Erfahrungen seines Zeitalters sucht der pharisäische
Verfasser eine Lehre im Geiste seiner Partei zu gewinnen. Wen seine
Reden vom gottlosen Herrscher im Auge haben, ob den Alexander-
Jannäus, den ephemeren König Antigonus II. oder gar Herodes I.,
ist schwer zu entscheiden. Für ihn sind übrigens die letzten Herrscher
aus dem Hasmonäerhause und der halb-jüdische König gleich
schlecht, da sie ja alle insgesamt und in jeder Weise dem geistlichen
Ideal der Theokratie nach pharisäischer Auffassung zuwiderhandeln.
Ging nun das messianische Ideal der Pharisäer nicht über die
Grenzen irdischer Hoffnungen hinaus, so gewann es in anderen
Volksschichten eine um so ausgesprochenere mystische Form, die
jede Grenze zwischen dem irdischen und dem himmlischen Reiche
324
§ 61. Die Apokryphen und Apokalypsen
verwischte. Die mystisch veranlagten Geister, insonderheit unter den
Essäern, fühlten sich unwiderstehlich von den prophetischen Offen-
barungen und „wunderbaren Visionen“ hingezogen, deren Musterbei-
spiel seit einem Jahrhundert in der Apokalypse des „Daniel“ vorlag.
Um die Geheimnisse der Zukunft, das Geheimnis von Leben und
Tod, um die Geschicke einzelner Menschen und Völker enträtseln und
entziffern zu können — dazu schienen phantastische Konstruktionen,
die Erde und Himmel verbanden, eine Engellehre, eine Dämonenlehre
und allerhand andere Theorien über zwischen Gott und Mensch ver-
mittelnde Kräfte das geeignetste Mittel zu sein. Keime dieses Mystizis-
mus machten sich bereits in den „Visionen“ der Propheten Jeheskel
und Sacharja und des Hellsehers Daniel bemerkbar; nun kamen sie
in der bedeutendsten Apokalypse des I. Jahrhunderts v. d. ehr. Ära,
im „Buche Henoch“, zu voller Entfaltung.
Schon der Name des Haupthelden dieses Buches führt den Leser
in das dunkelste Dickicht der religiösen Mystik. Henoch ist kein an-
derer als der biblische Chanoch, ein Urahne des Noah, von dem eine
dunkle Sage berichtet, daß „er mit Gott wandelte und siehe daj
er verschwand, denn Gott nahm ihn hinweg“ (Gen. 5, 2 4)* Im Volke
gingen nun verschiedene Legenden über das Wunder der „Himmel-
fahrt“, über die Taten und Offenbarungen des frommen Chanoch
um1). Diese Legenden standen mit der Sage von dem Falle der Engel
in Zusammenhang, von denen es in der Genesis (6, 2—4) heißt, daß
sie, die „Kinder Gottes“, zu den „Töchtern der Menschen eingingen“
und dadurch ein Überhandnehmen der Sündhaftigkeit und schließ-
lich die Katastrophe der Sintflut herbeiführten. Der erdgeborene
Chanoch oder Henoch, der sich in ein himmlisches Wesen verwan-
delte, und die der Sünde der Erde verfallenen Kinder des Himmels;
— dies ist der zwiefache Hintergrund, auf dem der Verfasser der
neuen Apokalypse seiner phantastischen Linienführung, die jedoch
zugleich auf reale Verhältnisse hindeutet, freien Lauf läßt.
Das „Buch Henoch“ beginnt mit einer himmlischen Vision, die
dem Henoch von den „heiligen Engeln“ gezeigt wird: einer Vision
1) Schon bei Ben Sirah (44, 16 u. 49, i4) heißt es von Chanoch, er sei
ein „Wunder der Gotteserkenntnis für alle Geschlechter“. Die Legenden über Cha-
noch finden sich hie und da in den späteren haggadischen „Midraschim“ („Hecha-
loth“ u. a.), in denen der gen Himmel gefahrene Heilige mit dem Engel Metatron
identifiziert wird, der dann in der Kabbala als der am Throne Gottes diensttuende
Engel erscheint.
325
Das geistige Leben in Judäa
von dem kommenden Weltgericht, das die Gottlosen vernichten und
die Gerechten belohnen wird. Dann folgt der erste Teil des Buches
(Kap. 6—36), der die auf der erwähnten biblischen Sage von den
„Kindern Gottes“ und den „Töchtern der Menschen“ beruhende En-
gellehre (Angelologie) enthält. Eine Schar himmlischer Engel mit
Semjasa und Asael (oder Asasel) an der Spitze kam aiuf die Erde
herunter, und durch die Schönheit der Menschentöchter gereizt, nah-
men sie sich Weiber aus deren Mitte; dieser Verbindung entsproß
ein Geschlecht von Riesen, von raubgierigen und lasterhaften Wesen,
die die Erde mit Gewalttaten und Unzucht überfluteten. Asael unter-
wies die Menschen im Gebrauch von Schlachtmessern und allerhand
Mordinstrumenten, sowie in dem der Edelsteine, der Schmucksachen
und verschiedener kosmetischer Mittel; andere gefallene Engel lehrten
die Menschen die Kunst der Beschwörungen, die Sterndeutung oder
die Astrologie, sowie andere Naturgeheimnisse. Als die Erde von dem
Geschrei über das von dem sündhaften Geschlecht angerichtete Un-
heil „widerhallte“, riefen die Himmelsengel (die Erzengel) Michael,
Uriel, Gabriel und Raphael das Gericht des Allerhöchsten an, und
es wurde nun beschlossen, die sündige Erde mit einer Wasserflut
zu bestrafen, die gefallenen Engel über die ganze Welt hin zu zer-
streuen und den die größte Schuld tragenden Asael in ein finsteres
Loch in der Wüste zu werfen1). Darauf wird Henoch auf die Erde
geschickt, um dieses Himmelsurteil zu verkünden; er durchwandert
dabei die Erde und die Unterwelt, dringt in die Geheimnisse der Na-
tur ein, bekommt die Gegenden, in die die bösen Dämonen verbannt;
werden sollen, zu sehen, sieht die Wohnstätten der Seelen der ver-
storbenen Gerechten und Sünder, die Gerichtsstätte der verurteilten
Menschenkinder im „Tale der Verdammnis“ bei Jerusalem (Gehin-
nom oder Gehenna, das „Tal der Wehklagen“) und auch in einem
duftenden Garten am Rande des Morgenlandes das Paradies mit dem
blühenden Baume der Erkenntnis oder dem „Baume der Weisheit“.
!) Dieser Engel oder böse Geist ist zweifellos mit dem biblischen „Asasel“ in
der Wüste (Lev. 16, 8 f.), der dem Gott Jahve gegenübergestellt wird, identisch,
was auf den uralten Ursprung dieses Volksglaubens hinweist. Die spätere haggadische
Literatur kennt sehr wohl die beiden Rädelsführer der bösen Dämonen, „Schem-
chasai und Asael“, die die Sintflut über die Erde herauf beschworen haben; auch
weiß sie zu berichten, daß der reumütige Schemchasai sich „zwischen Himmel und
Erde“ aufhängte, während Asael in seiner Sündhaftigkeit immerdar verharrt („Mi-
drasch Avkir“).
§ 61. Die Apokryphen und Apokalypsen
Die nun folgende Kapitelreihe des „Buches Henoch“ (nament-
lich Kap. 45—57) kann wohl als eine „Messianologie“ bezeichnet
werden, da hier in vielen Visionen die erneuerte Weltordnung unter
der Herrschaft des Messias zur Darstellung kommt. Hier erscheint
in den Himmelsgesichten zum ersten Male neben Gott („dem Be-
tagten“) der engelgleiche „Menschensohn“1), der Auserwählte Gottes
oder der Mvessias, dem die Macht verliehen ist, die „Könige von ihren
Thronen und aus ihren Königreichen zu verstoßen, weil sie den nicht
dankbar anerkennen, der sie mit der Macht ausstattete“. Nach dem
Erscheinen des Messias auf Erden wird sich auch das Wunder der
Auferstehung der Toten erfüllen: „Der Scheol (die Unterwelt, das
Totenreich) wird wiedergeben, was er empfangen, und die Hölle wird
herausgeben, was sie schuldet.“ Die Gerechten werden wie die guten
Engel selig werden, während die Sünder „von den Plageengeln mit
allen dem Satan zur,echtgemachten Marterwerkzeugen“ gepeinigt wer-
den sollen. Den Sündern werden dabei die „Könige und die Mäch-
tigen der Erde“ zugerechnet, die neben den „Scharen des Asael“ in
den Abgrund der ewigen Verdammnis geworfen werden1 2). Den mes-
sianischen Visionen folgt eine Reihe von „astronomischen“ Kapiteln,
in denen im Zusammenhang mit der Zeitberechnung nach dem Mond-
kalender in ausführlicher Weise der Mondlauf geschildert wird.
In einem besonderen Abschnitt des „Henochbuches“ (Kap.
85—90) wird eine symbolische Historiosophie entwickelt, eine Ge-
schichte aller Generationen von Adam bis zu den Hasmonäern. Un-
ter dem Bilde von Tieren erscheinen in diesen Visionen die Symbole
der einzelnen Generationen, wobei die weißen und sanftmütigen Tiere
die Generationen der Gerechten versinnbildlichen. Die Nachkommen
1) Dieser Ausdruck, wie auch das Epitheton „der Betagte“, ist dem Buche
Daniel entlehnt (7, 13: „Bar enosch“ = Menschensohn; vgl. 7, 9 u. 22), so daß
es durchaus nicht notwendig erscheint, hierin eine spätere christliche Interpolation
zu erblicken, wiewohl derartige Interpolationen an anderen Stellen vielleicht zu fin-
den sind.
2) Dieser Kapitelreihe schließt sich ein Kapitel (56) an, in dem von dem Ein-
fall der „Parther und Meder“ die Rede ist, die aber an der „Stadt der Gerechten
(Jerusalem) ein Hindernis antreffen“ und sich gegenseitig vernichten werden. Ob
hier nicht vielleicht der Einfall der Parther gemeint ist, der sich gegen die Römer
richtete und Antigonus II. zum Throne verhalf? Der fromme Verfasser des „He-
noch“, der wohl kaum für Antigonus etwas übrig haben konnte, mochte indessen
vielleicht in der gegenseitigen Zerfleischung der Heiden, der Parther und Römer,
ein Strafgericht Gottes erblickt haben.
327
Das geistige Leben in Judäa
Jakobs erscheinen in der Gestalt einer Herde weißer Schafe, die von
wilden Tieren, d. h. von den gewaltigen Weltmächten, oder genauer
von deren Gebietern, umringt sind. Vier Epochen verfließen während
der Herrschaft der Raubtiere, unter denen Assyrien, Babylonien, Per-
sien und Syrien zu verstehen sind. In der letzten Periode werden die
Nachkommen Jakobs von den Raubvögeln (den Griechen) zerfleischt;
nun setzt sich aber die sanftmütige Schafherde zur Wehr: „Ich sah,
daß ein großes Horn bei einem von jenen Schafen hervorsproß, und
ihre Augen öffneten sich . . . Ich sah, daß den Schafen ein großes
Schwert überreicht wurde, und die Schafe zogen gegen alle Tiere des
Feldes, um sie zu töten, und alle Tiere und Vögel des Himmels flo-
hen vor ihnen. Und ich sah, daß ein Thron in dem lieblichen Land
errichtet wurde, und der Herr der Schafe setzte sich darauf“ (Kap.
90, 8—20). In dieser phantastischen Vision werden, wie es scheint,
die Erhebung der Juden gegen die syrische Unterjochung („den Scha-
fen wurde ein großes Schwert überreicht“) und die hasmonäischen
Heldentaten (das „große Horn“ mag Juda Makkabäus oder Jochanan-
Hyrkanus bedeuten) dargestellt. Der in symbolischer Form gehaltene
Überblick über die Weltgeschichte bricht nun mit dieser Epoche ab,
in der anscheinend der Verfasser dieses Abschnittes des „Henoch-
buches“ auch gelebt haben mag.
Die letzten Kapitel des „Henochbuches“ sind mit Belehrungen
und Ermahnungen ausgefüllt, die an „alle meine Kinder, die auf der
Erde wohnen werden, und an die künftigen Geschlechter“ gerichtet
sind. Aus dem Dunkel des Symbolismus tritt hier der Verfasser in
den Lichtkreis der „Weisheit“ und der höchsten Sittlichkeit. Die Er-
mahnungen gehen in harte Strafreden über, die die damaligen gesell-
schaftlichen Zustände aufs trefflichste kennzeichnen: „Ich sage
euch, meine Kinder, liebet die Gerechtigkeit und wandelt in ihr „ . .
Wandelt nicht auf dem Wege der Bosheit, noch auf den Wegen des
Todes . . . Wehe denen, die ihre Häuser durch Sünde aufbauen, denn
sie werden von ihrer ganzen Gründung losgerissen werden und durchs
Schwert fallen; die aber, die Gold und Silber erwerben, werden plötz-
lich im (Jüngsten) Gericht umkommen. Wehe euch Reichen, denn ihr
habt euch auf euren Reichtum verlassen und ihr werdet aus euren
Schätzen heraus müssen, denn ihr habt in den Tagen eures Reich-
tums nicht an den Höchsten gedacht . . . Oh, wären doch meine Au-
gen eine Wasserwolke, um über euch zu weinen und meine Tränen
§ 61. Die Apokryphen und Apokalypsen
auszugießen, damit ich von meines Herzens Trübsal ausruhen könnte!
. . . Wehe euch, die ihr eurem Nächsten Böses zufügt, denn nach
eurem Tun soll euch vergolten werden. Wehe euch lügnerischen Zun-
gen . . . Ihr Leidenden aber, fürchtet euch nicht, denn Heilung wird
euch zuteil werden: helles Licht wird euch scheinen, und ihr werdet
die Stimmen der Ruhe vom Himmel her hören“ (Kap. 94—96).
Zuweilen werden in diesen Belehrungen auch religionsphilosophische
Fragen angeschnitten, wie z. B. das Problem der Willensfreiheit und
der Vorherbestimmung. Dabei tritt der Verfasser für das Prinzip der
Willensfreiheit ein: „Die Sünde ist nicht auf die Erde geschickt wor-
den, sondern die Menschen haben sie von sich selbst aus geschaffen*
großer Verdammnis fallen darum anheim, die sie begehen“ (98, 4)*
Hieraus entspringt die Verantwortung des Menschen für seine Hand-
lungen. Die Handlungsweise des Menschen wird im Himmel über-
wacht, wo über Verdienst und Verfehlung Buch geführt wird: „Jede
Sünde wird täglich im Himmel vor dem Höchsten auf geschrieben“
(98, 7; vgl. io4, 7). Auch werden vom Verfasser verschiedene Irr-
lehren bekämpft; er tadelt diejenigen, die „Lügenrede und Frevel-
worte niederschreiben“, anscheinend damit auf die ketzerischen, im
Geiste des Sadduzäertums oder des Hellenismus abgefaßten Bücher
anspielend. „Denn — fügt er mit beißender Ironie hinzu — sie
schreiben ihre Lüge auf, daß die Leute die Torheit hören und nicht
vergessen“ (98, i5; vgl. 99, 2 u. io4, 11 f.). Eine Ketzerei schlimm-
ster Art ist ihm das sadduzäische Leugtien der Vergeltung im Jen-
seits, und der Verfasser hat zweifellos die Sadduzäer und die Hel-
lenisten im Auge, wenn er die Wankelmütigen mit folgenden Worten
ermahnt: „Fürchtet euch nicht, ihr Seelen der Gerechten, und seid
voll Hoffnung ihr, die ihr in Gerechtigkeit sterbt! Trauert nicht*
wenn eure Seele in großer Trübsal, in Jammer, Seufzen und Kum-
mer in die Unterwelt hinabfährt, und euer Leib zu eurer Lebzeit
nicht erlangte, was eurem Werte entsprach . . . Wenn ihr sterbt, so
sprechen die Sünder über euch: ,Wie wir sterben, so sterben die Ge-
rechten. Was haben sie für Nutzen von ihren (guten) Taten gehabt?
Was ist ihr Vorzug vor uns? Von jetzt an sind wir gleich * . / Ich
schwöre euch nun, ihr Gerechten: ich weiß ein Geheimnis; ich habe
es auf den himmlischen Tafeln gelesen und habe das Buch der Hei-
ligen gesehen . . . Daß allerlei Gutes, Freude und Ehre für die Gei-
ster der in Gerechtigkeit Verstorbenen bereitet und aufgeschrieben
329
Das geistige Leben in Judäa
ist, daß euch vielerlei Gutes zum Lohne für euer Mühen gegeben
wird, und daß euer Los besser als das der Lebenden wird. Eure Gei-
ster . . . werden leben, sich freuen und fröhlich sein, eure Geister
werden nicht vergehen“ (102—io3). Ähnliche Reden werden an die
Sünder gerichtet, nur mit der umgekehrten Schlußfolgerung: nach
glücklichem Leben auf Erden harren ihrer fürchterliche Qualen im
Jenseits. Die Reihe der „Belehrungen“ schließt mit der Erklärung
des Verfassers: „Wenn ihr alle meine Worte richtig in euren Spra-
chen (ab)schreibt (übersetzt), nichts ändert oder auslaßt . . ., dann
weiß ich ein anderes Geheimnis: (meine) Bücher werden den Ge-
rechten und Weisen übergeben werden und viel Freude, Rechtschaf-
fenheit und Weisheit verursachen“ (io4, n—12).
Aus alledem ist zu ersehen, daß das umfangreiche „Henochbuch“
kein einheitliches Werk ist, sondern aus einem ganzen Zyklus von
Büchern verschiedener Verfasser besteht, die zu verschiedenen Zeiten
unter dem Decknamen des geheimnisvollen Heiligen uralter Zeiten ge-
schrieben haben. Seinem Geiste nach ist dieses Sammelwerk zweifellos
gegen das Sadduzäertum, als die Aristokratie des Besitzes und der
Macht, sowie gegen die sadduzäische Bestreitung der Unsterblichkeit
der Seele und die Vorliebe dieser Partei für die hellenistische Kultur
gerichtet. Im „Henochbuche“ sind Elemente des Pharisäismus und
des Essäismus in gleicher Weise vorhanden, und wir werden wohl in
unserer Annahme nicht fehl gehen, daß die eschatologischen Bestand-
teile (über das „Ende der Zeiten“, das Jüngste Gericht u. dgl.) der
Feder eines Essäers entstammen, während die Verfasser der Beleh-
rungen in den Kreisen der Pharisäer zu suchen sind. Das Buch ist
allem Anscheine nach im Laufe des ersten Jahrhunderts v. d. ehr.
Ära abgefaßt worden. Seine Verfasser sahen den Glanz und den Nie-
dergang der Hasmonäer, und dann den Beginn des römischen Pro-
tektorats in Judäa. Was sie indessen bewegte, waren weniger die po-
litischen Umwälzungen als vielmehr der sittliche Verfall der höheren
Gesellschaftskreise, sowie die religiöse Zerrüttung in allen Klassen
der Bevölkerung. Der Pharisäer des „Henochbuches“ strebt danach,
die Grundpfeiler des Dogmas und die Macht des Gesetzes zu befesti-
gen, während der Essäer von einem Himmelreiche, vom Tage des
Jüngsten Gerichts, von Engeln und Dämonen schwärmt. Später schal-
tete eine unbekannte Hand in den Text des „Henochbuches“ manches
aus der christlichen Dogmatik ein, allein diese Einfügungen ließen
33o
§ 61. Die Apokryphen und Apokalypsen
den jüdischen Kern des Buches unberührt; die Schöpfer des Chri-
stentums entlehnten im Gegenteil gar vieles dem „Henochbuche“,
und das gesamte evangelische Schrifttum ist voll von diesen Entleh-
nungen aus der pharisäisch-essäischen Apokalypse. Diese Ideenver-
wandtschaft mit der vom Judentum abgefallenen Lehre wurde für
die jüdische Quelle verhängnisvoll: später, als der biblische Kanon
endgültig abgeschlossen wurde, entschieden sich die strengen Phari-
säer für den Ausschluß des „Henochbuches“, indem sie es den soge-
nannten „draußen befindlichen Büchern“ zuzählten und ihm dadurch
die Fürsorge der Synagoge entzogen. So ist der Urtext des Buches,
das zweifellos in Palästina in hebräischer oder aramäischer Sprache
(vielleicht auch teilweise in der einen, teilweise in der anderen, wie
sein Prototyp, das „Danielbuch“) verfaßt worden war, wovon sein
ganzer Stil zeugt, spurlos verschwunden, und erhalten haben sich nur
seine äthiopische Übersetzung und einige Fragmente der griechischen
Übersetzung1).
Ein Erzeugnis derselben Epoche ist auch das „Buch der Jubi-
läen“, eine didaktische, mit neuen Legenden ausgeschmückte Nach-
erzählung der biblischen Genesis und des Anfangs des Exodus. In
einer eigenartigen chronologischen Ordnung, mit Einteilung der Zeit
in Jahrwochen zu je sieben Jahren und in sieben Jahrwochen (Jubi-
läen), bringt der anonyme Verfasser die Weltgeschichte und die äl-
teste Geschichte Israels zur Darstellung, indem er der biblischen Er-
zählung eine Fülle von Episoden und Erklärungen beifügt. Besonders
ausführlich erörtert er die Begründungen jener Gebote, deren in den
biblischen Erzählungen von der Zeit bis zur Sinaioffenbarung bei-
läufig Erwähnung getan wird (wie z. B. des Gebotes der Sabbat-
heiligung, der Beschneidung u. dgl. m.). Der Verfasser kennzeichnet
schon in der Einleitung sein Buch als die „Geschichte der Eintei-
lung der Tage des Gesetzes und des Zeugnisses nach den Ereignissen
der Jahre“. Gleich den späteren Talmudisten zweifelt er nicht daran,
daß die Erzväter bereits viele von den mosaischen Gesetzen beobaohtet
hätten. Die Darstellung bricht mit dem Auszug aus Ägypten ab, und
das Buch schließt mit einer neuen Apotheose des „siebenten Tages“,
des heiligen Sabbats, als eines kosmischen Ereignisses (am siebenten
1) Außer dem äthiopischen, im XVIII. Jahrhundert entdeckten Texte des ,.He-
nochbuches“ liegt noch eine slawische Lesart aus dem XVII. Jahrhundert vor, die
sich anscheinend an eine alte griechische (byzantinische) Quelle anlehnt.
33i
Das geistige Leben in Judäa
Tage ruhte der Schöpfer der Welt), mit dem auch der „Sabbat des
Landes“, das Halljahr, in Zusammenhang stehe. Das ehrfurchtsvolle
Verhalten des Verfassers dem Gesetz gegenüber verrät den Pharisäer.
Die von ihm genau umschriebene Unverletzlichkeit der Sabbatruhe
erinnert an die Subtilitäten der Mischna: als ein schweres Vergehen
gilt ihm nicht nur die Feldarbeit oder der Handel am Sabbat, son-
dern auch das Schöpfen von nicht am Vorabend vorbereitetem Was-
ser, das Heben von Lasten und sogar das Tragen von Gegenständen
von Haus zu Haus usw. (2, 29—80; 5o, 8—13; an letzterer Stelle
wird auch die Kriegführung am Sabbat untersagt). Es fehlt jedoch
auch an essäischen Elementen nicht: ein Himmelsengel erscheint als
Mittler zwischen Gott und Moses; die himmlische Hierarchie mischt
sich gar oft in die menschlichen Angelegenheiten ein, und die Engel
beobachten sogar die d,en Menschen vorgeschriebenen Gesetze; auch
kommen hier „unreine Geister“ (Dämonen) vor, die die Nachkom-
men des Noah verführen, wobei der Fürst der Geister, Mastema (mit
dem Worte Satan — der Gehässige, der Ankläger — verwandt), seine
Verführerrolle unter den „bösen Menschenkindern“ vor Gott recht-
fertigt (Kap. 10). Mit besonderer Hochachtung wird des in den Him-
mel erhobenen Chanoch und seines Buches Erwähnung getan (4, 17),
was vielleicht als ein Hinweis auf das zeitgenössische „Buch Henoch“
gedeutet werden kann. Beiden Büchern war übrigens dasselbe Los
beschieden: der allem Anscheine nach hebräische Urtext des
„Jubiläenbuches“ ist gleichfalls verschollen, und wir besitzen nur
die äthiopische Übersetzung und Bruchstücke einer alten lateinischen
Übertragung. Die ältesten Kirchenväter kennen das Buch unter dem
Namen „Das Buch der Jubiläen oder die kleine Genesis“ (Leptogene-
sis); klein ist diese Pseudogenesis freilich nur dem Range nach, denn
an Umfang steht sie, von einer Unmenge sagenhafter Beifügungen
überwuchert, ihrem biblischen Vorbild keineswegs nach.
Bedenkt man nun, daß außer den uns bekannt gewordenen .Bü-
chern im Volke noch viele andere dieser Art, die sich nicht einmal in an-
derssprachigen Übersetzungen erhalten haben, in Umlauf gewesen sein
dürften, so gelangt man zu dem Schluß, daß das literarische Schaf-
fen im Judäa jener Zeit von nicht unbeträchtlicher Intensität gewesen
ist. Im Vergleich zu der klassischen Epoche des biblischen Schrift-
tums war diese Literatur freilich eine Literatur der Epigonen, eine
die Bibel nachahmende, pseudo-klassische Literatur, die ihren Vor-
§ 61. Die Apokryphen und Apokalypsen
bildern an Originalität und schöpferischer Fülle in jeder Weise nach-
stand. Und doch zeugt der Inhalt der apokryphischen Literatur des
ersten Jahrhunderts v. d. ehr. Ära von einer tiefgreifenden Gärung
des religiösen Denkens in dem damaligen Judäa. Klar heben sich be-
reits in ihr die beiden Hauptströmungen dieses Denkens ab: erstens
die pharisäische Gesetzesfrömmigkeit, die kommende Nomokratie, das
Bestreben, die Nation mit einer geistigen Waffe für den Kampf ums
Dasein auszurüsten; zweitens die essäisch-mystische, auf die Befrie-
digung der religiösen Bedürfnisse der Persönlichkeit gerichtete Strö-
mung, die die Geister in die Sphäre des Jenseitigen, in das Himmel-
reich, in das Reich, das nicht von dieser Welt ist, fortreißt. In diese?
Epoche fließen die beiden Strömungen noch nebeneinander, allein
schon in der folgenden steht ihnen im Zusammenhänge mit der an-
brechenden Krise des judäischen Staates ein entscheidender Zusam-
menstoß und Kampf bevor.
333
Sechstes Kapitel
Die Weltdiaspora
§ 62. Ägypten und Cyrenaica
Die Ausbreitung der jüdischen Diaspora, die in dem Jahrhundert
der politischen Selbständigkeit Judäas zum Stillstand gekommen war,
mußte in der Epoche des römischen Protektorats weitere Fortschritte
machen. Der Einfall des Pompejus und, die Schmälerung des Land-
besitzes von Judäa, dje römische Vormundschaft und das Regime des
Herodes — all dies hat sicherlich zu einer Steigerung der Auswande-
rung in fremde Länder beitragen müssen. Der Zeitgenosse Herodes I.,
der berühmte griechische Geograph Strabo, berichtet, daß „die Ju-
den bereits in alle Staaten (Städte) gekommen waren und daß man
nicht leicht einen Ort in der Welt finden könne, der nicht von die-
sem Geschlecht eingenommen worden wäre“. Unter den Fittichen, die
Rom über die ehemaligen Monarchien der Seleuciden und Ptole-
mäer ausbreitete, rückte die Diaspora politisch näher an Judäa her-
an und gewann auch selbst an Einheitlichkeit, indem ihre verschie-
denen, über den großen Raum des Mittelmeerbeckens verstreuten Be-
standteile sich gegenseitig näherten. Hier im Morgenlande schufen
Juden wie Griechen an dem gleichen Kulturwerke, sich bald in die
Hände arbeitend, bald in einen Wettstreit miteinander geratend.
Nach wie vor blieb Ägypten das Hauptzentrum der Diaspora oder
wenigstens der Brennpunkt ihres kulturellen Lebens. In dieser Epoche
hatte das Land eine tiefgreifende Krise zu überstehen: das nahezu drei
Jahrhunderte selbständig gewesene Ptolemäerreich geriet zunächst un-
ter römische Vormundschaft (unter Julius Caesar und Antonius),
um sich dann in eine römische Provinz zu verwandeln (3o v. d.
ehr. Ära). Fortan steht die zahlreiche jüdische Kolonie Ägyptens zwi-
schen zwei miteinander rivalisierenden Mächten: der griechischen oder
334
§ 62. Ägypten und Gyrenaica
hellenisierten Bevölkerung einerseits und den römischen Behörden an-
dererseits. Vorerst läßt die römische Regierung, gleich den besten
der Ptolemäer, dem Bürgerrechte und der Gemeindeautonomie der
ägyptischen Juden ihren Schutz angedeihen. Sowohl Julius Caesar
wie Augustus begünstigen die Juden, indem sie in ihnen eine zuver-
lässigere Bevölkerungsschicht erblicken, als in den die römischen Er-
oberer hassenden Griechen und eingeborenen Ägyptern. Der erwähnte
Zeitgenosse des Kaisers Augustus, Strabo, bezeugt, daß sich die jüdi-
schen Kolonien in Ägypten vermehrt haben und sich einer weitgehen-
den Selbstverwaltung erfreuten. „Die Juden haben in Ägypten besondere
Wohnstätten, und ein großer Teil von Alexandrien ist diesem Volke
besonders eingeräumt. Sie haben auch ihren eigenen Ethnarchen, der
ihre Gemeindeangelegenheiten leitet, Recht spricht und ihre Verträge
bekräftigt, als wenn er der wirkliche Beherrscher eines Staates (,po-
liteias‘) wäre.“ Dem Zeugnis eines anderen Zeitgenossen, des jüdh
sehen Philosophen Philo von Alexandrien, zufolge waren in den er-
sten Jahrzehnten der christlichen Ära in ganz Ägypten, „bis zu den
Grenzen Äthiopiens“, „hundert Myriaden“, d. s. eine Million Juden
(bei einer sieben oder acht Millionen starken Gesamtbevölkerung) an-
sässig. Die wichtigste und kulturell am höchsten stehende Gemeinde
befand sich in Alexandrien. Von den fünf Stadtbezirken, welche nach
den fünf ersten Buchstaben des griechischen Alphabets benannt wur-
den, hießen zwei die „jüdischen“, weil sie vorwiegend von Juden be-
wohnt waren. Besonders kompakt lebte die jüdische Bevölkerung
in dem am Meere gelegenen, „Delta“ genannten, vierten Stadtbezirk.
Der jüdische Ethnarch stand, wie es scheint, an der Spitze jenes Äl-
testenrates oder der „Gerusia“, die seit der Ptolemäerzeit die Ge-
meind eangelegenheiten in Alexandrien verwaltete. Unter Kaiser Au-
gustus wurde das Amt des Ethnarchen für eine Zeit lang aufgehoben
und es gewann dementsprechend die kollegiale Behörde, die „Geru-
sia“, die uns in den späteren Ereignissen öfter entgegentritt als der
Ethnarch, an Bedeutung1). In dem ersten Jahrhundert der römischen
Herrschaft tauchte eine neue Beamtenwürde auf, die des Alabarchen
(Arabarch), eines Finanzbeamten, der die Steuereintreibung unter
den Juden in der Hand hatte. Wie alle zwischen einer autonomen Ge-
1) S. Philo, In Flaccum, io_. und Mommsens Kommentar zu dieser Stelle (Rö-
mische Gesch. V, 517, Anm.).
335
Die Weltdiaspora
meinde und dem Fiskus vermittelnden Finanzbeamten, gewann auch
der Alabarch bedeutenden politischen Einfluß, so daß gar oft sein
Amt von dem eines Ethnarchen oder des Vorstehers der Gerusia nicht
mehr zu unterscheiden ist1).
Die bürgerlichen Rechte und die innere Autonomie der Juden wur-
den jedoch gar oft durch die Anschläge der ihnen feindlich gesinn-
ten griechischen Bevölkerung Alexandriens gefährdet und mußten
mit aller Kraft verteidigt werden. Der Judenhaß der Griechen hatte
zwei verschiedene Gründe: einen politischen und einen wirtschaftli-
chen. Nachdem die römische Herrschaft in Ägypten festen Fuß ge-
faßt hatte, erblickten nämlich die gedemütigten, jedoch noch lange
nicht demütigen Griechen in den mit dem neuen Regime sympathi-
sierenden Juden ihre politischen Widersacher. Den Griechen war jene
Erzsäule in Alexandrien, auf der das Dekret des Julius Caesar über
die Anerkennung der Juden als vollberechtigte Bürger eingeprägt
worden war, sicherlich ein Dorn im Auge1 2). Die gleichzeitige Aner-
kennung der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden und die Ge-
währung einer weitgesteckten Autonomie schien eine besondere Be-
vorzugung dieses Bevölkerungsteiles zu sein. Andererseits bestand zwi-
schen Griechen und Juden als den beiden handel- und gewerbetrei-
benden Bevölkerungsschichten ein wirtschaftlicher Wettbewerb. Die
römische Herrschaft, die den Handelsverkehr und den Reichtum Alex-
andriens vergrößerte, mußte diesen Interessenkonflikt nur noch ver-
schärfen. Sowohl iüi Seehandel als in der Nilschiffahrt wetteifer-
ten die Juden erfolgreich mit den Griechen. Auch zogen sich die
Juden durch ihre Beteiligung an der Pacht der Staatssteuern und an
Kreditgeschäften nicht selten Feindschaft zu. So spitzte sich der na-
tionale Gegensatz immer mehr zu, um später sogar in offene Straßen-
kämpfe auszuarten.
1) Die Frage des Berufs und der Obliegenheiten des Alabarchen, seiner Be-
ziehungen zum Ethnarchen (manche halten diese beiden Würden für identisch), ja
sogar die Ethymologie des griechischen Wortes Alabarches („Vorsteher zu Meere“
oder — nach der Lesart Arabarches — Vorsteher der arabischen, östlichen Seite
des Nils) bleibt bis auf den heutigen Tag umstritten. Vgl. die einschlägige Literatur
bei: Schürer, Gesch. d. jüd. Volk. III1, i32—i34, und Graetz, Gesch. III1,
Note 4-
2) Ant. XIV, io, i; Contra Ap. II, 4* In den anderen Quellen ist eine Be-
stätigung hiervon nicht zu finden. Wilcken (Papyruskunde, I, 63) bestreitet sogar
die Tatsache des alexandrinischen Bürgerrechts der Juden, jedoch gelang es Schürer
(Gesch. III, 718), die Unzulänglichkeit seiner Beweisführung nachzuweisen.
§ 62. Ägypten und Gyrenaica
Der Verkehr der ägyptischen Kolonie mit dem jüdischen Mut-
terlande wurde in der Epoche des römischen Protektorats besonders
lebhaft. Der Oniastempel mit dem Opferaltar in Leontopolis (§ 38)
scheint in dem religiösen Kultus der ägyptischen Juden nur einen
sehr bescheidenen Platz eingenommen zu haben; sie hingen zu sehr
an dem erhabenen Tempel zu Jerusalem, wohin sie an den großen
Jahresfesten zu pilgern und ständig Geld und Weihgaben zu schik-
ken pflegten. In Ägypten, wie auch in anderen Diasporazentren setzte
man besondere Abgaben zugunsten des Jerusalemer Tempels fest,
die den Charakter einer allgemein verbindlichen Tempelsteuer an-
nahmen. „Fast in jeder Stadt — so berichtet ein Zeitgenosse — ist
eine Kasse für die heiligen Gelder, an welche die Abgaben entrich-
tet werden. Zu bestimmten Zeiten werden Männer nach dem Adel
des Geschlechtes mit Überbringung der Gelder (nach Jerusalem) be-
traut . . . Viele Tausende aus viel tausend Städten wallfahrten zu je-
dem Feste nach dem Tempel, die einen zu Lande, die anderen zur
See . . .1)".
Der öffentliche Gottesdienst in Alexandrien selbst wurde in Bet-
häusern oder Synagogen (proseuchai) abgehalten, deren es in den
zwei großen, von Juden dicht bewohnten Stadtvierteln eine große
Anzahl gab. In den Säulenhallen und Höfen (periboloi) dieser Syna-
gogen pflegte man, nach dem Berichte des Philo, Schilde, goldene
Kränze und andere Weihgaben zu Ehren des römischen Kaisers auf-
zustellen. Die Hauptsynagoge Alexandriens zeichnete sich, sowohl
was Bauart, als auch was die innere Ausschmückung betrifft, durch
ganz besondere Pracht aus. Sie wurde von Sagen umwoben, deren
Widerhall uns noch in der talmudischen Literatur begegnet* 2). Im
Mittelpunkt des Sabbatgottesdienstes stand Gebet und Lesen der Hei-
ligen Schrift; dann folgte die Belehrung, die Predigt, so daß die Sy-
nagogen dem Typus von Lehrhäusern oder Schulen nahekamen. „An
1) Philo, In Flac. 7; Legat, ad Gajum, 36; De monarchia, II, §§ 1 u. 3.
2) Diese „größte und herrlichste Synagoge“ (Philo, Legat, ad Gajum, 20)
wird in der Tosephta, Tr. Sukka, IV und Bab. Talm., Tr. Sukka, 5i, in folgen-
der sagenhafter Weise geschildert: „Wer das Bauwerk mit der Doppelkolonade
(dioplaston) zu Alexandrien nicht gesehen hat, der hat die Herrlichkeit Israels nicht
gesehen. Man erzählt, daß es eine Art große Basilika mit einer Reihe äußerer und
innerer Säulengänge (stoa) war. Hier fanden manchmal sechzig Menschen-Myria-
den (!) Platz. Und einundsiebzig goldene Sessel standen dort, nach der Zahl der
Ältesten („gerusia“). In der Mitte befand sich ein hölzernes Gerüst (bima), auf
dem der Chasan der Synagoge stand und mit einem Tuche winkte, wenn man
22 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
337
Die Weltdiaspora
den Sabbaten — berichtet ein Zeitgenosse x) — werden in allen Städ-
ten Tausende von Lehrhäusern geöffnet, in welchen Einsicht und
Mäßigkeit und Tüchtigkeit und Gerechtigkeit und überhaupt alle Tu-
genden gelehrt werden“. Nur eines entfremdete die Diaspora dem
Mutterlande: die alte nationale Sprache und ihr Surrogat, die aramäi-
sche Verkehrssprache, kamen immer mehr außer Gebrauch, sowohl
im Verkehr als auch in der Literatur der alexandrinischen Juden,
und wurden durch das Griechische ersetzt, das sich schon längst
als Umgangs- und Schriftsprache eingebürgert hatte. Die griechische
Bibelübersetzung drängte hier das hebräische Original immer mehr
zurück, und sogar die Gebete und religiösen Formeln pflegte man gar
oft in griechischer Sprache abzufassen. Die Preisgabe der nationa-
len Sprache entwand der Diaspora die wirksamste Waffe in dem
Kampfe gegen die Assimilationseinflüsse ihrer Umgebung. Nur die
angeborene Abneigung gegen das Heidentum, nur diese Kraft der
Abstoßung hielt noch bei den Bekennern des Judaismus der Anzie-
hungskraft des Hellenismus die Wage, wobei allerdings die weit-
gehende Selbstverwaltung diese zentripetale Kraft des nationalen Le-
bens in den Gemeinden besonders begünstigte.
Die sich immer weiter ausbreitende jüdische Kolonie Ägyptens
griff mit ihren Verzweigungen auch auf die Nachbarländer Nord-
afrikas über. So bildete sich ein autonomes jüdisches Zentrum in der
Provinz Libyen, in Cyrenaica (dem heutigen Tripolis). Dem Zeug-
nis des Strabo zufolge zerfiel deren Bevölkerung in vier Klassen:
Bürger, Ackerbauer, Metöken (Fremde) und Juden. Große autonome
Gemeinden gab es dort in den Städten Cyrene und Berenike. Im
I. Jahrhundert v. d. ehr. Ära besaßen diese Gemeinden ihre eigenen
Archonten und Richter und bildeten somit in der Tat eine besondere
Bevölkerungsklasse. Die Gemeinde in Berenike wird in einer jener Zeit
entstammenden Inschrift sogar als „politeuma ton judaion“, d. i.
als eine staatliche Organisation der Juden, bezeichnet. Und als in
„Amen!“ auszurufen hatte, und dem Zeichen gemäß riefen alle einstimmig „Amen!“* *
Und nicht in Unordnung saß man dort, sondern in Reihen geordnet: die Gold-
schmiede saßen für sich, die Silberschmiede für sich, dann kamen die Schmiede,
dann die Erzgräber, die Weber. Kehrte dort ein Fremder oder ein Hilfsbedürftiger
ein, so erkannte er sogleich die Männer seines Zeichens und sprach sie an, so daß
er leicht einen Broterwerb für sich und seine Familie zu finden vermochte.“
*) Philo, De septenario, § 6. In „Vita Mosis“ (III, 27) behauptet Philo, daß
„die jüdischen Bethäuser nichts anderes seien, als Schulen der Wissenschaft“.
§ 63. Die Diaspora in Kleinasien, Syrien und Mesopotamien
Cyrene die Vertreter der dortigen griechischen Stadtverwaltung so-
wie römische Beamte es versuchten, die Juden in der Ausübung ihrer
autonomen Rechte zu behindern, wurde ihnen dies von Kaiser Au-
gustus und Marcus Agrippa aufs strengste untersagt. Das kaiserliche
Edikt bestätigte unter anderem das von den lokalen Behörden be-
strittene Recht der Juden von Cyrene, für den Jerusalemer Tempel
Geldgaben zu sammeln und sie nach Jerusalem zu schicken.
§ 63. Die Diaspora in Kleinasien, Syrien und Mesopotamien
Die römische Herrschaft, die, sogar in ihrer ursprünglichen Form
als Protektorat, über Judäa soviel Unheil herauf beschworen hatte,
erwies sich hingegen für die im ehemaligen Seleucidenreiche, in
Kleinasien und Syrien, verstreuten jüdischen Kolonien als durchaus
zuträglich. In den Stadtstaaten Kleinasiens (in Milet, Ephesus, Per-
gamon, Sardes, Laodicea, Apamea, Halikarnassus) und den angren-
zenden Jonischen Inseln gab es jüdische Gemeinden schon seit der
Epoche der ersten Seleuciden, andere tauchten später, zur Zeit der
Entstehung der unabhängigen kleinasiatischen Staaten auf. Von der
eingeborenen griechischen Bevölkerung eng umschlossen, konnten
diese Gemeinden von den ihnen seit der Zeit Antiochus III. (§ 4)
zugesicherten autonomen Rechten nicht immer Gebrauch machen.
Die griechischen Stadträte oder oligarchischen Gerusien konnten sich
nämlich mit der Doppelstellung der Juden als gleichberechtigte Bür-
ger und zugleich als Mitglieder einer besonderen Gemeindeorganisa-
tion mit eigenen religiösen und gesellschaftlichen Institutionen nicht
abfinden und suchten die jüdischen Rechte und Freiheiten in jeder
Weise zu verkürzen. So beeinträchtigten die Stadtbehörden unter an-
derem auch das Recht der Juden auf öffentliche Versammlungen so-
wie auf Geldsammlungen für lokale Bedürfnisse und für die nach
Jerusalem zu entsendenden Beiträge. Unter den Seleuciden waren die
jüdischen Gemeinden gegen die Willkür der Lokalverwaltungen
machtlos, besonders in den zur Unabhängigkeit gelangten kleinen
griechischen Reichen, und nur mit der Befestigung der römischen
Herrschaft in Kleinasien (in der Provinz Asia nach der römischen
offiziellen Bezeichnungsweise) erzielten die Gemeinden im Kampf
um das Bürgerrecht und die Autonomie gewisse Erfolge. Die römi-
sche Zentralregierung, die seit Julius Caesar alle politischen Ver-
22*
339
Die Weltdiaspora
bände der Griechen rücksichtslos unterdrückte, unterstützte hingegen
die Gemeindeorganisationen der Juden, die daher in der Diaspora
in den Römern ihre Gönner erblickten, bei denen sie auch ihrerseits
als die politisch zuverlässigen „Freunde und Verbündeten“ Roms galten.
Unter Julius Caesar gelang es den jüdischen Gemeinden Klein-
asiens dank den Vorstellungen des Caesar gefügigen Hohepriesters
Hyrkan II. weitgehende Freiheiten zu erlangen. Besondere Vorrechte
wurden den Gemeinden von Laodicea, Milet, Halikamassus und Sar-
des verliehen. In den Erlassen der römischen Consuln oder Procon-
suln wurde den Juden völlige Freiheit des religiösen Kultes, sowie
das Recht, „nach eigenen Gesetzen zu leben“, zugesichert1). So wurde
ihnen in Sardes eine eigene Jurisdiktion eingeräumt, die sogar das
„römische Bürgerrecht“ Besitzende anrufen durften. Als die Stadt-
behörde der Insel Paros Verordnungen erließ, die die Rechte der
Juden beeinträchtigten, hob sie die römische Regierung, auf die Be-
schwerde einer jüdischen Deputation hin, in folgendem, an die lo-
kalen Behörden gerichteten Erlaß wieder auf (um 46):
„Gajus Julius, Praetor und Consul (Proconsul) der Römer, an den Magistrat,
den Senat und das Volk von Paros. Die Juden in Delos und einige der jüdischen
Mietwohner sind in Gegenwart eurer Gesandten bei mir vorstellig geworden und
haben angezeigt, daß ihr durch Verordnungen sie hindert, ihre althergebrachten
Gebräuche und ihren Gottesdienst zu vollziehen. Es hat mein Mißfallen erregt,
daß ihr solche Bestimmungen gegen unsere Freunde und Bundesgenossen erlaßt
und ihnen verbietet, nach ihren Gesetzen zu leben und Geld zu gemeinsamen
Mahlen wie zum Gottesdienste beizutragen, besonders da ihnen dies noch nicht
einmal in Rom untersagt ist. Denn unser Praetor und Gonsul Gajus Caesar hat, als
er die Verordnung erließ, durch welche alle Versammlungen in der Stadt Rom
verboten wurden 2), jene Zusammenkünfte, Geldsammlungen und Veranstaltungen
von Gastmahlen ausdrücklich von dem Verbote ausgenommen ... Es ist daher
erforderlich, daß ihr alle gegen unsere Freunde und Bundesgenossen erlassenen
Verordnungen wegen ihrer Verdienste um uns und ihrer Treue sogleich aufhebt.“
!) Die zahlreichen, die Rechte und Privilegien der jüdischen Gemeinden der
Diaspora bestätigenden Erlasse aus den Zeiten des Caesar und Augustus sind in
Ant. (XIV, io u. XVI, 6) wiedergegeben. Über die Glaubwürdigkeit dieser Akten
wurde nicht wenig gestritten, jedoch lassen die letzten wissenschaftlichen Ergebnisse
keinen Zweifel daran, daß Josephus in der Tat viele von diesen offiziellen Schrift-
stücken Vorgelegen hatten, die er nur nicht in sachentsprechender Ordnung und mit
Angabe genauer Daten eingetragen hat. S. Bibliographie zu diesem Paragraphen.
2) Es ist hier von einer Verordnung Caesars die Rede, die religiöse Versamm-
lungen verbot, in denen griechisch-orientalische Kulte mit orgiastischen Riten ge-
pflegt wurden.
§ 63. Die Diaspora in Kleinasien, Syrien und Mesopotamien
Die Nachfolger Julius Caesars bekräftigten mehrmals die Rechte
und Freiheiten der jüdischen Gemeinden in Kleinasien und Syrien.
Unter Antonius wurden in Ephesus und anderen kleinasiatischen Städ-
ten die Juden, sogar solche, die „römische Bürgerrechte“ besaßen,
vom Militärdienst in den römischen Legionen befreit, da er mit den
Sabbat- und Speisegesetzen unvereinbar war (im Jahre 43). Es war
dies übrigens nur die Bestätigung eines Vorrechtes, das die Juden
schon früher besessen hatten.
Die lokalen Behörden suchten den Verkehr der Juden der Dia-
spora mit Jerusalem in jeder Weise zu erschweren und legten ihnen
auch beim Einsammeln der sogenannten „heiligen Gelder“, einer be-
sonderen Steuer zugunsten des Jerusalemer Tempels, allerlei Hinder-
nisse in den Weg. So ließ der römische Proconsul in Asien zur Zeit
des Pompe jus, Valerius Flaccus, große Summen aus dieser von den
Juden in Laodicea, Pergamon, Apamea und anderen Städten gesam-
melten Tempelsteuer konfiszieren (im Jahre 62). Der habgierige
Beamte berief sich dabei auf das von Rechts wegen bestehende Ver-
bot der Goldausfuhr aus der Provinz „Asia“, eignete sich aber in
Wirklichkeit das Gold selbst an, wie dies bald darauf in Rom fest-
gestellt wurde, wo sich für den wegen verschiedener Übergriffe an-
geklagten Flaccus der berühmte Cicero einsetzen mußte (unten,
§ 64). Später gebot Julius Caesar, solche Willkürhandlungen zu un-
terlassen. Auch Kaiser Augustus bestätigte in mehreren Erlassen das
Recht der Juden in Kleinasien und Cyrenaica auf das Eintreiben
besonderer Steuern für religiöse Zwecke und für die Bedürfnisse der
Gemeinden, sowie manche andere, den Juden verliehene Vorrechte.
Einer dieser Erlasse hat folgenden Wortlaut:
„Der Caesar Augustus, Pontifex Maximus mit Tribunengewalt, tut hiermit
kund und zu wissen: In Erwägung, daß das Volk der Juden nicht bloß jetzt,
sondern auch schon früher und besonders zu den Zeiten meines Adoptivvaters
Caesar, da Hyrkanus Hohepriester war, sich dem römischen Volke treu und er-
geben bewiesen, hat es mir und meinen Räten nach eingeholter Zustimmung des
römischen Volkes gefallen, zu verordnen, daß die Juden bei ihren Einrichtungen
und dem Gesetze ihrer Väter zu belassen sind, so wie es auch zu Zeiten Hyrkanus,
des Hohepriesters des höchsten Gottes, gewesen war; daß ferner ihre Tempelgelder
nicht angetastet werden dürfen, sondern daß es ihnen freistehen soll, dieselben
nach Jerusalem zu schicken und den dortigen Tempelschatzmeistern abzuliefern,
und endlich, daß sie am Sabbat oder dem ihm vorhergehenden Vorbereitungstage
34i
Die Weltdiaspora
von der neunten Stunde an nicht mehr zu Bürgschaftsleistungen gezwungen wer-
den können. Wird jemand bei der Entwendung ihrer heiligen Bücher oder Gelder
aus dem Sabbathause oder aus dem Hause ihrer Vorsteher betroffen, so soll er
wie ein Tempelräuber behandelt und seine Besitzungen als Eigentum des römischen
Volkes erklärt werden.“
Als der Mitregent des Augustus, Marcus Agrippa, die östlichen
Provinzen zusammen mit König Herodes I. bereiste (i4 v. d. ehr.
Ära), erschien vor ihnen eine Abordnung der in den jonischen Städ-
ten lebenden Juden. Diese klagten über verschiedene ihnen von den
jonischen Griechen zugefügte Ungerechtigkeiten: nämlich, daß man
sie verhindere, nach ihren Gesetzen zu leben, daß man sie an heili-
gen Tagen vor Gericht lade, daß man sie zur Leistung von Heeres-
dienst und zu öffentlichen Arbeiten zwinge, und daß man ihnen,
trotz der ausdrücklichen Verordnung der römischen Regierung, die
für den Jerusalemer Tempel bestimmten Gelder raube. Marcus
Agrippa hörte sowohl die Beschwerden der Juden an, die unter an-*
derem auch der Ratgeber des Herodes, Nicolaus Damasoenus, ver-
trat, als auch die Einwendungen, die die Griechen geltend machten.
Diese leugneten die Ungesetzlichkeit ihrer Handlungsweise nicht,
suchten sich aber durch die Behauptung zu rechtfertigen, daß die
Juden von einem bedeutenden Teil des griechischen Landgebietes und
der Erwerbszweige Besitz ergriffen hätten. Die Juden erwiderten dar-
auf, daß sie, ebenso wie die Griechen, autochthon seien und daß folg-
lich von einer unrechtmäßigen Aneignung nicht die Rede sein könne.
Marcus Agrippa mußte nun das gute Recht der Juden voll anerken-
nen und versprach, allen ihren Forderungen entgegenzukommen, so-
fern die römische Oberhoheit dadurch nicht berührt werden würde.
Die hier angeführten Tatsachen zeugen von der Hartnäckig-
keit, mit der die Juden der Diaspora in allen Zeiten sich für
ihre Gleichberechtigung sowie für ihre gesellschaftliche und geistige
Autonomie einsetzten, in der sie die hauptsächlichste Vorbedingung
ihrer nationalen Existenz außerhalb des eigenen Staates erblicken
mußten. Die die Juden umgebenden Völker sahen deren „Absonde-
rung“ nur ungern und gaben ihren Gefühlen in feindlichen Hand-
lungen Ausdruck. Allein schon in jenen Zeiten verstand das Juden-
tum wohl dafür zu kämpfen, was das heiligste Recht der Nation bil-
det, d. i. für die Aufrechterhaltung der Volksindividualität gegenüber
§ 63. Die Diaspora in Kleinasien, Syrien und Mesopotamien
jedwedem Versuche, sie zu verwischen und in dem umgebenden Milieu
zur Auflösung zu bringen.
In Syrien war die jüdische Bevölkerung um diese Zeit vornehmlich
in zwei Städten konzentriert, in Antiochia und Damaskus. Hinsichtlich
der Zahl der dort ansässigen Juden nahm Antiochia die erste Stelle
nach Alexandrien ein; die jüdische Gemeinde besaß eine prächtige
Synagoge, wo der Überlieferung zufolge ein Teil der seinerzeit von
Antiochus Epiphanes aus dem Jerusalemer Tempel entwendeten Weih-
geräte auf bewahrt wurde1). In Antiochia und Damaskus waren die
Beziehungen zwischen den Juden und der griechischen Bevölkerung
durch zwei sich kreuzende Faktoren bestimmt: einerseits bestand hier,
wie auch sonst, ein sozial-wirtschaftlicher Antagonismus, der jedoch
andererseits nicht selten durch jene religiöse Gärung gemildert wurde,
die dank der erfolgreichen jüdischen Propaganda unter den dortigen
Griechen zutage getreten war. Die Hinneigung vieler Heiden zum
Judaismus dämpfte nämlich deren Feindseligkeit den Juden gegen-
über, wenn auch entgegengesetzte Fälle der Empörung der recht-
gläubigen Heiden gegen die jüdische religiöse Propaganda durchaus
keine Seltenheit waren. Die Auswirkungen dieser komplizierten ge-
genseitigen Beziehungen kamen indessen in bestimmter Form erst
in der nachfolgenden Epoche der römischen Herrschaft und des
Kampfes Judäas um seine Unabhängigkeit deutlich zum Vorschein.
Eine besondere Stelle nahmen in der Diaspora die alten jüdischen
Siedlungen jenseits des Euphrat, in Mesopotamien, namentlich die
in Babylonien, ein. Von allen Provinzen des ehemaligen Seleuciden-
reiches blieb Babylonien allein außerhalb der römischen Einfluß-
sphäre: es befand sich unter der Gewalt jener parthischen Arsaciden-
könige, die den letzten Hasmonäerkönig Antigonus in seinem Kampfe
gegen Rom unterstützt hatten. Nach einer Reihe von Jahrhunderten
taucht Babylonien, diese Mutter der Diaspora, in der Epoche der letz-
ten Hasmonäer und Herodes I. aus dem geschichtlichen Dunkel wie-
der auf. So wurde, wie bereits erwähnt, der abgesetzte König-Hohe-
priester Hyrkanus II. von den Parthern nach Babylonien geführt,
wo ihn die dortigen Juden zu ihrem geistlichen Haupte machten und
in höchsten Ehren hielten. Auch einer der von Herodes in Jerusalem
!) Bell. VII, 3, 3.
343
Die Weltdiaspora
ernannten Hohepriester, Chananel, war aus Babylonien gebürtig.
Schließlich stammte auch der große Gesetzeslehrer und Schöpfer des
talmudischen Judaismus, Hillel, gleichfalls aus diesem Lande. Unter
Herodes I. bildete sich an der Grenze Judäas eine ganze Kolonie von
Auswanderern aus Babylonien. Der babylonische Jude Zamaris über-
schritt nämlich mitsamt hundert seiner Verwandten und fünfhundert
bewaffneten Reitern den Euphrat und ließ sich in Syrien nieder;
Herodes überredete ihn jedoch, in Batanäa in Transjordanien Wohn-
sitz zu nehmen, zum Schutze der Landesgrenzen gegen die räuberi-
schen Bewohner des benachbarten Trachonitis. Zamaris und seine
Leute bauten hier nun den befestigten Flecken Bathyra1), der den
zu den Festgottesdiensten nach Jerusalem ziehenden Pilgern als Zu-
fluchtsstätte diente. Dort pflegten sich auch die in der Umgegend ver-
streuten Juden zu versammeln, um ihren religiösen Kultus ungestört
ausüben zu können. Diese babylonisch-jüdische Kolonie erfreute sich
unter Herodes und seinen Nachfolgern einer weitgehenden Autonomie.
Aus alledem kann geschlossen werden, daß die babylonischen Ju-
den in dieser Epoche einen sowohl quantitativ als qualitativ nicht un-
bedeutenden Bestandteil der Diaspora bildeten1 2). Die Hauptgemein-
den befanden sich in den Städten Nehardea und Nisibis. Durch diese
Gemeinden gingen die im Partherreiche für den Jerusalemer Tempel
gesammelten Gelder, die von hier aus unter starker Bedeckung nach
Jerusalem befördert zu werden pflegten. Auch die Zahl der Pilger,
die alljährlich zu den Jahresfeiertagen aus Babylonien nach der hei-
ligen Stadt wanderten, war nicht unbeträchtlich. Überhaupt wurden
hier die geistigen Beziehungen zu Judäa aufs eifrigste gepflegt. Da
Babylonien überdies vom Drucke der hellenistischen Kultur, dem die
Diaspora in Ägypten, Syrien und Kleinasien ausgesetzt war, ver-
schont blieb, so konnte die nationale Eigenart hier auch aus diesem
Grunde in viel größerem Maße gewahrt werden. So stellen denn auch
1) Die Annahme, wonach dieser Ansiedlung, von der in Ant. XVII, 2, be-
richtet wird, die Vorsteher des gelehrten Synhedrion in Jerusalem, die Vorgänger
Hillels, die Bne-Bathira, entstammen sollten (§ 60), ist allenfalls als eine geist-
reiche Hypothese zu bewerten.
2) In Ant. (XV, 2, 2 u. 3, i; XVIII, 9) wird der zahlreichen jüdischen Be-
völkerung Babyloniens in der Zeit Herodes I. und seiner Nachfolger mehrmals
Erwähnung getan. Vgl. noch Bell. VI, 6, 2 u. Philo, Legat, ad Cajum, § 3i.
§ 64. Die Anfänge der Diaspora in Europa
der Babylonier Hillel und der Alexandriner Philo die Prototypen
zweier Richtungen im Judentum dar: der für die Eigenart eintreten-
den einerseits und der synkretistischen andererseits.
§ 64. Die Anfänge der Diaspora in Europa: Griechenland und Rom
Ein bedeutsames Ereignis in der Geschichte der Diaspora bildet
das Auf tauchen jüdischer Ansiedlungen in Europa, nämlich in Grie-
chenland und Italien. Die Entstehung der jüdischen Kolonien im
europäischen Griechenland kann, auf Grund erhaltengebliebener In-
schriften, bis in das II. Jahrhundert v. d. ehr. Ära zurück verfolgt
werden. In den griechischen Inschriften jener Zeit wird häufig jüdi-
scher Sklaven und Freigelassener Erwähnung getan, was wahrschein-
lich dadurch zu erklären ist, daß während der hasmonäischen Kriege
(170—140) gefangengenommene Juden aus Judäa nach Griechen-
land weggeführt wurden. Mit der Unterstellung des Achäischen Bun-
des unter die Gewalt Roms wächst die Zahl der jüdischen Gemein-
den in Griechenland bedeutend, insbesondere nachdem es Pompe jus
gelungen war, das ganze griechische Asien zu erobern. Die griechisch
sprechenden Juden der östlichen Diaspora senden von nun ab ihre
Kolonisten auch in das europäische Griechenland aus, in dem diese,
dank der Gemeinsamkeit der Sprache, leicht heimisch werden. Im
I. Jahrhundert d. ehr. Ära finden wir bereits „Synagogen“ in Athen,
Korinth, Thessalonike, Philippi und anderen Städten.
Gleichzeitig tauchen jüdische Kolonien auch in Italien auf. Vor
der Unterwerfung Asiens durch Pompe jus lebten die Juden in Italien
anscheinend nur in kleinen Gruppen, die keine eigene Gemeinde-
organisation besaßen. Aus Judäa kamen Juden damals nur zufällig
nach Rom, die einen in politischen Angelegenheiten (die Gesandtschaf-
ten der ersten Hasmonäer), die anderen zu Handelszwecken. Eine et-
was verschwommene Nachricht aus jener Zeit besagt, daß während
der Anwesenheit in Rom der mit einem Bündnisantrag von Si-
mon dem Hasmonäer hingeschickten jüdischen Gesandtschaft, eine
Gruppe Juden, die den Jahvekultus unter den Römern zu verbreiten
suchten, aus der Hauptstadt ausgewiesen worden sei1). — Zum
■*) Der römische Geschichtsschreiber Valerius Maximus berichtet, daß während
des Gonsulats des Popilius Laenas und Galpurnius (189 y. d. ehr. Ära) die Behör-
den „die Juden, die die römischen Sitten durch den Kultus des Jupiter Sabazius
345
Die Weltdiaspora
ersten Male tritt in Rom eine bedeutende jüdische Kolonie nach dem
Jahre 63 hervor. Als Pompejus Jerusalem erobert hatte, brachte er
nämlich jüdische Kriegsgefangene nach Rom mit, die dort als Sklaven
verkauft wurden. Bald ließ man jedoch viele von den Gefangenen
wieder frei, da sie wegen der von ihnen beobachteten Sabbatruhe und
anderer jüdischer Bräuche ihren Herrn nur wenig nützen konnten;
ein Teil von ihnen wurde wohl auch von Verwandten in Judäa wieder
losgekauft. Die Freigelassenen blieben aber auch fernerhin in Rom;
sie lebten in einem besonderen Stadtviertel am Ufer des Tiber und
bildeten eine eng zusammenhaltende Gemeinde. Die nun in der Haupt-
stadt des ihre Heimat beherrschenden Reiches weilenden Juden ver-
folgten mit großer Aufmerksamkeit die politischen Ereignisse, betei-
ligten sich an den öffentlichen Versammlungen und machten auch
nicht selten ihren Einfluß im Interesse ihrer Stammesbrüder in Ju-
däa geltend.
Der folgende Vorfall bezeugt, wie groß der politische Einfluß
war, den die Juden in Rom schon zur Zeit des Pompejus ausübten.
Der römische Proconsul in Asien, der obenerwähnte Valerius Flaccus,
der sich eine Reihe von Veruntreuungen und Amtsmißbräuchen hatte
zuschulden kommen lassen, verletzte auch die Rechte der klein-
asiatischen Juden, indem er eine für den Jerusalemer Tempel gesam-
melte große Geldsumme konfiszieren ließ. Die Verteidigung des
Flaccus vor Gericht übernahm der große Redner Cicero, der im
Jahre des Eindringens des Pompejus in Jerusalem Gonsul war und
als ein beschränkt konservativer Staatsmann den Juden feindlich ge-
genüberstand. Dem Prozeß wohnten in Rom auch viele Juden bei,
die dem Ausgang der Gerichtsverhandlung mit regstem Interesse ent-
gegensahen (im Jahre 59). Aus Furcht, die Zuhörer durch seine
Rede in Erregung zu versetzen, sprach Cicero mit Absicht sehr leise,
um nur von den Richtern gehört werden zu können. Das folgende
Bruchstück aus der Rede Ciceros „Pro Flacco“ kennzeichnet in tref-
zu beeinträchtigen suchten“, aus Rom vertrieben (Reinach, Textes d’auteurs grecs
et romains p. 25g). Sabazius war eine phrygische Gottheit mit bacchischem, dionysi-
schem Kultus, der dem Judentum zweifellos durchaus fremd war. ^Anscheinend hat
der spätere Geschichtsschreiber der erhaltengebliebenen Überlieferung über die Aus-
weisung jüdischer Missionare aus Rom seine eigene Erklärung beigefügt, wobei er
den orientalischen Kultus des Jupiter Sabazius mit dem jüdischen Sabbatkultus
infolge des ähnlichen Wortklanges verwechselte.
346
§ 64. Die Anfänge der Diaspora in Europa
fender Weise das Verhalten des konservativen Römers dem Juden-
tum gegenüber gleich nach der ersten Begegnung der beiden Völker,
der Vertreter so verschieden gearteter Kulturen:
„Nun taucht diese verleumderische Anklage wegen des (von Flaccus konfis-
zierten) jüdischen Goldes auf. Zweifellos ist dies eben der Grund, warum die
Gerichtsstätte so nahe an die Aurelianische Terrasse (der Ort der größten Volks-
ansammlungen) verlegt worden ist. Um dieses Punktes der Anklage willen hast du,
Lelius (der Ankläger), diesen Ort und diese Volksmenge auf gesucht: denn du
weißt wohl, wie groß die Macht und die Einmütigkeit dieser Menge ist, wie sie
in allen Versammlungen den Ton angibt 1). Ich werde mit leiser Stimme sprechen,
damit mich nur die Richter hören, denn es fehlt nicht an Menschen, die diese
Menge gegen mich, wie auch gegen jeden anderen rechtschaffenen Bürger, auf-
bringen könnten, und es liegt mir nichts daran, ihnen diese Aufgabe zu erleichtern.
Angesichts dessen, daß alljährlich von den Juden aus Italien und aus allen
Provinzen Gold nach Jerusalem ausgeführt wurde* 2), untersagte Flaccus in einem
Edikt die Ausfuhr von Gold aus Asien (Kleinasien). Wer von euch Richtern würde
wohl diese Maßnahme nicht gut heißen? Gegen die Ausfuhr von Gold sprach sich
der Senat mit Entschiedenheit sowohl in früherer Zeit als auch während meines
Consulats aus. Einem derartigen barbarischen Aberglauben entgegenzuarbeiten, ge-
bietet ein strenges Gesetz; die im Interesse der Republik der in den Versamm-
lungen so häufig lärmenden Menge der Juden entgegengebrachte Verachtung ist
nur ein Zeichen äußerster Standhaftigkeit.
Allein man sagt, der Sieger Gnaeus Pompe jus hätte nach der Einnahme Je-
rusalems in dessen Tempel nichts angerührt. Freilich hat er in diesem Falle, wie
in vielen anderen, sehr klug gehandelt, da er auf diese Weise keinen Grund zu
übler Nachrede in der so mißtrauischen und schmähsüchtigen Stadt gab. Denn
ich glaube nicht, daß dem ruhmreichen Feldherrn in diesem Falle die Religion der
Juden Achtung gebot: viel eher hinderte ihn sein Feingefühl daran . . .
Jeder Staat, Lelius, hat seine Religion; wir haben die unsrige. Noch zu jener
Zeit, als Jerusalem fest stand und die Judäer friedlich lebten, waren ihre religiö-
sen Bräuche dem Glanze dieses Imperiums, dem Ruhme unseres Namens und den
*) Aus dem weiteren Zusammenhang, wo ausdrücklich von der „in den Ver-
sammlungen lärmenden Judenmenge“ (multitudinem judaeorum flagrantem in
concionibus) die Rede ist, wird ersichtlich, daß auch an dieser Stelle vornehmlich
die jüdischen Bewohner Roms gemeint sind, die das Recht zur Beteiligung an
politischen Versammlungen besaßen.
2) Daraus ist zu entnehmen, daß noch vor der Einnahme Jerusalems durch
Pompejus die jüdischen Ansiedler in Italien die Tempelsteuer in die Heimat zu
schicken pflegten, ein indirekter Hinweis auf die frühe Entstehungszeit der jüdi-
schen Kolonien auf der Appeninischen Halbinsel.
347
Die Weltdiaspora
Einrichtungen unserer Ahnen zuwider, um so mehr jetzt, da diese Nation mit be-
waffneter Hand ihr wahres Verhalten zu unserer Herrschaft offenbart hat. Wie
teuer dieses Volk den unsterblichen Göttern ist, ist schon daraus zu ersehen, daß
es nun besiegt, tributpflichtig gemacht und zu Boden geschlagen ist.“
Aus diesen Worten eines Vertreters der höchsten römischen Ge-
sellschaft läßt sich die Verachtung der siegreichen Nation für die
Nation der Besiegten erkennen. Aus der physischen Übermacht wird
auch die religiös-sittliche Überlegenheit, ein providentieller Schick-
salsspruch gegen die Besiegten gefolgert. Die von den Römern un-
terworfenen Syrer und Juden werden von Gioero auch in einer an-
deren Rede („Über die consularischen Provinzen“) zu den „für die
Sklaverei geborenen Völkern“ gezählt. Derartige sozial-ethische An-
sichten hatten in der Tat mit dem das Recht des Stärkeren verwer-
fenden Judaismus nichts gemein. Nur eine völlige Unkenntnis des
Judaismus konnte Menschen vom Schlage des Cicero, Anhängern des
Augurenaberglaubens und der Wahrsagerei der Haruspices, x4nlaß
geben, ihn als eine „barbara superstitio“ zu bezeichnen. In den Ro-
den des Cicero kam der Haß des orthodoxen Heidentums gegen die
ihm fremde Weltanschauung des Judentums zum Ausdruck, jener
Haß, der im hellenistischen Alexandrien seinen Ursprung genommen
hatte und später sich auch in der römischen Gesellschaft einbür-
gerte1).
Diese bornierte Unduldsamkeit Ciceros blieb jedoch seinem Zeit-
genossen Julius Caesar durchaus fremcL Caesar nahm die Rechte und
Freiheiten der jüdischen Gemeinde in Rom ebenso eifrig in Schutz,
wie er es in Kleinasien getan hatte. Wir haben oben bereits gesehen,
daß die römischen Behörden in Asien die Autonomie der dortigen Ju-
den mit Berufung darauf in Schutz zu nehmen vermochten, daß in der
Reichshauptstadt selbst Caesar von dem allgemeinen, alle religiösen
Versammlungen, außer den „dem Herkommen und dem Rechte ent-
sprechenden“, verbietenden Gesetze zugunsten der Juden eine Aus-
nahme gemacht hatte. Dieses zur Bekämpfung der in Rom eingedrun-
f) Cicero stand sicherlich unter dem Einfluß seines Lehrers, des griechischen
Bhetors Apollonius Molon aus Rhodus, der der Verfasser eines uns nicht erhalten-
gebliebenen, dem Judentum äußerst feindlichen Werkes war, das später die Ent-
gegnungen des Josephus in seiner Abhandlung „Gegen Apion“ veranlaßte. Apol-
lonius Molon warf den Juden Gottlosigkeit, Menschenhaß und Unduldsamkeit vor
und stellte Moses als einen Schwindler und Betrüger hin, der seinem Volke „der
Tugend widersprechende“ Gesetze gegeben hätte.
§ 6U. Die Anfänge der Diaspora in Europa
genen unzüchtigen kleinasiatischen Kulte erlassene Verbot brauchte
naturgemäß den jüdischen Kultus nicht zu berühren, da er, trotz sei-
ner orientalischen Herkunft, über jeden Verdacht, orgiastischen Aus-
schweifungen zu frönen, durchaus erhaben war. Die jüdische Ge-
meinde in Rom wußte die Gönnerschaft Caesars sehr wohl zu schät-
zen und nahm nach dessen gewaltsamem Tode regen Anteil an der
öffentlichen Trauer. So berichtet der römische Geschichtsschreiber
Suetonius, die Juden Roms hätten ganze Nächte hindurch bei der
Asche des zugrunde gegangenen Diktators Wache gehalten und sei-
nen frühzeitigen Tod bitterlich beweint.
Unter Kaiser Augustus würde die jüdische Kolonie in Rom noch
zahlreicher. Sie und die Hauptstadt Judäas standen in ständiger Ver-
bindung miteinander. So wissen wir bereits, daß die Söhne und Erben
Herodes I. in Rom ihre Erziehung genossen, und daß gar oft Ge-
sandtschaften und Abordnungen des judäischen Hofes und Volkes
dort vorsprachen. Die römischen Juden beteiligten sich ihrerseits in
lebhaftester Weise an dem Kampf der politischen Parteien, der um
jene Zeit Judäa in Atem hielt. Als nach dem Tode des Herodes
dessen Thronerben in Rom erschienen, um sich den Besitz der ihnen
hinterlassenen Landesteile durch die Sanktion des Kaisers Augustus
zu sichern, schlossen sich die römischen Juden nicht den Prätendenten
an, sondern der gleichfalls nach Rom gekommenen Abordnung der
Jerusalemer Rürger, die die Umwandlung Judäas in einen freien
Volksstaat zu erwirken suchte (§ 57). Dem Berichte des Josephus
zufolge waren es über 8000 römische Juden, die durch ihre Vertre-
ter den Antrag der Volksdeputation unterstützten.
Nach den Anspielungen in den Werken der römischen Schrift-
steller des „goldenen Zeitalters“ (Horaz, Tibullus, Ovid) zu urteilen,
beobachteten die Juden in Rom in strengster Weise die wichtigsten
Gesetze ihrer Religion, und namentlich die Vorschriften über die
Sabbatruhe. Diese Treue der Juden ihrem nationalen Glauben gegen-
über, die sich dazu noch mit einem außerordentlichen Feingefühl für
das allgemeine politische Leben der Reichshauptstadt paarte, ver-
setzte die Römer, die in ihrer Mitte nur sich rasch angleichende
Orientalen zu sehen gewohnt waren, in Staunen und flößte ihnen
manchmal sogar Furcht ein. Besorgniserregend für die Römer war
auch der Hang der Juden zu religiöser Propaganda. Dies erklärt zur
Genüge die hämischen oder höhnischen Bemerkungen der genannten
349
Die Weltdiaspora
Schriftsteller über das Judentum, Ausfälle, die für die nachfolgende
Epoche der allgemeinen religiösen Gärung (unten, § 96) so überaus
bezeichnend sind.
§ 65. Das literarische Schaffen in der Diaspora
Wie ein Keil drang das Judentum in die antike heidnische Welt
ein und zertrümmerte nach und nach die altüberkommenen heidni-
schen Begriffe und die mit ihnen zusammenhängenden Lebensfor-
men. Namentlich war es die griechische Bibelübersetzung, die Sep-
tuaginta, die, einem Hammer gleich, den Keil des Judaismus immer
tiefer in das Bewußtsein der griechisch-römischen Welt trieb. Zur
Zeit der Befestigung der römischen Herrschaft im Morgenlande war
die Bibel bereits allerorten verbreitet und vielen in ihrer neuen grie-
chischen Form leicht zugänglich. War aber einmal das gewaltige
Buch der gebildeten heidnischen Gesellschaft nicht mehr unbekannt,
so mußte es auch unausbleiblich in einem gewissen Teile derselben
eine mehr oder weniger tiefgreifende seelische Umwälzung mit sich
bringen. In dieser eigenartigen Büchersammlung war dem Zögling
der hellenistischen Kultur alles durchaus neu: Moses, die Propheten
und die Weisen ließen ihm gleichsam eine neue „philosophische“
Offenbarung zuteil werden, eine neue Welt von Ideen und höheren
Geistesregungen breitete sich nunmehr vor seinem geistigen Auge
aus. Die Bibel „schien — um die Worte des bekannten Kirchengeh
schichtsschreibers v. Harnack zu zitieren — durch und durch philo-
sophisch, denn sie lehrte ein geistiges Prinzip, den Vater des Alls.
Sie umfaßte einen Schöpfungsbericht, der allen gleichartigen Be-
richten weit überlegen schien, und eine Urgeschichte der Mensch-
heit, die bekannte Überlieferungen teils bestätigte, teils deutete, aber
viel detaillierter und einheitlicher war als sie. Sie enthielt in den
zehn Geboten ein Gesetz, welches durch seine Einfachheit und Groß-
heit den erhabensten Gesetzgeber verriet . . . Durch den unerschöpf-
lichen Reichtum des Stoffes endlich, seine Mannigfaltigkeit, Viel-
seitigkeit und Extensität erschien sie wie ein literarischer Kosmos,
eine zweite Schöpfung, der Zwilling der ersten . . . Unter den Grie-
chen, die von dem Alten Testamente berührt waren, war sogar der
stärkste Eindruck: daß dies Buch und das Weltganze zusammen-
35o
§ 65. Das literarische Schaffen in der Diaspora
gehören und dem gleichen Urteile unterliegen. . . .“ Kraftvoll und
gebieterisch ließ sich nun die Stimme des jüdischen Monotheismus
in der antiken Welt vernehmen.
Diese rein automatische Wirkung der Bibel wurde indessen noch
dadurch erhöht, daß die gebildete jüdische Gesellschaft unter ihren
Nachbarn, den Griechen und Römern, eine groß angelegte Propaganda
entfaltete. Jene literarische Tätigkeit der alexandrinischen Juden, der
der „Aristaesbrief“ und die Schriften des Pseudo-Hekatäus als Vor-
bild dienten (§ 39), kam nicht zum Stillstand. Nur ging man jetzt
von der Apologie des Judaismus zu seiner Propaganda, von der Ver-
teidigung zum Angriff über. Eines der Werkzeuge dieser Propaganda
wurde nunmehr die Wahrsagerin der griechisch-römischen Welt, die
Sibylle, ein mythisches weibliches Wesen, das im ekstatischen Zu-
stande die Geschicke der Völker und Herrscher weissagte, die Lüge
enthüllte und die Wahrheit verkündete. Diese Art Wahrsagerinnen
tauchten, wie die Sage wissen wollte, bald in Kleinasien, (in Ery-
thräa), bald in Italien (in Cumae), bald in Babylonien auf, um ihre
in Hexametern verfaßten Orakel zu verkünden; diese angeblichen
Weissagungen wurden dann zu sogenannten „Sibyllinischen Büchern“
vereinigt. Manche dieser Bücher rein heidnischen Inhaltes standen
bei den Griechen und insbesondere bei den Römern in höchsten
Ehren (so die Sibyllinischen Bücher im Apollotempel zu Cumae, für
deren Deutung ein „sakrales Kollegium“ von Priestern in Rom ge-
wählt zu werden pflegte). Die eifrigen Apostel des Judaismus aus
der Mitte der hellenisierten Juden bemächtigten sich nun der Maske
der alten Sibylle, um in ihrem Namen die im Heidentum versumpfte
Welt zum reinen Monotheismus aufzurufen. So tauchte denn in der
Literatur auch eine jüdische Sibylle auf, namens Sabbe oder Sam-
bethe (wahrscheinlich von „Sabbat“ abgeleitet), die sich zuweilen
für die Enkelin oder Schwiegertochter des biblischen Gerechten Noah
ausgab. Das Ergebnis ihres Schaffens war eine Reihe in griechischen
Hexametern verfaßter pseudosibyllinischer Bücher. Die zunächst ent-
standenen Bücher aus dieser Reihe wurden von Juden zur Verherr-
lichung des Monotheismus verfaßt, die späteren von Christen, zwecks
Verbreitung des Dogmas von dem Gottmenschen Christus. Als älte-
stes der jüdischen Sibyllinischen Bücher gilt das dritte Buch, das,
nach den geschichtlichen Anspielungen im Texte zu urteilen, in
35e
Die Weltdiaspora
Ägypten im I. Jahrhundert v. d. ehr. Ära niedergeschrieben worden
ist1).
Um nun die beabsichtigte Vortäuschung eines heidnischen Orakels
nicht zu verraten, greifen die Verfasser des Buches zu dem üblichen
jüdisch-hellenistischen Synkretismus, zu der Vermischung der grie-
chischen Mythologie mit der biblischen. So wird als Ursache der
Trennung der Völker ganz wie in der Bibel der babylonische Turm-
bau und die Verwirrung der Sprachen angegeben, dann aber wird
die Herrschaft über die Erde zwischen dem hellenischen Kronos und
Titan einerseits und dem biblischen Japetos andererseits geteilt. Der
Kampf der Kroniden und Titanen führt dann zum Untergange der
einen wie der anderen, worauf auf der Erde nacheinander die Reiche
der Ägypter (der alten Pharaonen), Perser, Meder, Äthiopier, Assyro-
Babylonier, Macedonier, wiederum der Ägypter (der Ptolemäerzeit)
und endlich der Römer entstehen. Allen diesen Reichen verkündet
die Sibylle Unheil und prophezeit, daß das Unglück auch „den from-
men Männern nahen wird, welche um den großen Salomonischen
Tempel wohnen und die Nachkommen gerechter Männer sind“ (III,
213, 214). Darauf werden die Vorzüge des jüdischen Volkes ge-
priesen: seine ungetrübte Gotteserkenntnis, die hohe Sittlichkeit, die
Scheu vor jedem Aberglauben; und all dies wird mit Nachdruck den
Verirrungen und Lastern der heidnischen Welt entgegengesetzt (III,
2i8ff.):
!) Entscheidend für die umstrittene Frage über die Entstehungszeit dieses
Buches scheint uns die wiederholte Erwähnung Roms und Italiens und ganz be-
sonders die Prophezeiung über die Eroberung Asiens und Ägyptens durch Rom
zu sein. Dies deutet darauf hin, daß der Verfasser unter dem Eindruck der römi-
schen Erfolge in Syrien und Ägypten stand, daß er, mit anderen Worten, seine
„rückschauenden Prophezeiungen“ zwischen 63 und 3o v. d. ehr. Ära niederge-
schrieben hat. Neben diesen unzweifelhaften Zeichen der Zeit verblassen die An-
deutungen auf mehr zurückliegende Ereignisse (zum Beispiel auf Ptolemäus VII.),
durch welche manche Geschichtsschreiber sich veranlaßt sehen, die Entstehung des
Hauptkernes des Buches schon in das II. Jahrhundert v. d. ehr. Ära zu verlegen
(Schürer u. a.). Allerdings mag auch das Dritte Sibyllinenbuch ein Sammelwerk
gewesen sein, dessen Einzelstücke aus verschiedenen Zeiten stammen (so sind zum
Beispiel manche Verse erst von den Christen eingefügt worden), doch bleibt in
ihm das Kolorit der anfänglichen römischen Zeit vorherrschend, d. i. der des ersten
vorchristlichen Jahrhunderts. Was aber den Ursprungsor£ des Buches betrifft,
so steht es unverkennbar mit Ägypten in Zusammenhang, an das die Sibylle in
ihren Prophezeiungen immer wieder anknüpft. Auch ist die Feder eines alexandrini-
schen Schriftstellers in den wohlgefügten Hexametern nicht zu verkennen.
352
§ 65. Das literarische Schaffen in der Diaspora
Es ist eine Stadt im Lande Ur der Chaldäer1),
Aus welcher das Geschlecht der gerechtesten Menschen ist,
Die immerdar guten Rats und edler Taten gedenken.
Denn nicht sinnen sie über den Lauf der Sonnenscheibe oder des Monds,
Noch über die ungeheuren Dinge unter der Erde, noch über die Tiefe des
funkelnden Meeres,
Nicht über die Zeichen aus den Zuckungen des Leibes, noch über die Flug-
zeichen der Vogeldeuter* 2),
Nicht über die Wahrsager, die Zauberer, die Beschwörer,
Nicht über die Täuschungen einfältiger Worte der Bauchredner . . .
Denn das alles ist verführend und lehrt elende Menschen nur Irrsal.
Es gibt aber andere, die sinnen über Gerechtigkeit und Tugend.
Habgier ist nicht bei ihnen, welche tausend Übel erzeugt den sterblichen
Menschen,
Krieg und Hunger ohne Ende. Bei ihnen sind gerechte Maße auf dem Land
und in den Städten;
Nicht vollführen sie gegeneinander nächtlichen Diebstahl, noch treiben sie
fort die Herden,
Noch nimmt ein Nachbar dem anderen die Grenzsteine des Landes
Und der schwerreiche Mann kränkt nicht den Geringeren, bedrückt nicht
die Witwen,
Sondern steht ihnen bei, indem er sie immerdar mit Korn, Wein und Öl
unterstützt.
Immerdar schickt der Begüterte denen, die nichts haben, einen Teil von
der Ernte,
Erfüllend das Wort des großen Gottes, der allen die Erde geschaffen.
Weiter folgt eine geschichtliche Darstellung des Auszuges des
„zwölf stämmigen Volkes“ aus Ägypten, seiner Wanderungen unter dem
Schutze einer Wolkensäule bei Tag und bei dem Lichte einer Feuer-
säule bei Nacht, unter der Anführung des „großen Mannes Moses“.
Dann kommt die Rede auf die allen Menschen für ewige Zeiten .zuteil-
gewordene Sinai-Offenbarung und auf die Zerstreuung der Juden
unter allen Völkern seit der Herrschaft Assyriens und Babyloniens.
Nun beginnt die Sibylle, von prophetischer Begeisterung übermannt,
die Geschicke von Ländern und Völkern zu verkünden, so die von
Babylonien, Ägypten, Libyen, Asien (Kleinasien) und den Jonischen
Inseln3), vom „latinischen Rom“, von Macedonien, Thracien, Gog
und Magog. Schließlich wendet sie sich an das klassische Hellas mit
einem Aufruf zu geistiger Wiedererneuerung (545ff.):
*) Das Heimatland des Erzvaters Abraham.
Die Wahrsagerei der römischen Auguren nach dem Vogelfluge u. dgl.
3) Beiläufig wird der „alte Mann, der die Geschichten von Ilion, Hektor,
Achilleus und den Göttern schreibt“ (III, 419 f.), Lügen gestraft, womit offen-
sichtlich Homer als der Gegenpol zur Bibel gemeint ist.
23 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd.II
353
Die Weltdiaspora
Hellas, was vertraust du auf sterbliche führende Männer,
Die dem Ziele des Todes nicht entgehen können?
Wozu bringst du eitle Gaben den Abgeschiedenen und opferst den Götzen?
Wer hat dir den Irrtum ins Herz gelegt,
Dies zu tun, verlassen das Antlitz des großen Gottes?
Vor dem Namen des Allerzeugers hege Scheu . . .
In ihren Ermahnungen kommt die Sibylle immer wieder auf die
Grundgebote des Judaismus zurück, die von dem „Unsterblichen den
elenden Sterblichen“ vermacht worden sind: auf den absoluten Mono-
theismus („denn dieser allein ist Gott, und es gibt keinen anderen
mehr“) und auf das Grundprinzip der Gerechtigkeit in den mensch-
lichen Beziehungen. Wenn alle Völker einmal diese Gebote beherzigen
werden, wenn sie sich von Götzendienst, Gewalttätigkeit und selbst-
zerfleischendem Hader lossagen werden, dann wird das goldene Zeit-
alter auf Erden anbrechen, „werden Wölfe und Lämmer zusammen
Gras essen“ usw. Bis dahin bleibt aber das jüdische Volk der le-
bendige Träger der göttlichen Wahrheit, der ihren Samen in alle
Länder seiner Zerstreuung trägt (582 ff.).
Gegen Schluß des Buches lüftet endlich die Sibylle ein wenig
den Schleier, der ihre Herkunft verhüllt, und macht eine Anspielung
auf die Bande, die sie mit der Familie des „gottgefälligen Mannes“
aus der Zeit der Sintflut, d. i. mit Noah, verknüpfen (808—828):
Solchergestalt kündige ich dir, die ich die hohen Mauern des assyrischen
Babylon
Vom Stachel der Raserei getrieben verließ, das gegen Hellas geschickte
Feuer
Allen weissagend, den Zorn Gottes . . . an,
So daß ich den Sterblichen göttliche Rätsel weissage.
Und es werden mich die Sterblichen in Hellas von einer anderen Vaterstadt
nennen,
Daß ich von Erythräa stamme, eine Schamlose; andere werden von mir
reden als der Sibylla,
Die von der Mutter Kirke und von Vater Gnostos sei,
Eine rasende Lügnerin. Aber wenn alles geschehen ist,
Dann werdet ihr meiner gedenken, und niemand wird mich mehr
Rasend nennen, sondern eine große Prophetin Gottes . . .
Denn als die Welt mit Gewässern überflutet wurde,
Und ein einziger gottgefälliger Mann übrig blieb,
Der im Hause von gefälltem Holz auf den Gewässern dahinfuhr,
Mit den Tieren und den Vögeln, auf daß sich die Welt von neuem fülle:
Von dem bin ich eine Schwiegertochter und von seinem Blute,
Dem das Erste geschah, und das Letzte alles gezeigt wurde:
Also soll von meinem Munde dies Alles der Wahrheit gemäß gesagt sein.
354
§ 65. Das literarische Schaffen in der Diaspora
Diese wohlgefügten Reihen von griechischen Hexametern wurden
nun von den Kämpen des Judaismus in Alexandrien zum Sturmangriff
auf die Feste der antiken Welt angesetzt. Der Aufruf zur religiösen
und sittlichen Erneuerung im Geiste der Bibel ertönte in den Sprach-
formen des Homer. Dieser Aufruf war bereits von der Vorahnung des
nahenden Sieges des ethischen Monotheismus über den ästhetischen,
äußerlich anmutigen, aber innerlich wurmstichigen Polytheismus be-
gleitet. Die Zeiten hatten sich eben geändert: der Judaismus ver-
teidigte sich nicht mehr, sondern ging zum Angriff über. Ein Pro-
selytismus, der Vorbote einer neuen Religion, die die griechisch-römi-
sche Welt bezwingen sollte, tritt auf den Plan.
Gleichzeitig setzte der jüdische Geist in Alexandrien auch das
Werk der Versöhnung der besten Elemente in der Ideologie des Hel-
lenismus und des Judaismus unentwegt fort. Dieses Werk fand die
Unterstützung eines Denkers von Weltbedeutung, Philos von Alex-
andrien, dessen Wirksamkeit jedoch mehr in die folgende Epoche
hinübergreift (unten, § 97). Aber auch schon zu dieser Zeit wurde in
griechischer Sprache ein Werk geschaffen, das von der Vertiefung
des religionsphilosophischen Denkens in den gebildeten Kreisen der
Diaspora beredtes Zeugnis ablegt. Es war dies gleichfalls ein Erzeug-
nis der pseudepigraphischen Literatur, das mit dem Namen eines
alten Verfassers geschmückt war, jedoch nicht irgendeinem geheim-
nisvollen Orakelkünder, sondern dem König Salomo selbst in den
Mund gelegt wurde, als dem Sinnbild jüdischer Weisheit, dem Schutz-
patron der gesamten belehrenden Literatur. Den Stil der biblischen
„Sprüche Salomos“ und der späteren Belehrungen Ben Sirahs nach-
ahmend, entstammte die „Weisheit Salomos“, allem Anscheine nach,
der Feder eines philosophisch denkenden alexandrinischen Juden aus
dem I. Jahrhundert v. d. ehr. Ära1). Zum Unterschiede von den
an die Heiden sich wendenden Sibyllinischen Büchern hat die „Weis-
U Den Entstehungsort des Buches verraten die häufigen Anspielungen des
Verfassers auf Ägypten und die lokalen Kulte (Kap. i5—16 u. a.). Was aber
die Abfassungszeit betrifft, so kann sie mit ziemlicher Genauigkeit daraus er-
schlossen werden, daß das dem phiionischen System nahe verwandte Werk dennoch
keine Entlehnungen aus den Schriften dieses Philosophen enthält und daß es über-
dies bereits dem Apostel Paulus, der es in seinen Briefen benutzte, bekannt ge-
wesen war; das Buch entstammt folglich einer sowohl der Wirksamkeit des christ-
lichen Apostels als auch der des jüdischen Philosophen vorangehenden Zeit. Eine
bestimmte Stelle in der „Weisheit“ gibt Anlaß, die Schrift in die erste Hälfte
des I. Jahrhunderts d. ehr. Ära zu verlegen: in Kap. XIV, 16—20, ist nämlich
23*
355
Die Weltdiaspora
heit“ vor allen Dingen die von der heidnischen Kultur und den epi-
kureischen Sitten der griechischen Gesellschaft verführten helleni-
sierten Juden im Auge. Für diese seine assimilierten Stammesgenossen
hat der Verfasser nur die Bezeichnung „die Gottlosen“. Die in den
Bahnen des biblischen Skeptikers Kohelet wandelnden Epikureer stellt
er in folgender Weise bloß (Kap. 2): „Sie sprechen bei sich selbst,
verkehrt urteilend: kurz ist und traurig unser Leben, und nicht gibt
es ein Heilmittel beim Tode des Menschen, und nicht hat man gehört
von einem Befreier aus der Unterwelt. Denn durch Zufall sind wir
entstanden und danach werden wir sein, als wären wir nie dagewesen.
Denn Dunst ist der Hauch in unserer Nase, und das Denken ein Funke
in der Bewegung unseres Herzens, nach dessen Erlöschen der Leib
zu Asche wird, und der Atem wie feine Luft verfliegt. Und unser
Namen wird dann mit der Zeit vergessen, und niemand gedenkt mehr
unserer Werke. Und unser Leben geht vorüber, wie die Spur einer
Wolke, und wie ein Nebel wird es sich verflüchtigen, der vertrieben
wird von den Strahlen der Sonne . . . Herbei denn, laßt uns genießen
der vorhandenen Güter und laßt uns geschwind die Welt ausnutzen
als in der Jugendzeit. Mit kostbarem Wein und Salben wollen wir
uns füllen, und nicht möge eine Frühlingsblume uns entgehen. Be-
kränzen wir uns mit Rosenknospen, ehe sie verwelken! . . . Verge-
waltigen wir den armen Gerechten, üben wir nicht Schonung gegen
die Witwen, noch scheuen wir des Alten hochbejahrtes Greisenhaar!
Unsere Kraft sei der Maßstab für die Gerechtigkeit, denn das Schwa-
che erweist sich als wertlos“.
Gegen diese Doktrin des Skeptizismus und Epikureismus, deren
Darstellung sich an manchen Stellen wörtlich an die Wendungen des
Kohelet hält und mit griechischer Philosophie fein gewürzt erscheint,
führt der stoisch gesinnte Verfasser die Lehre von der Unsterblich-
keit der Seele und der Vergeltung im Jenseits ins Feld (Kap. 3—4):
von der göttlichen Verehrung der Kaiserstandbilder die Rede, worin manche eine
Verwahrung gegen die Aufstellung der Standbilder des Kaisers Caligula in den
Synagogen Alexandriens, im Zusammenhang mit der Judenhetze im Jahre 38 nach
d. ehr. Ära, zu erblicken geneigt sind (s. zum Beispiel Graetz, III, 611, Note 3).
Indessen darf dabei nicht außer acht gelassen werden, daß sich der „Kaiserkultus'
in den Provinzen des römischen Reiches schon unter Augustus eingebürgert hatte
und somit die Aufmerksamkeit des Autors der „Weisheit“ gerade als eine Neuerung
im Heidentum fesseln und ihm als eine besonders geeignete Illustration für die
Bloßstellung des Götzendienstes erscheinen mochte.
§ 65. Das literarische Schaffen in der Diaspora
„Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit geschaffen und ihn
zum Bilde seines eigenen Wesens gemacht. Durch den Neid des Teu-
fels aber kam der Tod in die Welt; es erfahren ihn aber die, welche
jenem (dem Teufel) angehören. Nach dem Wahne der Unverständ-
lichen nur scheint die Seele tot zu sein, und ihr Dahingang wird für
ein Unglück gehalten, aber (in Wirklichkeit) ist sie in Frieden“.
Das Leiden auf Erden ist nur eine vorübergehende Prüfungszeit für
die Gerechten, die in ihrem Herzen stets die Hoffnung auf die Un-
sterblichkeit hegen und durch diesen Glauben selig werden, während
die „Gottlosen“, die „Weisheit und sittliche Lauterkeit“ verleugnen,
in ihrem Inneren schon allein in dem Bewußtsein unglücklich sein
müssen, daß siie mit jedem Tage der völligen Vernichtung immer
näher kommen. Beiläufig tut der Verfasser des „widergesetzlichen
Ehebetts“ und des „ungesetzlichen Beischlafs“ Erwähnung, so auf
den außerehelichen Verkehr und die lockeren Sitten überhaupt oder
aber vielleicht auf die Mischehen zwischen Juden und Heiden an-
spielend. Das Hauptaugenmerk des Verfassers ist jedoch nicht auf
das Predigen der Sittlichkeit, sondern auf die philosophische Begrün-
dung der Idee der Unsterblichkeit der Seele gerichtet. Diese Idee
findet bei ihm in der erhabenen platonischen Formulierung des Ge-
gensatzes zwischen unvergänglichem Geiste und der vergänglichen
Materie ihren Ausdruck. Die in Judäa verbreitete Vorstellung von
einer leiblichen Auferstehung der Toten liegt somit diesem klar den-
kenden Philosophen durchaus fern.
Der zweite Teil des Buches (Kap. 6—9) ist der Liebe zur Weis-
heit, d. i. der „Philosophie“ im eigentlichen Sinne, gewidmet. Durch
den Mund des Königs Salomo wird die Weisheit, die „Sophia“, in
ihren beiden Hauptformen gepriesen: als das Wissen um die reale
Welt und als das Eindringen in die Welt des Geistes. Diesen Erörte-
rungen liegt die poetische Apotheose der Weisheit (Chachmä) zu-
grunde, die dem achten Kapitel der biblischen „Sprüche“ entlehnt,
dabei aber mit einem hervorragenden philosophischen Kommentar
versehen ist. Für den weltlich gebildeten jüdisch-hellenistischen
Schriftsteller bedeutet die Weisheit vor allem die Erkenntnis der
Welt des Seins, die Wissenschaft. „Gott hat mir — so spricht der
der Weisheit Teilhaftige — die irrtumlose Kenntnis der Dinge ver-
liehen, so daß ich das System der Welt und die Kraft der Elemente
kenne, den Kreislauf der Jahre (d. i. den Wandel der Sonnenwenden)
357
Die Weltdiaspora
und die Stellungen der Gestirne, die Natur der Tiere und die gewal-
tigen Triebe der wilden Tiere, die Gewalt der Geister (der Dämonen)
und die Gedanken der Menschen, die Verschiedenheiten der Pflanzen
und die (heilsamen) Kräfte der Wurzeln. Alles, was es nur Verbor-
genes und Offenbares gibt, erkenne ich, denn die Künstlerin von,
allem, die Weisheit, lehrte es mich“ (7, 17—21). Daneben kennt der
Verfasser aber auch die metaphysische Natur der Weisheit, die ihm
als eine schöpferische Kraft der Gottheit, gleichsam als ein Ausfluß
des Schöpfers erscheint: „Sie ist — so sagt er — ein Hauch der
Macht Gottes, ein klarer Ausfluß aus der Herrlichkeit des Allherr-
schers . . . Sie ist ein Abglanz ewigen Lichts, ein fleckenloser Spie-
gel des göttlichen Wirkens und ein Abbild seiner Güte“ (7, 2 4—2 5).
Sie „geht von Geschlecht zu Geschlecht in heilige Seelen über, sie
begabt Freunde Gottes und Propheten“ (7, 27). Auch in den Ge-
schicken des jüdischen Volkes kommt sie zum Vorschein, und nun
stellt der Verfasser die Geschichte Israels von der Weltschöpfung bis
zum Auszug aus Ägypten nach Kanaan in diesem Lichte dar (Kap.
10-11). Dem schließen sich scharfe Strafreden gegen die Abgöt-
terei in der Form des ägyptischen Götzendienstes und Tierkultes an,
und es wird dargetan, wie töricht es sei, die vergängliche Kreatur an-
zubeten, statt sich vor deren unvergänglichem Schöpfer zu beugen
(Kap. i3—15). Der Verfasser benutzt den Auszug der Israeliten aus
Ägypten, um zwei geschichtliche Typen gegenüberzustellen: den des
Gott tragenden Volkes und den der in der „ägyptischen Finsternis“
verkümmernden Heiden, auf die denn auch die zehn verderbenbrin-
genden ägyptischen Plagen herabgesandt werden (Kap. 16—19).
Somit sind in der „Weisheit Salomos“ die drei folgenden Ideen
zum Ausdruck gebracht: erstens die Idee der Unsterblichkeit der Seele
in ihrer reinen philosophisch-ethischen Form, zweitens die Idee der
Gotteserkenntnis vermittels der Weisheit, die hier in einer unver-
kennbaren Weise dem Logos des Philo, der Hypostase der Vernunft
als einer gleichsam für sich selbst bestehenden Macht Gottes, sehr
nahekommt, und drittens die Idee der Auserwähltheit Israels, als des
geschichtlichen Typus, der zur Erfüllung einer göttlichen Mission in
der heidnischen Welt berufen ist. Die erste dieser Ideen liegt dem
Verfasser aus dem Grunde besonders am Herzen, weil er sie den
skeptischen Materialisten in der jüdischen Gesellschaft selbst entge-
genhalten und seine Beweisgründe gegen die des Verfassers des „Ko-
§ 65. Das literarische Schaffen in der Diaspora
helet“, des „Ekklesiastes“ der griechischen Bibel, auf den sich die
jüdisch-hellenistischen Epikureer zu berufen pflegten, geltend machen
muß. Hier tritt also ein alexandrinisch-jüdischer Stoiker aus dem
I. Jahrhundert dem durch die epikureische Lehre verführten Jeru-
salemer Hellenisten aus dem III. Jahrhundert entgegen. Diese beiden
Schriftsteller, von denen jeder sich hinter der Maske des weisen Kö-
nigs Salomo zu verbergen sucht, trennen somit zwei Jahrhunderte
jüdischer Geschichte, in deren Verlauf das Problem der Unsterblich-
keit im Judaismus bedeutende Fortschritte gemacht hat, so daß der
jüdische Stoiker dem skeptischen Epikureer nunmehr mit Beweis-
gründen zu begegnen vermag, die einer, wohlgefügten, einheitlichen
Doktrin entnommen sind. Durch diese neue religionsphilösophische
Auffassung gestärkt, konnte der Judaismus jetzt mit einer größeren
Sicherheit der heidnischen Anbetung der Natur, der Anbetung der
Schöpfung statt des Schöpfers entgegentreten. Hieraus erklärt sich
der Schwung des letzten Teiles der „Weisheit Salomos“, in dem der
Verfasser seine scharfen Strafreden an die das Prinzip des ethischen
Monotheismus verleugnenden Heiden richtet. Der Idee des ethischen
Monotheismus im liellenisierten Judentum zu neuer Macht zu ver-
helfen und sie zugleich der griechisch-römischen Welt vor Augen
zu führen — dies ist das doppelte Ziel dieses alexandrinischen Sa-
lomo, des Vorboten Philos.
Ein anderer Vertreter der jüdisch-hellenistischen Gesellschaft
jener Zeit setzte sich auf dem gleichen Gebiete eine beschränktere
Aufgabe, indem er zu beweisen suchte, daß im Judaismus am tref-
fendsten die stoische Lehre von der Herrschaft der Vernunft über
die Triebe und Leidenschaften zum Ausdruck gekommen sei. Dieser
Gedanke liegt dem griechisch abgefaßten anonymen Werke zugrunde,
das den Kirchenvätern unter dem Titel „Von der Selbstherrschaft;
der Vernunft“ (Peri autokratoros logismou) oder „Von den Makka-
bäern“ bekannt gewesen ist. Der zweite Name rührt daher, daß zur
Bekräftigung der Grundthese in dieser Schrift das jüdische Mär-
tyrertum der Makkabäerzeit herangezogen wird. Bei den Späteren
bürgerte sich für dieses apokryphische Buch die Bezeichnung „Vier-
tes Makkabäerbuch“ ein1). Seiner Form nach stellt es eine an jü-
-1-) Die Kirchenväter schrieben dieses Buch Josephus Flavius zu, weshalb es
auch später in seine gesammelten Schriften auf genommen zu werden pflegte; die
wissenschaftliche Kritik mußte jedoch dieser Überlieferung widersprechen und es
359
Die Weltdiaspora
dische Hörer oder Leser („aus dem Samen Abrahams“) gerichtete
Predigt dar. Gleich in den ersten Zeilen stellt der Verfasser eine be-
stimmte These auf: „Ich will eine Ansprache über die Frage halten,
ob die fromme Vernunft Selbstherrscherin („autokrator“) der Triebe
(oder Leidenschaften, „ton pathon“) ist. Die Vernunft wird als der
„Verstand“ definiert, „der mit richtiger Überlegung das Leben der
Weisheit erwählt“. Die Weisheit besteht in der Erkenntnis göttlicher
und menschlicher Dinge, sowie deren Gründe; in vierfacher Gestalt
kommt sie zum Vorschein: in der Einsicht, der Gerechtigkeit, der
Mannhaftigkeit und Besonnenheit, d. i. in den vier Kardinaltugenden
der stoischen Moral. Die Triebe oder Leidenschaften zerfallen da-
gegen in zwei Gruppen: bald wird der Mensch von der Lust, bald
von der Bürde des Schmerzes übermannt, so daß er ohne die Ober-
herrschaft der Vernunft leiblich wie geistig verderben müßte, denn
„die Vernunft ist der Tugenden Führerin, aber der Triebe Selbst-
herrin“. Die Lehren des Judaismus tragen nun am meisten dazu bei,
den Willen in dieser Richtung zu erziehen. Die jüdischen Gebote der
Enthaltsamkeit und der Mäßigkeit, die Vorschriften über das Erlaubte
und Verbotene in Nahrung und Geschlechtsleben, die Gesetze der* 1
Liebe und des Mitleids sind eine Verkörperung der höchsten Anfor-
derungen der Vernunft. Und nun folgt eine Reihe geschichtlicher
Beispiele, die beweisen sollen, daß die Macht dieser Gebote der Ver-
nunft bei weitem die Leidenschaft der Triebe übertrifft, daß mithin
die Vernunft die Triebe durchaus zu überwältigen vermag. In die-
sem Zusammenhang schildert der Verfasser in grellen Farben
das Martyrium der Juden unter der Seleucidenherrschaft und na-
mentlich unter Antiochus Epiphanes1). Weder den greisen Eleasar
noch die sieben jugendlichen Brüder, noch ihre heldenmütige Mutter
vermochten die Überredungskünste des Antiochus, der sie durch die
Verheißung aller Güter dieser Welt zu verführen suchte, dazu zu
gelang ihr, die alexandrinische Herkunft des Werkes nachzuweisen. Wir verlegen
es in dieselbe Epoche, der die „Weisheit Salomos“ angehört, der es sich unmittel-
bar anschließt, obwohl viele Forscher (Freudenthal u. a.) es als eine Frucht des
I. Jahrhunderts nach d. ehr. Ära betrachten. Mit Genauigkeit läßt sich freilich
die Abfassungszeit nicht bestimmen, da das Buch selbst jedes klaren Hinweises auf
die ihm zeitgenössische Epoche ermangelt.
1) Der Verfasser scheint seine geschichtlichen Kenntnisse aus dem jüdisch-
hellenistischen „Zweiten Makkabäerbuch“ oder gar aus der Urquelle, aus dem Ge-
schichtswerke des Jason von Cyrene (§ 39), geschöpft zu haben.
§ 65. Das literarische Schaffen in der Diaspora
bewegen, dem Gesetze abtrünnig zu werden: sie alle zogen es vor,
unter fürchterlichen Qualen zu sterben, um so dem geistigen Prinzip
zum Triumphe über das leibliche zu verhelfen. Darin bestehe eben
das Ideal der „frommen Vernunft“, das den Menschen vor dem Tiere
und die höhere menschliche Art vor der niederen auszeichnet. Un-
geachtet seiner philosophischen Bildung geht der Verfasser dennoch
nicht über die Grenzen des pharisäischen Judaismus hinaus und er-
mahnt immer wieder zur strengen Beobachtung der Thoragesetze, wo-
bei er allerdings seine Ansichten nicht im nationalen pharisäischen Gei-
ste, sondern im universalistischen jüdisch-hellenistischen zu begründen
sucht. Die Thoragesetze bedeuten ihm nicht die Mittel der nationalen
Absonderung, sondern Faktoren der Erziehung des sittlichen Willens;
sie sind gleichsam die Sklaven der über die Leidenschaften gebieten-
den selbstherrlichen Vernunft. In dem Martyrolog der Zeiten des
Antiochus Epiphanes würdigt er nicht so sehr das national-politische
als das sittliche Heldentum. Überall hat bei ihm das Individuelle und
somit das Allmenschliche vor dem Nationalen den Vorrang, — ein un-
trügliches Kennzeichen jüdisch-hellenistischer Gesinnung.
36i
Viertes Buch
Die römische Herrschaft und der
Untergang des judäischen Staates
(6—70 der christlichen Ära)
§ 66. Allgemeine Übersicht
Das Verhalten der Juden dem römischen Protektorat gegenüber
in der vorangehenden Epoche deutet mit genügender Klarheit darauf
hin, wie sich die Beziehungen zwischen Judäa und dem Imperium
in der Epoche der römischen Herrschaft gestalten mußten. Wenn das
Volk nicht einmal die Regierung der Günstlinge Roms aus der Mitte
der halb jüdischen Herodäer zu ertragen vermochte, so stand um so
weniger zu erwarten, daß es sich mit der immittelbaren Verwaltung
der römischen Statthalter, der ,,Procuratoren“, abfinden würde. Die
freiheitsliebende Nation konnte man vermittels der Macht der Waf-
fen wohl unterwerfen, nicht aber unterwürfig machen. Erblickte der
römische Dichter jener Zeit (Virgil) die geschichtliche Mission Roms
in der „Beherrschung der Völker, in der Schonung der Unterwürfi-
gen und in der Bestrafung der Übermütigen“:
Tu regere imperio populos, Romane, mementol
Parcere subjectis et debellare superbos (Aen. VI, 853)
— so gehörte das jüdische Volk gerade zu jenen „Übermütigen“, die
für ihre Freiheit bis zum Äußersten zu kämpfen bereit waren und
daher auch die ganze Wucht der römischen Strafe über sich ergehen
lassen mußten.
In den ersten Jahrzehnten der nun darzustellenden Epoche bot
Judäa das folgende Bild. In den Grenzmarken, in Galiläa, Peräa und
in den am oberen Jordan gelegenen Ländern regieren mit Genehmi-
gung der römischen Kaiser als Tetrarchen die Söhne Herodes I.
(Herodes-Antipas und Philippus). Was ihren Unternehmungsgeist be-
trifft, so bleiben sie weit hinter ihrem Vater zurück, doch stehen sie
ihm in Unterwürfigkeit der obersten Gewalt gegenüber um keine
Haaresbreite nach. Auch sie bauen Städte zu Ehren der Caesareji
(Tiberias, Caesarea-Philippi u. a.) und verhalten sich wie beschei-
dene, untertänige Vasallen. Das eigentliche Judäa aber mit der Haupt-
365
Die römische Herrschaft
stadt Jerusalem steht unter der unmittelbaren Verwaltung der Römer.
In dem von Herodes I. erbauten Caesarea am Meere residiert ein
jede politische Regung im Lande scharf beobachtender Procurator.
Noch behält das Volk die Überreste der ehemaligen Selbstverwaltung
in dem Amt des Hohepriesters und in Gestalt des erneuerten Syn-
hedrion, doch ist bei allen wichtigeren Entschlüssen die Zustimmung
Roms und gegebenenfalls dessen Kontrolle unerläßliches Erforder-
nis. Eine Zeit lang besitzen die Procuratoren sogar das Recht der Er-
nennung und Absetzung der Hohepriester. Das Joch der fremden,
andersgläubigen Gewalt wird immer fühlbarer. Schon die erste Maß-
nahme der römischen Procuratur, die in dem „Census“, d. i. in
einer Volkszählung zu Besteuerungszwecken, zum Ausdruck kommt,
ruft Volksunruhen hervor. Dieses Sinnbild der Knechtschaft empört
das nationale Empfinden, das sich auf keine Weise mit der traurigen
Wirklichkeit abzufinden vermag.
Die Procuratoren der ersten Jahrzehnte, die Judäa unter Augustus,
Tiberius und Caligula verwalten, fallen allmählich aus ihrer Rolle
von Beamten, die nur zur Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung
berufen sind, und maßen sich die Vormundschaft über das innere
Leben des ihnen gänzlich fremden Volkes an. Der aus der Geschichte
des Christentums hinlänglich bekannte Pontius Pilatus eröffnet die
Reihe jener Gebieter, die den Juden die römische Staatszucht aufzu-
zwingen suchen. Sein übermäßiger Eifer löst eine Aufwallung des
Volkszornes aus, und der allzu diensteifrige Verwaltungsbeamte wird
aus Judäa abberufen. Auch der Versuch der römischen Behörden
unter Caligula, in Jerusalem den „Kaiserkultus“ einzuführen, stößt
auf kräftigsten Widerstand. Und so scheint Rom vorerst vor der
schwierigen Aufgabe der Verwaltung des winzigen widerspenstigen
Landes gleichsam zurückgewichen zu sein.
Nach dem Tode des Caligula tritt nun eine kurze Pause in der!
Verwaltung durch Procuratoren ein, und das zerstückelte Judäa wird
eine Zeit lang von neuem unter der Gewalt eines dem Volke nahe-
stehenden Königs vereinigt. Die vierjährige Regierung des Enkels
Herodes I., Agrippa I. (4i—44), dem ein glückliches Zusammentref-
fen von verschiedenen Umständen es möglich machte, Zentraljudäa
mit den früheren Tetrarchien des Herodes-Antipas und des Philippus
in seiner Hand zu vereinigen, erscheint wie ein flüchtiger Lichtstrahl
§ 66. Allgemeine Übersicht
auf durchweg düsterem Hintergründe. Aber gar bald erlischt auch die-
ser blasse Widerschein der Unabhängigkeit, und das Land muß von
neuem die schwere Hand der römischen Beamten spüren. Das ent-
thronte Jerusalem senkt sein Haupt vor dem triumphierenden Cae-
sarea, der Residenz der Procuratoren. Fortan erstreckt sich die Ge-
walt der Procuratoren nicht nur auf Zentraljudäa, sondern auch auf
Galiläa und Peräa, d. i. so gut wie auf ganz Palästina (44—66).
Die neuen Procuratoren spielen sich nicht selten als kleine Neros
auf. Schon das dumpfe Murren des Volkes erregt ihren Zorn; die
peinliche Sorgfalt der Juden in der Pflege ihrer nationalen Eigenart
bringt die Römer außer Fassung. Wozu in der Tat mit dieser klei-
nen aufsässigen Nation, mit ihrer Autonomie und ihren eigenartigen
Einrichtungen viel Umstände machen? Warum soll eigentlich Judäa
nicht auf das Durchschnittsniveau der römischen Provinzen herab-
gedrückt werden, die keinerlei Ansprüche an die souveräne Regierung
zu stellen sich erdreisten? Vae victis: den Besiegten geziemt Unter-
würfigkeit und vor allem Stillschweigen. Wie sollten auch die Römer
der Halsstarrigkeit einer Nation Verständnis entgegenbringen, die ihr
ethisches Prinzip: „die Macht des Rechtes“ dem Grundprinzip des
raubgierigen Imperiums: „das Recht der Macht“ entgegenzusetzen
wagte!
Der Kampf war also nicht zu vermeiden. Allein zu welchen
Kampfmitteln greifen? Hier eben stehen die verschiedenen jüdischen
Parteien am Kreuzweg. Die gemäßigten Pharisäer und „Friedferti-
gen“ sind der Meinung, daß mit einem physisch so unbezwingbaren
Feind wie Rom der Kampf nur mit geistigen Waffen zu einem
glücklichen Ende geführt werden könne. Es ist ihm die zäheste pas-
sive Resistenz zu leisten; ist der Feind aus dem eigenen Landbereich
nicht zu verscheuchen, so muß man sich selbst von ihm fern halten,;
sich geistig von ihm absondern, das eigene innere Leben so umgren-
zen und isolieren, daß keinerlei fremde Einwirkungen dorthin einzu-
dringen vermögen. Dagegen verlangen die radikal gesinnten Phari-
säer und die „Zeloten“ den aktiven Widerstand, um der politischen
Freiheit willen, die für die Zeloten einen Selbstzweck darstellt, für
die Pharisäer aber nur ein Mittel zur Aufrechterhaltung der geistigen
Freiheit ist. Die Zeloten fordern den bewaffneten Kampf, den all-
nationalen Feldzug gegen den dreisten Feind: entweder soll sich die
Nation die Unabhängigkeit wieder erobern, oder im Kampfe um sie
367
Die römische Herrschaft
zugrunde gehen, denn ohne Unabhängigkeit ist ein wahres nationales Le-
ben ohnedies nicht möglich. Noch war der leidenschaftliche Streit nicht
zum Austrag gekommen, und schon loderten die Flammen des Auf-
standes auf. „Die Geduld der Juden hielt bis zum Procurator Gessius
Florus an: unter ihm begann der Krieg“ (Tacitus). Der heldenmü-
tigste aller der Weltgeschichte bekannten nationalen Freiheitskriege
war ausgebrochen, jenes Bellum judaicum, das sogar die kriegserfah-
renen Römer in größtes Staunen versetzte.
Vier Jahre lang (66—70) dauert der Kampf der kleinen, aber
geistig gestählten Nation mit dem Bezwinger der Welt. Neben dem
blutigen Kriege mit dem äußeren Feinde wütet auch im Inneren
der Nation der tragische Kampf zwischen den „politischen“ und
„geistigen“ Elementen weiter, zwischen den Zeloten und den Fried-
fertigen, zwischen denjenigen, die die ehemalige Autonomie in ihrer
Ganzheit, und denen, die wenigstens das retten wollten, was noch zu
retten ist. Die qualvolle Agonie der nationalen Seele, die von ihrem
staatlichen Leibe scheiden muß, zieht sich in die Länge. Schon naht
aber das unabwendbare Ende: Judäa fällt in dem ungleichen Kampfe,
Hunderttausende seiner Söhne werden vom Schwert und vom Hunger
weggerafft, Jerusalem wird zerstört, der Tempel in Asche gelegt und
auch die letzten Festungen, wo die Überreste der Zeloten Zuflucht
suchten, stürzen zusammen (70—73). Durch die Straßen Roms wer-
den vor dem Triumphwagen des Siegers die jüdischen Gefangenen
geschleift. So ging der Staat zugrunde, die Mehrzahl des Volkes war
vernichtet oder in alle Winde verschlagen, und doch blieb die Nation
erhalten. In der nächsten Nähe der rauchenden Ruinen Jerusalems
fand sich eine kleine Schar von unbezwingbaren Helden des Geistes
zusammen, der das künftige staatlose ujid doch lebenskräftige Juden-
tum entsprießen sollte.
Außerordentlich kompliziert war das jüdische geistige Leben in
dieser Periode der großen Erschütterungen. Keime künftiger Welt-
bewegungen liegen in ihr verborgen. Zur selben Zeit nämlich, als die
Zeloten den aussichtslosen Kampf für die politische Freiheit Judäas
führten und die friedfertigen Pharisäer jene national-geistige Zucht
eifrig zu stärken suchten, die die in Auflösung begriffene Staatsord-
nung ersetzen sollte, griff in verschiedenen Bevölkerungsklassen eine
andere Bewegung u;m sich, die sowohl der politischen als auch der
national-gesellschaftlichen Grundlagen entbehrte. Von der Idee des
368
§ 66. Allgemeine Übersicht
politischen Messias, des Erretters des Volkes, splitterte sich die Idee
eines mystischen Messias ab, der dazu berufen sein sollte, die Tat
der sittlichen „Erlösung“ der Persönlichkeit zu vollbringen. Es trat
das Christentum auf den Plan. Diese Lehre „nicht von dieser Welt“,
deren Nährboden das alte Essäertum gewesen ist, betrachtete das Le-
ben aus der Höhe des „Himmelreiches“, ohne der geschichtlichen
Lage der Dinge irgendwie Rechnung zu tragen. Die zur Beschaulich-
keit Hinneigenden oder von den politischen Kämpfen Ermüdeten
mußten unausbleiblich in ihren Bannkreis fallen. Die neue Lehre
suchte durch das Dogma der Erlösung durch den Glauben die Zucht
des Kultes oder des Gesetzes zu; ersetzen und durch die Gemeinde
der Gläubigen oder die Sekte die organisierte Nation entbehrlich zu
machen. Der religiös-mystische Individualismus der neuen Lehre
lenkte so ihre Jünger von dem großen Kampfe, den die Judenheit
damals auf politischem und national-geistigem Gebiete unter Aufbie-
tung aller Kräfte führte, ab. Eine natürliche Folge davon war der
Bruch dieser Sekte mit der Umgebung, in der sie entstanden war,
und ihre allmähliche Auflösung in dem internationalen Chaos des
römischen Reiches, in dem das Christentum sich dann nach und nach
viele dem Judentum gänzlich fremde Elemente aneignete.
Die Todeszuckungen Judäas begünstigten das Anwachsen der
Diaspora, wo schon längst jene Zellen feste Formen gewonnen hat-
ten, die nun zur Aufnahme der Auswanderer aus dem Mutterlande
bereit standen. Der Kampf Roms mit dem Judaismus wirkt auch
hier zurück: die Tragikomödie der „göttlichen Verehrung“ des( Kai-
sers Caligula spielt sich auch in den jüdischen Vierteln Alexandriens
ab; der Aufstand in Ju,däa wird von Unruhen in der Diaspora Be-
gleitet. Die Zuckungen des mit dem Tode ringenden Mutterlandes
finden in einer Reihe blutiger Zusammenstöße zwischen Juden und
Heiden in Syrien, Kleinasien und Ägypten ihre Parallele. Und zu-
gleich versetzt das Ferment des Judaismus die gesamte griechisch-
römische Welt in eine tiefe religiöse Gärung. Die religiöse Propa-
ganda und der Proselytismus gewinnen an Ausdehnung. Der jüdische
Staat wird erobert, zugleich erobert aber die jüdische Religion ihrer-
seits die Heiden („victi victoribus leges dederunt“), bald in ihrer
ungetrübten, altüberkommenen Form, bald in der Form des Urchri-
stentums, das sich um jene Zeit vom Judentum nur schwer unter-
scheiden ließ. In der Diaspora werden gemischte, synkretistische Lehren
24 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
369
Die römische Herrschaft
vorherrschend. Ein System praktischer Gesetze in Jerusalem, wird
der Judaismus in den philosophischen Schulen Alexandriens zu einem
System religiöser Symbole (Philo von Alexandrien). Jedoch beginnt
der jüdisch-hellenistische Synkretismus nunmehr vor dem christlich-
hellenistischen stark zurückzutreten: in der heidnischen Welt fällt
so dem Apostel Paulus der Sieg über Philo zu. Inzwischen geht der
Kampf der jüdischen Nation um ihre Selbsterhaltung, an beiden Rich-
tungen vorbei, seinen eigenen Weg unbekümmert weiter.
Erstes Kapitel
Die römischen Procuratoren und die
herodianischen Tetrarchen
(6-39)
§ 67. Die Verwaltung der Procuratoren und die Selbstverwaltung
Nach der Entthronung des Archelaus (§ 57) wurde das ihm un-
tertane Zentraljudäa in eine römische „kaiserliche Provinz“ zweiten
Ranges verwandelt. An ihrer Spitze stand ein vom Kaiser ernannter
„Procurator“ (wörtlich: Pfleger) aus dem römischen adeligen Ritter-
stande. Obwohl Judäa somit eine Provinz für sich bildete, war sie
doch in mancherlei Beziehung mit der großen kaiserlichen Provinz
Syrien verbunden1). Die Procuratoren in Judäa waren nämlich in
Fällen von Konflikten mit der jüdischen Selbstverwaltung oder in
den Zeiten der Volkswirren, als zur Wiederherstellung der Ordnung
die Hilfe der syrischen Legionen angerufen werden mußte, von dem
Statthalter-Legaten im benachbarten Syrien unmittelbar abhängig.
Sonst aber war der römische Procurator von Judäa in seinen Hand-
lungen innerhalb der ihm zugeteilten weiten Machtsphäre völlig selb-
ständig. ln seiner Person waren dreierlei Funktionen vereinigt: 1. po-
lizeiliche, 2. fiskalische, 3. gerichtliche.
Die polizeilichen Funktionen bestanden vornehmlich in der Auf-
rechterhaltung der Ordnung im Lande und in der Wahrung der
1) Seit Augustus zerfielen die römischen Provinzen in kaiserliche und in se-
natorische. Zu den ersteren, in denen ein strenges militärartiges Regime gehand-
habt wurde, gehörte auch Syrien, das mitsamt Judäa einem Statthalter-Legaten
unterstellt war. Procuratoren aus dem Ritterstande wurden für jene Gebiete ernannt,
wo eine besonders scharfe Beobachtung der ungefügigen Bevölkerung vonnöten
war. In den zeitgenössischen jüdischen Quellen (Josephus, die Evangelien) tritt
uns der Procurator auch unter den Namen „Epitropos“ (Pfleger), „Eparchos*4
(Landvogt) und „Hegemon'* entgegen.
24*
371
Die römischen Procuratoren und die herodianischen Tetrarchen
Rechte der römischen Obergewalt. Zu diesem Zwecke verfügte der
Procurator über eine genügende Militärmacht. Er war der unmittel-
bare Befehlshaber der in Judäa liegenden römischen Truppen, die
sich aus den sogenannten Hilfstruppen (auxilia) zusammensetzten.
Das Hauptquartier der römischen Armee in Judäa befand sich in
Caesarea am Meere, der ständigen Residenz des Procurators. In Je-
rusalem weilte der Landpfleger nur vorübergehend, meistens an den
großen jüdischen Feiertagen, da wegen des ungeheuren Andranges
des Volkes aus der Provinz Volksunruhen zu befürchten waren. Bei
diesen Gelegenheiten pflegte er mitsamt seinem Militärgefolge in dem
ehemaligen Palaste des Herodes, der einer befestigten Burg glich,
Wohnung zu nehmen. Die ständige römische Garnison zu Jerusalem
war in der Burg Antonia auf dem Tempelberge einquartiert. Die
Zitadelle war durch Treppen mit den den Tempelhof umgebenden
Säulenhallen verbunden. An den Festtagen konnten so die bewaff-
neten römischen Soldaten aus ihren Kasernen in der Zitadelle her-
auskommen und in den Säulengängen um den Tempel Aufstellung
nehmen, um auf diese Weise über die „Ordnung“ zu wachen und
Volksunruhen in der Hauptstadt vorzubeugen. Diese verletzende Über-
wachung durch Fremdlinge unmittelbar an der Schwelle des natio-
nalen Heiligtums trug nur zur Steigerung des Unwillens im Volke
bei, und, statt den Zusammenstößen vorzubeugen, war sie nicht selten
deren eigentliche Ursache.
Des weiteren oblag dem Procura tor die Eintreibung von Steuern
und die Erhebung von Zöllen zugunsten des römischen Fiskus, d. i.
des kaiserlichen Schatzes. Die direkten, den römischen Provinzen auf-
erlegten Abgaben waren von zweierlei Art: die Grundsteuer (tributum
agri) und die Kopfsteuer (tributum capitis). Außer diesen Steuern
erhob der Fiskus auch noch Zölle auf Waren. Die direkten Steuern
wurden unmittelbar durch die Finanzagenten des Procurators ein-
getrieben, während die Zölle Privaten in Pacht gegeben zu werden
pflegten, die sich auf diese Weise großen Gewinn verschaffen konn-
ten. Die Steuerlast drückte schwer auf das Volk, und die unvermeid-
lichen Mißbräuche bei der Erhebung der Abgaben verschärften die-
sen Druck noch in ganz besonderem Maße1). Unter den Steuerpäch-
1) Sogar der römische Geschichtsschreiber Tacitus (Annal. II, 4a) muß za-
geben, daß schon unter den ersten Procuratoren Judäa durch die Steuerlast ganz
erschöpft war („provinciae Syria atque Judaea, fessae oneribus“).
372
§ 67. Die Procuratoren und die Selbstverwaltung
tern und ihren Agenten waren außer Heiden auch Juden anzutref-
fen; diese waren aber dem Volke stets verhaßt. Die „Zöllner“ und
die „Mochsin“ (publicani) erscheinen sowohl im evangelischen als
im talmudischen Schrifttum in durchaus ungünstigem Lichte. Dem
wirtschaftlichen Motiv gesellte sich hierbei noch ein politisches hin-
zu, das den Juden dazu bewegen mußte, den ihm stammesverwandten
Steuerpächter oder Zolleinnehmer als den Helfershelfer der ihm ver-
haßten römischen Gewaltherrschaft zu betrachten.
Die gerichtlichen Funktionen des Procurators endlich waren vor-
nehmlich auf die wichtigsten Kriminalsachen, insonderheit auf die
Staatsverbrechen, beschränkt. Er besaß das Recht, zum Tode zu ver-
urteilen, sowie die Urteilssprüche der jüdischen Gerichtsinstanzen,
darunter auch die des Synhedrion, in strafrechtlichen Sachen zu über-
prüfen. Zur Vollstreckung der Todesurteile wurden gewöhnlich die
römischen Soldaten herangezogen.
In den ersten Jahrzehnten ihrer Verwaltung maßten sich die Pro-
curatoren außerdem das schon von Herodes I. usurpierte Recht an,
die Hohepriester zu ernennen und abzusetzen, sowie den feierlichen
Ornat des Hohepriesters in der Burg Antonia unter der Aufsicht des
römischen Kommandanten zu verwahren und ihn nur zum unmittel-
baren Gebrauch herauszugeben. Allein diese beiden das Volksempfin-
den verletzenden Vorrechte wurden später, auf den Protest des Vol-
kes hin, den Procuratoren entzogen und das erste den Erben des
Herodes. das andere der Tempelverwaltung abgetreten.
Außerhalb dieser Befugnissphäre des Procurators durfte sich das
Volk auch fernerhin in seinen inneren Angelegenheiten der Selbst-
verwaltung erfreuen. Innerhalb gewisser Grenzen lagen Gesetzgebung,
vollziehende und gerichtliche Gewalt jetzt in den Händen der welt-
lichen und geistlichen Aristokratie, an deren Spitze von Rechts wegen
die Hohepriester standen. Das Organ dieser regierenden Gruppe war
das Synhedrion zu Jerusalem, das unter Herodes I. seine Bedeu-
tung eingebüßt hatte, nun aber seine Rechte teilweise wieder zurück-
erlangte. Den Vorsitz im Synhedrion führten allem Anscheine nach
die Hohepriester. Allein ,die Oberaufsicht der römischen Behörden
behinderte nicht selten die Tätigkeit des Synhedrion, namentlich in
Sachen, die die politischen Interessen Roms berührten.
Ganz besonders wurde die Sphäre des jüdischen religiösen Kultes
vor der Einmischung der heidnischen Verwaltung in Schutz genom-
Die römischen Procuratoren und die herodianischen Tetrarchen
men. Das alte, den Heiden den Zutritt zu dem inneren Hof des
Jerusalemer Tempels verwehrende Gesetz wurde auch von den römi-
schen Behörden beobachtet. Auf den Säulen an der Tempelumfrie-
dung prangten Warnungstafeln mit folgender, in griechischer und
lateinischer Sprache abgefaßter Inschrift: „Kein Fremder darf das
Gitter und die Einfriedung des Heiligtums überschreiten. Wer dabei
ertappt wird, mag es sich selbst zum Vorwurf machen, wenn er der
Todesstrafe verfällt“1). Die römische Wache wurde nur bis zu den
den Tempelhof umgebenden äußeren Säulenhallen vorgelassen. Der
jüdische Kultus stand somit unter amtlichem Schutz. Andererseits
bezeugte auch die Tempelpriesterschaft ihre Ehrerbietung der sou-
veränen Gewalt gegenüber, indem sie ein besonderes Opfer „für den
Caesar und das römische Volk“ einführte. Die im Lande geprägten
Kupfermünzen trugen nur den Namen des Kaisers, nicht aber dessen
Abbildung, da jede Art von bildlicher Darstellung von der jüdischen
Religion untersagt war. Aus dem gleichen Grunde pflegten die römi-
schen Truppen beim Durchzug durch Jerusalem die Feldzeichen mit
den Kaiserbildern nicht zur Schau zu tragen; so war es nur natür-
lich, daß auch die Aufstellung der kaiserlichen Standbilder auf öf-
fentlichen Plätzen hier strengstens verpönt war, während ihre Ver-
ehrung in den anderen römischen Provinzen eine Bürgerpflicht be-
deutete. Die Versuche einiger Procuratoren, diese Vorrechte zu
durchbrechen, führten nur zu blutigen Zusammenstößen.
Übrigens scheinen die Zusammenstöße zwischen den römischen
Machthabern und der halb-autonomen jüdischen Gemeinschaft über-
haupt unvermeidlich gewesen zu sein. Dies war sowohl in der Un-
möglichkeit der genauen Abgrenzung der beiden Machtsphären, der
1) Diese Inschrift wird dreimal von Josephus (Ant. XV, n, 5; Bell. V,
5, 2 u. VI, 2, 4) erwähnt. Ein Säulenbrachstück mit dieser griechischen Inschrift
wurde im Jahre 1871 von Clermont-Ganneau in Jerusalem auf gefunden. Die Ver-
mutung von Graetz (III, 226), derzufolge die Inschrift aus der Zeit des Tempel-
umbaus unter Herodes I. stammt, ist wohl kaum begründet: der Diensteifer des
Herodes den Römern gegenüber, der in der Anbringung des römischen Adlers
über dem Tempeltore einen so krassen Ausdruck gefunden hatte, macht eine der-
artige Annahme durchaus unwahrscheinlich. Es ist eher anzunehmen, daß die In-
schrift auf das Drängen des Synhedrion unter den ersten Procuratoren oder unter
Agrippa I. zwecks Fernhaltung der römischen Wache vom inneren Tempelhofe an-
gefertigt worden ist. Die Inschrift befindet sich jetzt in einem Konstantinopeler
Museum. Vgl. Benzinger, Archäologie, 342 (1907).
374
§ 68. Der römische „Gertsus“ und die ersten Procuratoren
fremden und der einheimischen, als auch in der Willkürherrschaft
vieler Procuratoren, ferner darin begründet, daß das überspannte
nationale Empfinden der Juden durch die fremde Einmischung in
ihr inneres Leben immer aufs neue gereizt und aufgepeitscht wurde.
§ 68. Der römische „Census“ und die ersten Procuratoren
Der erste Zusammenstoß des Volkes mit der römischen Gewalt
ereignete sich gleich nach Einführung der neuen Verwaltungsord-
nung in Judäa. Nach der Absetzung des Archelaus ernannte der Kai-
ser Augustus zum Procurator von Judäa einen gewissen Coponius
aus dem römischen Ritterstande. Hierauf trug der Kaiser dem Haupt-
siatthalter von Syrien, dem Legaten Quirinius, auf, eine genaue
Volkszählung in der neuangegliederten Provinz vorzunehmen (7).
Diese Volkszählung oder der Census (Schätzung) bezweckte die Fest-
stellung der Einwohnerzahl und des Umfangs der Liegenschaften in
Judäa zwecks Berechnung des Ausmaßes der Kopf- und Grundsteuern,
die fortan zugunsten des kaiserlichen Schatzes erhoben werden sollten.
Der römische „Census“ pflegte in aller Strenge vorgenommen zu wer-
den: jeder Bürger war verpflichtet, seinen Familienbestand und seine
Vermögens Verhältnisse genau anzugeben; für falsche Angaben hatte
man eine Geldbuße oder eine noch strengere Bestrafung zu gewärti-
gen. Die von Amts wegen vorgenommene Zählung führte dem Volke
zum ersten Male die ganze Bitternis der Abhängigkeit von einem
fremden Staate vor Augen. Das aus der Sphäre der allgemeinen Politik
in das alltägliche Privatleben verpflanzte Sinnbild der Unterordnung
mußte unausbleiblich eine patriotische Empörung in allen Schichten
der Bevölkerung ohne Ausnahme mit sich bringen.
Und in der Tat, kaum hatte Quirinius mit der Volkszählung be-
gonnen, als ihm auch schon der entschlossene Widerstand der erreg-
ten Bevölkerung entgegengesetzt wurde. Fast wäre es zu einem Blut-
vergießen gekommen, wenn der gemäßigtere Teil der jüdischen Ge-
sellschaft sich nicht beeilt hätte, die aufgeregten Gemüter zu be-
schwichtigen. So gelang es in Jerusalem dem Hohepriester Joasar
aus dem Boethosgeschlechte, wenn auch mit großer Mühe, die auf-
gebrachten Einwohner zu überreden, keinen Aufstand gegen Rom zu
wagen und die Volkszählung nicht weiter zu behindern. Die Provinz
Die römischen Procuratoren und die herodianischen Tetrarchen
kam jedoch nicht so schnell zur Ruhe1). Die galiläischen Patrioten,
die noch vor kurzem, nach dem Tode Herodes I., sich zur Befreiung
des Vaterlandes von dem fremdländischen Joche erhoben hatten, er-
neuerten nun wieder ihre revolutionäre Tätigkeit. Ihr tapferer Führer
Juda Galiläus (§ 56) vereinigte sich mit einem Vertreter der extremen
Fraktion der Pharisäer namens Zadok und gründete die Partei der
Eiferer oder Zeloten (Kanaim), die sich den aktiven Kampf mit den
Bedrückern des Vaterlandes zum Ziele setzte. Während des Census
des Quirinius kam diese Organisation allerdings nur wenig zur Gel-
tung, aber schon jetzt barg sie unabsehbare Wirkungsmöglichkeiten
für die Zukunft in sich.
Höchst bezeichnend war es, daß sogleich im Moment der Be-
gründung der unmittelbaren römischen Herrschaft in Judäa sich im
Lande auch eine Organisation gebildet hatte, die sich ihren Sturz
zum Ziele setzte. Die neuerstandenen Kämpfer waren weniger Eiferer
des Glaubens als vielmehr Fanatiker der politischen Freiheit. Das
religiöse und politische Element verschmolzen in ihnen in dem einen
leidenschaftlichen Drang nach Befreiung des Vaterlandes. Die Va-
terlandsliebe der Zeloten war durch und durch aktiv: sie wollten
nicht in stiller Ergebung warten, bis sich Gott des schmachtenden
Volkes erbarmen und es von dem fremdländischen Joche befreien
werde, sondern waren bestrebt, aus eigener Kraft, durch revolutionäre
Propaganda und Vorbereitung einer allgemeinen Erhebung, den Ein-
tritt dieses Ereignisses zu beschleunigen. Dadurch unterschieden sich
eben die Zeloten von den gemäßigten Pharisäern, die in der Hoffnung
lebten, durch Anspannung der religiösen Zucht die Einheit der Nation
bewahren und sie für das geduldige Ausharren in Erwartung besserer
Zeiten stählen zu können.
Über die Wirksamkeit der ersten Procuratoren in Judäa ist uns
nur wenig bekannt. Unter Coponius erhoben die alten Feinde der
Juden, die Samaritaner, von neuem ihr Haupt. Eines Nachts, am Pas-
sahfest, als das Tor des Jerusalemer Tempels weit geöffnet war,
drangen die Samaritaner in den Tempelhof ein und verstreuten dort
*) Außer dem Berichte des Josephus (Ant. XVIII, i, i, 6; Bell. II, 8, i)
über diese Geschehnisse hat sich eine Erinnerung daran auch in der Apostelge-
schichte 5, 37 erhalten: „In den Tagen der Schatzung (apographe) stand Juda
aus Galiläa auf und riß viel Volks mit sich, doch er kam um, und alle, die ihm
zufielen, haben sich zerstreut“. Die Volkszählung erwähnt im Zusammenhang mit
der Geburt Christi auch das Lukasevangelium (2, 1—3).
376
§ 68. Der römische „Census“ und die ersten Procuratoren
in den Säulenhallen menschliche Gebeine. Sie wollten dadurch „den
Tempel entweihen ‘ und so an den Juden für die alte Kränkung, die
Zerstörung des samaritanischen Tempels auf dem Gerisim unter Hyr-
kan I., Rache nehmen. Dieser Vorfall veranlaßte die Priester, die
Wache um den Jerusalemer Tempel zu verstärken und besonders
darauf zu achten, daß fortan keine Fremden dorthin eingelassen wur-
den. — Coponius blieb nicht lange an der Spitze der Verwaltung Ju-
däas. Nach drei Jahren löste ihn ein anderer Procurator, Marcus
Ambibuliis, ab (9), der seinerseits bald durch Armins Rufus (12—15)
ersetzt wurde. In die Zeit der Procuratur des Rufus fällt der Tod
des Kaisers Augustus.
Der Nachfolger des Augustus, Kaiser Tiberius (i4—37), machte
dem System des häufigen Wechsels der Provinzialstatthalter ein Ende.
Er ernannte zum Procurator von Judäa Valerius Gratus und ließ ihn
elf Jahre lang auf diesem Posten (i5—26). Tiberius kannte nur zu
gut den Hang der provinzialen Beamten zu Erpressung und Raub-
wirtschaft und war der Ansicht, daß der häufige Wechsel dieser
blutsaugenden Beamten nur zum gänzlichen Ruin der ihnen unter-
stellten Bevölkerung führen müsse. Man soll — so sagte er einmal
— von einem Verwundeten die mit seinem Blute vollgesaugten Flie-
gen nicht wegtreiben, sonst werden neue, noch blutdürstigere Fliegen
kommen, die ihn bis zum Tode aussaugen werden. Den in die Pro-
vinz entsandten Statthaltern gab der Imperator folgenden .Leitspruch
auf den Weg: ,,Eines guten Hirten Sache ist es, seine Schafe zu
scheren, nicht aber zu schinden.“ Der gekrönte Menschenfeind hegte
übrigens für die Juden durchaus keine zarten Gefühle. Um diese Zeit
begannen nämlich in der römischen vornehmen Welt orientalische,
darunter auch jüdische religiöse Anschauungen immer mehr Ver-
breitung zu finden; daraufhin wurden gegen die in Rom lebenden,
der Agitation gegen die Staatsreligion beschuldigten Andersgläubigen
scharfe Maßnahmen ergriffen. Von seinem grausamen Ratgeber Se-
janus aufgestachelt, gebot Kaiser Tiberius, viele Juden und Ägypter
aus Rom zu vertreiben. Viertausend waffenfähige Männer wurden so
nach der Insel Sardinien, zur Bekämpfung der dortigen Räuberban-
den, verschickt (19). Die Judenverfolgungen drohten damals auf ganz
Italien überzugreifen. Nach dem Sturze des Sejanus (3i) trat in-
dessen bei Tiberius eine Sinnesänderung ein: er befahl den Behörden,
die Juden in der Ausübung ihrer Bräuche nicht zu behindern und
377
Die römischen . Procuratoren und die herodianischen Tetrarchen
scheint auch den Deportierten die Rückkehr nach Rom gestattet zu
haben x).
Die römischen Procuratoren machten von ihrem Rechte, die Je-
rusalemer Hohepriester als die Repräsentanten des Volkes und Vor-
steher des Synhedrion ein- und abzusetzen, den ausgiebigsten Ge-
brauch. Noch zur Zeit des Census des Quirinius wurde der Hoheprie-
ster Joasar abgesetzt und an seiner Stelle Chanan (Ananos) ernannt,
das Stammhaupt einer neuen Priesterdynastie Beth-Chanan. Beson-
ders mißbrauchte der Procurator Gratus dieses für das jüdische na-
tionale Empfinden so verletzende Recht. Unter ihm lösten einander
nicht weniger als fünf Hohepriester ab: Chanan mußte seinen Platz
dem Ismael ben Phiabi räumen; ihm folgten dann: Eleasar (der Sohn
Chanans), Simon ben Kamchith und Joseph Kaiaphas. Nur dieser
letztere blieb längere Zeit im Amte und fungierte noch unter dem
Nachfolger des Gratus, Pilatus.
§ 69. Die Volksunruhen unter Pilatus
Ein trauriges Andenken hinterließ im Volke der als Nachfolger
des Gratus zum Procurator ernannte Pontius Pilatus (26—36). Es
war dies ein Mann, „von Charakter unbeugsam und rücksichtslos
hart“ (wie sein Zeitgenosse, der bekannte Philosoph Philo von Alex-
andrien bezeugt). „Bestechlichkeit, Räubereien, Gewalttaten, Krän-
kungen, Mißhandlungen, fortwährende Hinrichtungen ohne Urteils-
spruch“ — dies sind die hervorstechendsten Merkmale der Verwal-
tung des Pilatus. Es schien ihm Freude zu machen, die den Juden hei-
ligen Bräuche zu verhöhnen und in das Heiligtum ihres inneren Le-
bens einzubrechen.
Die früheren Procuratoren, die der jüdischen Sitte Rechnung tru-
gen, sorgten dafür, daß bei dem Durchzug der römischen Truppen
durch die Straßen Jerusalems keine Feldzeichen mit Kaiserbildern
mitgeführt wurden. Das öffentliche Vorantragen solcher Wahrzei-
chen war mit der von dem jüdischen Gesetz strengstens untersagten
„Bilderverehrung“ gleichbedeutend. Schon das Vorhandensein dieser
die halb-religiöse „Kaiserverehrung“ symbolisierenden bildlichen Dar-
U Vgl. die Stellen in Ant. XVIII, 3, 5; Tacitus, Annal. II, 85; Philo, Legat,
ad Cajum, § 2 4; Suetonius, Vita Tiber, § 36. S. unten, § 95.
37S
§ 69. Die Volksunruhen unter Pilatus
Stellungen in der heiligen Stadt bedeutete eine Herausforderung ge-
genüber der absoluten Gottesverehrung des Judentums. Pilatus mochte
jedoch die Schonung der religiösen Gefühle des Volkes nur als eine
Schwäche erscheinen, und so schickte er einst aus Caesarea einen
Truppenteil mit Kaiserbildern an den Feldzeichen nach Jerusalem.
Zur Vermeidung von Volkstumulten erfolgte der Einzug bei Nacht.
Als das Volk dennoch davon Kenntnis erhielt, ward es von maßlosem
Entsetzen ergriffen. Eine große Volksmenge begab sich aus Jerusalem
nach Caesarea und belagerte fünf Tage lang das Haus des Pilatus,
ihn anflehend, die Zeichen aus der Hauptstadt wieder zurückzuziehen.
Pilatus wollte jedoch nicht nachgeben und gab vor, eine Beseitigung
der Feldzeichen käme einer Beleidigung des Kaisers gleich. Da die
Menge trotzdem auf ihrer Forderung bestand, so griff Pilatus schließ-
lich zu folgender Maßnahme: er lockte das ihn mit seinen Bitten be-
stürmende Volk in die von Truppen umstellte Rennbahn und drohte,
alle niederzumachen, falls sie sich nicht gefügig zeigen würden. Mit
stürmischen Protestrufen beantworteten nun die Juden diese un-
menschliche Drohung. Als die römischen Soldaten sich anschickten,
die unbewaffneten Juden zu überfallen, legten sich diese auf die
Erde, entblößten ihren Nacken und erklärten, lieber sterben zu wollen
als die Entweihung der heiligen Stadt zuzugeben. Angesichts der
Standhaftigkeit der Juden nachdenklich geworden, entschloß sich Pi-
latus, seinen Widerstand aufzugeben. Er gab Befehl, die kaiserlichen
Banner aus Jerusalem zu entfernen und sie nach Caesarea zurück-
zubringen.
Nicht lange dauerte es, und Pilatus machte von neuem den Ver-
such, den Kaiserkultus in Jerusalem einzuführen. Er stellte nämlich
in dem ehemaligen Palaste des Herodes, wo die Procuratoren bei
ihrem Aufenthalt in Jerusalem Wohnung zu nehmen pflegten, gol-
dene Schilde auf, in die der kaiserliche Name eingraviert war.
Dies machte er, wie ein Zeitgenosse sagt, „weniger um den Tiberius
zu ehren, als um das Volk zu betrüben“. Die Vertreter der Jerusalemer
Gesellschaft versuchten Pilatus zur Entfernung der Schilde zu be-
wegen, und als ihre Bitte abgelehnt wurde, entschlossen sie sich,
Pilatus beim Kaiser anzuklagen. Tiberius, der die Juden nicht un-
nötigerweise reizen wollte, befahl denn auch Pilatus, die Schilde aus
dem Herodespalaste zu entfernen und sie im heidnischen Augustus-
tempel zu Caesarea aufzustellen.
379
Die römischen Procuratoren und die herodianischen Tetrarchen
Traurige Folgen zeitigte ein anderer Zusammenstoß der Juden
mit dem geschäftigen Procurator. Pilatus faßte diesmal den Plan,
aus weit von Jerusalem abliegenden Quellen Wasser in die Stadt zu
leiten. Die Mittel für das kostspielige Unternehmen entnahm er eigen-
mächtig der Schatzkammer des Jerusalemer Tempels. Auch diese Ein-
mischung in die städtischen Angelegenheiten lief nicht glatt ab. Als
Pilatus während des Baues der Wasserleitung nach Jerusalem kam,
wurde er mit lauten Forderungen, die Arbeiten einzustellen, empfan-
gen, wobei in der Menge auch Schimpfreden gegen den Procurator
laut wurden. Hierauf gab Pilatus seinen Kriegern den geheimen Be-
fehl, bürgerliche Tracht anzulegen, sich unter die lärmende Menge
der Juden zu mischen und mit Knütteln, die sie unter ihren Kleidern
verborgen halten sollten, auf die Menge einzuschlagen. Auf das verab-
redete Zeichen stürzten sich denn auch die Krieger auf die wehr-
lose Menge. Nicht wenige wurden auf diese Weise übel zugerichtet,
und gar manche kamen dabei sogar ums Leben. Der Widerstand des
Volkes wurde dadurch allerdings gebrochen, aber auch der Haß gegen
den Procurator steigerte sich noch mehr.
Pilatus war es beschieden, seinen blutbefleckten Namen auch noch
mit einer anderen inneren Bewegung im Judentum zu verbinden;
denn die schmähliche römische Hinrichtungsart (Kreuzigung), der er
den Stifter des Christentums preisgab, bezweckte gleichfalls die „Auf-
rechterhartung von Ruhe und Ordnung“ in der unruhigen Provinz
(s. unten, § ioo).
Schließlich mußte Pilatus aber doch seine Härte büßen. Den An-
laß gab ein Zusammenstoß mit den Samaritanern. Irgend ein Pseudo-
prophet redete nämlich den Samaritanern ein, auf dem Gipfel des
ihnen heiligen Berges Gerisim seien seit Moses’ Zeiten die Geräte
des sagenhaften alten israelitischen Tempels, der Stiftshütte, vergra-
ben. Große Scharen von bewaffneten Samaritanern sammelten sich
darauf in einem Dorfe am Fuße des Gerisim, in der Nähe von Si-
chern, um den Berg zu ersteigen und die heiligen Reliquien zu
schauen. Pilatus, der darin Vorbereitungen zu einem Aufstande wit-
terte, sandte gegen die Samaritaner eine Heeresabteilung, die die
Menge zerstreute, wobei ein Teil getötet, ein anderer gefangen ge-
nommen wurde. Von diesen Gefangenen ließ nun Pilatus die Ange-
sehensten hinrichten. Die Samaritaner versäumten es jedoch nicht,
von dem. grausamen Gemetzel den Statthalter von Syrien, Vitellins,
§ 70. Die Tetrarchien des Philippus und des Herodes-Antipas
zu benachrichtigen, worauf dieser dem Pilatus den Befehl erteilte,
nach Rom zu gehen, um dem Kaiser wegen der gegen ihn erhobenen
Anklagen Rede und Antwort zu stehen (36). Seitdem wurde Pilatus
in Judäa nicht mehr gesehen.
So ward Judäa von dem verhaßten Procurator befreit. Vitellius
suchte jetzt die in Erregung versetzte Bevölkerung zu beschwichtigen.
Zum Passahfest kam er selbst nach Jerusalem und ließ der Einwoh-
nerschaft einige Vergünstigungen zuteil werden. Unter anderem
schaffte er auch ein für das Volk besonders ärgerliches Vorrecht der
Procuratoren wieder ab. Unter Herodes pflegte man nämlich, wie be-
reits erwähnt, das Festgewand des Hohepriesters in einem der Türme
der an den Tempel anstoßenden Burg Antonia zu verwahren. Die
ersten Procuratoren, die in dieser Burg eine römische Besatzung ein-
quartierten, ließen nun auch den hohepriesterlichen Ornat unter deren
Aufsicht. Nach wie vor befand sich der Ornat im Turme, in einem
besonderen Behälter, vor dem ständig ein Licht brannte, und nur am
Vorabend der großen Jahresfeste pflegte man ihn dem Hohepriester
zu geben. Auf diese Weise behielten die römischen Behörden die für
die Juden heiligen Gegenstände gleichsam als Unterpfand. Vitellius
gab nun Befehl, das Festgewand der Priesterschaft zur Verwahrung
an einem geeigneten Orte im Tempel auszuliefern. Zugleich setzte
er auch den Hohepriester Joseph Kaiaphas, der unter Pilatus das Amt
versehen hatte, ab und berief auf diesen Posten Jonathan, aus dem
Geschlechte des Chanan. — Während seines Feldzuges gegen die
Araber (im Jahre 37) sollte Vitellius mit seinem Heere durch Judäa
ziehen; auf die Bitte der Juden hin ließ er jedoch die Armee auf
Umwegen marschieren, um nicht durch Jerusalem mit den kaiser-
lichen Feldzeichen ziehen zu müssen. Indessen hielt diese Beschwich-
tigungspolitik nicht lange an und dem Lande standen noch schwere
Prüfungen bevor.
§ 70. Die Tetrarchien des Philippus und des Herodes-Antipas
Zur selben Zeit, als in Zentraljudäa, dem früheren Besitzanteil
des Archelaus, die römischen Procuratoren ihres Amtes walteten,
herrschten in ihren Landanteilen in den Grenzmarken die Söhne Hero-
des I., Herodes-Antipas und Philippus. Wie bereits erwähnt (§ 67),
hatten sie beide seinerzeit von Kaiser Augustus die Würde von
38i
Die römischen Procuratoren und die herodianischen Tetrarchen
Tetrarchen oder Yierfürsten erhalten1), wobei dem einen Galiläa und
Peräa, dem anderen das nordöstliche Randgebiet zugefallen war. Die
dem Kaiser als Provinzen mit einheimischen Dynastien unterstellten
Tetrarchien des Herodes-Antipas und des Philippus verfügten über
eine größere Bewegungsfreiheit als das von den römischen Statthal-
tern verwaltete Zentraljudäa. Indessen nützten die herodianischen
Herrscher diese Freiheit im nationalen Interesse der jüdischen Bevöl-
kerung ihres Gebietes in keiner Weise aus.
Es ist freilich nicht außer acht zu lassen, daß die Tetrarchie des
Philippus sowohl ihrer geographischen Lage als auch der Bevölke-
rung nach nur zum Teil als jüdische Provinz gelten konnte. Sie
schloß in sich die nördlichen transjordänischen Landschaften Batanäa
(Basan), Gaulanitis (Dscholan), Trachonitis und Auronitis (Hauran),
sowie Panias unmittelbar an den Quellen des Jordan. Alle diese Län-
der umfaßten den weit ausgedehnten Raum zwischen dem Genezareth-
see, dem Libanongebirge, Damaskus und den Besitzungen der nabatäi-
schen Araber. Mit Judäa erst unter den Hasmonäern wieder vereinigt,
war dieses Gebiet mehr von Griechen und Syrern als von Juden be-
wohnt. Und auch der Gebieter dieses Landes war eher ein Fremder
denn ein Jude. In Rom erzogen und seinem Volke fremd, war Philippus
in der Tat mehr ein römischer als ein jüdischer Patriot. Schon die Na-
men der von ihm erbauten Städte lassen keinen Zweifel daran. Die Stadt
Panias ließ er umbauen, erweitern und nannte sie zu Ehren des Cae-
sar Caesarea. Zum Unterschiede von Caesarea am Meere, der Resi-
denz der Procuratoren, wurde die Jordanstadt Gaesarea-Philippi ge-
nannt. Die Stadt Bethsaida, am Einfluß des Jordan in den Gene-
zarethsee, wurde von ihm zu Ehren der Tochter des Kaisers Augustus
Julias benannt. Auf den Münzen aus der Zeit des Philippus pran-
gen die Bildnisse des Augustus und Tiberius. Dreißig Jahre lang re-
gierte Philippus bescheiden und friedliebend in seiner Tetrarchie.
Der Unternehmungsgeist seines Vaters war ihm gänzlich fremd und
er überschritt fast nie die Grenzen seines Staates. Wenn Philippus
in Begleitung seiner Getreuen durchs Land fuhr, pflegte er seinen
1) In der deutschen Übersetzung der evangelischen Bücher wird die grie-
chische Bezeichnung „Tetrarch“ wörtlich mit „Vierfürst“ wiedergegeben, während
dem Tetrarchen in diesem Falle nicht genau der vierte Teil des Staates, sondern,
als einem Teilfürsten, ein gewisser Landanteil überhaupt untergeben war. Vgb
Lukas, 3, i und 19; Matth. 14, 1 f.
382
§ 70. Die Tetrarchien des Philippus und des Herodes-Antipas
Richtersessel mit sich zu führen, und sobald man ihn auf seinem
Wege mit Beschwerden anging, pflegte er sich ohne Aufschub in den
Sessel niederzulassen, um auf der Stelle die Parteien anzuhören und
das Urteil zu sprechen. Als Philippus im Jahre 34 d. ehr. Ära kin-
derlos starb, wurde sein Landgebiet auf Geheiß des Tiberius zu den
römischen Besitzungen in Syrien geschlagen.
Dem Zentrum näher lag die aus Galiläa und Peräa bestehende Te-
trarchie des Herodes-Antipas. War Peräa (der mittlere Landstrich
Trans Jordaniens) von einer gemischten jüdischen und griechisch-
syrischen Bevölkerung bewohnt, so lebten in dem fruchtbaren und
reizvollen Galiläa fast ausschließlich Juden in gedrängten Massen.
Hier eben nahmen jene revolutionären Strömungen ihren Anfang,
die so oft die Römer mit Sorge erfüllten. Und auch jene mächtige
messianisch-mystische Gärung in den niederen Volksschichten, die
einen übernatürlichen „Erlöser“ herbeisehnten, machte sich gleich-
falls in Galiläa geltend. Seiner Erziehung nach ein halber Römer,
stand auch Herodes-Antipas1) den national-politischen Idealen des
Judentums durchaus fern, doch hielt er an seinen formal-religiösein
Beziehungen zu ihm fest. So pflegte er an den großen Jahresfesten
nach Jerusalem zu wallfahrten, um dem Gottesdienst im Tempel bei-
zuwohnen. In seiner Regierung befolgte Herodes-Antipas die Politik
eines bescheidenen römischen Vasallen, der von Unabhängigkeit nicht
einmal zu träumen wagte. Unter ihm wurde die zerstörte galiläische
Stadt Zippora (Sepphoris), die bei dem nach dem Tode Herodes I.
ausgebrochenen Aufstand von Varus zerstört worden war, wieder auf-
gebaut und befestigt. In ihrer Nähe, an dem westlichen Ufer des
Genezarethsees, erbaute er auch noch eine neue Stadt, der er zu Ehren
des Kaisers den Namen Tiberias gab (späterhin wurde auch der See
selbst nach der Stadt Tiberiassee genannt). An diesem Orte wollte
Herodes-Antipas seine Residenz errichten und suchte daher möglichst
1) In den Evangelien wird Herodes-Antipas (wie ihn Josephus nennt) stets
einfach Herodes genannt. An einer Stelle (Mark. 6, i4) wird ihm der Titel eines
„Königs“ statt eines „Tetrarchen“ beigelegt. Unter dem Namen „Herodes“ be-
gegnet uns dieser Herrscher auch in den Inschriften und auf den Münzen. In
den griechischen Inschriften (auf den Inseln Kos und Delos) wird er „der Tetrarch
Herodes, Sohn des Königs Herodes“ genannt. Auf den Münzen aus seiner Regie,i-
rungszeit lautet die griechische Aufschrift auf der einen Seite „Herodes Tetrar-
ches“, und auf der anderen — „Tiberias“ (der Name seiner Residenz) oder aber
„Kaiser Ca jus Germanicus“ (der Name des Caligula).
383
Die römischen Procuratoren und die herodianischen Tetrarchen
viele Bewohner für die Stadt zu gewinnen. Die gesetzestreuen Juden
mieden jedoch die neue Stadt, die auf einem früher als Begräbnis-
stätte verwendeten Platze erbaut worden war, und so nach den Vor-
schriften über die rituelle Reinheit als Wohnstätte für anstößig galt.
Deshalb sah sich der Tetrarch genötigt, in Tiberias Fremde und
allerlei Gesindel anzusiedeln. Dies gereichte dem Rufe der Stadt in der
ersten Zeit zu großem Schaden. Überdies ließ Herodes-Antipas hier
einen mit Tierbildern geschmückten Palast erbauen, was für das
religiöse Empfinden der Juden gleichfalls ein Ärgernis war.
Ganz besonderen Anstoß erregte aber das Familienleben des Te-
trarchen. In erster Ehe war nämlich Herodes-Antipas mit der Toch-
ter seines südlichen Nachbarn, des arabischen Königs Aretas IV., ver-
heiratet. Eines Tages besuchte er auf dem Wege nach Rom einen sei-
ner Brüder1) und verliebte sich in dessen Frau Herodias, die Toch-
ter seines hingerichteten Stiefbruders Aristobul. Es gelang ihm, He-
rodias zu verführen, so daß sie ihren Gatten verließ und ihm folgte.
Nachdem er seine erste Gattin verstoßen hatte, vermählte sich He-
rodes-Antipas mit Herodias, was eben den Anstoß aller Frommen
erregte. Der evangelischen Sage zufolge soll die ehrlose Ehe des
Tetrarchen in besonders scharfer Weise von dem damals in Galiläa
aufgetauchten gestrengen Einsiedler Johannes dem Täufer getadelt
worden sein, der angesichts des herannahenden „Himmelreichs“ Buße
predigte. Der erzürnte Tetrarch ließ den verwegenen Bußprediger
in der Festung Machärus einkerkern und gab dann, der rachsüchti-
gen Herodias und ihrer jugendlichen Tochter Salome zu Gefallen,
den Befehl, ihn zu enthaupten (s. unten, § 99).
Inzwischen war die erste, verstoßene Gemahlin des Antipas zu
ihrem Vater Aretas geflohen, und die Folge des Familienzerwürfnisses
war ein langwieriger Krieg zwischen dem arabischen König und dem
galiläischen Tetrarchen. Die Feindseligkeiten, die durch belanglose
Grenzstreitigkeiten veranlaßt worden waren, endeten mit einem blu-
tigen Krieg in Gilead, in dem sich Antipas eine schwere Niederlage
holte (36). Darauf ging er seinen Souverän, den Kaiser Tiberius, um
Hilfe an. Der Kaiser gebot seinem Statthalter in Syrien, dem oben-
!) In Ant. XVIII, 5, 1 u. 4 heißt dieser Bruder Herodes und soll ein Sohn
Herodes I. von Mariamme II. gewesen sein, während er im Markus-Evangelium
(6, 7) Philippus heißt. Die erste Version scheint jedoch der Genealogie der Hero-
däer eher zu entsprechen.
384
§ 71. Der Aufstieg des Agrippa
erwähnten Vitellius, gegen die Araber ins Feld zu ziehen. Kaum
halte jedoch Vitellius sein Heer in Bewegung gesetzt, als die Nach-
richt von dem Tode des Tiberius eintraf (37). Dadurch hielt sich
der Statthalter Syriens von dem ihm erteilten Aufträge entbunden
und kehrte nach Antiochia zurück. Der Plan einer Genugtuung wurde
somit vereitelt. Die politische Stellung des Herodes-Antipas war un-
tergraben, und bald wurde seiner Regierung durch das rasche Em-
porkommen seines Neffen Agrippa endgültig ein Ziel gesetzt.
§71. Der Aufstieg des Agrippa
Nach dem Tode des Tiberius und dem Regierungsantritt des Ca-
jus Caligula (37—4i) trat ein Prinz aus dem Hause des Herodes
hervor, dem es beschieden war, für eine kurze Zeitspanne einen Um-
schwung in der politischen Lage Judäas herbeizuführen. Es war dies
Agrippa, ein Enkel Herodes I.
Der Sohn Herodes I. und der Hasmonäerin Mariamme, der un-
glückselige Aristobul, hatte nämlich zwei Söhne, Agrippa und He-
rodes (König von Chalkis genannt), und eine Tochter, die obener-
wähnte Herodias, hinterlassen. Agrippa war erst drei Jahre alt, als
sein Vater (im Jahre 7 v. d. ehr. Ära) hingerichtet wurde. Als sechs-
jähriger Knabe wurde er zur Erziehung nach Rom geschickt, wo er
von frühester Jugend an in den Kreisen der vornehmsten römischen
Gesellschaft verkehrte und insbesondere mit dem jüngeren Drusus,
dem Sohne des Kaisers Tiberius, Freundschaft schloß. Der Einfluß
der Hof kreise gereichte der Charakterbildung des Agrippa zum Scha-
den. Er gewöhnte sich die üblen Sitten der römischen Aristokratie,
deren Hang zu Ausschweifungen und Verschwendung sehr bald an.
Nachdem sein eigenes Vermögen durch das prunkvolle Leben in der
Hauptstadt aufgezehrt war, begann er Schulden zu machen, die sich
immer mehr häuften und ihm schließlich über den Kopf wuchsen.
Nach dem Tode seines Freundes Drusus (2 3) wurde Agrippa von
seinen Gläubigern so hart bedrängt, daß er sich genötigt sah, Rom
zu verlassen und nach Palästina zurückzukehren. Hier erbarmte sich
des notleidenden Prinzen der mit dessen Schwester vermählte gali-
läische Tetrarch Herodes-Antipas und verlieh ihm das Amt eines
„Agoranomos“, d. i. eines Polizeimeisters in Tiberias. Allein Agrip-
25 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
385
Die römischen Procuraloren und die herodianischen Tetrarchen
pa hielt es auf seinem bescheidenen Posten nicht lange aus, entzweite
sich bald mit dem Schwager und mußte auch Tiberias verlassen.
Nun beginnt für ihn eine Zeit des ruhelosen Wanderns. Durch
Syrien und Ägypten von Ort zu Ort ziehend, sucht Agrippa seinen
alten Gläubigern zu entgehen und fährt fort, auch weiter Schulden
zu machen. Endlich, ein Jahr vor dem Tode des Tiberius, taucht
er wieder in Italien auf und erneuert seine Beziehungen zu der
römischen vornehmen Welt. Um diese Zeit tritt er in nahe
Beziehungen zu dem Thronfolger Ca jus Caligula und wird der Ge-
nosse seines Freudentaumels. In Schulden verstrickt, setzt Agrippa
all seine Hoffnungen auf den Tag, da sein Freund Caligula den
Thron besteigen wird. Einst beging er die Unvorsichtigkeit, seinen,
sehnlichen Wunsch, Caligula bald auf dem Throne zu sehen, laut
auszusprechen, was dem Kaiser sofort hinterbracht wurde. Daraufhin
ließ der mißtrauische Kaiser Agrippa in Fesseln legen und in den
Kerker werfen. Die Einkerkerung dauerte jedoch nicht länger als
ein halbes Jahr, da Tiberius bald starb und der Senat an seiner
Stelle Caligula zum Kaiser ausrief.
Von nun ab beginnt der Glücksstern Agrippas hell zu leuchten.
Der zur Macht gelangte Caligula befreite unverzüglich den um sei-
netwillen leidenden judäischen Prinzen und schenkte ihm eine gol-
dene Kette zur Erinnerung an die von ihm im Kerker getragenen
eisernen Ketten. Zugleich verlieh ihm der neue Kaiser auch die
Tetrarchie des kurz vorher gestorbenen Philippus und den Titel eines
Königs (37).
So gewann der heruntergekommene Prinz mit einem Schlage in
Palästina eine Stellung, die ihn hoch über seinen Schwager Herodes-
Antipas emporhob, der nur die Würde eines Tetrarchen besaß. Dies
vermochte das ehrgeizige Weib des Tetrarchen, die Schwester Agrip-
pas, Herodias, nicht zu verwinden; sie konnte sich nicht mit dem
Gedanken abfinden, daß sie nicht „Königin“ sei, während ihr Bru-
der den Titel eines „Königs“ führen dürfe. Ihr Neid steigerte sich
ganz besonders, als Agrippa nach Palästina gekommen war und sie
ihn mit eigenen Augen in all seiner königlichen Pracht erblickte. Von
Mißgunst gestachelt, drang sie in ihren Mann, den Königstitel auch
für sich um jeden Preis beim Kaiser zu erwirken. Durchaus wider-
willig und nur dem Drängen seiner ehrgeizigen Gemahlin nachge-
bend, trat Herodes-Antipas mit ihr zusammen den Weg nach Ita-
386
§ 71. Der Aufstieg des Agrippa
lien an, um beim Kaiser die Rangerhöhung zu erbitten. Kaum waren
sie jedoch vor dem Kaiser in seiner Villa zu Baiae erschienen, als
dort auch ein Gesandter des Agrippa mit einem Schreiben eintraf.
Darin hinterbrachte dieser Galigula, Herodes-Antipas verdiene schon
aus dem Grunde die erbetene Gnade nicht, weil er erst vor kurzem,
mit dem Feinde Roms, dem Partherkönig Artabanus, geheime Ver-
handlungen wegen eines Kriegsbündnisses angeknüpft habe. Zum Be-
weise für die Vasallenuntreue des galiläischen Tetrarchen wies Agrip-
pa auf die gewaltigen Waffenvorräte hin, die Antipas in letzter Zeit
angehäuft hätte. Als Caligula den Brief gelesen hatte, fragte er
Antipas, ob er die ihm zur Last gelegte Waffensammlung in
der Tat angeordnet habe; als dieser dies zugeben mußte, schenkte
der Kaiser auch allen anderen in dem Schreiben vorgebrachten Be-
schuldigungen ohne weiteres Glauben. Er entsetzte Herodes-Antipas
seiner Tetrarchie und verbannte ihn nach der Stadt Lugdunum (das
spätere Lyon) in Gallien (3g). Aus Rücksicht auf seinen Frieund
Agrippa wollte Caligula dessen Schwester Herodias in Freiheit und
ihren Privatbesitz unangetastet lassen; das stolze Weib verschmähte
jedoch, im Bewußtsein ihrer Schuld an dem Unglück ihres Mannes,
die kaiserliche Gnade und folgte Herodes in die Verbannung. Dem
abgesetzten Tetrarchen war es nicht mehr beschieden, seine Heimat
jemals wiederzusehen. *
Die Tetrarchie des Herodes-Antipas (Galiläa und Peräa) wies
der Kaiser Agrippa zu, der so zum Gebieter des größten Teiles von
Palästina, mit Ausnahme des dem römischen Procurator untergebenen
Gebietes, geworden war. Aber er sollte auch noch das judäische
Stammland in seine Hand bekommen. Bevor jedoch die Vereinigung
Judäas sich vollzogen hatte, wurden die Juden von schweren Prü-
fungen heimgesucht. Dieselbe Hand, die Agrippa mit Gnaden über-
häufte, war es, die sich drohend gegen die dem jüdischen Volke
heiligen Bräuche erhob und beinahe eine Katastrophe herbeigeführt
hätte.
25*
387
Zweites Kapitel
Die Unruhen unter Caligula und der
König Agrippal.
§ 72. Die Judenhetze in Alexandrien
Das zweite Regierungsjahr des Kaisers Caligula war der Beginn
einer schmachvollen Zeit in der Geschichte des kaiserlichen Rom. Der
schwache Verstand des Zöglings des Soldatenlagers und der laster-
haften Hofgesellschaft, den das Glück auf die Höhe eines die halbe
Welt überragenden Thrones gebracht hatte, trübte sich. In dem um-
nebelten Geiste gewann der seit dem „göttlichen Augustus“ einge-
führte „Caesarenkult“ verzerrte Formen: der Akt politischer Hul-
digung wurde ihm zu einem religiösen Akt, zu einem allgemein gül-
tigen Dogma der Staatsreligion1). Von Größenwahn besessen, be-
gann sich der allmächtige Tyrann mit dem allmächtigen Gotte selbst
zu identifizieren. Er wollte sich mit dem Ehrentitel „divus“ nicht
mehr begnügen, sondern als wahrer „deus“ gelten, und schreckte
nicht davor zurück, göttliche Ehren für sich zu beanspruchen. Mit
derartigen Ungeheuerlichkeiten mochte sich allenfalls die damalige
heidnische Welt abfinden, da der Polytheismus, der Gott nach dem
Ebenbilde des kraftvollen Menschen, des Heroen, geschaffen hatte,
1) Der „Kaiserkultus4‘ kam zuerst unter Augustus auf, der beim Senat die Kon-
sekration seines verstorbenen Pflegevaters Julius Caesar erwirkte. Dieser erhielt
den Titel eines „Göttlichen4* (divus) und es wurde ihm ein besonderer Tempel mit
Priestern geweiht. Auch der divus Augustus selbst wurde nach seinem Tode in glei-
cher Weise verehrt. In den lebenden Herrschern verehrte man jedoch nur ihren
^Genius44 als das Sinnbild des Genius und der Macht des römischen Imperiums.
Mit der Zeit verwischte sich indessen die Grenze zwischen der Anbetung der ver-
storbenen und der der lebenden Caesaren, so daß auch diese in das Pantheon der
Götter auf genommen wurden: ihren Standbildern pflegte man, namentlich in den
heidnischen Tempeln des Morgenlandes, dieselben Ehren wie den Götterbildern zu
erweisen.
388
§ 72. Die Judenhetze in Alexandrien
solche Ansprüche nur begünstigen mußte, für die Juden aber, die
Träger des geistigen Prinzips des Monotheismus, waren sie nichts
als Gotteslästerung. Für sie war die Idee des Gottmenschen in der
Gestalt des Kaisers ebenso unannehmbar, wie die um jene Zeit auf
den Plan tretende Idee des Gottmenschen in der Gestalt des Christus.
Inzwischen begann man bereits in den römischen Provinzen Sy-
rien und Ägypten den Willen des irrsinnig gewordenen Kaisers zur
Ausführung zu bringen. Tausende und Abertausende knieten in den
heidnischen Tempeln vor den Standbildern des Caligula nieder. Nur'
die in diesen Provinzen unter den heidnischen Massen verstreuten
Juden wandten sich mit Entsetzen von dem Kaiserkultus ab und lie-
ßen die kaiserlichen Standbilder nicht über die Schwelle ihrer Tem-
pel und Synagogen. Die Juden der Diaspora besaßen übrigens, kraft
der ihnen früher verliehenen Vorrechte, die ihre völlige religiöse
Freiheit gewährleisteten, auch ein unbestrittenes Recht dazu. In di ei-
sern Zeitalter roher Willkür galt jedoch das Recht so gut wie nichts.
In diesem Falle verschärfte sich die Lage noch dadurch, daß die
Erfüllung des Monarchenwillens als Maßstab für die Ergebenheit
und für die politische Zuverlässigkeit der Bürger angesehen wurde.
So konnte die Weigerung der Juden, sich an dem Kaiserkultus zu
beteiligen, sowohl als eine „Majestätsbeleidigung“ wie auch als eine
Kundgebung gegen die Oberhoheit Roms ausgelegt werden. Die
Feinde der Juden versäumten denn auch nicht, diese für ihre Gegner
so gefährliche Auslegung ihren Zwecken dienstbar zu machen. Dies
war der Anlaß für das blutige Drama, das sich im Hauptzentrum
der jüdischen Diaspora, im ägyptischen Alexandrien, abspielte.
Um diese Zeit spitzten sich die Beziehungen zwischen der grie-
chischen und jüdischen Bevölkerung Alexandriens, die auch früher
schon nichts weniger als freundlich waren, bis zum Äußersten zu.
Einerseits wurden nämlich die Juden wegen ihrer bürgerlichen
Gleichberechtigung von den eingeborenen Ägyptern beneidet, die von
den Griechen weder unter den Ptolemäern, noch unter der römischen
Herrschaft als Vollbürger anerkannt wurden; andererseits waren auch
den Griechen, die sich als Herren in der Stadt fühlten, die wirt-
schaftlichen Erfolge der großen jüdischen Gemeinde, sowie deren
autonome Organisation und ihre von den römischen Behörden be-
schützten Rechte und Freiheiten schon längst ein Dorn im Auge.
389
Die Unruhen unter Caligula und der König Agrippa I.
Den griechischen Kaufherrn waren die jüdischen Konkurrenten in
der reichen Weltstadt, sowie die ganze riesige Judenstadt, die neben
der griechischen emporgewachsen war, aufs tiefste verhaßt. Dann
kam zu den nationalen und wirtschaftlichen Motiven noch das poli-
tische hinzu: der Haß der Griechen gegen die Judenheit als den von
den Bezwingern des Landes, den Römern, begünstigten Bevölkerungs-
teil. Den alexandrinischen Judenhassern lag mithin daran, das poli-
tische Einvernehmen zwischen Juden und Römern zu stören und
ihre Gegner des kaiserlichen Schutzes zu berauben, um auf diese
Weise die Möglichkeit zu bekommen, sie ungestraft bedrängen zu
können. So kamen die Erlasse über die göttliche Verehrung des Kai-
sers Caligula den Judenhassern als ein Werkzeug für die Verwirk-
lichung ihrer böswilligen Absichten unter gesetzlichem Vorwände
überaus gelegen.
In den griechischen „Hetärien“ oder Klubs von Alexandrien ta-
ten sich besonders zwei Demagogen durch ihre Hetzreden gegen die
Juden hervor. Es waren dies die den Titel von Gymnasiarchen führen-
den Munizipalbeamten Isidorus und Lampon, Männer von durch-
aus fragwürdiger Sittlichkeit, „städtische Ränkeschmiede, Anführer
des Pöbels, die dessen Leidenschaften frönten, Verleumder und Bri-
ganten der Feder (kalamosfakteis)“. So kennzeichnet sie der große
Philosoph Philo, die Zierde der damaligen jüdischen Gemeinde von
Alexandrien, der auch deren Selbstverwaltung nahestand, da sein Bru-
der Alexander gerade um jene Zeit „Alabarch“ oder Steuerinspektor
der Gemeinde war und, wie es scheint, auch an dem Gemeinderat,
der Gerusia, teilnahm. Die judenfeindlichen Hetzer wählten für ihre
erste Kundgebung gegen die Juden einen überaus günstigen Augen-
blick. Sie erfolgte im Sommer des Jahres 38, als der den Alexan-
drinern durch seine früheren Abenteuer sattsam bekannte judäische
Prinz Agrippa auf dem Wege von Rom nach Palästina, wohin er
als Nachfolger des Tetrarchen Philippus mit dem prunkvollen Titel
eines „Königs“ reiste, in Alexandrien Halt machte. Agrippa suchte
die lärmende Weltstadt mit Absicht auf, um sich gerade dort, wo
er noch vor kurzem als ein der Unterstützung seiner Geldgeber be-
dürftiger Habenichts sich aufgehalten hatte, mit seiner neuen Stel-
lung und seinem Königstitel brüsten zu können. Als der neuernannte
König mit seinem Gefolge in den Straßen Alexandriens erschien,
390
§ 72. Die Judenhetze in Alexandrien
wurde er in der Tat von den dortigen Juden, die in dem judäischen
König demonstrativ ihren Stammesgenossen feierten, mit begeister-
tem Jubel empfangen. Dies brachte die Judenhasser ganz außer Fas-
sung, und sie machten sich nun daran, gegen den fremden König
eine Gegendemonstration vorzubereiten. Der im Hause der Gymna-
sten (im Gymnasium) versammelte griechische Pöbel verhöhnte
Agrippa zunächst mit Schimpf- und Spottreden, um in seiner Per-
son seine Stammesgenossen zu treffen, und beschloß dann die Kund-
gebung mit einer verletzenden Theateraufführung: die Judenfeinde
kleideten nämlich einen Irrsinnigen namens Karabas in ein „kö-
nigliches Gewand“ aus bunten Lumpen, drückten ihm eine Krone
aus Papyrus aufs Haupt, stellten ihn dann auf ein Podium und be-*
grüßten ihn mit lauten Rufen: „Marin!“, was auf syrisch „Herr“
oder „König“ bedeutete. Der auf diese Weise in Erregung gebrachte
griechische Pöbel wurde nun von den judenfeindlichen Hetzern zu
weiteren Ausschreitungen aufgereizt. Diese redeten der Menge zu,
nunmehr in die Synagogen (proseuchai) Alexandriens einzudringen
und dort die Kaiserstatuen, denen in den heidnischen Tempeln schon
längst gehuldigt wurde, aufzustellen. Es war dies ein teuflisch ge-
scheiter Gedanke: einerseits konnte man so die jüdischen Heilig-
tümer ungestraft schänden, andererseits die Juden, die sich zweifel-
los dagegen zur Wehr setzen würden, öffentlich als Feinde des Kai-
sers bloßstellen und so die römische Regierung gegen sie aufbringen.
Die durch die niederträchtigen griechischen Hetzer aus dem
Freundeskreise des Isidor us und Lampon auf gestachelte Menge brachte
denn auch den heimtückischen Plan zur Ausführung. Sie drang in
die Synagogen ein, stellte dort die Kaiserstatuen auf und schlug
zugleich alles kurz und klein. In die durch ihre Pracht berühmte
alexandrinische Hauptsynagoge schleppte man eine schadhafte kup-
ferne Quadriga herein und stellte auf dieser das Standbild Caligulas
auf. Der Widerstand der Juden nützte nichts, da die Behörden auf
Seiten der Rohlinge standen. Der römische Statthalter in Ägypten,
Avillius Flaccus, weit davon entfernt,, den zu Ehren des Kaisers ge-
schehenden Gewalttaten Einhalt zu gebieten, begünstigte sie noch
in seinem eigenen Interesse. Er war nämlich noch unter Tiberius:
Statthalter in Ägypten gewesen, hatte mit dem Regierungsantritt Ca-
ligulas in Rom jeden Rückhalt verloren und befürchtete nun, seine
hohe Stellung einzubüßen. Um seine Lage zu sichern, suchte er da-
,Die Unruhen unter Caligula und der König Agrippa I.
her eine Gelegenheit, dem neuen Kaiser seine Ergebenheit vor Augen
führen zu können, und war froh, daß sich ihm jetzt eine solche Ge-
legenheit geboten hatte. War doch die Gunst Caligulas durch Eifer
in der Verbreitung des Caesaren-Kultus, durch Willfährigkeit dem
Wahnwitz dieses kaiserlichen Schwachkopfes gegenüber, am ehesten
zu gewinnen. Und so bringt Flaccus, ohne zu zögern, das Gesetz der
Laune des Despoten und dem Jähzorn des wild gewordenen Pöbels
zum Opfer. Er erläßt ein Edikt, wonach die Bürgerrechte und alle
nationalen Vorrechte der Juden abgeschafft und sie selbst als
„Fremde und Zuwanderer“ erklärt werden: fortan dürfen die Juden
ihren religiösen Kultus nicht mehr frei ausüben und ihre Synagogen
unterstehen den allgemeinen Vorschriften über die Verehrung der
kaiserlichen Statuen. Außerdem erklärte Flaccus, daß die Juden, de-
nen einstmals nur eines der fünf Stadtviertel Alexandriens, nämlich
das in seinem östlichen, niedrigeren Teil gelegene, als Wohnsitz zan-
gewiesen worden war, sich unrechtmäßigerweise über d,ie anderen
vier Stadtviertel ausgebreitet hätten, von denen dazu noch eines von
ihnen ganz in Besitz genommen worden sei. Damit war die Mög-
lichkeit gegeben, die Juden aus allen Stadtteilen zu vertreiben, sie
in dem einen freigegebenen Viertel zusammenzupferchen und sie
wie Übertreter des Gesetzes zu behandeln.
So gaben die lokalen Behörden selbst das Zeichen zu einer Ju(-<
denhetze. Die erregte Menge begann nun die jüdischen Häuser in
den „verbotenen“ Straßen sowie die Schiffe der jüdischen Kauf-
leute im Hafen zu zerstören und in Brand zu stecken; das Hab und
Gut wurde geplündert und auf der Stelle brüderlich geteilt. Die Ju-
den, die sich nicht rechtzeitig durch die Flucht gerettet hatten, wur-
den von dem Mob überfallen, gesteinigt oder mit Stöcken mißhan-
delt; viele kamen dabei ums Leben, manche wurden langsam zu Tode
gequält, andere bei lebendigem Leibe in die Flammen der brennen-
den Häuser geworfen. Im ganzen wurden auf diese Weise an 4oo
jüdische Häuser dem Erdboden gleichgemacht.
All diese Greuel und Scheußlichkeiten verübte man ganz offen,
ohne irgendwie auf den Widerstand der römischen Behörden zu
stoßen, die sehr wohl wußten, daß die Juden jetzt vogelfrei seien.
Der Präfekt Flaccus ließ die Plünderer und Mörder nicht nur ge-
währen, sondern ging sogar selbst in unmenschlichster Weise ge-
gen die Vertreter der jüdischen Gemeinschaft vor. Er ließ achtund-
3q2
§ 72. Die Judenhetze in Alexandrien
dreißig Mitglieder der jüdischen Gerusia oder des Gemeinderats ge-
fesselt in das Theater schleppen und vor den Augen der Griechen
in grausamster Weise auspeitschen; ein Teil der gegeißelten Ge-
meindeältesten starb unter den Hieben der Henkersknechte, wäh-
rend andere in schweres Siechtum verfielen. Auf Befehl des Flaccus
drangen die römischen Soldaten auch in jüdische Häuser ein, um
sie nach Waffenvorräten zu durchsuchen, um so allen Versuchen
einer Selbstverteidigung der Juden zuvorzukommen oder um sie einer
politischen Verschwörung bezichtigen zu können. Bei diesen Durch-
suchungen, die ganz ergebnislos verliefen, wurden die Hausbewohner,
namentlich die Frauen, in rohester Weise mißhandelt. Viele wurden
auch gewaltsam zum Genüsse des von den Juden verabscheuten
Schweinefleisches gezwungen. Die alexandrinischen Juden mußten
alle diese Mißhandlungen über sich ergehen lassen, da sie zu bewaff-
neter Selbstwehr nicht gerüstet waren. Die Aufbewahrung von Waf-
fen in Privathäusern war untersagt, und der Widerstand unter einem
Statthalter, der aus einer Stütze der öffentlichen Ordnung zu einem
Genossen der Mordbrenner geworden war, hätte übrigens wohl auch
nichts genützt.
Den verbrecherischen Beamten ereilte indessen bald eine schwere
Strafe. Unmittelbar nach den Geschehnissen in Alexandrien wurde
Flaccus auf Geheiß des Kaisers verhaftet und nach Rom gebracht;
von dort verbannte man ihn nach einer der Ägäischen Inseln, wo er
später auf qualvolle Weise hingerichtet wurde. Flaccus büßte jedoch
nicht seine Mittäterschaft an der alexandrinischen Judenhetze: /seine
Verurteilung war die Folge der kaiserlichen Ungnade, der er seit
langem verfallen war und die ihn trotz seines niedrigen Diensteifers,
den er bei der Verbreitung des Kaiserkultes an den Tag gelegt hatte,
auch weiterhin verfolgte.
Die durch die Hetze auf gepeitschten Leidenschaften kamen nicht
so bald wieder zur Ruhe. Die judenfeindliche Partei in Alexandrien
wühlte aus Leibeskräften, um den Kaiser gegen die Juden aufzusta-
cheln. Noch immer hing über der ruinierten Gemeinde das Damokles-
schwert, denn die Standbilder des Caligula waren aus den Synago-
gen noch nicht entfernt. Noch immer standen die Juden vor dem
Dilemma: eine Gotteslästerung oder eine Majestätsbeleidigung be-
gehen zu müssen. Wollten sie die Frage dem Gewissen gemäß zur Ent-
scheidung bringen, so mußten sie in die gefährliche Lage von Auf-
393
Die Unruhen unter Caligula und der König Agrippa I.
sässigen geraten. Schon nach den ersten Gewalttätigkeiten beschwer-
ten sich die alexandrmischen Juden durch Vermittlung des Agrippa
über die Gesetzwidrigkeiten des Flaccus beim Kaiser, erhielten je-
doch keine Antwort. Da entschlossen sie sich, nach Rom eine Ge-
sandtschaft zu schicken, um beim Kaiser unmittelbar vorstellig zu
werden (im Jahre 4o). An der Spitze dieser Abordnung stand der
Philosoph Philo. Gleichzeitig sandte auch die antijüdische Partei
ihrerseits eine Gesandtschaft nach Rom, um die Juden dort anzu-
schwärzen. An dieser Abordnung beteiligte sich der Anstifter der
Hetze, Isidorus selbst, während ihr Wortführer der griechische
Schriftsteller Apion war, der Verfasser einiger Schmähschriften, die
sich auf den tendenziösen Erdichtungen des Manetho und anderer
griechischer Theoretiker des Judenhasses aufbauten. Auf der einen
Seite der große, auch in der hellenischen Welt rühmlichst bekannte
Philosoph des Judaismus, der die Menschheit zu den erhabenen Idea-
len des Guten und Gerechten auf rief, auf der anderen einer jener
demagogischen Skribenten, die Philo so treffend als ,,Briganten
der Feder“ bezeichnete, — dies waren die Führer der zwei Parteien,
von denen die erste um die Freiheit des Gewissens rang, während
es der anderen um die Freiheit der Vergewaltigung zu tun war.
Nach ihrer Ankunft in Rom versuchten beide Abordnungen, sich
beim Kaiser eine Audienz zu verschaffen. Apion und seine Genos-
sen scheuten keine Intrige. Sie überredeten den Lieblingssklaven des
Caligula, den Ägypter Helikon, den Kaiser in dem ihnen erwünsch-
ten Sinne zu beeinflussen. Dagegen gelang es den jüdischen Abge-
sandten erst nach längeren Bemühungen, vorgelassen zu werden. Die
Audienz fand in einer überaus seltsamen Umgebung statt, um die
Stunde, als der Kaiser in den Gärten einer Villa in der Umgegend
Roms lustwandelte, wo er die zu seinen Ehren angelegten Bauten be-
sichtigte. Hier empfing der Kaiser beide Deputationen zugleich. Als
er die Begrüßung der jüdischen Gesandten vernahm, rief er aus:
„Also ihr seid es, die Gotteslästerer, die mich nicht als einen Goit
anerkennen wollen!“ Die anwesenden judenfeindlichen Abgeordne-
ten beeilten sich zu bestätigen, daß die Juden in der Tat einen Ab-
scheu gegen den Kaiserkultus bekundeten und nicht einmal ihrem
eigenen Gotte für das Wohl des Kaisers opfern wollten. Gegen diese
letzte Beschuldigung legten die jüdischen Gesandten aufs lebhafteste
§ 72. Die Judenhetze in Alexandrien
Verwahrung ein und erklärten, daß in dem Jerusalemer Tempel
Opfer für das Wohlergehen des Kaisers dargebracht würden. „Schon
recht“ — erwiderte Caligula — „allein ihr opfert nur für mein
Wohl, nicht aber mir selbst!“ Darauf kehrte er der Abordnung den
Rücken zu und setzte seinen raschen Gang durch die Gärten fort*
die Villenbauten besichtigend und den Zimmerleuten seine Anwei-
sungen über diese oder jene Einzelheit der Reparatur erteilend. Dann
wandte er sich wieder zu den hinter ihm gehenden jüdischen Ge-
sandten und warf ihnen im Gehen die Frage zu: „Und warum ge-
nießt ihr eigentlich kein Schweinefleisch?“ Apion und seine Ge-
nossen brachen bei dieser Bemerkung in lautes Lachen aus. Hier-
auf sprach Caligula zu den Juden schon in ernsterem Tone: „Ich
will wissen, welche Rechte ihr besitzt und welcher Art eure poli-
tische Verfassung ist.“ Kaum hatte jedoch Philo seine Auseinander-
setzungen begonnen, als der Kaiser die Unterhaltung wieder abbrach
und neuerdings Anordnungen über Reparaturen erteilte. Schließlich
entließ er die jüdische Gesandtschaft und äußerte zu seiner Umge-
bung: „Diese da sind weniger schuldig als des Mitleids wert, denn
sie glauben nicht an meine Göttlichkeit“. So endete diese tragikomi-
sche Auseinandersetzung zwischen dem gekrönten Schwachkopf und
der Abordnung, an deren Spitze der tiefsinnige Denker stand. Die
Abordnung mußte unverrichteter Dinge wieder nach Alexandrien
zurückkehren. Noch in Rom erreichte sie die besorgniserregende
Nachricht, daß Caligula die Aufstellung seines Standbildes im Jeru-
salemer Tempel selbst verlange und daß in Judäa aus diesem Anlaß
eine allgemeine Volkserhebung auszubrechen drohe.
Es war schwer abzusehen, wohin die nationalen Kämpfe in Alex-
andrien des weiteren geführt hätten, wenn nicht das Schwert der Ver-
schwörer die Welt von dem den Caesarenthron schändenden Unge-
heuer erlöst hätte (4i). Der Nachfolger des Caligula, der Kaiser
Claudius, erließ gleich nach seinem Regierungsantritt ein Edikt,
durch welches den alexandrinischen Juden alle ihre früheren Bür-
gerrechte bestätigt und ihre Gemeindeautonomie wie auch ihre reli-
giöse Freiheit wiederhergestellt wurde. Die Hauptanstifter der alex-
andrinischen Judenhetze wurden zur Verantwortung gezogen. Dabei
wurden die gefährlichen griechischen Demagogen Isidorus und Lam-
pon, die die Menge gegen die Juden aufgehetzt hatten, zum Tode
395
Die Unruhen unter Caligula und der König Agrippa I.
verurteilt und hingerichtet1). Philos Bruder, der Alabarch Alexan-
der, der unter Caligula eingekerkert gewesen war, wurde von Clau-
dius befreit und in Amt und Würde wieder eingesetzt. Die Wieder-
herstellung der gesetzlichen Ordnung machte in Alexandrien der
Hetzarbeit ein Ende; der altüberkommene Gegensatz zwischen der
griechischen und jüdischen Bevölkerung in dieser Stadt konnte je-
doch nicht so leicht überwunden werden.
§ 73. Der Befehl des Caligula und die Wirren in Judäa
Während die alexandrinische Gesandtschaft vergeblich in Rom
Hilfe suchte, rief der Befehl des Caligula in Judäa selbst eine schwere
Krise hervor. Die Kunde von dem gotteslästerlichen Befehl versetzte
die Juden in hellen Zorn, noch ehe man Zeit fand, ihn zur Ausfüh-
rung zu bringen. Politisch geknechtet, jedoch auf ihre geistige Frei-
heit stolz, ließen die Juden nicht einmal den Gedanken auf kommen,
daß ihr Heimatland durch Götzenbilder des römischen Despoten ge-
schändet werden könnte. Der Volksprotest setzte in der Stadt Jam-
nia (Jabne) unweit von Jaffa ein, wo eine gemischte heidnische
und jüdische Bevölkerung nebeneinander lebte. Um ihre jüdischen
Mitbürger herauszufordern, errichteten nämlich die judenfeindlichen
Heiden im Zentrum der Stadt einen Altar zu Ehren des Caligula.
Die Juden säumten nicht, den Altar zu zerstören. Der römische-
Stadthauptmann erstattete dem Kaiser von der „Majestätsbeleidigung“
unverzüglich Bericht. Da geriet Caligula außer Fassung und ent-
schloß sich, mit dem geistigen Hochmut der Juden gründlich aufzu-
räumen. So befahl er denn, sein Standbild sofort in dem Jerusale-
mer Tempel selbst aufzustellen. In Voraussicht eines verzweifelten
Widerstandes des Volkes ließ der Kaiser seinen Befehl dem römi-
schen Statthalter in Syrien, Petroriius, zukommen und beorderte
!) Wie aus den im Jahre 1895 aufgefundenen Fragmenten ägyptischer Pa-
pyri in griechischer Sprache zu ersehen ist, verwandelten sich diese geistigen Ur-
heber der Hetze, von denen Isidorus an der Abordnung des Apion teilgenommen
hatte, sehr schnell aus Anklägern in Angeklagte. Sie mußten dem Kaiser Claudius
Rede und Antwort stehen, wobei sie so ausfallend wurden, daß sie schließlich der
Todesstrafe verfielen. Der schadhafte Papyrustext, der im allgemeinen den Be-
richt des Philo über die alexandrinischen Unruhestifter bestätigt, enthält jedoch
weder über den Prozeß in Rom noch über dessen Datum, noch über seine un-
mittelbare Veranlassung genaue Angaben. (Vgl. Anhang, Note 6.)
396
§ 73. Wirren in Judäa
ihn zugleich mit zwei Legionen nach Judäa, um nötigenfalls die
Bevölkerung mit Gewalt zum Gehorsam zu zwingen. Petronius sah
wohl die ganze Sinnlosigkeit und all die Gefahren des kaiserlichen
Vorhabens ein, mußte jedoch dem Selbstherrscher zu Willen sein
(zu Beginn des Jahres 4o).
Als Petronius im Frühjahr in Ptolemais (Akko) eintraf, wurde
er von einer Massendeputation der Juden bestürmt, die ihn anflehte,
den gotteslästerlichen und gesetzwidrigen kaiserlichen Befehl nicht
zur Ausführung zu bringen, da sonst eine allgemeine Volks-
erhebung nicht zu vermeiden sein werde. Der Statthalter erwiderte,
er sei als Bevollmächtigter des Kaisers zur Erfüllung seines Willens
verpflichtet und müsse im Falle eines Widerstandes zu Gewaltmitteln
greifen. Da erklärten die Juden, daß auch sie den festen Entschluß
gefaßt hätten, bis zum Äußersten für die heiligen Gebote zu kämp-
fen. „Nur dann wirst du den Befehl des Caesar zur Ausführung,brin-
gen können — riefen sie aus — wenn kein einziger aus unserem
Volke am Leben geblieben sein wird!“ Die Unbeugsamkeit der Juden
machte Petronius klar, das die Ausführung des Auftrages des Cali-
guln nicht ohne ein fürchterliches Blutvergießen möglich sein würde,
und so entschloß er sich, die Entscheidung wenigstens hinauszuschie-
ben. In einem Schreiben an den Kaiser begründete er in diploma-
tischer Weise die Notwendigkeit des Aufschubs dadurch, daß die
Anfertigung der Statue noch Zeit erfordere und daß es auch Tätlich
wäre, ihre Aufstellung bis nach Beendigung der Ernte in Judäa hin-
auszuzögern, damit die zu gewärtigenden Volksunruhen die Ernte-
arbeiten nicht hinderten. Caligula war über die Saumseligkeit seines
Statthalters sehr aufgebracht und beantwortete sein Schreiben mit
der Ermahnung, er möge sich nun, da die Ernteperiode ihrem Ende
entgegengehe, mit der Ausführung des Auftrages beeilen.
Petronius begab sich darauf aus Ptolemais nach der Hauptstadt
Galiläas, Tiberias, um sich der wahren Stimmung der Bevölkerung
zu vergewissern. Hier wiederholte sich jedoch das gleiche Schau-
spiel wie in Ptolemais. Eine nach vielen Tausenden zählende Volks-
menge umlagerte den Palast des Statthalters und bat ihn noch fle-
hentlicher als zuvor, das Volk nicht zum Äußersten zu treiben und
den Tempel nicht zu entweihen. Nicht weniger als vierzig Tage hiel-
ten die Kundgebungen an. Das Volk unterließ es sogar, die Äcker
zu bestellen, obwohl es nach der Ernte bereits höchste Zeit für die
397
Die Unruhen unter Caligula und der König Agrippa I.
Aussaat war. Das ganze Land glich einem wogenden Meere und bei
dem ersten Versuch, den wahnwitzigen Befehl des Kaisers zur Aus-
führung zu bringen, mußte es zu einer revolutionären Explosion
kommen. Es lebte wieder jene Stimmung aus den Zeiten des Anti-
ochus Epip'hanes auf, als der Jerusalemer Tempel durch das Zeus-
bild entweiht wurde und das Volk sich als Rächer im Namen der
Idee des Einzigen, des Unsichtbaren erhoben hatte . . . Auf die Ge-
fahren der Lage machte Petromius auch noch eine besondere Depu-
tation aufmerksam, die sich aus Vertretern der Jerusalemer Aristo-
kratie und Angehörigen des Agrippa zusammensetzte. Sie bat den
Statthalter, dem Kaiser die überzeugenden Gründe zugunsten einer
völligen Zurückziehung des verhängnisvollen Befehls unterbreiten zu
wollen. Da wagte es Petronius, obwohl er Gefahr lief, sich den Zorn
des Caligula zuzuziehen, ihm zu berichten, daß er sich, infolge des
einmütigen Widerstandes der Juden, nicht dazu entschließen könne,
den kaiserlichen Willen zu erfüllen, da dies zu einem großen Blut-
vergießen und zur Verheerung einer ganzen kaiserlichen Provinz füh-
ren würde. Ohne eine Antwort abzuwarten, führte Petronius inzwi-
schen seine Legionen von Ptolemais nach Antiochia zurück (im
Herbst 4^).
Mittlerweile blieb auch der König Agrippa, um diese Zeit bereits
der Gebieter der beiden Tetrarchien, der des Philippus und der des
Herodes-Antipas, nicht untätig. Er reiste aus Palästina nach Rom,
und als er Caligula äußerst erbittert vorfand, flehte er ihn um die
Zurücknahme des unheilvollen Befehls an. Wider alles Erwarten
wurde der Kaiser schwankend und gab Petronius einen neuen Befehl,
er möge im Jerusalemer Tempel alles beim alten lassen, die Juden
dürften aber niemand daran hindern, außerhalb Jerusalems kaiser-
liche Altäre oder Statuen zu errichten. Dieser Befehl war noch vor
dem Eintreffen der erwähnten Weigerung des Petronius, den ihm
gegebenen Auftrag auszuführen, aus Rom abgegangen. Als jedoch
der wahnwitzige Kaiser, der eben selbst seinen Befehl zurückgenom-
men hatte, den Bericht des Petronius erhielt, geriet er in furchtbaren
Zorn; besonders wütend war er darüber, daß der Statthalter, ohne die
Verfügung des Kaisers abzuwarten, eigenmächtig die Erfüllung des
ihm zuteil gewordenen Auftrages unterlassen hatte. Caligula ver-
urteilte unverzüglich Petronius zum Tode und ließ, nach damaliger
römischer Sitte, dem Verurteilten den Befehl zugehen, sich selbst das
398
§74. Die Regierung Agrippas I.
Leben zu nehmen. Allein die das Todesurteil überbringenden Boten
wurden durch einen Sturm auf dem Meere aufgehalten, und noch
ehe sie in Antiochia angelangt waren, kam die Nachricht von dem
jähen, gewaltsamen Tode Caligulas. Der mit dem Los von Millionen
spielende geisteskranke Despot wurde von Prätorianern, die sich ge-
gen ihn verschworen hatten, gerade in dem Augenblick ermordet, als
er im Begriff war, eine Orientreise zu unternehmen, um die ihm ge-
bührenden göttlichen Ehren zu genießen (Januar, 4i). Damit waren
die Juden von ihren schweren Sorgen befreit, und ihr Beschützer
Petronius von der ihm zugedachten Strafe.
Die Volkssage fügt hinzu, daß kurz vor dem Tode des Caligula,
als die Jerusalemer Bevölkerung noch voller Erregung über den Be-
fehl war, die Kaiserstatue im Tempel aufzustellen, der fromme Prie-
ster Simon eines Tages eine aus den Tiefen des Heiligtums kommende
geheimnisvolle Stimme vernahm: „Aufgehoben ist der Dienst, den
der Feind im Tempel einzuführen gedachte!“ Und gar bald traf die
Nachricht ein: „Cajus Caligula ist ermordet, seine Befehle aufge-
hoben“. Der Tag, an dem die frohe Botschaft eintraf (22. Schebat
— Februar 4i), wurde zu einem Volksfesttag erhoben. Die Nation
feierte den Sieg der geistigen Freiheit über die rohe Gewalt. Dies war
der Triumph der einzigen Nation, die für ihre Idee und ihre Über-
zeugungen zu einer Zeit kämpfte, als alle anderen Nationen des römi-
schen Reiches sich sklavisch vor dem Götzenbild eines Irrsinnigen
beugten.
§ 74. Die Regierung Agrippas I. (Al—UU)
Zu der Zeit, als Caligula ermordet und sein Oheim Claudius von
den Prätorianern zum Kaiser ausgerufen wurde, befand sich Agrippa
noch in Rom. Er trug nicht wenig zur Anerkennung des neuen Kai-
sers durch den Senat bei, indem er durch geschickte diplomatische
Vermittlung die oppositionellen republikanischen Senatoren zu dessen
Gunsten stimmte. Nachdem Claudius zur Macht gelangt war, ver-
säumte er nicht, seinen jüdischen Freund für die ihm erwiesenen
Dienste zu belohnen. Den bisherigen Besitzungen Agrippas, den bei-
den Tetrarchien, gliederte er nun auch das zentrale Judäa (mit Sa-
maria) an, das früher der Gewalt römischer Procuratoren unterstellt
war. So wurde das judäische Reich, nachdem es fünfundvierzig Jahre
399
Die Unruhen unter Caligula und der König Agrippa I.
lang zerstückelt und politisch machtlos gewesen war, nun wieder
unter der Gewalt des mit dem Königstitel ausgestatteten Iierodes-
Agrippa I. vereinigt (4i)- Dem Landbereich nach war nunmehr das
Großjudäa in den Grenzen des Reiches Herodes I. wiederhergestellt.
Dem Besitzstand des neuen Vasallenstaates wurden mit Genehmigung
des Kaisers sogar einige Grenzländer einverleibt, die ehedem von
nicht jüdischen Fürsten regiert worden waren, so zum Beispiel A6i-
lene mit der Hauptstadt Abila bei Damaskus (die frühere Tetrarchie
des Lysanias) wie auch die an das Libanongebirge grenzenden Gebiete.
Für eine kurze Zeit schüttelte Judäa das Joch der unmittelbaren
Fremdherrschaft ab und stellte die Lage, in der es sich in der Epoche
des Protektorats befunden hatte, wieder her. Nach der schweren Be-
drückung durch die römischen Procuratoren und nach den letzten Un-
ruhen unter Caligula atmete das Volk jetzt frei auf. Es war von dem
stolzen Bewußtsein erfüllt, daß es ihm gelungen war, den Anschlag
des mächtigsten aller Monarchen gegen seine religiöse Freiheit zu ver-
eiteln. Zwei Jahrhunderte früher hatten es die heldenhaften Hast-
monäer erreicht, den von dem Fanatiker des Heidentums, Antiochus
Epiphanes, entweihten Tempel zu säubern; nun wurde schon der
Versuch einer Tempelschändung im Keime erstickt. Agrippa, der zu
diesem Triumph der Gerechtigkeit nicht wenig beigetragen hatte,
hatte dadurch beim Volke viel gewonnen. Es war geneigt, in seinem
neuen König nicht einen Herodäer, sondern einen vollbürtigen Has-
monäer zu sehen, den Enkel der edlen Königin Mariamme. Man setzte
große Hoffnungen auf den Vertreter des wiederhergestellten König-
tums, und Agrippa bemühte sich auch seinerseits, sich des Volksver-
trauens würdig zu erweisen. Die schweren Erlebnisse während der
alexandrmischen Judenhetze und der Schreckensherrschaft Galigulas
hatten nämlich eine tiefe Änderung in der Sinnesart des Agrippa zur
Folge. Der ehemalige römische Genießer und politische Abenteurer
verwandelte sich im fünfzigsten Jahre seines Lebens in einen wohl-
wollenden, patriotisch gesinnten Regenten. „Der Herodäer wurde in
ihm von dem Hasmonäer besiegt'‘.
Agrippa begann seine Regierung mit einer Tat der Frömmigkeit.
Die ihm von Caligula bei seiner Befreiung aus dem römischen Kerker
verliehene massive goldene Kette ließ er über dem Eingang der
Schatzkammer des Jerusalemer Tempels aufhängen. Die dem Tem-
pel geweihte Kette sollte ein Andenken an die Wendung jenes Schick-
4oo
§ 74. Die Regierung Agrippas I.
sals sein, das Agrippa zuerst an den Bettelstab und in den Kerker
brachte und ihn dann auf den Thron emporhob. Diese Demut des
in römischem Geiste erzogenen Königs mußte beim Volke großes
Wohlgefallen finden. Besonders gerührt waren die Gesetzestreuen
auch noch dadurch, daß der König nach seiner Ankunft in Jerusa-
lem Dankopfer im Tempel darbrachte und überhaupt alle religiösen
Riten aufs peinlichste befolgte. Die Frömmigkeit des Königs war
übrigens vornehmlich durch politische Erwägungen bestimmt. Agrippa
sah wohl ein, daß er nur dann in Ruhe herrschen werde, wenn er
sich in seiner Regierung auf die im Lande so einflußreiche national-
demokratische Pharisäerpartei stützen könne. Die unter Herodes I.
von der Macht abgedrängten Pharisäer hatten nämlich jetzt von neuem
einen großen Einfluß auf die Staatsverwaltung gewonnen. Das Syn-
hedrion erlangte wieder seine ehemalige politische Bedeutung. Nur
ein einziges geistliches Vorrecht Herodes I. behielt sich auch der
neue König vor: das Recht der Ernennung der Hohepriester. Während
der vierjährigen Regierung Agrippas lösten einander drei Hoheprie-
ster in Jerusalem ab: Simon Kantheras aus dem Boethos-Geschlechte,
Matthias aus dem „Hause des Chanan“ mid Elionaios (der Söhn des
Kantheras oder Kaiaphas).
Agrippa, der sich an das Programm der Pharisäer hielt, wahrte
aufs eifrigste die religiösen Interessen des Volkes. Als einst in der
phönizischen Stadt Dora einige griechische Jünglinge zur Verhöhnung
der dortigen Juden ein Kaiserbild in der Synagoge auf stellten, wandte
sich der empörte Agrippa unverzüglich an seinen Freund, den Statt-
halter von Syrien Petronius, mit der Bitte, dem gesetzwidrigen Trei-
ben Einhalt zu gebieten. Petronius gab auch sogleich Befehl, die*
Statue aus dem Tempel zu entfernen und die Schuldigen zur Rechen-
schaft zu ziehen, wobei er die Verbindlichkeit der kaiserlichen Edikte
über die uneingeschränkte religiöse Freiheit der Juden auch für die
Zukunft bestätigte. Als Agrippa später eine seiner Töchter, Drusilla,
mit Epiphanes, dem Sohne des kleinasiatischen Königs von Kom-
magene, verlobte, stellte er die Bedingung, daß der Bräutigam nach
festgesetztem Ritus zum Judentum übertrete.
Die überlieferten Volkssagen zeugen gleichfalls von der Beschei-
denheit und Gutmütigkeit des Königs Agrippa. So trug er am Som-
merfest Schebuoth, als das Volk Körbe mit Erstlingen in den Tempel
zu bringen pflegte, seine Gaben wie ein gemeiner Mann selbst in den
26 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
4oi
Die Unruhen unter Caligula und der König Agrippa 1.
Tempel. Eine andere Überlieferung berichtet, daß er am Herbstfeste
Sukkoth nach alter Sitte dem im Tempel versammelten Volke aus
dem Deuteronomium vorlas und bei der Stelle: „Du sollst keinen
Fremdling über dich setzen, der nicht dein Bruder!“ (Deuter. 17*
i5) in Tränen ansbrach, weil er sich daran erinnerte, daß er selbst
als Enkel des Herodes edomitischer Abstammung sei. Da rief ihm das
Volk zu: „Sei nicht traurig, Agrippa! Du bist unser Bruder! Du
bist unser Bruder!“1)
Und doch stand Agrippa, der sich aus politischen Erwägungen
auf die Pharisäerpartei stützte, im Grunde seiner Seele dem phari-
säischen Rigorismus durchaus fern. Im Kreise seiner Stammesgenos-
sen leistete er der Form nach allen Anforderungen der Religion und
der nationalen Bräuche Folge, während er in Gesellschaft der Grie-
chen und Römer als freidenkender weltlicher Monarch auftrat. So
ließ er in der syrischen Stadt Berytus (Beirut) ein Theater und ein
Amphitheater errichten und Gladiatorenkämpfe für die eingeborene
heidnische Bevölkerung auf seine Kosten veranstalten. In Caesarea
am Meere besuchte er das Theater und wohnte den öffentlichen
Spielen zu Ehren des Kaisers bei; daselbst waren auch Bildsäulen der
Töchter Agrippas aufgestellt. Die jüdischen Geld- und Denkmünzen,
die zu jener Zeit außerhalb Jerusalems geprägt wurden, waren mit
den Abbildungen des Claudius und des Agrippa und mit einer grie-
chischen Inschrift folgenden Inhalts versehen: „Der große König,
der treue Freund des Caesar und der Freund der Römer“ (Basileus
megas philokaisar eusebes kai philoromaios). All dies zeugt von dem
Bestreben des jüdischen Königs, mit der ihn umgebenden griechisch-
römischen Bevölkerung in Freundschaft zu leben und seine. Vasallen-
treue Rom gegenüber zu bekunden. Allein sein Ziel blieb unerreicht:
der griechischen Bevölkerung von Caesarea und Sebaste-Samaria war
der König wegen seiner inneren nationalistischen Politik verhaßt, und
auch in Rom begann sie Verdacht zu erregen. Bald mußte sich
Agrippa überzeugen, wie wenig die jüdische nationale Politik mit der
Vasallenunterwürfigkeit Rom gegenüber vereinbar war. Er erfreute
sich zwar des ungetrübten Wohlwollens des Kaisers Claudius, wußte
aber aus Erfahrung, wie unbeständig die von den persönlichen Stim-
1) Die alten Überlieferungen der Mischna (Bikkurim, III, 4 u. Sota, VII, 8)
stimmen mit der von Josephus gegebenen Charakteristik des Agrippa völlig über-
ein (Ant. XIX, 6-7).
402
§ 74. Die Regierung Agrippas L
mungen der oft einander ablösenden Kaiser abhängige römische
Freundschaft war. Daher beschloß er, das Land für den Kriegsfall
zu sichern und vor allen Dingen die Schutzvorrichtungen der Haupt-
stadt auszubauen. Zu diesem Zwecke begann er dicke und hoch-
ragende Festungsmauern auf der nördlichen Seite Jerusalems zu er-
richten, wo die bereits vorhandenen Festungsanlagen nur unzuläng-
lich waren. Wäre es ihm gelungen, diese Riesenbauten zu vollenden,
so hätte er damit Jerusalem uneinnehmbar gemacht. Allein der sy-
rische Statthalter Marsus, der Nachfolger des Petronius, erhielt von
dem Unternehmen des Agrippa Kunde und benachrichtigte davon
schriftlich den Kaiser, wobei er darauf hinwies, daß die Befestigung
der jüdischen Hauptstadt indirekt eine Bedrohung der Obergewalt
des Kaisers bedeute. Claudius gab nun Agrippa den Befehl, die be-
gonnenen Befestigungsarbeiten unverzüglich einzustellen, und der jü-
dische König mußte gehorchen.
Darauf suchte Agrippa andere Mittel, um Judäa gegen politische
Zufälle zu sichern und machte zu diesem Zwecke den Versuch, mit
den benachbarten Kleinfürsten, die gleich ihm Vasallen Roms waren,
in nähere Beziehungen zu treten. So lud er einst verschiedene Kö-
nige und Fürsten nach Tiberias ein: Antiochus von Kommagene,
Sampsigeran von Emesa, Polemon von Pontus, Kotys von Klein-
Armenien und Herodes von Chalkis (Bruder des Agrippa). D(e ver-
sammelten römischen Vasallen scheinen sich nicht nur mit einer
Tischunterhaltung begnügt zu haben, sondern führten wohl auch
politische Unterhandlungen miteinander, vielleicht über ein Schutz-
bündnis gegen äen gemeinsamen Souverän. Da kam* aber während
der Beratung ganz plötzlich der syrische Statthalter Marsus nach Ti-
berias, dem dieser freundschaftliche Verkehr der Rom Untertanen
Fürsten verdächtig erschienen war, und hieß die fremdländischen
Gäste unverzüglich nach Hause gehen. Agrippa war über das brutale
Eingreifen des Statthalters sehr empört, mußte sich aber damit ab-
finden.
Aber auch der eingeschränkten Unabhängigkeit sollten sich die
Juden nicht lange erfreuen. Die Tage des Königs Agrippa waren ge-
zählt. Einst, als der König in Caesarea zu Besuch weilte, traf in Je-
rusalem die traurige Kunde von seinem plötzlichen Tode ein (im
Jahre 44). Über die Begleitumstände seines Todes wird folgendes
erzählt: Anläßlich irgend eines Festes zu Ehren des Kaisers wohnte
26*
4o3
Die Unruhen unter Caligula und der König Agrippa I.
Agrippa in Caesarea den öffentlichen Spielen bei. Als er im Theater
in einem prachtvollen silbergewirkten Gewände erschien, begann seine
Umgebung ihn zu verherrlichen und, in Nachahmung des römischen
„Caesarenkultes“, ihn schmeichlerisch mit „Gott‘ anzureden. Plötz-
lich empfand er heftige Schmerzen „in den Eingeweiden“ und sagte
nun scherzend zu seiner Umgebung, jetzt müsse auch der das Leben
lassen, den man eben einen unsterblichen Gott nannte. Nach einem
fünftägigen qualvollen Leiden wurde er auch tatsächlich vom Tode
ereilt1). Sein jähes Hinscheiden wurde in Jerusalem bitterlich be-
weint, während die Heiden in Caesarea das Ableben des judäischen
Königs durch fröhliche Gelage und Opfer in ihren Götzentempeln
feierten. Die römischen Soldaten schleppten die Standbilder der Töch-
ter Agrippas in ein Freudenhaus und verspotteten sie in rohester
Weise, worauf sie auf dem öffentlichen Platz in Caesarea ein zügel-
loses Trinkgelage veranstalteten.
So endete die vierjährige Regierung Agrippas I., diese kurze, un-
getrübte Zeit der Abenddämmerung des jüdischen Staatslebens. Für
einen flüchtigen Augenblick heiterte sich der mit schweren Wolken
bedeckte Himmel auf, das zauberische Spiel des scheidenden Tages
vergoldete seinen Horizont und erweckte in den Geistern die lichten
Träume der Wiedergeburt; aber schon war der letzte Schimmer der
Abendröte erloschen, und die Nacht brach über das Land herein,
finster, stürmisch, unheilschwanger . . .
1) Mit dieser Erzählung des Josephus (Ant. XIX, 8, 2) stimmt im wesentlichen
die Sage in der Apostelgeschichte (12, 19—23) überein, in der Agrippa I. unter
dem königlichen ^Familiennamen Herodes auf tritt.
4o4
Drittes Kapitel
Die römischen Procuratoren und die
Y olkserhebung
(44-66)
§75. Die Nachfolger Agrippas I. und die neuen Procuratoren
König Agrippa I. hinterließ einen einzigen Sohn, Agrippa II.,
und drei Töchter: Berenike, Mariamme und Drusilla. Außerdem lebte
noch sein Bruder, der obenerwähnte Herodes von Ckalkis, dem Kai-
ser Claudius das kleine Fürstentum Chalkis mitten im Libanonge-
birge als Lehen verliehen hatte. Es war dies derselbe Fürst, der sich
an der von Agrippa nach Tiberias einberufenen Versammlung der
römischen Vasallen beteiligt hatte. Herodes von Chalkis hatte in zwei-
ter Ehe die Tochter seines Bruders, Berenike, zur Frau, die durch
ihre Schönheit berühmt war und in dem weiteren Verlauf der ge-
schichtlichen Ereignisse in Judäa eine nicht unbedeutende Rolle
spielte.
Als Agrippa I. aus dem Leben schied, befand sich sein einziger
Sohn, ein siebzehnjähriger Jüngling, in Rom, wo er gleich der Mehr-
zahl der herodianischen Prinzen seine Erziehung genoß. Kaiser Clau-
dius hatte die Absicht, Gewalt und Würde seines Vaters dem jungen
Agrippa zu übergeben; einflußreiche Hofleute hielten jedoch den
Kaiser von seinem Vorhaben zurück, indem sie ihn davon überzeug-
ten, daß es zu gewagt sei, einem unerfahrenen Jüngling die Verwal-
tung einer so unruhigen Provinz: wie Judäa anzuvertrauen. Auch die
von Agrippa vor seinem Tode eingeleiteten patriotischen Unterneh-
mungen mochten das Mißtrauen des Kaisers gegen den Sohn wie ge-
gen die Dynastie der jüdischen Herrscher überhaupt nur verstärkt
haben. Es wurde daher beschlossen, das ganze Reich Agrippas I.,
also nicht nur Zentraljudäa und Samaria, sondern auch die ehemali-
4o5
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
gen Tetrarchien Galiläa und Trans jordanien, der Verwaltung der rö-
mischen Procuratoren zu unterstellen (44)« Nur dem Bruder des ver-
storbenen Königs, Herodes von Chalkis, wurde das Recht der Ernen-
nung von Hohepriestern und das der Aufsicht über den Jerusalemer
Tempel belassen, ein Recht, dem übrigens unter dem Regime der rö-
mischen Statthalter keine politische Bedeutung beizumessen war.
Nicht leicht für das Volk war dieser endgültige Übergang von
der politischen Autonomie zu der Verwaltung der römischen „Vormün-
der“. Die fremdländische Herrschaft, die sich jetzt über ein größeres
Gebiet als früher erstreckte, nämlich den ganzen Landbereich des
judäischen Staates zu beiden Seiten des Jordan umfaßte, wurde nun-
mehr auch ihrer ganzen Art und Weise nach drückender. Die neuen
römischen Procuratoren, die nach Agrippa das Land in ihre Gewalt
bekommen hatten, waren mit seltenen Ausnahmen rohe, habgierige
und dem Judentum feindselig gesinnte Männer. Noch weniger als
ihre Vorgänger waren diese Beamten geneigt, das nationale Empfin-
den und die eigenartige Lebensweise der jüdischen Bevölkerung zu
schonen. Die „Unbescheidenheit“ des Volkes sowie seine Empfind-
lichkeit gegenüber jedem Versuch, in sein inneres Leben einzudrin-
gen, reizte sie, und sie hatten sich gleichsam das Ziel gesteckt, seine
Selbstbeherrschung auf die Probe zu stellen. Schon der erste Pro-
cura tor aus dieser neuen Reihe, Cuspius Fadus, der von Claudius
mit in versöhnlichem Geiste gehaltenen Instruktionen nach Judäa
geschickt worden war, nahm sofort den ihm Untergebenen gegenüber
eine feindliche Stellung ein. Er hatte, unter anderem, den Auftrag
bekommen, die heidnischen Einwohner von Caesarea und die dortige
Garnison wegen der dem Andenken des verstorbenen Königs Agrippa
in den Tagen der Volkstrauer angetanen Schmach zu bestrafen;
der Auftrag wurde jedoch nicht zur Ausführung gebracht, da es den
Schuldigen gelungen war, durch ihre Boten den Zorn des Claudius
zu beschwichtigen und eine Amnestie zu erwirken. Bald versetzte
Fadus das Volk dadurch in Erregung, daß er eine für das jüdische
nationale Empfinden überaus verletzende Maßnahme traf. Er ver-
suchte nämlich, sich als Symbol seiner Macht das Recht zu nehmen,
das Festgewand des Jerusalemer Hohepriesters in der Burg Antonia,
unter Aufsicht der römischen Besatzung, zu verwahren,; jenes Recht,
das einstmals die ersten Procuratoren an sich gerissen hatten und
§75. Die Nachfolger Agrippas I.
das dann durch den syrischen Statthalter Vitellius wieder abgeschafft
worden war (§ 69). Die Forderung des Fadus, ihm den Ornat her-
auszugeben, erging an die Vertreter der jüdischen Priesterschaft
gerade zu der Zeit, als sich in Jerusalem der syrische Statthalter
Longinus mit seinem Heere befand. Die Vertreter der Priesterschaft
baten nun Fadus und Longinus, die Erfüllung der Forderung auf-
schieben zu dürfen, da sie eine Gesandtschaft zu dem Kaiser Claudius
schicken wollten mit der Bitte, den Ornat auch fernerhin in der Ob-
hut der Tempelpriesterschaft zu belassen. Der Aufschub wurde ge-
währt, und die Gesandten reisten nach Rom. Der zu jener Zeit in
Rom weilende Agrippa II. unterstützte das Anliegen der jüdischen
Abgeordneten, und so befahl denn Claudius dem Procurator, sich in
die religiösen Angelegenheiten des Volkes nicht weiter zu mischen.
Die römischen „Vormünder“ besaßen jedoch weitgehende Macht-
befugnisse in jener Sphäre, wo die religiösen Dinge sich mit den po-
litischen berührten. Den Ausbruch von Revolten befürchtend, behielt
Fadus alle Regungen des Volkes scharf im Auge. In dem Lande, das
soviel Krisen überstanden hatte, verbreiteten sich um jene Zeit mit
Leichtigkeit messianische Hoffnungen, die in den niederen Volks-
schichten den Traum von einer übernatürlichen Erlösung von dem
römischen Joche nährten. So gelang es einem Schwärmer namens
Theuda, eine Schar Leichtgläubiger mit sich zum Jordan zu zie-
hen, wo er ihnen ein Wunder zu zeigen versprach. Er wollte nämlich
die Fluten des Jordan teilen und den Juden den Durchgang durch
den Fluß ermöglichen; dabei glaubte man anscheinend, daß die
Fluten sich wieder schließen und die Römer, falls sie den Juden
nachsetzen wollten, verschlingen würden, ganz so, wie es ehemals
den Ägyptern am Roten Meere geschehen war; darauf würde dann
die politische Erlösung der Nation erfolgen. Das Werben des Pro-
pheten drohte eine revolutionäre Gärung hervorzurufen, und so be-
eilte sich Fadus, außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen. Er
sandte gegen die Anhänger des Propheten eine Reiterabteilung aus*
die sie jählings überfiel, viele niedermachte und viele andere gefanr
gen nahm. Auch Theuda selbst wurde ergriffen. Man hieb ihm den
Kopf ab, der als eine Siegestrophäe nach Jerusalem gebracht
wurde1).
-*-) Neben der Hauptquelle (Ant. XX, 5, i) tut dieses Pseudo-Messias auch die
Apostelgeschichte (5, 36) flüchtig Erwähnung.
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
Nach Fadus, dessen Verwaltung nur von kurzer Dauer war,
kam nach Judäa, gleichfalls nur für kurze Zeit, Tiberius-Alexander
aus Alexandrien als Procurator (46—48). Ein Neffe des jüdischen
Philosophen Philo (ein Sohn seines Bruders, des Alabarchen Alex-
ander, § 72), sagte er sich von der jüdischen Religion los und trat
in römische Dienste. Als ein in das Lager der Mächtigeren überge-
laufener Renegat gab er sich alle Mühe, bei der Verfolgung der jü-
dischen Patrioten seinen Diensteifer den Römern gegenüber zu be-
zeugen. So ließ er die beiden Söhne des heldenmütigen Zeloten Juda
Galiläus, der an der Spitze der revolutionären .Bewegung zur Zeit
des römischen „Census“ (§ 68) gestanden hatte, festnehmen und
ans Kreuz schlagen; die Söhne Judais, Jakob und Simon, die das
zelotische Heldenwerk ihres Vaters fortsetzten, mußten ihr Helden-
tum mit dem Leben büßen. Die römische Regierung wußte den
Diensteifer des Renegaten voll zu würdigen: er erhielt den hohen
Posten eines Statthalters oder „Präfekten“ in, Alexandrien und wurde
später, während der Belagerung Jerusalems, dem römischen Haupt-
quartier zugeteilt.
Um diese Zeit starb Herodes von Chalkis (48). Der Kaiser
übergab sein winziges Fürstentum seinem Neffen Agrippa II. Zu-
gleich erhielt er auch das seinem Oheim zuerkannte Recht, die Hoher
priester zu ernennen und die Oberaufsicht über den Jerusalemer
Tempel zu führen.
§ 76. Die Zusammenstöße unter dem Procurator Cumanus
Der neue Procurator Cumanus (48—52) eröffnete die Reihe jener
Beamten, die durch ihr herausforderndes Benehmen, ihr gesetzwidri-
ges Handeln und schon allein durch ihre unverhohlene Feindseligkeit
gegenüber den ihnen Untergebenen das Volk reizten und den Boden
für einen Aufstand vorbereiteten. Namentlich empörte die Juden die
Gepflogenheit der Procuratoren, an feierlichen Tagen, wenn Jerusa-
lem und der Tempel von Wallfahrern aus allen Enden des Landes
überfüllt war, bewaffnete römische Soldaten in den Säulengängen
des Tempels aufzustellen. Es geschah dies allerdings nur zur Verhü-
tung von Tumulten und romfeindlichen Kundgebungen; wie mag es
aber den jüdischen Patrioten zumute gewesen sein, als sie dieses leib-
haftigen Sinnbilds des fremden Joches an den nationalen Feiertagen,
§ 76. Die Zusammenstöße unter dem Procurator Cumanus
insbesondere an dem großen Feste der Befreiung, am Passahfeste,
gewahr werden mußten 1 Das Ärgernis wurde dadurch noch größer,
daß die heidnischen Soldaten, denen der jüdische Kultus befremdend
oder gar lächerlich erscheinen mochte, sich an der geweihten Stätte
nicht immer mit der gehörigen Ehrerbietung benahmen und zuweilen
das religiöse Empfinden der Juden sogar gröblich verletzten. So spielte
sich unter Cumanus folgender Vorfall ab. An einem der Passahfest-
tage kehrte einer der am Tempel Wache stehenden Soldaten dem im
Tempel versammelten Volke mit einer unanständigen Gebärde den
Rücken zu. Der Unfug rief die Erregung des Volkes hervor. Die all-
gemeine Entrüstung machte sich in lauten Drohrufen gegen die Rö-
mer und den Procurator Luft. Man verlangte von Cumanus die Be-
strafung des mutwilligen Soldaten; statt dessen ersuchte Cumanus
die Juden, sich zu beruhigen. Da begann die erregte Menge die rö-
mischen Soldaten mit Steinen zu bewerfen. Cumanus seinerseits zog
Hilfstruppen heran. Als dann die Soldaten über die wehrlose Menge
herfielen, flüchtete diese in die an den Tempel anstoßenden engen
und krummen Gassen. Es entstand ein fürchterliches Gedränge, und
Tausende von Juden wurden auf den Straßen erdrückt. Viele Familien
mußten ihre umgekommenen Angehörigen beweinen, und so verwan-
delte sich der Festtag in einen Tag großer Trauer.
Die mit Waffengewalt in Jerusalem unterdrückte Volksempörung
gegen die Römer brach sich indessen in einer Reihe gewaltsamer
Handlungen an anderen Orten Bahn. So überfiel ein Haufe von Ju-
den in der Nähe von Jerusalem den seines Weges ziehenden kaiser-
lichen Beamten Stephanus und plünderte ihn aus. Cumanus sandte
darauf eine Truppenabteilung dorthin mit dem Befehl, zur Strafe für
die unterlassene Festnahme der Schuldigen die dem Tatort zunächst
liegenden Dörfer zu verheeren. Während der Exekution fand ein rö-
mischer Soldat in einem der Dörfer eine Rolle der Heiligen Schrift
und scheute sich nicht, sie in Stücke zu reißen, sie vor aller Augenj
zu verspotten und sodann ins Feuer zu werfen. Die durch die Got-
teslästerung tief erschütterte Menge der Juden eilte nach Caesarea und
forderte von Cumanus Genugtuung. Diesmal fand es der Procurator für
ratsam, zur Vermeidung drohenden Unheils den Forderungen der
Protestierenden Genüge zu tun, und er verhängte über den schuldigen
Soldaten das Todesurteil.
Viel traurigere Folgen zeitigte ein dritter Zusammenstoß während
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
der Amtsdauer des Gumanus. Eine zu den Festtagen nach Jerusalem
ziehende Schar galiläischer Wallfahrer, die ihren Weg durch den
Bezirk von Samaria genommen hatte, wurde in einem samaritanischen
Dorfe überfallen, wobei einer der Pilger ermordet wurde. Die Juden
beschwerten sich darüber bei Cumanus, doch unternahm dieser, von
den Samaritanern bestochen, nichts zur Bestrafung der Schuldigen.
Da griff das Volk zur Selbstrache. Es erhob sich eine Schar von
Zeloten unter Anführung des tapferen Eleasar ben Dinai. Die Zeloten
durchzogen den Bezirk von Samaria und verheerten viele Dörfer. Jetzt
setzte sich Cumanus für die Samaritaner ein: er führte sein Heer
gegen die Zeloten und zerstreute sie, wobei viele der Insurgenten
getötet und viele gefangen genommen wurden.
Die Vorzeichen der herannahenden Volkserhebung waren nicht
mehr zu verkennen. Um die Katastrophe zu verhüten, überredeten die
Vertreter der jüdischen Aristokratie die Zeloten, die Waffen aus der
Hand zu legen und ihr Recht nur auf gesetzlichem Wege wahrzuneh-
men. Zwei Abordnungen begaben sich darauf zu dem Hauptstatthalter
Syriens, Quadratus: eine der Juden, die über die Gewalttaten der Sa-
maritaner und über die Willkürherrschaft des Cumanus Klage führ-
ten, und eine andere der Samaritaner, die gegen die von der Krieger-
schar des Eleasar an ihnen verübte Lynchjustiz Protest erhoben. Qua-
dratus traf in Samaria ein, um hier Gericht zu halten. Die von Cu-
manus ergriffenen Zeloten befahl er ans Kreuz zu schlagen, die
Schlichtung des Streites zwischen den Juden und Samaritanern über-
ließ er jedoch, nachdem er die Meuterer bestraft hatte, dem Kaiser
selbst. Auf Geheiß des Quadratus begaben sich darauf Vertreter der
Jerusalemer Aristokratie mit dem Hohepriester Jonathan an der Spitze
nach Rom; dorthin mußten auch die Abgeordneten der Samaritaner
zusammen mit Cumanus kommen, um sich vor dem Kaiser zu ver-
antworten.
Kaiser Claudius hörte beide Parteien an. Die den Juden feindlich
gesinnten Hofleute traten eifrigst für Cumanus und die Samaritaner
ein, jedoch ließ auch der in Rom anwesende Agrippa II. seine Stam-
mesgenossen nicht in Stich. Durch die Vermittlung der Kaiserin Agrip-
pina gelang es ihm, Claudius zu bestimmen, die Angelegenheit in aller
Unvoreingenommenheit zu prüfen und die wahren Urheber der Wir-
ren zu bestrafen. Die Entscheidung des Kaisers lautete nun dahin,
daß drei der vornehmsten Samaritaner hingerichtet werden sollten,
§ 77. Die Procuratoren Felix und Festus
während Gumanus seines Amtes zu entheben und in die Verbannung
zu schicken sei. Durch diese Entscheidung ward die Tatsache erhär-
tet, daß der Procurator sich in Judäa Gesetzesverletzungen und Ge-
waltmaßnahmen hatte zu Schulden kommen lassen und daß die Ju-
den nur in Notwehr zu den Waffen gegriffen hatten. Trotz alledem
blieb auch unter den nachfolgenden römischen Procuratoren das
gleiche Regime bestehen.
§77. Die Procuratoren Felix und Festus
Zum Nachfolger des Cumanus wurde Antonius Felix ernannt (52
bis 6o), ein Freigelassener des kaiserlichen Hauses, ein Bruder des
bekannten Pallas, des einflußreichen Hofmannes unter Claudius. Man
erzählte, der Hohepriester Jonathan, der Führer der erwähnten Je-
rusalemer Abordnung, hätte selbst den Kaiser um die Ernennung des
Felix an Stelle des verhaßten Cumanus gebeten. Hatte der jüdische
Hierarch dabei das Wohl seiner Heimat im Auge gehabt, so sollte er
in seinen Erwartungen arg getäuscht werden, denn Felix erwies sich
als noch schlimmer als sein Vorgänger. Kam es unter Cumanus nur zu
vereinzelten Zusammenstößen der jüdischen Patrioten mit den römi-
schen Gewalthabern, so wurden sie unter dem neuen Procurator eine
nahezu alltägliche Erscheinung. „In aller Grausamkeit und Lüstern-
heit“ — sagt über ihn der Geschichtsschreiber Tacitus — „hat er
königliches Recht mit sklavischer Sinnesart gehandhabt“ (jus regium
servili ingenio exercuit). Auf die mächtige Unterstützung seines Bru-
ders vertrauend, glaubte dieser dem Stande der Freigelassenen ent-
stammende Procurator, in der ihm anvertrauten Provinz jeden Miß-
brauch der Gewalt und jede Verletzung der Gesetze ungestraft ver-
üben zu dürfen. Das Verhalten des Felix mochte auch der Umstand
beeinflußt haben, daß im dritten Jahre seiner Verwaltung der im
Rufe eines Judengönners stehende Kaiser Claudius gestorben war und
(im J. 54) Nero den Thron bestiegen hatte, der den Autonomiebestre-
bungen des jüdischen Volkes durchaus feindselig gegenüberstand.
Die Beziehungen des neuen Statthalters zu dem Volke wurden
auch dann nicht besser, als er sich mit einer Jüdin vermählte. Bald
nach seiner Ankunft in Judäa entbrannte nämlich Felix in Liebe zu
Drusilla, der Tochter Agrippas I. Die schöne Prinzessin war bereits
mit dem König Azizus von Emesa vermählt, der um ihretwillen sogar
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
das jüdische Gesetz angenommen hatte. (Die Ehe Drusillas mit ihrem
ersten Bräutigam, dem Königssohn von Kommagene, war nicht zu-
stande gekommen, da er sein Versprechen, zum Judentum überzutre-
ten, nicht gehalten hatte; oben, § 74.) Den leidenschaftlich verlieb-
ten Felix kümmerte dies jedoch nur wenig, und bald gelang es ihm,
durch die Vermittlung irgendeines „Magiers“, Simons aus Cypern, die
jüdische Schöne, die der angestammten jüdischen Tugenden entbehrte,
zu verführen. Drusilla wurde sowohl ihrem Manne als auch der Re-
ligion ihrer Väter untreu und scheute sich nicht, den Römer, den Be-
drücker ihrer Heimat, zu heiraten1). Zu der Treulosigkeit gegen Fa-
milie und Religion gesellte sich noch der Verrat an der Nation.
Indem sich Felix die Unterdrückung der revolutionären Gärung
zum Ziele setzte, verfolgte er erbarmungslos besonders jene an der
Freiheitsbewegung sich aktiv beteiligenden Patrioten, die beim Volke
„Eiferer“, Zeloten, bei den Römern aber „Räuber“ hießen. Wo Fe-
lix mit Gewalt nichts durchzusetzen vermochte, da griff er zur List.
So lockte er durch die Zusicherung völliger Unantastbarkeit den Ze-
lotenführer Eleasar ben Dinai in eine Falle und ließ ihn gefesselt
nach Rom bringen. Das gleiche Los traf auch viele Mitstreiter des
Eleasar. Nicht wenige der Zeloten wurden gekreuzigt; die der Sym-
pathie für die Freiheitsbewegung überführten Bürger mußten die här-
testen Strafen erleiden.
So geschah denn das, was so oft die Folge gewaltsamer Unter-
drückung der elementaren sozialen Kräfte ist: die Freiheitsbewegung
verwandelte sich in einen Terrorismus. Die extremen Elemente der
Zeloten bildeten in Jerusalem die geheime Fraktion der Sikarier oder
„Dolchfreunde“, die durch einzelne Mordtaten sich sowohl an den
Römern, als auch an ihren politischen Widersachern aus der Mitte
des eigenen Volkes zu rächen suchten. Die Sikarier pflegten unter
ihrem Oberkleide kurze Dolche (die römische „Sica“) zu tragen und
sich gelegentlich großer Volksansammlungen unter die Menge zu mi-
schen, um diejenigen, die ihnen als Feinde des Vaterlandes galten,
niederzustoßen. Gewöhnlich taten sie dies an Feiertagen auf dem Tem-
pelplatze, wo die Mörder meistenteils unentdeckt bleiben konnten, da
sie im Gedränge rasch verschwanden und heuchlerischerweise mit den
anderen sich über die verübte Mordtat entrüsteten. Die „Heldentaten“
der Sikarier lösten in der Bevölkerung eine Panik aus: nicht allein die
■*■) Diese Ehe (Ant. XX, 7, 2) erwähnt auch die Apostelgeschichte 2 4, 2 4*
4l2
§ 77. Die Procuratoren Felix und Festus
Parteigänger der römischen Gewalt, sondern auch die gemäßigten Pa-
trioten, die sich nur widerwillig mit den Verhältnissen abgefunden
hatten, waren ihres Lebens nicht mehr sicher. Den Sikariern fiel un-
ter anderen auch der Hohepriester Jonathan zum Opfer, dem es die
Zeloten nicht verzeihen konnten, daß er seinerzeit in Rom die Ernen-
nung des Felix zum Procurator betrieben hatte. In dem Bewußtsein
seiner Verantwortung vor dem Volke warf Jonathan Felix oft seine
gesetzwidrige Handlungsweise vor, wodurch er, ohne die Sikarier mit
sich auszusöhnen, nur den Statthalter gegen sich aufbrachte. Um die
Vormundschaft des Hohepriesters los zu werden, scheute sich Felix
nicht, sich diesmal mit den Sikariern ins Einvernehmen zu setzen,
und Jonathan wurde bald von einem Meuchelmörder erdolcht. So
wurde die Partei des Terrorismus zum Werkzeug gerade jenes Des-
potismus, dessen Ausrottung ihr eigentliches Ziel war.
Mit dem politischen Fanatismus ging die religiöse Phantasterei
Hand in Hand. Es tauchten exaltierte „Propheten“ oder „Messiasse“
auf, die das gemeine Volk glauben machten, daß sie von Gott selbst
berufen seien, das jüdische Volk von all seiner Drangsal zu erlösen.
Diese Schwärmer oder gar Geisteskranken riefen das Volk in die
Wüste, gelobten, Wunderzeichen zu vollbringen und die Befreiung
Israels zu beschleunigen. Einer dieser Propheten, der aus Ägypten
gekommen war, versammelte um sich in der Wüste einige tausend
Juden, rückte mit ihnen gen Jerusalem vor und lagerte sich hier in
der Nähe der Stadt auf dem Ölberge. Nun begann er seine Anhänger
anzufeuern, in die Stadtburg einzubrechen und die römische Besatzung
zu überwältigen, wobei er verhieß, daß die Festungsmauern bei ihrem
Herannahen in wunderbarer Weise einstürzen würden. Jedoch ehe
noch die Menge Zeit hatte, die Wahrheit dieser Prophezeiung auf die
Probe zu stellen, wurde sie von der Stadt aus von Felix überfallen und
gänzlich auf gerieben. Viele von den Jüngern des „ägyptischen Pro-
pheten“ mußten für ihre Leichtgläubigkeit mit dem Leben büßen.
Dem Propheten selbst gelang es, zu entkommen1).
Die feindseligen Beziehungen zwischen der römischen Verwaltung
1) Eine Parallele zu dem Berichte in Ant. XX, 8, 6 und Bell. II, i3, 5 findet
sich in der Apostelgeschichte 21, 38, wo von einem „Ägypter, der vor kurzem
einen Aufruhr gemacht hat und 4ooo Sikarier in die Wüste hinausführte“, die
Rede ist. In Bell, wird die Zahl der Anhänger des Ägypters auf 3oooo veran-
schlagt.
4i3
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
und der jüdischen Bevölkerung spornten die in Palästina ansässigen
syrischen Griechen und Römer ebenfalls zu Gewalttaten gegen die
Juden an. In dem von einer gemischten Bevölkerung besiedelten Cae-
sarea am Meere, der Residenz des römischen Procurators, kam es zu
einem offenen Bürgerzwist. Die Streitigkeiten entstanden hier zwi-
schen den Juden und Syrern wegen der bürgerlichen Gleichberechti-
gung („isopoliteia“). Gleich ihren Stammesgenossen in Alexandrien,
begannen auch die Griechen in Caesarea das Bürgerrecht der Juden
in dieser Stadt der Caesaren in Zweifel zu ziehen, indem sie sich dar-
auf beriefen, daß ehemals, als der Ort noch Stratonsturm hieß, hier
überhaupt noch keine Juden anzutreffen waren. Die jüdische Bevöl-
kerung setzte sich, was nur zu natürlich war, gegen diese frechen
Ansprüche der Fremdländischen, die die Rechte der Juden in ihrem
eigenen jüdischen Landbereich zu beeinträchtigen trachteten, zur
Wehr. Schließlich wurde der Streit auf die Straße hinausgetragen.
Es kam zu gegenseitigen öffentlichen Beleidigungen und dann auch
zu Massenkämpfen in den Straßen, bei denen die Parteien einander
mit Steinen bewarfen. Als nun bei einem dieser Zusammenstöße, in
dem es beiderseits viele Verwundete und Tote gab, die Juden schließ-
lich im Vorteil blieben, griff der Procurator Felix in die ganze An-
gelegenheit ein und verlangte von den Juden, daß sie der Zwietracht
ein Ende machen und ihre Ansprüche auf geben sollten. Da seine For-
derung jedoch unerfüllt blieb, befahl der Procurator seinen Soldaten,
der jüdischen Bevölkerung Caesareas eine gründliche Lehre zu ertei-
len. Die Soldaten, die ihrer Abstammung nach Syrer waren, säumten
denn auch nicht, die Häuser der wohlhabendsten Juden in der Stadt
zu plündern, wobei deren Bewohner mißhandelt oder verhaftet wur-
den. Erst nach dieser eigenmächtigen Züchtigung beschloß Felix, den
Rechtsstreit in Caesarea dem Kaiser Nero zur Entscheidung zu un-
terbreiten. Zu diesem Ende schickte er Vertreter beider Bevölkerungs-
teile nach Rom. Ehe jedoch die Angelegenheit vor die allerhöchste
Instanz gekommen war, wurde Felix aus Judäa abberufen. Zu seinem
Nachfolger ernannte Nero Porcius Festus (um 60—63).
Die inzwischen in Rom angelangte Abordnung der Juden von Cae-
sarea hielt indessen mit ihren Beschuldigungen gegen Felix nicht zu-
rück. Der abberufene Procurator hätte sicherlich für seinen Amts-
mißbrauch büßen müssen, wenn sich sein bei Hofe so mächtiger Bru-
der Pallas nicht für ihn ins Zeug gelegt hätte. Gegen die Hofclique
4i4
§ 77. Die Procuratoren Felix und Festus
konnten jedoch die Juden nicht durchdringen und so gelang es ihnen
nicht, sich in ihrem Rechtsstreit mit den Griechen gesetzliche Genug-
tuung zu verschaffen. Vielmehr war es den letzteren gelungen, durch
reichliche Bestechung den griechischen Sekretär des Nero für sich
zu gewinnen und einen kaiserlichen Erlaß zu ihren Gunsten zu er-
wirken. Darin bestimmte Nero, daß die „Hellenen“ als die Herren
in Caesarea und als dessen vollberechtigte Bürger zu gelten hätten,
während den jüdischen Einwohnern die bürgerliche Gleichberechti-
gung abzusprechen sei. Dieser ungeheuerliche Erlaß, dem zufolge die
angestammte Bevölkerung in eine ungünstigere Lage versetzt wurde
als die fremdländische, rief im Volke äußerste Erbitterung hervor.
Einige Jahre später bildete gerade der Streit von Caesarea einen der
unmittelbaren Anlässe, die die offene Erhebung gegen den römischen
Despotismus herbeiführten.
Unter solchen Umständen mußte die revolutionäre Gärung in Ju-
däa auch unter Festus weiter um sich greifen, obwohl er selbst kein
Gewaltmensch von der Art seines Amtsvorgängers war. Die Sikarier
trieben auch fernerhin ihr terroristisches Werk, ihrem Prinzipe ge-
treu, daß jene Juden, die sich gegen das römische Joch nicht auf-
lehnten und ihre Erbitterung nicht in ihrer Handlungsweise zum Aus-
druck brachten, zum Kampfe für die Volksfreiheit gezwungen
werden sollten. So verfolgten sie ohne Nachsicht die „Gemäßigten“
und die „Friedfertigen“ aus den höheren und den mittleren Schich-
ten der Jerusalemer Gesellschaft. Zuweilen überfielen sie auch die
Dörfer, deren Einwohnerschaft sich weigerte, sich den revolutionären
Scharen anzuschließen, plünderten sie und legten sie in Asche. Die
„Propheten“ und die Pseudo-Messiasse ließen ebenfalls von ihrer
Agitation unter dem gemeinen Volke nicht ab. Der Procurator Festus
ging allerdings gegen die agitierenden Volksredner in strengster Weise
vor, doch blieben seine Bemühungen erfolglos. Überdies hatte Festus,
gleich seinem Vorgänger Felix, auch die im Lande immer weiter um
sich greifende christliche Propaganda zu bekämpfen. Sie beide hiel-
ten den Apostel Paulus in Haft und unterzogen ihn mehrmals einem
Verhör; nur dank seinem Vorrecht eines „römischen Bürgers“, an
den Kaiser in Rom appellieren zu dürfen, gelang es ihm, aus ihren
Händen loszukommen (s. unten, § io4).
4i5
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
§ 78. Agrippa II. und die Hohepriester
Was unternahm nun mittlerweile der enterbte Thronerbe Judäas,
Agrippa II.? Nach dem Tode seines Vaters hatte die römische Re-
gierung dem Prinzen die Herrschaft über Judäa unter dem Vorwand
vorenthalten, er sei noch zu jung. Indessen vergingen Jahre, ein Pro-
curator löste den anderen ab, und die Erbberechtigung des judäi-
schen Prinzen schien vergessen worden zu sein, obwohl er meisten-
teils in Rom lebte und bei Hofe verkehrte. Wie es scheint, lag zu-
nächst auch Agrippa selbst nur wenig daran, seine Rechte auf den
judäischen Thron geltend zu machen, und er begnügte sich vorerst
mit dem Titel des Herrn des winzigen Fürstentums von Chalkis. In
Rom, wo er erzogen worden war und über weitreichende Beziehun-
gen in der besten Gesellschaft verfügte, scheint er sich viel wohler
gefühlt zu haben als in Jerusalem, mitten im Strudel der politischen
Leidenschaften.
Endlich aber erinnerte man sich seiner doch. Im Jahre 53 ver-
lieh ihm Kaiser Claudius statt Chalkis die ehemalige Tetrarchie des
Philippus als Lehensbesitz. Diesen Besitzungen gliederte Nero noch
manche Landschaften in Peräa und die galiläischen Städte Tiberias
und Tarichea an. In dem von den Procuratoren verwalteten Judäa
selbst stand Agrippa II. nur das Recht der Oberaufsicht über den
Tempel und der Ernennung von Hohepriestern zu, das er von seinem
Oheim Herodes von Chalkis geerbt hatte. Agrippa II. besaß aller-
dings den Titel eines „judäischen Königs“ und nannte sich auf sei-
nen Münzen „König Marcus (Julius) Agrippa, der Freund des Caesar
und der Römer“; in Zentraljudäa bedeutete dies indessen nichts wei-
ter als einen Prunktitel, denn hier hatte er eigentlich nie etwas zu
sagen gehabt. Hier war er ein König ohne Königreich. Er weilte
bald in Rom, bald in seinen palästinischen Besitzungen, kam zu den
Feiertagen nach Jerusalem und besuchte auch die Procuratoren in
ihrer Residenz Caesarea am Meere. Seine eigene Residenz Caesarea
Philippi nannte er zu Ehren des Kaisers Neronias.
Zusammen mit Agrippa II. lebte lange Zeit seine Schwester Be-
renike, die ihn auch auf allen seinen Reisen begleitete. Sie war nach
dem Tode ihres Gemahls und Oheims Herodes von Chalkis als jugend-
liche Witwe zurückggeblieben. Die energische Frau scheint den wil-
4i6
§ 78. Agrippa II. und die Hohepriester
lensschwachen Bruder ganz in ihre Gewalt bekommen zu haben1). Die
Anwesenheit der schönen Berenike im Hause ihres Bruders gab je-
doch Anlaß zu übler Nachrede in der römischen Gesellschaft. Um all
dem Gerede den Boden zu entziehen, vermählte sich Berenike zum
zweiten Male mit Polemon, dem König von Cilicien, der auch in den
Übertritt zum Judentum ein willigte. Die Ehe wurde jedoch gar bald
wieder aufgelöst, die judäische Schöne wurde wieder frei, und einige
Jahre später leuchtete ihr für einen Augenblick sogar die Hoffnung,
römische Kaiserin zu werden.
Zum Unterschiede von ihrer jüngeren Schwester Drusilla, der Ge-
liebten des Felix, blieben Agrippa II. und Berenike dem Glauben der
Väter treu; doch äußerte sich ihre Zugehörigkeit zum Judentum nur
in der formellen Befolgung der Riten und in der Teilnahme an den
Tempelzeremonien während ihres Aufenthaltes in Jerusalem. Als no-
mineller „König“ oder Ehrenvormund trug Agrippa namentlich Sorge
um die Verschönerung Jerusalems und des Tempels. So ließ er die
Straßen der Hauptstadt mit weißen marmornen Fliesen pflastern. Zur
Renovierung des Jerusalemer Tempels befahl Agrippa von den Liba-
nonwäldern kostbares Bauholz herbeizuschaffen; doch ehe man an
die Renovierung heranging, war der große Krieg mit Rom ausge-
brochen, und so fanden die prächtigen Libanonzedem ihre Verwen-
dung bei den zur Verteidigung der Hauptstadt errichteten Kriegsbau-
ten.
Seine Amtsobliegenheit als „Oberaufseher des Tempels“ faßte
Agrippa II. zuweilen in sehr sonderbarer Weise auf. Während sei-
nes Aufenthaltes in Jerusalem pflegte er nämlich in dem unweit vom
Tempel gelegenen ehemaligen Palaste der Hasmonäer Wohnung zu
nehmen. Agrippa ließ nun an den Palast einen hochragenden Turm
anbauen, von dem aus sich eine prächtige Aussicht auf die Stadt und
das Innere des Tempels eröffnete. In seinen Mußestunden liebte er
es, in einem Sessel sitzend, alle Vorgänge im Tempel, ja sogar in sei-
nen den Laien unzugänglichen Räumen genau zu beobachten. Diese
unerlaubte Neugier des müßigen Zuschauers erregte Anstoß bei der
Priesterschaft, und so versperrten sie die Aussicht vom Palast auf
den Tempel durch Errichtung einer hohen Mauer. Agrippa erzürnte
darüber und suchte mit dem Beistand seines Freundes, des Procu-
■*•) Vergl. die Parallelstellen in Ant. XX, 7, 3; Apostelgeschichte 2 5, i3 bis
23 und die Satiren des Juvenal VI, i56f.
27 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II.
4l7
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
rators Festus, die Priester zum Einreißen der Mauer zu zwingen. Da
begab sich der Hohepriester Ismael ben Phiabi1) zusammen mit neun
anderen Vertretern der Jerusalemer Gesellschaft nach Rom, um sich
beim Kaiser zu beschweren. Dank der Fürsprache der Kaiserin Pop-
päa, die für den jüdischen Kultus schwärmte, entschied Nero den
Streit zugunsten der Priester. Die Mauer blieb stehen und Agrippa
mußte fortan auf den angenehmen Zeitvertreib in Jerusalem verzich-
ten. Nun ließ er seinen Unwillen an dem Hohepriester Ismael aus,
den er früher selbst in dieses Amt eingesetzt hatte. Er enthob ihn
seiner Würde und ernannte zu seinem Nachfolger einen gewissen Jo-
seph Kabi.
Agrippa machte überhaupt von seinem Rechte, die Hohepriester
zu ernennen und abzusetzen, ausgiebigsten Gebrauch. Die höchste geist-
liche Würde wanderte unter ihm schnell von einer Priesterfamilie
zur anderen. Die Geschlechter der Boethosiden, der Chananiden, der
Kanthariden und der Phiabiden lösten einander ab. Dieses System der
willkürlichen Ernennungen, das nicht ohne Bestechungen und niedrige
Liebedienerei abging, korrumpierte die gesamte Tempelhierarchie,
Nicht selten gelangten zum hohepriesterlichen Amte durchaus un-
würdige Männer, die es nur zur Erlangung materieller Vorteile für
sich und ihre Angehörigen ausbeuteten. Es kam vor, daß die Hohe-
priester ihre Diener in die Scheuern der Ackerbauer schickten und
den für die untergeordneten Priester, die Kohanim und die Leviten,
bestimmten Zehnten („Maasser“) für sich selbst holen ließen, so daß
die letzteren auf diese Weise der Not und dem Hunger preisgegeben wa-
ren. Derartige Gewalttaten ließ sich unter anderen auch der zu großem
Reichtum gelangte Hohepriester Ghananja ben Nedebja (Ananias, 47
bis 59) zuschulden kommen, ein Mann von herrschsüchtigem Sinn
und großer Geldgier (die Sage schreibt ihm überdies auch noch einen
fabelhaften Hang zur Völlerei zu). Einer seiner Nachfolger, Ghanan
ben Chanan (Ananos, 62), der sein Amt in der kurzen Zeitspanne zwi-
schen dem Ende der Procuratur des Festus und dem Amtsantritt sei-
nes Nachfolgers bekleidete, zeichnete sich besonders durch seine sad-
duzäische Sinnesart aus. Seinen Einfluß im Synhedrion nützte er da-
zu aus, mit seinen politischen Widersachern abzurechnen. Er ver-
folgte auch die Christen (siehe die Sage von der Verurteilung des Bru-
ders Christi, Jakob, durch Ananos). Seine Nachfolger Josua benDam-
1) Der zweite dieses Namens aus dem Geschlechte der Phiabi; s. oben, § 68.
§79. Albinus und Florus; der Beginn des Aufstandes
nai und Josua ben Gamala (um 02—65) stritten um das Hohe-
priesteramt so heftig, daß die Parteien der beiden Rivalen sogar in
den Straßen miteinander handgemein wurden. Von Josua ben Ga-
mala wird noch erzählt, daß seine freigebige Frau Martha aus dem
reichen Priestergeschlechte des Boethos Agrippa II. zwei Maß
goldener Denare für die Einsetzung ihres Gemahls in das hoheprie-
sterliche Amt verehrte.
Die Trauer des Volkes über den sittlichen Verfall des Klerus wird
in den folgenden, im Talmud erhalten gebliebenen, dunklen Nach-
klängen aus jener Zeit vernehmbar: „Wehe mir vom Geschlechte des
Boethos, wehe mir von seinen Stockhieben! Wehe mir vom Geschlechte
des Chanan, wehe mir von seinem Schlangenzischen! Wehe mir vom
Geschlechte des Kantheras und von seiner Feder! Wehe mir vom
Hause Ismaels ben Phiabi und von seiner Faust! Sie selbst sind Hohe-
priester, ihre Söhne — Schatzmeister (des Tempels), ihre Schwie-
gersöhne — Vorsteher, und ihre Diener schlagen auf das Volk mit
Stöcken ein!“ So tief war die Tempelpriesterschaft im Augenblick
der größten Anspannung der national-geistigen Kräfte des Juden-
tums, am Vorabend des tragischen Unabhängigkeitskrieges, gesunken.
§79. Albinus und Florus; der Beginn des Aufstandes (66)
Der Procurator Festus starb und ihm folgte Albinus im Amte
(62—64). Der jüdische Geschichtsschreiber, ein Zeitgenosse des Al-
binus, stellt ihm folgendes Zeugnis aus: „Es gab keine Bosheit, die er
nicht verübte. Nicht nur, daß er öffentliche Gelder unterschlug, eine
Menge wohlhabender Leute ihres Vermögens beraubte und das ganze
Volk mit Auflagen überbürdete, sondern er gab auch Verbrecher, die
gefänglich eingezogen waren, gegen ein Lösegeld frei; nur wer nicht
zahlen konnte, blieb als Verbrecher im Gefängnis“1). In hoher Gunst
stand bei Albinus der obenerwähnte reiche Chanan ja, der ehemalige
Hohepriester, einer der schlimmsten Repräsentanten der Jerusalemer
Plutokratie. Dank der mit schwerem Gelde erkauften Freundschaft
des Procurators durfte sich Chanan ja ungestraft allerhand Gesetzwid-
rigkeiten erlauben. Die „Sikarier“ wurden von Albinus in jeder Weise
verfolgt, und wenn sie sich nicht mit Geld loskaufen konnten, ließ
er sie erbarmungslos im Kerker schmachten. Um die Verhafteten los-
!) Bell II, i4, 1.
419
27*
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
zubekommen, verfielen die Sikarier auf folgendes Mittel: sie ent-
führten irgendein Mitglied einer der vornehmen Familien Jerusalems
und benachrichtigten die Verwandten, daß der Entführte freigegeben
werden würde, wenn Albinus soundsoviel Sikarier aus dem Gefäng-
nis entlasse. So waren die Verwandten der Greisei gezwungen, Albinus
das Lösegeld für eine gewisse Anzahl von Sikariern zu zahlen, worauf
dann der Entführte nach Hause zurückkehren durfte. So mußte einst
auch der ärgste Feind der Sikarier, der ehemalige Hohepriester
Chananja, das Lösegeld für sie entrichten, als der Schreiber seines
Sohnes, des Tempelaufsehers Eleasar, auf diese Weise in ihre Hände
gefallen war. Nach zweijähriger Verwaltung wurde Albinus aus Ju-
däa abberufen. Vor seiner Abreise ließ er die wichtigsten von den ein-
gekerkerten politischen Verbrechern hinrichten, während er die ge-
meinen Verbrecher gegen eine angemessene Vergütung laufen ließ.
„So — fügt der Geschichtsschreiber hinzu — wurden die Kerker von
Gefangenen leer, das Land aber von Räubern voll“1).
Zum Nachfolger des Albinus wurde Gessius Florns (64—66) er-
nannt, der als letzter Procurator in Judäa durch seine Grausamkeit
einen allgemeinen Aufstand hervorrief. Ein Grieche aus Klazomenae,
der dank den Verbindungen seiner Gattin bei Hofe des hohen Postens
teilhaftig geworden war, vereinigte Florus in seiner Person alle La-
ster eines römischen Provinzialbeamten mit einem tiefen Haß gegen
die Juden. Er kam nach Judäa, „als wäre er als Henker, zur Bestra-
fung Verurteilter“ gesandt worden. Im Vergleich mit ihm erschien
sogar Albinus noch als ein Muster von Rechtschaffenheit. Während
nämlich jener seine Mißbräuche heimlich verübte und meistens Pri-
vatpersonen ausbeutete, trug Florus seinen Frevel offen zur Schau,
plünderte ganze Städte und ruinierte die Gemeinden. Gemeine Diebe
und Räuber durften ungestört ihr Wesen treiben, wenn sie nur mit
dem Procurator und seinen Agenten die Beute teilten. Leben und Ei-
gentum der Bürger war jedes Schutzes beraubt, und es setzte eine
Massenauswanderung aus Judäa in andere Länder ein.
Als der syrische Statthalter Cestius Gallus einst nach Jerusalem
kam, beschwerten sich die Einwohner bei ihm über Florus und baten,
sie doch von diesem Henker erlösen zu wollen. Der dabei anwesende
Florus hörte diese Anklagen mit einem höhnischen Lächeln an. Ce-
stius beschwichtigte das Volk mit dem Versprechen, Florus milder
!) Ant. XX, 9, 5.
§ 79. Albinus und Florus; der Beginn des Aufstandes
gegen sie stimmen zu wollen, und reiste dann nach Caesarea ab.
Florus aber, durch die Klagen der Juden noch mehr erbittert, suchte
nun, um seine Gewalttaten vor der römischen Zentralregierung recht-
fertigen zu können, einen revolutionären Ausbruch im Volke hervor-
zurufen. Dies konnte ihm auch nicht schwer fallen, da die Geduld des
Volkes bereits erschöpft war und es nur eines Funkens bedurfte, um
den Brand des Aufstandes hell auf lodern zu lassen.
Den unmittelbaren Anlaß zum Aufstand bot der neue Zusammen-
stoß der Juden mit den Griechen in der Residenz des Procurators,
Caesarea, Nach dem Erlaß des Nero, der den Streit über die bürger-
liche Gleichberechtigung in Caesarea zugunsten der Griechen ent-
schieden hatte, verhielten sich diese ihren jüdischen Mitbürgern ge-
genüber noch herausfordernder und dreister als früher. Die Verfol-
gungen der triumphierenden Griechen griffen auch auf das religiöse
Gebiet über, und hier kam es nun zu einem entscheidenden Zusammen-
stoß. Die Synagoge in Caesarea stand nämlich auf einem Grundstück,
das einem Griechen gehörte. Die Juden wollten es für sich erstehen,
allein der Eigentümer war um keinen Preis zu bewegen, es zu verkau-
fen; er bebaute vielmehr mit Absicht den freien Platz um die Sy-
nagoge mit Gebäuden, in denen Werkstätten errichtet wurden, so-
daß für die Besucher der Synagoge nur ein enger Durchgang blieb.
Die jüdische Jugend versuchte anfangs, den Bau mit Gewalt zu ver-
hindern. Florus gebot jedoch ihrer Selbsthilfe Einhalt; als er aber
von den reichen Juden eine Bestechungssumme von acht Talenten
erhielt, reiste er für eine Zeit nach Sebaste und schien von jeder Ein-
mischung in den Streit der Juden mit den Griechen Abstand genom-
men zu haben. Am folgenden Tage, als die Juden aus Anlaß des Sab-
bats in der Synagoge beteten, erschien ein eigens dazu abgerichteter
griechischer Aufhetzer dicht an der Schwelle des Gotteshauses und
brachte dort ein Vogelopfer dar, das dem Gesetze gemäß die vom
Aussatz Geheilten darzubringen hatten. Es war dies eine symbolische
Anspielung auf das unter den Griechen verbreitete Gerede über die
angebliche Abstammung der Juden von ägyptischen Aussätzigen
(§ 19). Wütend stürzten sich nun die Juden auf die Griechen, und es
kam zu einem Handgemenge auf der Straße. Vergeblich versuchte
der Befehlshaber der römischen Reiterei, Jucundus, der Schlägerei ein
Ende zu machen. Den Einbruch der Heiden in den Tempel befürch-
tend, ergriffen die Juden in aller Eile ihre Gesetzesbücher und zogen
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
sich für eine Zeitlang nach dem benachbarten Städtchen Narbata zu-
rück. Florus blieb die ganze Zeit über in Sebaste und beobachtete aus
der Ferne voll Schadenfreude das immer weiter um sich greifende
Feuer. Die Bitte der jüdischen Deputation um Beistand wies er schroff
zurück und ließ sogar noch die Abgeordneten ins Gefängnis werfen.
Die Vorgänge in Caesarea riefen in Jerusalem eine große Erre-
gung hervor. Die Erbitterung steigerte sich noch, als Florus von Se-
baste aus die Forderung ergehen ließ, aus dem Jerusalemer Tempel-
schatz siebzehn Talente Gold für den kaiserlichen Fiskus herauszu-
geben. Das Volk erblickte hierin nichts als eine Erpressung des Flo-
rus zu seinen eigenen Gunsten. Es entstand ein Auflauf um den Tem-
pel, wobei das Volk Florus laut schmähte und verwünschte. Einige
der Jerusalemer Bürger ließen, um die Geldgier des Procurators zu
verspotten, in der Stadt Sammelkörbe herumgehen und riefen dabei:
„Gebt für den dürftigen, unglücklichen Florus!“ Da brach der wü-
tende Procurator mit seinem Heere in Jerusalem ein, um für die Ver-
höhnung blutige Rache zu nehmen. Von dem Hohepriester und den
Ältesten verlangte er die Auslieferung. der Urheber der Kundgebung,
und als jene erklärten, sie nicht ausfindig machen zu können, gab er
den römischen Soldaten den „Oberer Markt“ genannten Teil der Stadt
zur Plünderung preis. Die Soldaten waren eifrig bei der Sache: sie
verheerten und plünderten nicht nur den Oberen Markt, sondern auch
die angrenzenden Stadtteile; die ihnen in den engen Gassen in den
Weg kommenden Einwohner mißhandelten sie in rohester Weise. Viele
von den Bürgern wurden von den Soldaten zu Florus geschleppt,
der vor dem Palast eine Art Standgericht abhielt. Die gefange-
nen Bürger wurden auf Geheiß des Florus auf der Stelle ge-
geißelt und dann ans Kreuz geschlagen. Diesem schmählichen Tode
verfielen sogar einige Juden, die den Ehrentitel „römischer Ritter“
führten. Die zu jener Zeit in Jerusalem weilende Berenike, die Schwe-
ster Agrippas II., sandte zunächst ihre Diener zu Florus und erschien
sodann auch selbst vor ihm, um ihn um Einstellung des Wütens an-
zuflehen Allein nichts vermochte die Wut des raubgierigen Procu-
rators und seiner rasend gewordenen Soldaten zu bändigen (Mai 66).
Niehl genug damit, daß Florus die fürchterliche Hetze angestiftet
hatte, wollte er noch die Juden erniedrigen und sie zwingen, die
Rute, die sie mißhandelte, zu küssen. Er ließ angesehene Bürger der
Hauptstadt vor sich kommen und erklärte ihnen, die Bevölkerung
422
§ 80. Agrippa 11. und der Kampf der Parteien
möge durch einen feierlichen Empfang der aus Caesarea nach Jeru-
salem im Anzuge befindlichen zwei Kohorten römischer Soldaten den
Beweis erbringen, daß sie mit dem Aufruhr nichts zu tun hätte. Die
Patrioten wiesen anfangs den Vorschlag mit Entrüstung zurück; als
aber dann die Priester im Tempelornat und in feierlicher Prozession
vor dem Volke erschienen und es anflehten, um der Errettung der
Hauptstadt und des Tempels willen der Laune des Befehlshabers zu
Willen zu sein, fand sich die Mehrzahl zum Nachgeben bereit. So zog
denn das Volk den römischen Kohorten entgegen und bewillkommnete
sie. Einer geheimen Instruktion des Florus gemäß ließen jedoch die
Soldaten die Begrüßungen unerwidert. Das Volk begann zu murren.
Schmährufe gegen den niederträchtigen Procurator, den Urheber der
neuen nationalen Demütigung, wurden laut. Da stürzten sich die Sol-
daten auf die wehrlose Menge der Juden und sie zurückdrängend,
schlugen sie auf die Fliehenden ein und zerstampften sie mit den
Hufen ihrer Rosse.
Ob dieser schamlosen Herausforderung riß den Patrioten endlich
die Geduld. Während der eine Teil des Volkes sich durch Flucht zu
retten suchte, griff der andere zu den Waffen. Die Juden erstiegen
die Dächer der Häuser, an denen die römischen Soldaten vorbeimar-
schierten, und überschütteten sie mit einem Hagel von Pfeilen und
Steinen. Die Soldaten begannen in ihre im königlichen Palast ge-
legenen Kasernen zurückzuweichen. Einen Überfall auf den Tempel von
der Burg Antonia her, wo die römische Wache stationiert war, be-
fürchtend, eilten die tapferen jüdischen Männer zum Tempelberg und
zerstörten die die Burg Antonia mit dem Tempel verbindenden Säulen-
hallen. Dies sollte soviel wie die Beseitigung der römischen Aufsicht
über das nationale Heiligtum bedeuten. Als Florus die kriegerische
Stimmung der Jerusalemer gewahr wurde, wurde er von Angst über-
mannt und zog sich mit den neueingetroffenen Soldaten wohlweis-
lich nach Caesarea zurück. In Jerusalem ließ er, nachdem der Hohe-
priester und die Ältesten sich für die Erhaltung der Ordnung in der
Hauptstadt verbürgt hatten, nur eine Kohorte zurück.
§ 80. Agrippct II. und der Kampf der Parteien
Von den Vorgängen in Jerusalem in Kenntnis gesetzt, beorderte
der syrische Statthalter Cestius Gallus seinen Beamten, den Tribun
Neapolitanus, dorthin, um die Lage der Dinge in der aufrührerischen
423
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
Hauptstadt in Augenschein zu nehmen. Unterwegs, in der Nähe von
Jamnia, begegnete Neapolitanus dem aus Alexandrien heimkehrenden
„König“ Agrippa II., und sie setzten den Weg nach Jerusalem gemein-
sam fort. Hier konnte sich der Abgeordnete des Statthalters über-
zeugen, daß die Einwohnerschaft nicht so sehr gegen die römische
Obergewalt als gegen den grausamen Florus aufgebracht war, und
dadurch beruhigt, kehrte er zu Cestius Gallus zurück.
Als das Volk nun sah, daß es von dem syrischen Statthalter keinen
Schutz zu erhoffen habe, trat es an seinen nominellen König und
Tempelvormund Agrippa mit der Forderung heran, er möge doch
eine Gesandtschaft nach Rom zum Kaiser Nero schicken, um gegen
die Übergriffe des Florus Verwahrung einzulegen. Agrippa lehnte
es jedoch ab, sich den Protestierenden anzuschließen, weil er befürch-
tete, dadurch selbst in Rom in den Ruf eines Anhängers der natio-
nalen Partei zu kommen. Dem seiner Nation fremd gegenüberstehen-
den Anbeter der römischen Kultur schienen all diese Restrebungen
der Patrioten, sich für Ehre und Freiheit des Vaterlandes einzusetzen,
sinnlos und gefährlich. Er vermochte dem empörten Volke nur den
einen Rat zu erteilen: demütig das Joch des großen, unbesiegbaren
Rom zu tragen und sich mit jenem Rest von Autonomie zufrieden ,zu
geben, den der Souverän dem untergebenen Lande gnädig zuteil wer-
den ließ. Diesem Gedanken gab Agrippa bei einer Volksversammlung
auf dem Platze vor dem Hasmonäerpalaste in einer längeren Rede
Ausdruck1).
Die Argumentation des Agrippa lief darauf hinaus, daß eine in-
folge ihrer politischen Schwäche ihrer Unabhängigkeit verlustig ge-
gangene Nation der sich daraus ergebenden Sachlage Rechnung tra-
1) Zum Unterschiede von vielen anderen von dem rhetorischen Geschichts-
schreiber Josephus angeführten Reden scheint die des Agrippa (Bell. II, 16) keine
Erdichtung des Historikers ?u sein, sondern auf Tatsache zu beruhen. Josephus
mag seiner Art gemäß diese Rede erweitert und ausgeschmückt und so dargelegt
haben, daß sie seine eigenen politischen Ansichten zum Ausdruck brachte; ange-
sichts dessen jedoch, daß der Verfasser des „Jüdischen Krieges4‘ ein Zeitgenosse
Agrippas II. und später auch sein politischer Gesinnungsgenosse gewesen ist, kann
mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden, daß der Sinn der öffentlichen An-
sprache des Agrippa von dem Verfasser mit annähernder Genauigkeit wiederge-
geben ist. Deshalb ist auch der moderne Geschichtsschreiber dazu berechtigt, den
allgemeinen Inhalt dieser Rede zur Kennzeichnung der Gesinnung der ganzen Par-
tei der friedfertigen Römerfreunde (die allerdings mit den friedfertigen Patrio-
ten aus den Kreisen der gemäßigten Pharisäer nicht zu verwechseln ist) zu benützen.
424
§ 80. Agrippa 11. und der Kampf der Parteien
gen müsse und daß es töricht wäre, gegen das mächtige Rom mit
Waffengewalt anzukämpfen. Unbesonnen wäre es, sich wegen der
Übergriffe des einen oder anderen Procurators gegen die Obergewalt
zu erheben, denn „würden diese auch noch so milde sein, so bliebe
ja doch die Unterwürfigkeit gleich entehrend“. Jetzt erst der politi-
schen Freiheit nachzujagen, sei zu spät; man hätte früher für sie
kämpfen sollen, gleich als der erste Eroberer Pompejus im Lande er-
schienen war; habe man sich aber einmal unter das Fremden joch ge-
beugt, so bleibe nichts mehr übrig, als die Fremdherrschaft auch bei
schlechter Verwaltung ohne Murren zu ertragen. Sei denn übrigens
Judäa allein Rom untergeben? Vor ihm beugten ihr stolzes Haupt
auch die Hellenen, „die edelste Nation auf Erden“. Die Nachkommen
der erleuchteten Athener und der kriegstüchtigen Lacedämonier er-
zittern vor den Liktorenruten der römischen Consuln. Fünfhundert
asiatische Städte bringen demütig ihren Tribut dem Weltbezwinger
dar; sogar das ferne Tauris und die Bewohner der nördlichen Küste
des Pontus (des Schwarzen Meeres) hören auf das Wort Roms. Die
römischen Besatzungen halten Millionen von Menschen nieder, die an
den Ufern der Donau, des Rheins und an der Küste des Ozeans leben,
Männer aus den kriegerischen Stämmen der Thracier, der Daker, der
Iberer, der Gallier, der Germanen und Britannen, ja sogar die Be-
wohner der Länder jenseits der Herkulessäulen, „in dem dritten Welt-
teil“ (Afrika), in Ägypten, Cyrenaica, Äthiopien. „Ihr allein erachtet
es für eine Schande“ — ruft Agrippa in einer Aufwallung von rö-
mischem Patriotismus — „denen unterworfen zu sein, zu deren Füßen
die Welt liegt. Welches Heer, welche Waffen flößen euch solches
Vertrauen ein? Wo ist eure Flotte, welche die Meere der Römer be-
setzen soll? . . . Wo wollt ihr denn Bundesgenossen für den Kriegs-
fall hernehmen? Etwa aus der unbewohnten Wüste? Auf der bewohn-
ten Erde ist ja alles römisch!“ Hier fällt es dem Agrippa ein, daß es
hinter dem Euphrat noch ein von Rom unabhängiges Partherreich
gibt, und er sucht nun zu beweisen, daß auch die Parther, durch einen
Friedensvertrag mit den Römern gebunden, gegen diese nicht ins
Feld ziehen würden. Nicht einmal „unsere Stammesgenossen aus Adia-
bene“ (s. unten, § 96) würden dem aufständischen Judäa zu Hilfe
eilen, denn daran würden sie die Parther hindern. Des weiteren suchte
der Redner noch zu beweisen, daß die Parteigänger der Revolution
auch auf den Beistand Gottes ihre Hoffnungen nicht setzen dürften,
425
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
denn wer außer Gott hätte den Römern die Gewalt über die Welt
verliehen? Um sich auch die Frommen unter seinen Hörern geneigt
zu machen, verwies Agrippa noch darauf, daß in einem Kriege die
Juden unausbleiblich gerade jene göttlichen Gebote würden verletzen
müssen, für deren Aufrechterhaltung sie kämpfen wollten, zum Bei-
spiel die der Sabbatheiligung; wie könne Gott ihnen dazu seinen Bei-
stand verleihen? „Wenn ihr aber weder auf göttliche noch auf
menschliche Hilfe hoffen könnt, so geht ihr dem sicheren Verderben
entgegen. Denn die Römer, die euch besiegen werden, werden die
heilige Stadt in Asche legen und euer ganzes Geschlecht vertilgen.
Das Unheit trifft dann nicht bloß euch, sondern auch die jüdischen
Bewohner der anderen Länder, denn kein Volk ist ja auf der Erde,
unter dem nicht ein Teil von euch lebte: diese alle wird der Feind
um eurer Empörung willen hinschlachten . . . Habt also Erbarmen —
so schließt schwungvoll der Redner — wenn nicht mit euren Wei-
bern und Kindern, so doch mit dieser Mutter der Städte und den ger
weihten Räumen! Schützt diesen Tempel mit seinen Heiligtümern!
Denn auch diese werden die Römer nach ihrem Siege nicht mehr
schonen, wenn ihre bisherige Schonung derselben ihnen mit Undank
belohnt wird. Ich rufe euer Allerheiligstes, die heiligen Engel Gottes
und unser gemeinsames Vaterland zu Zeugen an, daß ich nichts zu
eurem Heile unterlassen habe. Wenn ihr nun das Rechte beschließt,
so werdet ihr in Gemeinschaft mit mir den Frieden genießen; folgt
ihr aber eurem Ungestüm, so müßt ihr das ohne mich tun, auf eure
eigene Gefahr!“
Nachdem der König seine Rede beendet hatte, brach er in Tränen
aus; auch seine neben ihm stehende Schwester Berenike weinte. Doch
diese Worte, die das Volk dazu auf riefen, seinen Freiheitsdurst und
seinen heiligen Zorn gegen seine Peiniger zu unterdrücken, vermoch-
ten sein Herz nicht zu bewegen; sie konnten höchstens den gemeinen
Selbsterhaltungstrieb wachrufen. Vorerst gewann dieser freilich über
das Gefühl der nationalen Würde die Oberhand; es ertönten Stimmen,
das Volk wolle ja nicht gegen die Römer, sondern allein gegen Florus
ankämpfen. Doch Agrippa erwiderte darauf: „Nach euren Taten zu
schließen, seid ihr doch schon im Kriege mit den Römern begriffen,
denn ihr habt dem Kaiser die Abgaben nicht bezahlt und die halbe
Burg Antonia niedergerissen. Ihr werdet den Vorwurf des Aufruhrs
entkräften, wenn ihr diese wieder auf baut und die Steuern entrichtet.“'
426
§ 80. Agrippa II. und der Kampf der Parteien
Das Volk ließ sich überreden: viele machten sich unverzüglich daran,
die Hallen wieder aufzubauen, und die Ältesten begannen mit der Ein-
sammlung der ausstehenden Abgaben.
Agrippa wollte sich indessen mit dem Erreichten nicht begnügen.
Er verlangte von den Jerusalemern, daß sie, wenn auch nur zeitweilig,
dem Florus als dem Vertreter des Kaisers Gehorsam leisten sollten.
Dadurch machte er jedoch nur den Erfolg seiner ersten Rede end-
gültig zunichte. Er traf den wunden Punkt der Volksseele und rief
einen allgemeinen Entrüstungsschrei hervor. Man überhäufte ihn mit
Schimpfreden und Drohungen und klagte ihn des Einverständnisses
mit dem verhaßten Procurator an. Das weitere Verbleiben Agrippas
in Jerusalem war nicht mehr ungefährlich, und so verließ er denn
die erregte Hauptstadt und zog sich auf sein transjordanisches Für-
stentum zurück.
Nunmehr war es auch den Wankelmütigen klar geworden, daß
der Landpfleger von dem Kaiser nicht zu trennen sei, und daß somit
die Wurzel des Volksunheils viel tiefer liege, nämlich in der Tatsache
der römischen Herrschaft selbst. Von neuem schlugen die Wogen der
Revolution hoch. Der Aufstandspartei oder den „Zeloten“ schloß sich
jetzt auch der Sohn des früheren Hohepriesters aus der Partei der
Friedliebenden, der Vorsteher der Tempelwache Eleasar ben Cha-
nanja (§ 79) an. Unter dem Einfluß des Eleasar faßte die Zeloten-
partei den kühnen Entschluß, von Nichtjuden keine Opfergaben mehr
für den Jerusalemer Tempel entgegenzunehmen. Dies bedeutete die
Einstellung der üblichen Opferdarbringungen zu Ehren des Kaisers.
Es war dies eine schroffe Kundgebung gegen die römische Ober-
hoheit, gleichsam die Kriegserklärung in theokratischer Form. Ver-
geblich suchten die Friedfertigen die Zeloten von ihrem Entschluß
abzubringen, der die schwerste Gefahr über Jerusalem und den Tem-
pel herauf beschwor; die Revolutionäre ließen sich nicht bange ma-
chen. Auch viele von dem untergeordneten Priesterpersonal hielten
zu Eleasar.
Angesichts der Halsstarrigkeit der Zeloten beschlossen nun die Je-
rusalemer Priester und die Notabein aus der Partei der Friedens-
freunde, die Wiederherstellung der Ordnung mit Gewalt durchzuset-
zen. So sandten sie denn Boten zu Agrippa und baten ihn, Truppen
nach Jerusalem zu schicken. Agrippa entsandte sogleich dreitausend
Mann Reiterei aus Transjordanien unter dem Oberbefehl des Darius
427
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
und Philippus, und wieder kam es zu der Tragik eines Bürgerkrieges.
Die Friedfertigen verschanzten sich unter der Bedeckung der könig-
lichen Truppen in der Oberstadt, während die Zeloten den Tempel-
berg und die untere Stadt besetzt hielten. Zwischen den beiden Lagern
entspann sich ein hartnäckiger Kampf; es wurde unausgesetzt ge-
schossen, Ausfälle wurden unternommen und auch mächtige Wurf-
geschosse kamen zur Anwendung. Die Kriegserfahrung hatten freilich
die regulären Truppen Agrippas für sich; die Zeloten übertrafen sie
jedoch an selbstverleugnender Tapferkeit, die nur die patriotische Be-
geisterung verleihen kann. Dessenungeachtet würden die Zeloten ihre
Gegner nicht so schnell überwältigt haben, wenn ihnen nicht unerwar-
tete Verbündete zu Hilfe geeilt wären.
Die extreme terroristische Fraktion der Zeloten, die sogenannten
„Sikarier“, hatte nämlich mittlerweile in der Provinz bedeutend an
Stärke gewonnen. Unter der Anführung des kriegstüchtigen Menahem,
des letzten Sohnes des Juda Galiläus, brachen nun die Sikarier in die
im südlichen Judäa gelegene Festung Masada ein, räumten dort das
römische Zeughaus aus und rückten so bewaffnet nach Jerusalem
vor. Den Sikariern gelang es, mitten unter den Pilgerscharen, die zu
der Tempelfeier des „Holztragens“ (i5. Ab, Juli 66) nach Jerusalem
zogen, unbemerkt in die Stadt einzudringen. Sie schlossen sich sofort
den Zeloten aus der Partei des Eleasar an und halfen ihnen, sich der
Oberstadt zu bemächtigen. Die siegreichen Revolutionäre steckten dar-
auf die Paläste des Agrippa und der Berenike, sowie das Haus des
früheren Hohepriesters Chananja in Brand, ebenso das Archivgebäude,
in dem die Schuldbriefe aufbewahrt wurden, um so zahlungsunfähige
Schuldner von ihren Verpflichtungen zu befreien. Hierauf erstürmten
die Zeloten und die Sikarier die Burg Antonia, in der sich die Ka-
sernen der römischen Wache befanden.
Das Heer des Agrippa und die römische Garnison (die in Jerusa-
lem zurückgelassene Kohorte) verschanzten sich nunmehr in dem He-
rodespalast und in den drei ihn umgebenden Türmen, Hippikus,
Phasael und Mariamme. Hier wurden sie von den Aufständischen be-
lagert, Die römischen Soldaten beschossen diese von oben mit Pfeilen
und richteten großen Schaden in ihren Reihen an, mußten sich aber
trotzdem nach einer dreiwöchentlichen Belagerung ergeben. Zunächst
kapitulierten die Truppen des Agrippa, denen die Zeloten freien Ab-
zug gewährten, und nach einigem Widerstand ergab sich auch die
428
§ 80. Agrippa II. und der Kampf der Parteien
unter dem Oberbefehl des Metilius stehende römische Kohorte. An
dieser übten die Aufständischen keine Nachsicht: kaum hatten die
Römer die Waffen gestreckt, als die erbitterten Juden über sie her-
fielen und sie alle niedermachten mit Ausnahme des Befehlshabers
Metilius, der um sein Leben bettelte und zum Judentum überzutreten
versprach (im Monat Elul oder August 66).
So wurde Jerusalem von den römischen Truppen gesäubert1), und
die Aufstandspartei gewann die Oberhand über die aristokratische
Friedenspartei. Jetzt entbrannte aber ein Kampf in den Reihen der
Aufständischen selbst. Die mit Menahem gekommenen Sikarier ließen
sich nämlich zu allerhand Übergriffen hinreißen. Unter anderem er-
mordeten sie den ehemaligen Hohepriester Chananja (den Vater des
Zelotenführers Eleasar), sowie dessen Bruder Hiskia, die zu den Häup-
tern der Aristokratenpartei gehörten. Außerdem begann Menahem dik-
tatorische Aspirationen zu bekunden. Die gemäßigten Zeloten aus der
Partei des Eleasar sahen nun ein, daß derartige skrupellose Verbündete
der Sache des Aufstandes nur abträglich seien. Eleasar, den die Si-
karier des Vaters beraubt hatten, erklärte, es hätte sich nicht gelohnt,
gegen die Willkür der Römer anzukämpfen, um sie mit der Willkür
der Terroristen zu vertauschen. So überfielen denn die Zeloten im
Tempel Menahem und seine Leute und schlugen die Sikarier in die
Flucht. Viele von ihnen wurden dabei getötet, während sich der Rest
nach Masada rettete. Menahem selbst versteckte sich in Ophel (Stadt-
teil südlich vom Tempel), wurde jedoch auf gespürt und ums Leben
gebracht. Auf diese Weise wurden die Zeloten aus der Partei des
Eleasar Herren der Lage in Jerusalem* 2).
!) Zum Andenken an dieses Ereignis wurde damals für den Tag des 17. Elul
ein Volksfeiertag festgesetzt, der in dem Feiertagskalender „Megillath Taanith“,
Kap. 6, verzeichnet ist.
2) Eine gründliche Analyse des verwirrten Berichtes des Josephus über diese
Ereignisse (Bell. II, 17, §§ 5—9) ergibt, daß die Ereignisse geradeso verlaufen
sind, wie es hier dargestellt wird. Josephus erwähnt nämlich zweimal die Ankunft
der Sikarier (oder, wie er sagt, der „Räuber“), und zwar einmal mit Menahem,
ein anderes Mal ohne ihn (§§ 6 u. 8), ebenso zweimal die Ermordung des
Hohepriesters Chananja, vor und nach dem Eintreffen des Menahem (§§ 6 u. 9).
Da jedoch in dem letzteren Falle beide Berichte sich offenbar auf einunddasselbe
Ereignis beziehen, so liegt die Vermutung nahe, daß auch im ersteren Falle ein-
undderselbe Vorgang dargestellt wird, um so mehr, als diese ganze Ereigniskette
sich im Laufe von weniger als zwei Monaten abwickelte. Schürer (I, 6o3 f.) über-
geht diese schwierigen Punkte gänzlich mit Schweigen, indem er Menahem und
die Sikarier überhaupt nicht erwähnt, während Graetz (III, 458 f.) und Well-
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
§ 81. Der Sieg über Cestius Gallus
Angesichts des offenem Aufstandes in Jerusalem hielt es der sy-
rische Statthalter Cestius Gallus für geboten, persönlich gegen die
Aufrührer ins Feld zu ziehen. So zog er denn im Frühherbst des Jah-
res 66 aus Antiochia an der Spitze einer Armee, die aus einer voll-
zähligen Legion, ferner aus einigen Teilen anderer Legionen und aus
Hilfstruppen bestand, die von den Vasallenfürsten, darunter auch von
Agrippa II., gestellt worden waren. Agrippa begleitete selbst Cestius
in diesem Feldzuge, der auf die Züchtigung Judäas ausging.
Nachdem Cestius in Ptolemais halt gemacht hatte, begann er die
anliegenden Landschaften Nordgaliläas zu verwüsten. Darauf zog
er nach Caesarea und sandte von dort eine Heeresabteilung gegen
Jaffa aus. Hier erschlugen die Soldaten viele Juden samt ihren Fa-
milien, verbrannten ihre Häuser und beraubten sie all ihrer Habe. Bald
rückte die Hauptarmee des Cestius gegen Jerusalem vor. In der Stadt
Lydda, auf dem Wege zwischen Jaffa und Jerusalem, fanden die Rö-
mer nicht mehr als fünfzig Juden vor, da die gesamte Einwohner-
schaft anläßlich des Sukkothfestes nach Jerusalem gezogen war.
Nachdem der Rest der Einwohner vernichtet und die Stadt den Flam-
men preisgegeben worden war, bezog die Armee des Cestius ein Lager
bei Gibeon, fünfzig Stadien nordwestlich von Jerusalem.
Als die Jerusalemer Zeloten von dem Herannahen des Feindes
Kunde erhielten, rissen sie eine große Menge Volks mit sich und
überfielen mit lauten Kampfrufen die Vorderreihen der Römer. Dieser
jähe Überfall brachte die Römer in Verwirrung. Einige hundert rö-
mischer Soldaten fielen unter den Streichen der Juden. Die Sieger
besetzten die Pässe mit Wachen, um das weitere Vorrücken der römi-
schen Truppen zu verhindern. König Agrippa machte den Versuch,
die Jerusalemer durch Boten zu überreden, die Waffen aus der Hand
zu legen, indem er im Namen des Cestius den Aufständischen völlige
Straflosigkeit zusicherte. Kaum hatten jedoch die Zeloten die Boten
hausen (35q f.) in verschiedenem Maße die Verwirrung der ursprünglichen Quelle
beibehalten, ohne den Versuch zu machen, sie einer Analyse zu unterziehen. —
Daß der Zelotenführer Eleasar mit dem in der Albinusepisode (§ 79) hervortre-
tenden Tempelvorsteher identisch ist, ist daraus zu ersehen, daß er hier wie dort
als Sohn des Hohepriesters Chananja bezeichnet wird (s. Schürer, I, 584 und
Derenbourg, Kap. 16).
43o
§ 81. Der Sieg über Cestius Gallus
angehört, als sie, über den Vorschlag empört, den einen der Abger
sandten niederschlugen und den anderen verwundeten.
Bald sammelte jedoch Cestius seine Kräfte wieder, und nachdem
er die jüdische Postenkette durchbrochen hatte, rückte er gegen Je-
rusalem vor. Die Römer schlugen ihr Lager auf der Anhöhe Skopos
auf (das hebräische „Zophim“, d. i. Beobachtungspunkt), sieben Sta-
dien von der Stadt entfernt. Von hier aus unternahmen sie einen er-
folgreichen Überfall auf die Vorstadt Bezetha, kamen so an die Ober-
stadt heran und machten gegenüber dem Herodespalast halt. Darauf
griff Cestius die auf dem Tempelberg und in dem an ihn anstoßenden
Stadtzentrum verschanzten Juden mit Ungestüm an. Durch den An-
griff eingeschüchtert, waren die Friedfertigen aus der Aristokratie
auf das Zureden eines gewissen Chanan schon bereit, den Römern die
Stadttore zu öffnen; die Zeloten jedoch, die hierin einen Verrat er-
blickten, stürzten Chanan und einige seiner Genossen von der Stadt-
mauer hinab. Das Volk schlug mit selbstverleugnender Tapferkeit alle
Angriffe der römischen Truppen zurück, indem es von den Tempel-
hallen auf sie herunterschoß. Der römische Feldherr mußte nun ein-
sehen, daß er nicht imstande sei, mit seinem verhältnismäßig wenig
zahlreichen Heere die Jerusalemer Festung zu erstürmen. Überdies
nahte der Winter, die Lebensmittelzufuhr wurde schwieriger, und es
stand zu befürchten, daß im Rücken des römischen Heeres die Auf-
ständischen aus der Provinz auftauchen würden. Dies waren wahr-
scheinlich die Gründe, die Cestius Gallus zu seinem „plötzlichen Ent-
schlüsse“ bewogen, den Rückmarsch von Jerusalem anzutreten. Er
verließ des Nachts die Stadt, und am anderen Morgen hoben die
Römer ihr Lager auf dem Skopos auf und machten sich in Eilmär-
schen davon.
Als die Juden den Rückzug des Feindes gewahr wurden, gewannen
sie frischen Mut. Sie nahmen sofort die Verfolgung auf und vernich-
teten die feindliche Nachhut. In den engen Bergpässen Judäas mar-
schierten die schwerbewaffneten Römer unter einem Hagel von Pfei-
len und Steinen, mit denen sie die jüdischen Streifkorps überschütte-
ten. Besonders gefährlich wurde die Lage der Römer in der engen
Bergschlucht bei Bethhoron. Hier wurde das Heer des Cestius von der
Kriegerschar des Zelotenführers Simon bar Giora, des Helden des
späteren nationalen Krieges, umringt, und „es fehlte nur wenig zu
seiner gänzlichen Vernichtung“. Nur der Einbruch der Dunkelheit,
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
die der Schlacht ein Ende machte, rettete das römische Heer vor
völliger Vernichtung. Am nächsten Morgen sahen die Juden, daß Ce-
stius mit seinem Heere geflohen war, nur wenige hundert Mann im
Lager zurücklassend. Sie machten die Zurückgebliebenen nieder und
setzten Cestius nach, doch konnten sie ihn nicht einholen, da er sei-
nen Soldaten befohlen hatte, zur Beschleunigung der Flucht die schwe-
ren Wurfmaschinen und andere Kriegsgeräte auf dem Wege liegen
zu lassen. Die Juden verfolgten ihn bis nach Antipatris, und erst als
sie sich von der Unmöglichkeit überzeugt hatten, den Feind einzu-
holen, nahmen sie die von ihm auf dem Wege zurückgelassenen Be-
lagerungs- und Wurfmaschinen (die ihnen später bei der Verteidigung
Jerusalems gute Dienste erwiesen) mit sich und traten den Rückweg
an.
Mit Siegesgesang kehrten die tapferen jüdischen Scharen nach
Jerusalem zurück (Marcheschvan, d. i. Oktober 66). Das Volk ju-
belte. Der erste Beginn des Aufstandes war erfolgreich: die Zeloten
hatten die „unbesiegbaren Römer“ besiegt. Nun begann die Nation
fieberhaft zu einem entscheidenden Befreiungskriege zu rüsten.
§ 82. Die Nationalitätenkämpfe in Palästina und Ägypten
Das in Jerusalem entfaltete Banner des Aufstands gab allenthalben
das Zeichen zu blutigen Zusammenstößen zwischen Juden und Hei-
den. Der alteingewurzelte Judenhaß der Griechen war jetzt nicht mehr
durch die römische Gewalt gebändigt, die an manchen Orten die
heidnische Bevölkerung sogar zum Blutgericht über die aufsässige
Nation ermunterte. Für die Erfolge der Aufständischen im judäi-
schen Stammlande mußten ihre Brüder in den Randgebieten, wo die
jüdische Bevölkerung in der Minderheit war, sowie an den entfernte-
sten Orten der Diaspora büßen. In diesen Nationalitätenkämpfen ver-
flochten sich die altüberkommenen Motive sozial-wirtschaftlichen
Wettbewerbs mit den religiösen Beweggründen. Die Erhebung der Ju-
den gegen Rom bedeutete nicht nur einen politischen Protest, sondern
auch eine Herausforderung an das griechisch-römische Weltheiden-
tum, dem der um jene Zeit sich weit verbreitende Judaismus mitsamt
seinem neuen Trabanten, dem Christentum, in der Tat nicht unge-
fährlich war. Auf diese Herausforderung erwiderte nun die griechisch-
432
§ 82. Die Nationalitätenkämpfe in Palästina und Ägypten
römische Welt mit einer an ti-jüdischen Bewegung im gesamten Mor-
Das Beispiel gab Caesarea, wo der ebenso feige wie aller Mensch-
lichkeit bare Procurator Florus vor dem in Jerusalem ausgebrochenen
revolutionären Sturm Zuflucht suchte. Die hier erst vor kurzem durch
den Zusammenstoß der syrischen Griechen mit den Juden aufgepeitsch-
ten Leidenschaften entbrannten jetzt dank der offenen. Unterstützung,
die Florus den Judenfeinden zuteil werden ließ, noch heftiger. Als
die Nachricht von der Niedermetzelung der Römer in Jerusalem ein-
getroffen war, glaubten die Heiden von Caesarea, nunmehr unter dem
Deckmantel des Reichspatriotismus ihre jüdischen Mitbürger unge-
straft ausrotten zu dürfen. So begingen sie denn das Ungeheuerliche:
sie verheerten und vernichteten mit Hilfe der Truppen des Florus
die gesamte jüdische Gemeinde. Tausende von Juden wurden erschla-
gen (Josephus zufolge an 20000) und die Fliehenden von Florus er-
griffen und zu Galeerensklaven gemacht. In Caesarea blieb kein ein-
ziger Jude mehr übrig (August 66).
Die unerhörte Metzelei löste in allen Städten Palästinas mit ge-
mischter jüdisch-griechischer Bevölkerung furchtbare Erregung aus.
Die Wut der Juden, deren Brüder in ihrem eigenen Lande von den
Fremden hingeschlachtet wurden, kannte keine Grenzen. Überall tauch-
ten Scharen von Zeloten auf und feuerten die jüdischen Massen zum
heiligen Kriege gegen die Heiden an. In den am Jordan gelegenen
Städten der Dekapolis (Gadara, Hippus, Pella, Philadelphia) sowie in
den Küstenstädten (Ptolemais, Anthedon, Askalon, Gaza) und in eini-
gen Städten des Binnenlandes (Sebaste-Samaria) zerstörten oder ver-
brannten die Juden die Häuser der Heiden, wobei sie auch viele nie-
derschlugen. Ebenso verfuhren die Syrer mit den Juden, wo diese in
der Minderzahl waren: „Jede Stadt war in zwei feindliche Lager ger
teilt — sagt ein Zeitgenosse — jeder Teil der Bevölkerung suchte
seine eigene Rettung in dem Verderben des anderen. Die Tage ver-
gingen in blutigen Kämpfen, und die Nächte versetzten in Schrek-
ken“.
In Skythopolis gerieten die Juden in die tragische Zwangslage,
mit ihren eigenen Stammesgenossen kämpfen zu müssen. Die dortigen
Heiden versprachen nämlich, ihre friedlichen jüdischen Mitbürger
nicht zu behelligen, falls diese ihnen bei der Abwehr der die Stadt
bedrohenden zelotischen Streifabteilungen Beistand leisten würden. Die
28 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
433
Die römischen Procuratoren und die Volkserhebung
Juden hielten sich gewissenhaft an die Vereinbarung und kämpften,
so schwer es ihnen auch wurde, gegen ihre Brüder, die sie von der
gefährlichen Nachbarschaft befreien wollten. Bei diesen Kämpfen legte
Simon ben Saul, der Kecke von Skythopolis, besonders großen Eifer
an den Tag. Sobald jedoch die Zeloten verscheucht waren, begingen
die Heiden von Skythopolis einen schändlichen Treubruch: sie lockten
ihre jüdischen Mitbürger in einen außerhalb der Stadt gelegenen Hain
und machten sie alle nieder. Der Recke Simon, der sich nicht von
den Feinden umbringen lassen wollte, stieß sich selbst das Schwert
in den Leib, nachdem er zuvor seine ganze Familie getötet hatte.
Vor dem Tode beklagte er es laut, daß er im Bunde mit den Heiden
sein Schwert gegen die patriotischen Volksgenossen erhoben hatte.
Dieser Nationalitätenkampf erfuhr noch dadurch eine Komplika-
tion, daß in Syrien um jene Zeit eine starke religiöse Gärung im
Gange war. Ihre jüdischen Nachbarn vernichtend, standen die Heiden
zugleich auch denjenigen aus ihrer eigenen Mitte mit großem Arg-
wohn gegenüber, die unter der Einwirkung der Propaganda zur jü-
dischen Religion übergetreten waren oder sich zu ihr hingezogen fühl-
ten.
So mußte beispielsweise eine Gruppe von Heiden in Damaskus, die
die Ausrottung der Juden beschlossen hatte, ihren Mordplan aufs
sorgfältigste vor ihren Frauen geheim halten, die der jüdischen Reli-
gion treu ergeben waren. Sie lockten daher die Juden unter dem Vor-
wand der Einladung zu einer Volksversammlung auf den Turnplatz
und schlugen dort viele von ihnen nieder. Dieses Blutbad wurde schon
gegen Ende des Jahres 66 angerichtet, unter der unmittelbaren Ein-
wirkung der Nachricht über die Niederlage der römischen Legionen
des Cestius Gallus in Judäa.
Die Kunde von den Vorgängen in Palästina und Syrien wirkte
auch auf die alte Brutstätte des Judenhasses, auf das ägyptische Alex-
andrien, zurück. Die alexandrinischen Judenhasser vermochten sich
nicht damit abzufinden, daß nach der von ihnen im Jahre 38 ange-
zettelten Judenhetze der Kaiser Claudius den Juden die bürgerliche
Gleichberechtigung und die Autonomie wieder zugesichert hatte. So
beschlossen sie denn, dadurch ermuntert, daß der Kaiser den Streit
zwischen den Juden und den Griechen in Caesarea zugunsten der letz-
teren entschieden hatte, ihre Wühlarbeit unter Nero zu erneuern. Der
Augenblick des Aufstandes in Judäa schien besonders günstig. Wie
434
§ 82. Die Nationalitätenkämpfe in Palästina und Ägypten
ehedem die alexandrinischen Griechen die Ungnade, in die die Juden
unter Caligula gefallen waren, sich zunutze gemacht hatten, so beeilten
sie sich jetzt, den Haß Neros gegen die aufständischen Jerusalemer für
ihre Zwecke auszunützen. Die Griechen versammelten sich im Amphi-
theater, um eine Gesandtschaft zu wählen, die in Rom bei Nero we^
gen der Abschaffung der jüdischen Gleichberechtigung vorstellig wer-
den sollte. Auch eine Gruppe Juden, die den Beschluß der Versamm-
lung in Erfahrung bringen wollte, eilte ins Theater. Als die Griechen
sie erblickten, erhoben sie ein Geschrei: „Feinde, Spione!“ — und
begannen sie gewaltsam herauszudrängen und zu mißhandeln. Auf
den Lärm hin strömten die ergrimmten Juden in Haufen zum Thea,-
ter herbei, bewarfen die Griechen mit Steinen und schickten sich so-
gar an, das Gebäude in Brand zu stecken. Da griff der Stadtpräfekt,
der ehemalige Procurator Judäas, der Renegat Tiberius-Alexander, in
den Streit ein und forderte die Juden auf, sich zu zerstreuen. Der
den Juden wegen seines Abfalls vom Judentum verhaßte Präfekt wurde
jedoch mit Schimpf- und Hohnreden empfangen. Da ließ Tiberius-
Alexander gegen das jüdische Viertel Delta zwei römische Legionen
los und gab es ihnen zur Plünderung preis. Die Folgen waren fürch-
terlich. Die Zahl der ermordeten Juden stieg ins Ungeheuerliche (bis
zu öoooo, wenn man Josephus Glauben schenken soll; im J. 67).
Die Geschichte bietet uns hier ein erschütterndes Trauerspiel: der un-
mittelbare Urheber des Untergangs von Tausenden von Juden war ihr
ehemaliger Volksgenosse, der Neffe des edelmütigen Denkers Philo,
des feurigen Apostels des Judaismus.
28*
435
Viertes Kapitel
Der nationale Krieg und der Untergang
des judäischen Staates
(66-73)
§ 83. Die Regierung der nationalen Verteidigung
Die Folge des Sieges über Cestius Gallus war die zeitweilige Ab-
schüttlung der römischen Herrschaft in Judäa und Galiläa. Die rö-
mische Besatzung war aus Jerusalem verschwunden, der Oberbefehls-
haber Syriens geschlagen und der grimmige Procurator Florus vom
Revolutionssturm weggefegt und seitdem verschollen. Das als unbe-
siegbar geltende Heer ward besiegt, das unzerbrechliche Joch, wenn
auch nur für einen Augenblick, gebrochen. Dieser erste Erfolg der
Erhebung machte auf alle Gesellschaftsklassen den größten Eindruck.
Für eine kurze Weile söhnte er die Partei der Gemäßigten, die sich
früher dem aktiven Kampf gegen die Römer widersetzt hatte, mit
den Zeloten aus. Die jüdischen Patrioten sahen wohl ein, daß dies
nur der Anfang des Kampfes sei, daß an Stelle der geschlagenen Le-
gion des Cestius viele neue Legionen ein treffen werden und der be-
gonnene Krieg noch unzählige Opfer fordern würde. Jetzt trat aber
zum politischen Enthusiasmus die religiöse Begeisterung hinzu. Rom
ist freilich unvergleichlich mächtiger als Judäa, ist denn aber der
jüdische Gott nicht noch mächtiger als Rom? Wenn es überhaupt
jene von den alten Propheten verkündete Weltgerechtigkeit gibt, so
muß sie gerade jetzt triumphieren. Und in der Tat, ist denn der Fin-
ger Gottes nicht in dem eben errungenen Siege zu erkennen? Bedeu-
tet dieser Sieg nicht einen Wendepunkt in dem Geschicke des auser-
wählten Volkes?
Auf diesem Boden der politischen und religiösen Begeisterung
einigten sich die verschiedenartigsten Elemente der Gesellschaft. Viele
§ 83. Die Regierung der nationalen Verteidigung
von den „Friedfertigen“ oder den Anhängern des „passiven Widerstan-
des“ wurden durch den Gang der Ereignisse in die Reihen der aktiven
Kämpfer für die Unabhängigkeit, ja in deren vorderste Reihen hin-
eingezogen. So traten in die provisorische Regierung, die sich nach
den ersten Erfolgen der Revolution in Jerusalem gebildet hatte, sowohl
die Vertreter der Tempelpriesterschaft und der Aristokratie als auch
die „besonnenen“ Pharisäer ein. Das pharisäische Synhedrion, an des-
sen Spitze zu jener Zeit der Enkel des Hillel, Simon hen Gamaliel,
stand, begann wieder eine politische Rolle zu spielen. Die Hauptauf-
gabe der neuen Regierung bestand in der Organisierung der nationalen
Verteidigung angesichts des zu gewärtigenden Angriffs der Römer.
Die in den Jerusalemer Tempel einberufene Volksversammlung wählte
die Vertreter der vollziehenden Gewalt für die einzelnen Gebiete. In der
Hauptstadt wurden mit der Durchführung der Verteidigungsmaßnah-
men zwei Befehlshaber betraut: der ehemalige Hohepriester Chanan
(Ananos) und ein Mann vornehmen Standes, Joseph ben Gorion. Zum
Befehlshaber von Galiläa wurde ein junger Mann priesterlichen Ge-
schlechts von guter Bildung, Joseph ben Matthias, ernannt, der sich
später als Geschichtsschreiber unter dem Namen Josephus Flavius
berühmt gemacht hat. In die Provinz Edom wurden der Priester
Josua ben Sapphias und der Urheber des Aufstandes Eleasar ben
Chanan ja gesandt. Die übrigen Bezirke oder „Toparchien“ (Jericho,
Peräa oder Transjordanien u. a.) erhielten gleichfalls besondere, mit
weitgehenden Vollmachten ausgestattete Befehlshaber (Ende des Jah-
res 66).
So wurde die Jerusalemer Aristokratie durch die Macht der Um-
stände nicht nur in den Strudel der Revolution mit hineingerissen,
sondern sogar an die Spitze der von der Revolution geschaffenen pro-
visorischen Regierung gestellt. Dieser Anschluß der gemäßigten Ele-
mente brachte jedoch der Zelotenpartei neben dem zahlenmäßigen Zu-
wachs eine Einbuße an Qualität. Er mußte die Intensität des Zelotis-
mus geradeso verflüssigen, wie die Beimischung von Wasser den
kräftigen Wein verdünnt. Die im Augenblick des Sieges in die Reihen
der aktiven Kämpfer übergetretenen ehemaligen Parteigänger des Frie-
dens waren nicht genügend gestählt, um bei den bevorstehenden schwe-
ren Prüfungen auf ihrem Posten auszuharren. Auch war das Bündnis
zwischen den in die Koalitionsregierung eingetretenen Sadduzäern und
Pharisäern nicht von genügender Festigkeit. Verhängnisvoll für den
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
Verlauf des Krieges war außerdem auch noch die Tatsache, daß in
den beiden Hauptzentren der Revolution, in Jerusalem und in Gali-
läa, mit den Rüstungsmaßnahmen Männer betraut wurden, die selbst
an dem Erfolge des Aufstandes zweifelten. Die Jerusalemer Befehls-
haber, Joseph ben Gorion und der sadduzäische Hohepriester Chanan,
waren für die Organisierung der Verteidigung wenig geeignet. Als be-
sonders unglücklich erwies sich die Ernennung des Josephus Flavius
zum Landvogt und Oberbefehlshaber von Galiläa. Galiläa war ein
Vorposten auf dem Anmarschwege des Feindes und mußte daher den
ersten Anprall des gegen die Hauptstadt vorrückenden römischen Hee-
res Zurückschlagen. Der Organisator der Verteidigung Galiläas zeigte
sich aber nicht nur als ein unzulänglicher Heerführer, sondern auch
als ein wenig entschlossener Anhänger jenes Befreiungskrieges, in dem
er einen so verantwortungsvollen Posten auf sich genommen hatte.
Der Abkömmling eines Priestergeschlechts, genoß Josephus in sei-
ner Kindheit eine pharisäische Erziehung. Sogar in seiner Heimat-
stadt Jerusalem, dem Mittelpunkt der Schriftgelehrsamkeit, galt er
als ein ausgezeichneter Thorakenner. Die nahen Beziehungen, in die
er vorübergehend zu den Sadduzäern und Essäern getreten war (er
lebte sogar drei Jahre lang unter den Essäern in der Wüste) entfrem-
deten ihn keineswegs der pharisäischen Weltanschauung. Von stärke-
rem Einfluß auf ihn war der zweijährige Aufenthalt in Rom, wohin
er im 26. Jahre seines Lebens, während der Regierungszeit Neros, ge-
kommen war (64). Hier fand er Einlaß in den höheren Gesellschafts-
kreisen (er wurde von seinem Freund, dem jüdischen Hof Schauspie-
ler Alityrus, der Kaiserin Poppäa vorgestellt) und konnte so aus näch-
ster Nähe die Sitten des für ihn neuen Milieus kennen lernen. Die
Außenseite der griechisch-römischen Kultur mußte unausbleiblich
einen tiefen Eindruck auf den Jerusalemer Schriftgelehrten machen;
allein auch ihre Kehrseite, die tiefgreifende Sittenverderbtheit in al-
len Gesellschaftsschichten, blieb ihm nicht verborgen. Die ethischen
Prinzipien des Judaismus bewahrten Josephus vor der blinden Anbe-
tung der hellenisch-römischen Ideen, nicht aber vor der Verehrung
des politischen Genies der Römer. Er gewann die Überzeugung von
der unbezwingbaren Macht des Weltimperiums. Es schien ihm, als
sei Rom vom Himmel selbst bestimmt, die Welt zu regieren, und als
könnte Judäa durch die Verknüpfung seines Schicksals mit dem des
Imperiums ebensoviel an Zivilisation gewinnen, wie es an politischer
§ 83. Die Regierung der nationalen Verteidigung
Freiheit verlieren mußte. Dieser eigenartige römische Patriotismus,
im Geiste eines Agrippa II., verband sich bei Josephus mit einer treuen
Ergebenheit den religiös-sittlichen Interessen des Judentums gegen-
über, die er freilich jetzt in viel freierem Geiste auf faßte als die an-
deren rechtgläubigen Pharisäer. Josephus war über die Willkürherr-
schaft der Procuratoren von der Art des Florus aufs tiefste empört,
zugleich befürchtete er aber, daß eine offene Erhebung gegen die
römische Oberhoheit die Lage der Juden nur noch verschlimmern und
zu einem endgültigen Verlust der Autonomie führen würde.
Dies waren die Überzeugungen des jungen Josephus, als er kurz
vor der Revolution des Jahres 66 nach Judäa zurückkehrte. Was
mochte nun in diesen stürmischen Zeiten mit ihm vorgegangen sein?
Hatte ihn die allgemeine revolutionäre Strömung mitgerissen, war auch
er von dem Kriegstaumel befallen, der die ganze Nation nach dem
Siege über Gestius ergriffen hatte, oder gelangte er gar zufällig, dank
seinen Verbindungen mit der an der Spitze der Volks Verteidigung ste-
henden Aristokratie, in seine exponierte Stellung? Wie dem auch ge-
wesen sein mag, der freidenkende Schriftgelehrte, der Verehrer römi-
scher Staatlichkeit, der Friedens- und Römerfreund stand nun in den
vordersten Reihen der Kämpfer für die Freiheit des Vaterlandes ge-
gen Rom und hatte den verantwortungsvollen Posten des Chefs der
Verteidigung von Galiläa inne. Die Folgen dieses verfehlten politischen
Schrittes sollten gar bald offenbar werden.
In Galiläa angelangt, begann Josephus zunächst mit der Organi-
sierung der Verwaltung seines Rezirkes. Er gründete einen aus den
siebzig Ältesten zusammengesetzten Rezirksrat, setzte in verschiedenen
Städten Gerichte ein und begann sodann mit den Verteidigungs-
maßnahmen. Einige galiläische Städte, die ihrer Lage nach für die
Verteidigung besonders geeignet waren, ließ Josephus noch durch
Kunstvorrichtungen, durch Wälle, Gräben oder Mauern befestigen.
So wurden die Städte Tiberias, Gamala, Tarichea und Jotapata in Ver-
teidigungszustand gesetzt.» Gleichzeitig warb er Mannschaften für die
Volkswehr. Jede Stadt entsandte die Hälfte ihrer männlichen Ein-
wohner zur Armee. Die Eingezogenen wurden in kleine Gruppen ein-
geteilt, in soldatische Zucht genommen und nach römischem Vorbild
ausgebildet. So gelang es, eine nahezu hunderttausend Mann starke
Volks wehr in Galiläa aufzubieten.
Das Verhalten der verschiedenen Schichten der galiläischen Be-
439
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischert Staates
völkerung zu dem bevorstehenden Kriege war durchaus nicht gleich-
artig. In den Städten mit einer gemischten jüdisch-heidnischen Be-
völkerung spielte sich sogar ein innerer Kampf zwischen den Partei-
gängern des Krieges und dessen Gegnern ab. Die bedeutendste Stadt
Galiläas, Zippora (Sepphoris), hielt ganz offen zu den Römern. In dem
zu den Besitzungen des Königs Agrippa II. gehörenden Tiberias kam
es oft zu Zusammenstößen zwischen der römischen und der anti-römi-
schen Partei. Den Friedensfreunden traten jedoch die galiläischen Ze-
loten entgegen, an deren Spitze der leidenschaftliche Vaterlandsfreund
und tapfere Krieger Jochanan ben Levi aus dem Städtchen Gischala
(Gusch-Chalab) stand. Zwischen diesen beiden extremen Parteien
nahm der Oberbefehlshaber Galiläas, Josephus, eine schwer zu bestim-
mende Stellung ein. Zwischen den Friedensfreunden und Zeloten hin
und her schwankend, ging er in der Organisierung der Verteidigung
nicht mit jener Entschlossenheit vor, die diese kritische Zeit gebiete-
risch verlangte. Seine zweideutige Haltung flößte namentlich den Ze-
loten schweres Mißtrauen ein. So trat ihm Jochanan von Gis’chala
von Anfang an feindlich entgegen. Ganz von der Idee des Unabhänj-
gigkeitskampfes besessen, wurde der Anführer der galiläischen Ze-
loten ein unversöhnlicher Feind des von Jerusalem gesandten Befehls-
habers, dem er seine Untätigkeit im Amte und sogar das Vorhaben,
Galiläa an die Römer zu verraten, offen vorwarf.
Einen besonders starken Verdacht zog sich Josephus durch folgende
Tat zu. Einige junge jüdische Freiwillige aus dem Dorfe Dabaritta
überfielen einst den Verwalter des Königs Agrippa und nahmen ihm
sein ganzes Gepäck, das viel Kostbarkeiten enthielt. Da Agrippa in
der Tat mit den Feinden der Nation, den Römern, verbündet war,
wurde das beschlagnahmte Gepäck als Kriegsbeute zu Josephus nach
Tarichea gebracht. Josephus aber, der Agrippa einen Dienst erweisen
wollte, entschloß sich, ihm sein Eigentum zurückzuerstatten. Die Ta-
richeer witterten hierin Verrat und erhoben sich gegen den Vertei-
digungschef. Eine große Menge umstellte das Haus des Josephus und
drohte, es in Brand zu stecken. So von unmittelbarer Gefahr bedroht,
flehte Josephus demütig um Gnade und versprach, die erbeuteten
Schätze zu patriotischen Zwecken, nämlich zur Befestigung der Mauern
von Tarichea, zu verwenden.
Inzwischen ließ Jochanan von Gis’chala durch Boten in Jerusalem
hinterbringen, Josephus sei politisch unzuverlässig und der ganze Be-
§ 84. Der Krieg in Galiläa
zirk schwebe infolgedessen in größter Gefahr. Auf diese Nachricht
hin beschloß die Jerusalemer provisorische Regierung, Josephus sei-
nes Amtes eines galiläischen Oberbefehlshabers zu entheben, und ent-
sandte zu diesem Zwecke vier Bevollmächtigte mit einer Heeresabteilung
nach Galiläa. Von seinen Jerusalemer Freunden jedoch rechtzeitig von
dem Regierungsbeschluß in Kenntnis gesetzt, wußte es Josephus durch
allerlei diplomatische Kniffe dahin zu bringen, daß der Beschluß
rückgängig gemacht wurde; die inzwischen in Galiläa eingetroffenen
Bevollmächtigten aber ließ er gefangen nehmen und dann nach Je-
rusalem heimschicken. Die Warnungen der Patrioten hatten somit
nichts genützt, und auf dem Posten des Verteidigungschefs in Ga-
liläa blieb auch fernerhin ein Mensch, der mehr an die Unbesiegbar-
keit der Römer als an den Erfolg des von ihm selbst vorbereiteten Be-
freiungskrieges glaubte.
§ 84. Der Krieg in Galiläa
Mittlerweile zog aber über Galiläa das Kriegsgewitter herauf. Die
Nachricht von dem Aufstande in Jerusalem und von der Niederlage
der Legion des Gestius erreichte den bis zur tiefsten Stufe der Ent-
sittlichung gesunkenen Kaiser Nero, gerade als er sich in Griechen-
land an den olympischen Spielen ergötzte und auf der Zirkusarena
dem Artistenruhme nachjagte. Die Niederlage der römischen Legion
in der aufrührerischen Provinz war dem Ansehen des Imperiums in
höchstem Grade abträglich und zugleich überaus gefährlich, denn die
Revolution in Judäa konnte leicht die anderen untergebenen Orientvöl-
ker zur Nachahmung anreizen. Um das meuternde Land zu züchtigen
und der Ausbreitung des Aufstandes im römischen Orient zuvorzu-
kommen, war es geboten, einen erfahrenen und tapferen Feldherrn
mit einer großen Armee nach Judäa zu entsenden. Diese schwierige
Aufgabe übertrug nun Nero Flavius Vespasian, dem hervorragendsten
römischen Feldherrn jener Zeit, der sich namentlich in dem Kriege
mit den Britannen ausgezeichnet hatte. Zum Oberbefehlshaber aller
im Orient lagernden römischen Truppen ernannt, begab sich Vespa-
sian zu Beginn des Jahres 67 nach Antiochia und begann hier seine
Armee zu sammeln. Zugleich entbot er seinen Sohn Titus nach Alex-
andrien, damit er von dort noch eine Legion heranführe. Im Früh-
jahr brach Vespasian mit seinem Heere auf und konzentrierte seine
44i
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
Hauptkräfte in Ptolemais. Hier wurde er auch von Titus mit der ägyp-
tischen Legion eingeholt. Die Armee setzte sich insgesamt aus drei
ganzen römischen Legionen, vielen vereinzelten Kohorten und überdies
aus Hilfstruppen der Vasallenfürsten zusammen, worunter sich auch
die Agrippas II. befand; es waren im ganzen etwa sechzigtausend Mann
Fußvolk und Reiterei. Im römischen „Hauptquartier“, in Ptolemais,
befand sich auch der König Agrippa mit seiner Schwester Berenike.
Hier traf die jüdische Prinzessin mit Titus, dem Sohne des Ober-
befehlshabers, zusammen und bezauberte ihn durch ihre Schönheit. Es
wurde das berühmte Liebesverhältnis angeknüpft, das sich über die
ganze Dauer des jüdischen Krieges hinzog und beinahe zu einer for-
mellen Ehe der Berenike mit dem künftigen Kaiser geführt hätte.
In dieser an Tragik so reichen Epoche, als Judäa im Kampfe um
seine Unabhängigkeit verblutete, kämpfte also der Nachkomme der
judäischen Könige in den Reihen der Vaterlandsfeinde, während seine
Schwester in nahen Beziehungen zu jenem Manne stand, der dazu aus-
ersehen war, den Todesstreiqh gegen ihr Heimatland zu führen . . .
Kaum war Vespasian in Ptolemais eingetroffen, als Bürger aus
dem galiläischen Zippora bei ihm erschienen und ihn um eine römische
Besatzung zur Abwehr der revolutionären Truppen angingen. Vespasian
erfüllte mit Freuden die Bitte dieser mitten im auf rührerischen Lande
treu zu Rom stehenden Untertanen und schickte eine siebentausend
Mann starke Abteilung unter dem Befehl des Placidus nach Zippora.
Dieser begnügte sich nicht allein mit der Bewachung der Stadt, son-
dern unternahm mit seinen Kriegern auch Überfälle auf die angren-
zenden Ortschaften, deren Einwohner er niedermachen oder gefangen
nehmen ließ.
Bald rückte auch Vespasian mit seiner Hauptarmee gegen Galiläa
vor. Der Befehlshaber von Galiläa, Josephus, zog seine Volkswehr
unfern von Zippora zusammen und wartete hier den Angriff des Fein-
des ab. Allem schon die Gerüchte von dem Herannahen der großen
Streitmacht Vespasians riefen in den Reihen der nur unzulänglich
vorbereiteten jüdischen Volkswehr Verwirrung hervor, und viele be-
gannen das Lager des Josephus fluchtartig zu verlassen. Von der Mehr-
zahl seiner Mitstreiter so im Stich gelassen, zog sich Josephus mit
dem Rest nach Tiberias zurück. Schon um jene Zeit (wie er sich
selbst ausdrückt) „von bangen Ahnungen über den Ausgang des Krie-
ges überhaupt erfüllt“, erstattete er nach Jerusalem Bericht über die
442
§ 8U. Der Krieg in Galiläa
kritische Lage, in der er sich befand, und bat die Regierung, ihn
entweder zu Friedensverhandlungen mit den Römern zu ermächtigen
oder aber ihm ein Heer zur Verfügung zu stellen, das dem des Fein-
des ebenbürtig wäre. Dieser Bericht mochte jetzt freilich wie eine
bittere Ironie erscheinen: er rechtfertigte nur die früheren Befürch-
tungen des Jochanan von Gis’chala. Das Resultat der ungeschickten
Organisierung der Verteidigung von Galiläa machte sich bereits be-
merkbar. Mit Leichtigkeit besetzten die Römer ganz Niedergaliläa,
ohne auf Widerstand zu stoßen. Die jüdischen Heereshaufen ver-
schanzten sich mittlerweile in einigen festen Plätzen. Die Hauptmacht
der Volkswehr versammelte sich in Jotapata, einer der mächtigsten
Festungen, die auf einem steilen Felsen gelegen und von tiefen
Schluchten umgeben war. Dorthin kam auch Josephus aus Tiberias.
Sein Mut reichte wohl dazu aus, sich in einer gutgeschützten Festung
zu verteidigen, nicht aber, dem Feinde in offener Schlacht die Stirn
zu bieten.
Nun ließ Vespasian seine vereinigte Armee gegen Jotapata vor^
rücken und nahm die Belagerung auf. In seiner später verfaßten „Ge-
schichte des jüdischen Krieges“ schildert Josephus in aller Breite seine
während dieser Belagerung vollbrachten Heldentaten und seine außer-
ordentlichen Anstrengungen, den Angriff des Feindes auf Jotapata
abzuwehren. In Wahrheit bestanden jedoch diese Heldentaten nur aus
unbedeutenden Kriegslisten, die wohl die Katastrophe hinauszuzögern,
nicht aber sie abzuwenden vermochten. Wenn sich Jotapata dennoch
anderthalb Monate lang gegen die in der Belagerungskunst so tüchti-
gen Römer zu halten vermochte, so lag dies nicht sowohl an der Tap-
ferkeit des Heerführers, als vielmehr an der Uneinnehmbarkeit der
Stadt und an dem von den Belagerten an den Tag gelegten Mut -der
Verzweiflung. Die Römer beschossen die Stadt unausgesetzt mit Pfei-
len, Steinen und brennenden Holzscheiten, wogegen sich die Belagerten
von der Mauer herab in der gleichen Weise wehrten oder erfolgreiche
Ausfälle unternahmen, bei denen es ihnen zuweilen gelang, die einzel-
nen feindlichen Abteilungen oder deren Belagerungsvorrichtungen zu
vernichten. Als Vespasian den Befehl gab, den um Jotapata aufga-
schütteten Wall bis zur Höhe der Stadtmauer aufzuwerfen, befahl Jo-
sephus seinerseits, die Stadtmauer um einige weitere Klafter zu er-
höhen; da jedoch die Arbeiten unter dem herabprasselnden Pfeilhagel
nicht ausgeführt werden konnten, ließ er die Mauern mit feuchten
443
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
Stierfeilen bedecken, in denen die Pfeile stecken blieben und die ge-
schleuderten Feuerbrände erloschen. Als Vespasian die Sturmböcke an
die Festung heranbrachte, ließen die Einwohner Jotapatas mit Streu
oder Stroh gefüllte Säcke an den Mauern herab, um so die Stoßkraft
der Mauerbrecher aufzufangen, wobei sie zugleich die Römer mit
Feuerbränden bewarfen oder Schwefel und siedendes Öl auf sie herab-
gossen. Ein von der Mauer abgeschossener Pfeil traf sogar Vespasian
selbst und verwundete ihn leicht. Allein alle diese primitiven Abwehr-
mittel konnten nichts nützen. Die unausgesetzte Beschießung der Stadt
durch die weittragenden Wurfmaschinen („Ballisten“) richtete in den
Reihen der Verteidiger eine große Verheerung an. Die noch heil ge-
bliebenen jüdischen Krieger, die die Mauern bewachten, waren durch
die ununterbrochenen Anstrengungen gänzlich erschöpft. Ein Über-
läufer benachrichtigte davon den Feind. Darauf schlichen sich die Rö-
mer bei Morgengrauen an die Festung heran, erstiegen die Mauer,
machten die schlaftrunkene Wache nieder und besetzten Jotapata
(Tammus, Juni 67). An einen Widerstand war nicht mehr zu denken;
auch eine Schonung seitens der durch die lange Belagerung erbitterten
Römer war nicht zu erhoffen. So machten denn viele ihrem Leben
selbst ein Ende, während die anderen von den wütenden römischen
Soldaten niedergemacht wurden. Frauen und Kinder wurden gefan-
gen genommen, die Stadt selbst zerstört und dem Erdboden gleich-
gemacht.
Ein schmähliches Ende nahm die militärische Laufbahn des Jo-
sephus selbst, des Befehlshabers von Galiläa. Im Augenblick der Ein-
nahme der Stadt versteckte er sich, indem er durch eine Zisterne in
eine weiträumige Höhle flüchtete. Hier fand er vierzig seiner Kampf-
genossen vor, die bereits früher dort Unterschlupf gefunden hat-
ten. Eine Frau zeigte jedoch den Römern sein Versteck. Vespasian
schlug nun durch einen Boten den Flüchtlingen vor, aus der Höhle
herauszukommen und sich zu ergeben. Schon war Josephus dazu be-
reit, wurde aber von seinen Genossen durch Zureden und Drohungen
von dem schmählichen Schritte zurückgehalten. Sie selbst zogen es
vor, sich mit eigener Hand das Leben zu nehmen, statt sich dem
Feinde auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, und verlangten das
Gleiche von ihrem Führer. Josephus willigte zum Scheine ein, sann
aber dabei auf einen neuen Kniff. Auf seinen Rat wurde beschlossen,
daß die Kampfgenossen sich nach der durch das Los bestimmten
444
§ 54. Der Krieg in Galiläa
Reihenfolge gegenseitig niederstoßen sollten. Durch einen „glücklichen
Zufall“ blieb nun Josephus mit einem seiner Genossen als letzter am Le-
ben, nachdem alle anderen sich gegenseitig getötet hatten. Jetzt gelang
es Josephus, seinen Gefährten zu überreden: sie traten zusammen aus
der Höhle heraus und ergaben sich den Römern. Vor Vespasian ge-
führt, scheint der Führer der Galiläer ihm die ganze Wahrheit gesagt
zu haben: daß nämlich er, Josephus, nie mit dem Aufstand sympathi-
siert habe 'und nur durch die Macht der Umstände in die ganze Sache
hineingezogen worden sei. Als Josephus darauf eröffnet wurde, man
würde ihn vor das Gericht des Kaisers Nero stellen, erklärte er, es sei
dies ganz und gar unnötig, da er sicher sei, daß Vespasian selbst gar
bald Kaiser werden würde. Weniger diese schmeichlerische Weissa-
gung als vielmehr die völlige Unterwürfigkeit mag Vespasian dazu be-
wogen haben, das Los des Josephus zu erleichtern. Um den Vor-
schriften zu genügen, wurde der Kriegsgefangene zunächst aller-
dings in Haft gelassen, späterhin wurde aber der disqualifizierte jü-
dische Feldherr einer der nächsten Berater des Vespasian und des
Titus, in deren Gefolge er bis zur Zerstörung Jerusalems verblieb.
Die Kunde von dem Falle Jotapatas versetzte Jerusalem in tiefe
Trauer. Zunächst verbreitete sich das Gerücht, auch Josephus hätte
bei der Einnahme der Stadt den Tod gefunden, und die Jerusalemer
beweinten bitterlich den tapferen Verteidiger von Jotapata; als sie
aber erfuhren, daß Josephus am Leben sei und sich dem Feinde er-
geben hätte, verwandelte sich ihre Trauer in eine leidenschaftliche Ent-
rüstung: „Die Erbitterung der Juden über den Lebenden war ebenso
groß wie zuvor das Wohlwollen für den Totgeglaubten gewesen
war.“
Nach der Einnahme von Jotapata begab sich Vespasian zur Rast
nach Caesarea-Philippi, wo er der Gast seines Verbündeten, des Kö-
nigs Agrippa II., war. Zwanzig Tage lang wurden hier Feste gefeiert;
Agrippa veranstaltete zu Ehren seines Gastes die glänzendsten Mähler
und bejubelte als unterwürfiger Vasall den Sieg der Römer, am fri-
schen Grabe der Helden von Jotapata.
Der Jubel der Sieger ward jedoch bald durch besorgniserregende
Nachrichten aus Galiläa gestört. Die revolutionäre Bewegung griff dort
weiter um sich. Vespasian mußte sich mit der Wiederaufnahme des
Feldzuges beeilen. Rasch führte er seine Legionen an den Genezareth-
see und schlug sein Lager in der Nähe von Tiberias auf. Diese dem
445
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
Agrippa. gehörende und von den Insurgenten in Besitz genommene
Stadt stellte einen Punkt geringsten Widerstandes dar. Der tapfere
Zelotenhaufen verschwand dort in der vielstämmigen Menge der Bür-
ger, die sich dem Krieg widersetzten und für die Übergabe der Stadt
an die Römer ein traten. Zunächst jagten freilich die Zeloten die von
Vespasian mit der Aufforderung zur Kapitulation geschickten römi-
schen Unterhändler einfach hinaus; als sie sich aber dann in der Min-
derheit sahen, verließen sie die Stadt und zogen sich nach Tarichea
zurück. Darauf öffneten die friedlichen Bürger von Tiberias die Tore
und ließen die Römer in die Stadt ein. Für diese Unterwerfung wie
auch aus Rücksicht auf seinen Freund Agrippa, den Besitzer von Ti-
berias, ließ Vespasian den Einwohnern eine uneingeschränkte Amnestie
zuteil werden; auch untersagte er seinen Soldaten, die reumütigen Ein-
wohner der Stadt zu plündern oder irgendwie sonst zu behelligen.
Tapferen Widerstand leistete dagegen den Römern das gleichfalls
am Genezarethsee gelegene Tarichea. Hier spielte sich der Krieg zu
Land und zu Wasser ab. Bei einem ungestümen Ansturm des Feindes
sprangen die jüdischen Krieger in die Kähne, fuhren in den See hinein
und warteten dort einen günstigen Augenblick für einen Überfall ab.
Der unter dem Oberbefehl des Titus Tarichea belagernden Heeresabtei-
lung gelang es erst nach großen Anstrengungen, in die Stadt einzu-
dringen und sie zu verheeren. Sodann bauten die Römer Flöße und
setzten den auf den See geflüchteten Juden nach. Die Schlacht auf
dem Wasser endigte gleichfalls mit einem Siege der Römer. Sie durch-
bohrten die Flüchtenden, schlugen sie nieder und ertränkten sie im
Genezarethsee. An vielen Stellen wurde das Wasser rot von Blut und
die Ufer waren bedeckt mit den Leichen der Ertrunkenen und den
Trümmern der Boote (September 67).
Der Rest der galiläischen Patrioten verschanzte sich nun in dem
gegenüber Tarichea, auf dem transjordanischen Ufer des Genezareth-
sees, gelegenen Gamala. Es war dies ein schwer zugängliches Bergnest,
auf einem steilen, gleich einem Kamelhöcker gekrümmten Felsenrük-
ken gelegen, nach dem auch die Stadt benannt wurde (Gamal = Ka-
mel). Vespasian bot seine ganze Kriegskunst auf, um die natürlichen
Hindernisse, die den Zugang zur Stadt versperrenden Felsen und Ab-
gründe, zu überwinden. Mehrere Male wurden die anstürmenden rö-
mischen Soldaten von den tapferen Verteidigern zurückgeworfen, die
446
§ <94. Der Krieg in Galiläa
Steine und Pfeile von dem felsigen Kamme Gamalas herabschleuderten.
Dabei wurde auch der bei dem Heere des Vespasian weilende König
Agrippa am Ellbogen verletzt. Als es den Römern endlich gelungen
war, mit dem Sturmbock eine Bresche in die Mauer zu legen und in
die Stadt einzudringen, sahen sie sich in einer Falle. In den engen, an
den steilen Abhängen liegenden Gassen überfielen nämlich die Be-
lagerten die vordringenden feindlichen Haufen, stürzten sie in den
Abgrund und töteten sie in Massen. Die römischen Soldaten erstiegen
die Dächer der Häuser, die sich treppenartig, eine Reihe über der an-
deren, an den Bergvorsprüngen erhoben; die Dächer stürzten jedoch
unter der Last der Soldaten ein, wobei sie auch die niedriger gelegenen
Häuser zum Einsturz brachten. Sogar das Herz des in den Schlachten
gestählten Vespasian erzitterte angesichts dieser Unmenge von Opfern.
Und doch war das Los von Gamala besiegelt. Die Römer unterwühl-
ten einen der Festungstürme der Stadt, der bei seinem Einsturz die
Wache unter seinen Trümmern begrub. Die herbeigeeilten Truppen-
teile des Titus drangen in die Stadt ein und das Blutbad begann. Noch
drängten sich auf dem scharfen Felsenkamm viele von den Gamalern
und wehrten sich mit Pfeilen und Steinen gegen den Feind; als aber
auch die letzte Hoffnung auf Rettung geschwunden war, stürzten sie
sich von dem Felsen hinab und fanden in dem gähnenden Abgrund den
Tod. So fiel im Oktober 67 das anscheinend unbezwingbare Gamala.
Inzwischen bemächtigte sich eine Römerabteilung unter dem Be-
fehl des Titus Gis’chalas, des Stammsitzes des Zelotenführers Jo-
chanan. Die ortsansässigen Stadtbewohner standen dem Kriegseifer
der Zeloten gleichgültig gegenüber und waren bereit, sich zu er-
geben. Als nun Jochanan die Unmöglichkeit eines Widerstandes ein-
sah, verließ er des Nachts zusammen mit seiner Schar insgeheim
Gis’chala und zog, von vielen seiner Mitbürger begleitet, nach Jerusa-
lem. Die zurückgebliebenen Einwohner öffneten dem Titus die Tore.
Die Römer nahmen sofort die Verfolgung des Jochanan auf, indessen
war es diesem bereits gelungen, mit seiner Vorhut Jerusalem zu er-
reichen. Der Feind ließ seinen Grimm an den auf dem Wege zurück-
gebliebenen Flüchtlingen aus, indem er eine Unmenge der Erschöpf-
ten, auch Frauen und Kinder, niedermachte und gefangennahm.
Damit war gegen Ende des Jahres 67 die Eroberung Galiläas be-
endet. Der Weg nach Jerusalem stand offen. Ehe jedoch Vespasian
447
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
an die Belagerung der judäischen Hauptstadt ging, beschloß er, seinen
erschöpften Truppen Rast zu gönnen, und brachte sie in den Winter-
quartieren um Caesarea herum unter.
§ 85. Die Zelotenherrschaft in Jerusalem
Die mißglückte Verteidigung von Galiläa untergrub das Vertrauen
des Volkes zu der Regierung der nationalen Verteidigung. Die Jerusa-
lemer Aristokratie, die die Führung des Befreiungskrieges in ihre
Hände genommen hatte, hatte die Prüfung nicht bestanden. Die ver-
hängnisvollen Fehler des Josephus in Galiläa und sein Zurückweichen
schon vor dem ersten Mißerfolg wurden ihr allein zur Last gelegt
Die Tragödie von Galiläa verlieh den extremen Zeloten das Überge-
wicht über die gemäßigteren. Die Radikalen aus der Mitte der Zeloten
sahen nunmehr ein, daß eine Regierung, die aus konservativen Aristo-
kraten und besonnenen Pharisäern bestand, die wider Willen in den
Strudel der Revolution hineingezogen worden waren, nicht mit jener
Energie und fanatischen Kühnheit würde handeln können, die für die
weitere Führung des Freiheitskrieges unerläßlich waren. Sie würde das
Werk nicht zu Ende führen, sondern politische Kompromisse anstre-
ben oder schon vor der ersten Gefahr zurückweichen. So mußte man
denn solchen Führern die Zügel der Regierung entreißen und das
Werk der Landesverteidigung in die Hände der patriotischen „Eiferer“
aus den demokratischen Gesellschaftsschichten legen. Die Jerusalemer
Regierung wollte jedoch ihrerseits nicht die Macht aus den Händen
geben, weil sie befürchtete, daß die Zeloten, diese tapferen Kämpfer,
aber nur unzulänglichen Politiker, vor nichts zurückschrecken und so
das Land schließlich zum Untergang führen würden. Mit der Alter-
native der Zeloten: „Entweder Unabhängigkeit oder Tod“, konnten
sich die Gemäßigten eben nicht abfinden. So entbrannte denn der ver-
zweifelte Kampf um die Macht zwischen der provisorischen Regierung
einerseits und den revolutionären Zeloten andererseits.
Der Führer der Jerusalemer Zeloten war um diese Zeit Eleasar
ben Simon, der sich bereits früher, im Kriege gegen Gestius Gallus,
hervorgetan hatte. Ihn stellte jedoch bald der mit seiner Schar in die
Hauptstadt gekommene Führer der galiläischen Zeloten, Jochanan von
Gis’chala, durch seinen fieberhaften Tatendrang in den Schatten. Die
Partei des Jochanan entfaltete eine eifrige Agitation gegen die Jerusa-
448
§85. Die Zelotenherrschaft in Jerusalem
lemer Regierung. Die Agitierenden brandmarkten die regierenden
Aristokraten durch den Spitznamen „Römlinge“ und warfen ihnen
gegenrevolutionäre Gesinnung vor. Es wurde die Parole ausgegeben,
die Aristokratie zu stürzen und die Macht in die Hände des Volkes,
verkörpert durch die zelotischen Kämpfer, zu legen. Wie schon so oft
zu den Zeiten des Bürgerkrieges in Jerusalem, bezogen auch jetzt die
kampflustigen Patrioten eine Stellung auf dem Tempelberge. Sie be-
mächtigten sich des befestigten Tempels als einer Burg, von der aus
man die ganze Stadt beherrschen konnte. Hierauf schritten die Zeloten
zur Wahl eines Hohepriesters an Stelle des aristokratischen, von
Agrippa ernannten Hierarchen. Die Wahl fiel durch Los auf einen
bescheidenen Landmann namens Pinechas (Phannias), der einem Ge-
schlechte „einfacher Priester“ (Kohan-hediot) entstammte. Dies be-
deutete eine stolze Herausforderung der Priesteraristokratie, an deren
Spitze das Mitglied der provisorischen Regierung Chanan (Ananos)
stand.
Die Regierung griff den Fehdehandschuh auf. Ihre Hauptreprä-
sentanten, die ehemaligen Hohepriester Chanan und Josua ben Gamala,
der reiche Joseph ben Gorion und das Haupt der Pharisäer Simon
ben Gamaliel, nahmen den Kampf mit der drohenden Zelotendiktatur
auf. Sie ermahnten das Volk, den selbstbewußten Volksverführern,
die, auf ihre Tapferkeit vertrauend, das Vaterland ins Verderben stürz-
ten, nicht zu folgen. Nachhaltigen Eindruck machte insbesondere die
von Chanan in einer Volksversammlung gehaltene Rede, die die be-
sonnenen Jerusalemer zum Kampfe gegen die zelotischen Eindring-
linge aufrief, welche den heiligen Tempel in eine Soldatenkaserne ver-
wandelten. Die Parteigänger der Regierung stürzten sich nun mit Un-
gestüm auf die Zeloten. Auf beiden Seiten gab es viele Tote und Ver-
wundete. Schließlich gelang es der Partei des Chanan, ihre Gegner
in den inneren Tempelhof hineinzutreiben und sie dort einzuschlie-
ßen. Die Sieger umstellten darauf den Tempel mit einer Wache, da-
mit niemand heraus könne.
Die in Freiheit gebliebenen Zeloten verbreiteten inzwischen das Ge-
rücht, die Partei des Chanan hätte die Absicht, die Römer in die Stadt
zu rufen, um mit ihrer Hilfe die Patrioten zu überwältigen. Angesichts
der drohenden Gefahr riefen die Zeloten ihrerseits den Beistand der
kriegstüchtigen Edomiter an (Edom zählte damals noch zu den Besit-
zungen Judäas und seine Einwohner bekannten sich, wie erwähnt,
29 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Ed. II
449
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
offiziell zum jüdischen Glauben). Bald erschien denn auch in der
Tat ein bedeutender Edomitertrupp an den Toren Jerusalems, doch
wurde er von der Regierung in die Stadt nicht eingelassen. Da erhob
sich in einer der nächsten Nächte ein furchtbares Sturmunwetter, das die
Einwohner der Hauptstadt in Verwirrung versetzte. Die Zeloten mach-
ten sich nun das Nachlassen der Wachsamkeit der Posten zunutze,
öffneten unauffällig die Tore und ließen die Edomiter in die Stadt
ein. Nach Befreiung der im Tempel eingeschlossenen Zeloten wurden
die Verbündeten die Herren der Stadt. Man begann mit der erbar-
mungslosen Ausrottung der Aristokratie. Als erste Opfer fielen die
Häupter der Regierung, die Hohepriester Chanan und Josua ben Ga-
mala; ihre Leichen wurden auf den Platz geworfen und blieben lange
Zeit unbestattet. Die einflußreichen und wohlhabenden Männer aus
der Regierungspartei wurden festgenommen und wegen angeblicher
Verhandlungen mit den Römern vor ein Gericht gestellt, worauf das
„Revolutionstribunal“ sie zum Tode verurteilte. Recht und Gerechtig-
keit war freilich mit dem Terror unvereinbar. Als das im Tempel ein-
gesetzte Gericht einen von den festgenommenen Aristokraten, Sacharja
ben Baruch, mit Stimmenmehrheit freisprach, traten ein paar Zeloten
vor und stießen den Angeklagten mit den Worten: „Hier hast du auch
unsere Stimmen!“ nieder. Auch nachdem ihre Verbündeten, die Edo-
miter, abgezogen waren, setzten die Zeloten ihr Vernichtungswerk fort.
Von ihrer Hand fiel auch Joseph ben Gorion, der Leiter der Verteidi-
gung Jerusalems und ein tatkräftiges Mitglied der provisorischen Re-
gierung (68).
So vollzog sich die Staatsumwälzung, welche die auf die gemäßig-
ten Patrioten sich stützende aristokratische Regierung stürzte. Die Ze-
lotenherrschaft faßte in Jerusalem festen Fuß, und Jochanan von
Gis’chala wurde zum Diktator der Hauptstadt.
Vespasian verfolgte mittlerweile mit aller Aufmerksamkeit von
Caesarea aus den Bürgerzwist in Jerusalem. Seine Feldherren rieten,
den dort tobenden Streit auszunützen und die Belagerung der Haupt-
stadt sofort in Angriff zu nehmen. Vespasian entgegnete aber, es sei
unnütz, gegen Menschen anzukämpfen, solange sie sich selbst gegen-
seitig zerfleischten. Er beschloß abzuwarten, bis die Jerusalemer durch
die gegenseitige Befehdung und den Terror ihre Kräfte in dem Maße
aufgezehrt hatten, daß sie den römischen Angriff nicht mehr abzu-
wehren im Stande sein würden.
45o
§ 85. Die Zelotenherrschaft in Jerusalem
Die Zeitspanne zwischen der Niederwerfung Galiläas und der Be-
lagerung Jerusalems nützte Vespasian zur Unterwerfung der an-
deren Gebiete Judäas aus, wo er einen wohlorganisierten Widerstand
seitens der Bevölkerung nicht zu erwarten hatte. So wurde im Früh-
ling des Jahres 68 die bedeutende Stadt Gadara in Transjordanien be-
setzt, wo die vorwiegend griechische Bevölkerung die Juden den Rö-
mern auslieferte. Hierauf bezwang der Feldherr Placidus auch das
ganze transjordanische Gebiet. Die Schlacht tobte an den Ufern des
Jordan. Zu Tausenden fielen sowohl die jüdischen Krieger als auch
die friedlichen Einwohner, die vor dem Feinde flohen, von ihm aber
auf ihrer Flucht eingeholt wurden. Eine Unmenge von Leichen wurde
von der reißenden Strömung des Jordan in die mit Salz gesättigten
Gewässer des Toten Meeres fortgeschwemmt. — Und schon erschie-
nen die römischen Heeresabteilungen in den Jerusalem benachbarten
Ortschaften. Im Westen wurden Lydda und Jamnia besetzt, im Süd-
osten Jericho, während im Zentralgebiet Samarias ausreichende Be-
satzungen zurückgelassen wurden. Siegreich durchschritten die römi-
schen Legionen auch die südliche Provinz Edom.
Somit befanden sich die wichtigsten der nach Jerusalem führenden
Straßen in den Lländen der Römer. Schon rückte die Belagerung der
Hauptstadt in sichtbare Nähe. Da traten jedoch in Rom Ereignisse ein,
die die Unternehmung wieder hinausschoben. Im Juni 68 starb näm-
lich Kaiser Nero, und im römischen Reiche setzten dynastische Wir-
ren ein, die anderthalb Jahre fortdauerten. In diesem Zeitraum löste
eine ganze Reihe von Feldherren-Kaisern, Günstlingen dieser oder je-
ner Legionen, einander ab. In Erwartung der Befehle des neuen Kai-
sers Galba stellte Vespasian die Feindseligkeiten in Judäa ein. Um
diese Befehle entgegenzunehmen, sandte er seinen Sohn Titus nach
Rom; doch erfuhr dieser schon unterwegs, daß Galba nach einer
halbjährigen Regierung umgebracht worden war. Ihm folgten für eine
ganz kurze Zeit Otho und Vitellius, die Favoriten der westlichen Le-
gionen, auf dem kaiserlichen Throne. Die Einmischung der Armee in
die höhere Politik gab den östlichen, in Asien und Afrika lagernden
Legionen Anlaß, ihrerseits einen Kandidaten aufzustellen. So riefen
sie denn ihren Führer Vespasian zum Kaiser aus. Der gewaltsame Tod
des Vitellius (Ende des Jahres 69) machte Vespasian den Weg zum
Throne frei, und bald wurde er auch allerorten als Kaiser anerkannt.
Die langwierige Anarchie im Reiche lenkte die Römer zunächst von
29*
45i
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
der Unterwerfung Judäas ab. Sowohl der kriegerische Unternehmungs-
geist des Yespasian selbst als auch die Wachsamkeit der römischen
Garnisonen im aufrührerischen Lande hatten nachgelassen. Diese Ge-
legenheit ließen die in der Provinz zerstreuten Zeloten nicht unge^
nützt Vorbeigehen, und sie eröffneten einen Freischärlerkrieg. Sie sam-
melten sich unter der Anführung des tollkühnen jugendlichen Helden
Simon bar Giora (bar Giora bedeutet soviel wie „Sohn des zum Ju-
dentum übergetretenen Fremden“), des Hauptes der allerextremsten
Zelotenfraktion. Bar Giora hatte sich schon in dem Kriege mit Ce-
stius Gallus hervorgetan. Als er dann von der Regierung des Ghanan
zur Seite geschoben ward, verschanzte er sich in der südlichen Fe-
stung Masada, der Zufluchtsstätte der zelotischen Sikarier, und wurde
deren Anführer. Nach der Niederwerfung der Aristokratie riß Simon
in der Provinz die gleiche diktatorische Macht an sich, die Jochanan
von Gis’chala in der Hauptstadt zuteil geworden war; doch spielte
bei Simon der Terror als Machtmittel eine noch größere Rolle. An
der Spitze bewaffneter Banden unternahm er Überfälle nicht nur auf
die römischen Garnisonen, sondern auch auf die der revolutionären
Bewegung fernstehende friedliche Bevölkerung. Dank der Unterbre-
chung der Feindseligkeiten seitens der Römer gelang es Simon, ihnen
wieder das edomitische Gebiet, sowie die Stadt Hebron und andere
Ortschaften in der Nähe von Jerusalem zu entreißen. Die Kunde von
dem Herannahen der Sikarierhaufen Simons erfüllte den Führer der
Jerusalemer Zeloten, Jochanan von Gis’chala, mit Sorge. Eine Ver-
stärkung des Terrors in der Hauptstadt befürchtend, tat er alles mög-
liche, um den Sikariern den Zutritt dorthin zu wehren. Eine Zeloten-
abteilung wurde aus Jerusalem gegen sie ausgesandt, und es kam zu
einem Gefecht, bei dem die Frau des Simon bar Giora in Gefangen-
schaft geriet. Nun erschien Simon mit seinen schreckenerregenden
Banden dicht vor den Mauern Jerusalems; er wütete hier „einem ver-
wundeten Tiere gleich“, verheerte und verwüstete alles ringsum und
zog sich erst dann zurück, als man ihm seine Frau zurückgab. In-
dessen vermochte Jochanan selbst seine Getreuen von terroristischen
Handlungen nicht abzuhalten, und so bemächtigte sich die Anarchie
auch Jerusalems. Der unzufriedene Teil der Bevölkerung empörte sich
und ließ Simon bar Giora mitsamt seiner Schar in die Stadt ein (69).
Simon faßte in der Hauptstadt festen Fuß, und nun entbrannte zwi-
schen ihm und Jochanan ein erbitterter Kampf um die Macht.
§ 86. Die Belagerung Jerusalems
Die Anarchie herrschte somit gleichzeitig in Jerusalem und in
Rom. Doch ging sie in Rom bereits ihrem Ende entgegen. Der zum
Kaiser ausgerufene Yespasian begab sich nach Italien, nachdem er
seinem Sohne Titus den Oberbefehl über die in Judäa lagernden Trup-
pen übergeben und ihm aufgetragen hatte, den sich so sehr in die
Länge ziehenden Krieg schnellstens zu Ende zu führen (Anfang des
Jahres 70).
§86. Die Belagerung Jerusalems
Auch die an die Stelle der gestürzten aristokratischen Regierung
getretene revolutionäre Demokratie vermochte es nicht, in diesen stür-
mischen Zeiten eine feste Verwaltungsordnung zu schaffen. Unter den
Zeloten selbst stießen die verschiedenen Richtungen, die gleichsam
durch verschiedene Temperaturgrade der patriotischen Glut gekenn-
zeichnet waren, hart aufeinander. Die Partei des Eleasar ben Simon
setzte sich aus relativ gemäßigten Zeloten zusammen; die Partei des
Jochanan von Gis’chala zeichnete sich durch einen schärferen Radi-
kalismus aus, während die Anhänger Simon bar Gioras die extreme
terroristische Fraktion bildeten; dieser letzteren schloß sich auch eine
in Jerusalem zurückgebliebene Gruppe von Edomitern aus jener Schar
an, die bei dem Sturze der Aristokratenherrschaft mitgeholfen hatte.
In Jerusalem kam es nun zu der Diktatur von drei Männern. Die drei
zelotischen Führer teilten die Stadt in drei Rezirke unter sich auf.
Eleasar und Jochanan okkupierten verschiedene Teile des Tempelge-
bietes, wobei Jochanan den zuhöchst gelegenen Punkt des Tempel-
berges besetzte; Simon bar Giora beherrschte die Oberstadt und auch
einen bedeutenden Teil der Unterstadt. Die Parteien lagen in fort-
währendem Hader miteinander, wobei die Zusammenstöße nicht selten
von Mord und Brandstiftung begleitet waren. Ein Brand vernichtete
auch Scheunen mit riesigen, von der früheren Regierung angelegten
Lebensmittelvorräten1). Der Verlust dieser Vorräte hatte für die
Hauptstadt, der eine lange Belagerung bevorstand, verhängnisvolle
Folgen.
Inzwischen rückte das Passahfest des Jahres 70 heran. Das schon
D Die talmudische Sage (Gittin, 56 a u. sonst) nennt die Namen dreier reicher
Jerusalemer Stifter, auf deren Kosten diese Nahrungsvorräte beschafft wurden:
Nikodimon hen Gorion, ben Kalba-Sabua und ben Zizith Ha’kesat.
453
Dei nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
ohnedies durch Flüchtlinge aus der Provinz überfüllte Jerusalem
mußte nun noch eine Unmenge von Pilgern vom Lande in seinen
Mauern aufnehmen. Die den Tempel beherrschende Partei des Eleasar
sah sich gezwungen, den Festgästen die Tempeltore zu öffnen. Diese
Gelegenheit benützte die tatkräftigere Partei des Jochanan und be-
mächtigte sich des Tempelvorhofes. Nunmehr verschwindet Eleasar
ben Simon von der Bildfläche und in die diktatorische Gewalt teilen
sich nur noch zwei Führer: Jochanan von Gis’chala und Simon bar
Giora. Erst im letzten Augenblick, als um Jerusalem herum bereits
die Vorbereitungen zur Belagerung in Angriff genommen wurden,
stellten die Parteien des Jochanan und des Simon ihre gegenseitige Be-
fehdung ein. Die politischen und persönlichen Meinungsverschieden-
heiten verstummten schließlich vor der großen, alle in gleichem Maße
beseelenden Aufgabe der Verteidigung der heiligen Stadt und der Ret-
tung der nationalen Ehre.
Der neue römische Oberbefehlshaber Titus aber rüstete inzwischen
fieberhaft zu der Belagerung. Er zog um Jerusalem herum eine un-
geheure Armee zusammen. Sie setzte sich aus vier aus Syrien und
Ägypten herbeigeschafften Legionen und aus verschiedenen Hilfstrup-
pen zusammen, die von den verbündeten Fürsten gestellt worden wa-
ren; unter diesen fiel die von Agrippa II. gestellte Truppe auf. Der
Hauptberater des Titus, eine Art Chef seines Generalstabs, war der
Renegat Tiberius-Alexander, der ehemalige Procurator von Judäa, der
sich später durch die gegen seine ehemaligen Volksgenossen veranstal-
tete Hetze zu Alexandrien mit Schmach bedeckt hatte. Im Gefolge des
römischen Feldherrn befand sich auch der unglückselige Verteidiger
von Galiläa, Josephus Flavius, der sich die Gunst des Vespasian und
des Titus dadurch zu verschaffen gewußt hatte, daß er sich offen
als Freund der römischen Herrschaft erklärte. Drei Juden also (dar-
unter ein Abtrünniger) und eine Jüdin, Berenike, die Geliebte des Ti-
tus, schauten so vom feindlichen Lager aus zu, wie ihre Heimat ver-
blutete.
Am Vorabend des Passahfestes des Jahres 70 stand bereits die
römische Streitmacht vor den Mauern Jerusalems. Auf steilen Hügeln
erhob sich vor ihr die stark befestigte Stadt. Auf dem ein ziemlich
weites Plateau bildenden westlichen Hügel lag die Oberstadt; hier be-
fand sich der Palast des Herodes, der in eine Festung mit drei Türmen
verwandelt worden war. Dem westlichen Hügel gegenüber, durch eine
454
§86. Die Belagerung Jerusalems
tiefe Schlucht von ihm getrennt, zog sich der östliche Hügel hin, klei-
ner an Ausdehnung, jedoch mit steilen, fast senkrechten Abhängen;
hier befand sich die Unterstadt (die ehemalige Akra) und der auf
einer besonderen Anhöhe (dem Hügel Moria) gelegene Tempelplatz.
An den Tempelvorhof schloß sich die hochragende Zitadelle, die Burg
Antonia> an. Der Tempelberg war von einer besonderen Mauer umge-
ben, die sich terrassenartig erhob, und bildete so eine Festung für
sich. Die Ober- und die Unterstadt waren überdies von einer gemein-
samen Festungsmauer umschlossen; nur im Norden, wo die nach au-
ßen gekehrten Hügelabhänge ziemlich eben verliefen und so den Zu-
gang zu der Unterstadt erleichterten, wurden jetzt noch zwei Mauern
mit vielen Türmen errichtet. Von dieser nördlichen Seite her begann
nun Titus, wie ehedem Pompe jus und die anderen Eroberer, den
Sturmangriff gegen Jerusalem.
Hinter den festen Mauern brannten Zehntausende unerschrockener
Patrioten aus den Scharen des Jochanan und Simon vor ungeduldiger
Kampfbegier, während Hunderttausende von aus allen Enden des Lan-
des in die Hauptstadt geflüchteten Bürgern (die Bevölkerung Jerusa-
lems war auf über eine halbe Million gestiegen) sorgenvoll der Ent-
scheidung ihres Loses, des Loses der gesamten Nation, entgegensahen.
Nachdem Titus sein Lager um Jerusalem herum aufgeschlagen
hatte, begann er damit, daß er der Einwohnerschaft den Vorschlag
machte, ihm die Stadt freiwillig zu übergeben und sich in die rö-
mische Herrschaft zu fügen, so wie es vor dem Aufstande gewesen
war. Das Anerbieten wurde natürlich von den Zeloten mit Verachtung
abgelehnt. Noch hatten die Römer keine klare Vorstellung von der
Kampfeslust und der heldenmütigen Verwegenheit der Verteidiger Je-
rusalems; bald jedoch wurden sie gewahr, wer ihnen gegenüberstand.
Als Titus mit einer Reiterschar einen Rekognoszierungsritt in die Um-
gebung der Stadt unternahm und sich zu nahe an die Mauer heran-
wagte, stürzte sich aus dem Tore plötzlich eine Schar jüdischer Krie-
ger auf ihn, die ihn von seinem Heere abschnitt und ihn beinahe fest-
genommen hätte; doch gelang es ihm, auf seinem schnellen Rosse sein
Lager zu erreichen. Bald darauf machte eine Schar jüdischer Krieger
einen Ausfall aus der Stadt, überfiel die mit der Befestigung ihres La-
gers auf dem nahegelegenen Ölberge beschäftigte zehnte römische Le-
gion und verursachte eine Panik; die Legionäre ließen ihre Arbeit im
Stich und machten sich davon, viele Tote und Verwundete zurücklas-
455
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
send. Nur dem raschen Eingreifen des Titus gelang es, der schmäh^
liehen Flucht Einhalt zu gebieten und die Legion vor der Vernichtung
zu retten.
Gegen die heldenhafte Verwegenheit der jüdischen Patrioten muß-
ten die Römer ihre ganze strategische Kunst auf bieten. Rings um Je-
rusalem arbeitete man fieberhaft an den Vorbereitungen zum Sturme
angriff. Weite Strecken entlang wurden die Gärten und die Haine
abgeholzt, Wälle aufgeworfen und allerhand Belagerungswerke er-
richtet. Der dreifachen Festungsmauer an der nördlichen Seite gegen-
über wurden riesengroße Wurfmaschinen aufgestellt, Bailisten, die
Steine, mitunter über einen Zentner schwer, in die Stadt schleuderten;
Mauerbrecher oder „Widder“ (Balken mit eisernem Beschlag in der
Form eines Widderkopfes) wurden herangeholt. Die festen Mauern
Jerusalems erzitterten unter den wuchtigen Schlägen der Sturmböcke,
«doch die Herzen seiner Verteidiger blieben unerschüttert. Die Belager-
ten stellten ihrerseits auf den Stadtmauern Kriegsmaschinen auf, eben
jene, die bei der Verfolgung des Cestius Gallus ihnen in die Hände
gefallen waren; sie bewarfen die Römer mit Steinen, Pfeilen und
Feuerbränden; die Kühnsten schreckten vor den verzweifeltsten Ausr
fällen nicht zurück. So verließ einst eine vereinigte Schar von Kämpr
fern aus den Parteien des Jochanan und Simon unbemerkt die Stadt,
steckte die zunächst liegenden Belagerungsmaschinen der Römer in
Brand und schickte sich schon an, in das feindliche Lager einzubre-
chen. Um die lichterloh brennenden Maschinen entspann sich ein ver-
zweifelter Kampf. Nur mit größter Mühe gelang es dem Titus, die
Maschinen zu retten und die Juden zum Zurückweichen in die Stadt
zu zwingen.
Und doch tat die römische Belagerungskunst das ihre. Die unaus-
gesetzten Stöße der Sturmböcke legten in die äußere Stadtmauer eine
Bresche nach der anderen. Nach vierzehntägigen Sturmangriffen be-
mächtigten sich die Römer der ersten Mauer an der nördlichen Seite
von Jerusalem (im Mai 70). Von hier aus eröffnete sich den Be-
lagernden der Blick auf die zweite Mauer, und Titus gab Befehl, sie
unverzüglich zu erstürmen. Die mannhafte Verteidigung der Juden
stand den kunstvollen Angriffen der Römer nicht nach. „Weder die
einen noch die anderen wurden — wie der Augenzeuge (Josephus) er-
zählt — von Ermattung ergriffen: Angriffe, Mauergefechte, Ausfälle
in kleineren Haufen dauerten unausgesetzt den ganzen Tag fort . . .
456
§86. Die Belagerung Jerusalems
Frühmorgens fingen sie an und kaum brachte die Nacht einen Still-
stand: sie war schlaflos für beide Teile und unheimlicher als der Tag;
für die Juden, weil sie jeden Augenblick die Erstürmung der Mauer,
für die Römer, weil sie stets einen Angriff auf das Lager befürch-
teten. Auf beiden Seiten brachte man die Nacht in Waffen zu, und mit
dem ersten Frühlicht stand man wieder kampfgerüstet da.“ Die Ver-
teidiger der zweiten Mauer vollbrachten Wunder an Tapferkeit, die
selbst die Römer in Staunen versetzten. Als nach Ablauf von fünf Ta-
gen nach der Erstürmung der ersten Mauer der Feind sich auch der
zweiten bemächtigt hatte, entbrannte ein verzweifelter Kampf in der
von den Römern besetzten Vorstadt Bezetha. Rasend stürzten sich die
Juden auf die dort eindringenden Römer und jagten sie durch den
schmalen, von einem Sturmbock in die Mauer geschlagenen Durch-
gang zurück, wobei nicht wenige erschlagen wurden. Erst nach einigen
Tagen gelang es Titus, sich von neuem der zweiten Mauer zu bemäch-
tigen und in der Vorstadt festen Fuß zu fassen.
Jedoch das Schwerste stand noch bevor. Es galt noch, die stark
befestigte Oberstadt und die Tempelzitadelle, die Burg Antonia, zu be-
zwingen. Titus befahl, diesen beiden Punkten gegenüber vier Wälle
zu errichten und auf diesen Angriffsmaschinen aufzustellen. Nicht
weniger als vier Legionen arbeiteten ununterbrochen an den Vorrich-
tungen. Allein auch die Belagerten legten nicht müßig die Hände in
den Schoß. Die Verteidigung der Oberstadt hatte Simon bar Giora
in der Hand, während die Burg Antonia von Jochanan von Gis’chala
verteidigt wurde. Sie ließen beide die Römer mit den Wurfmaschinen
beschießen und behinderten so die Aufschüttung der Wälle. Titus ver-
suchte noch einmal, die Helden der Verteidigung zur Übergabe der
Stadt zu bewegen, und entsandte als Unterhändler Josephus Flavius.
Josephus erstieg eine gegenüber der Mauer gelegene Anhöhe und re-
dete den Belagerten zu, den unnützen, eine Unmenge von Opfern ver-
schlingenden Kampf aufzugeben. Die auf der Mauer Stehenden unter-
brachen jedoch den Redner mit Entrüstungsrufen und beschossen ihn
sogar. Weder der Inhalt der Rede des Josephus, die auf Ermahnun-
gen, sich in das Los und in die „gottgewollte“ römische Herrschaft
zu ergeben, hinauslief, noch die Persönlichkeit des zu den Unterhand-
lungen ausgesandten Überläufers vermochten auf die Belagerten irgend
einen Eindruck zu machen.
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
§ 87. Die Einäscherung des Tempels
Noch lange würden sich die standhaften Verteidiger Jerusalems
gewehrt haben, wenn ihren Feinden nicht eine elementare Gewalt zu
Hilfe geeilt wäre: der Hunger. In der von Menschen überfüllten, vom
Lande abgeschnittenen und jeder Getreidezufuhr beraubten Hauptstadt
machte sich ein äußerster Mangel an Lebensmitteln bemerkbar. Noch
war man in der Lage, die die Mauern verteidigenden Krieger mit Nah-
rung zu versehen, noch konnten die Reichen für schwerstes Geld ein
Maß Weizen erstehen — doch die Mehrzahl der Bevölkerung war dem
Hungertode nahe. Die durch den Hunger Erschöpften begannen ins-
geheim die Stadt zu verlassen, um sich in der Umgegend Nahrung zu
verschaffen. Viele von ihnen gerieten so in die Hände der die Stadt
umringenden Römer und mußten grausamste Martern und Todesstrafe
erleiden. Titus befahl, solche Flüchtlinge an der Stadtmauer gegenüber
errichtete Kreuze zu schlagen, um so den Belagerten Schrecken einzu-
jagen. „Die Zahl der Gekreuzigten war so groß, daß es keinen Platz
mehr gab für die Kreuze und keine Kreuze für die Menschenleiber.“
Vielen Flüchtlingen wurden auf Geheiß des Titus die Hände abge-
hauen, worauf man sie in die Stadt zurücktrieb, damit sie durch ihren
Anblick Schrecken unter der Einwohnerschaft verbreiteten.
Die Bestialität der Römer machte indessen die jüdischen Krieger
nicht nur nicht mürbe, sondern steigerte noch ihren Kriegseifer. Als
die römischen Legionen nach unsäglichen Mühen schließlich mit der
Errichtung der Sturm wälle der Oberstadt und der Burg Antonia ge-
genüber fertig waren und ihre Maschinen zur Aufstellung gebracht
hatten, brach der Gegenangriff der Juden von neuem los. Jochanan
von Gis’chala ließ einen unterirdischen Gang von der Burg aus bis zu
den gegenüberliegenden römischen Belagerungswerken graben und
steckte dann diese in Brand, so daß alles unter furchtbarem Getöse
zusammenstürzte. Gleichzeitig unternahm die Schar des Simon bar
Giora unter einem Hagel feindlicher Pfeile einen verzweifelten Aus-
fall und legte die der Oberstadt gegenüber aufgestellten Wurfmaschi-
nen und Mauerbrecher in Asche. Der tollkühne Angriff der Juden
brachte die Römer zur Verzweiflung und sie beschlossen nun, die
Stadt durch Aushungerung niederzuringen. In dem Kriegsrat des Titus
wurde der Entschluß gefaßt, die Stadt mit einem Steinwall zu um-
geben und diesen mit Wachposten zu besetzen, um so jede geheime
458
§ 87. Die Einäscherung des Tempels
Lebensmittelzufuhr zu unterbinden und die Einwohner dem Hunger-
tode preiszugeben. In wenigen Tagen war der Wall fertig. An drei-
zehn verschiedenen Punkten errichtete man Türme darauf, in denen
die römischen Streitwachen Unterkunft fanden.
Die Blockade verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Hungersnot wü-
tete in der umzingelten Stadt mit fürchterlicher Gewalt. Jetzt drang
sie bereits in die Paläste der Reichen und auch in die Reihen der Strei-
ter. In den Straßen irrten aschfahle, vom Hunger aufgeschwollene
Menschen umher, die oft entkräftet zusammenbrachen. Still und lang-
sam starben an Erschöpfung Männer, Frauen und Kinder dahin; die
Kräfte reichten nicht mehr aus, die Toten zu beweinen. Dem Tod
schauten alle unverwandt ins Auge — man hatte sich an ihn gewöhnt.
Eine unheimliche Friedhofsstille herrschte in der Stadt. Die raühen
Krieger standen auf den Mauern, düster, voll Trauer, bereit zu ster-
ben, nicht aber sich zu ergeben. Mit raffiniertem Hohn neckten sie
die Römer, indem sie ihnen aus der Ferne die reichen, im Lager auf-
gespeicherten Lebensmittelvorräte zeigten. Später erzählte man von
gräßlichen Auftritten, zu denen die Hungersnot die Belagerten getrie-
ben hätte. Die durch Krämpfe in Raserei geratenen Menschen rissen
sich gegenseitig den Bissen aus dem Munde, verzehrten gierig die Ab-
fälle, kauten an Heu und Leder. Die vornehme Martha, die Witwe
des Hohepriesters Josua ben Gamala, die einstmals auf mit Teppichen
bedeckter Straße in den Tempel ging, stöberte jetzt in den Kehricht-
haufen nach Abfällen. Von neuem häuften sich Fälle von Flucht der
vom Hunger gemarterten Menschen aus der belagerten Stadt, doch
starben solche Flüchtlinge größtenteils schon vor den Stadtmauern,
so wie sie nur gierig über die sich ihnen bietende Nahrung herfielen.
Unter den römischen Soldaten kam das Gerücht in Umlauf, die jüdi-
schen Flüchtlinge verschlängen beim Verlassen der Stadt Goldmünzen
in Fülle, um sie vor den Räubern zu verstecken. So fingen denn die
habgierigen Soldaten die Unglückseligen ab und schlitzten ihnen auf
der Suche nach Gold den Leib auf.
Als Titus nun der verheerenden Wirkung des Hungers auf die Be-
lagerten gewahr wurde, entschloß er sich endlich zu einem Sturman-
griff auf die Burg Antonia. Die durch die wuchtigen Stöße des Wid-
ders zerrüttete Mauer um die Burg stürzte ein, doch dahinter erhob
sich vor den staunenden Blicken der Römer eine neue Mauer, die von
459
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
Jochanan in aller Eile errichtet worden war. Nach einem hartnäckigen
Kampfe gelang es den Römern, in die Burg einzudringen, die Wache
niederzumachen und sich so dieser Bastei des Tempelberges zu be-
mächtigen (5. Tammus, Juli 70). Jochanan und seine Zeloten ver-
schanzten sich in dem Vorhofe des Tempels; die Römer stürzten ihnen
nach, doch wurden sie zurückgeschlagen und erlitten schwere Verluste.
So mußte sich Titus vorerst mit der Eroberung der Burg Antonia be-
gnügen. Er befahl, die Burg bis auf den Grund einzureißen (nur die
Seitentürme ließ er stehen), um auf diese Weise den Platz für die
Kriegsoperationen gegen den befestigten Tempelvorhof freizube-
kommen.
Der Feind stand nunmehr vor dem heiligsten Bollwerk der Nation,
vor dem Jerusalemer Tempel. Von dicken Mauern umgeben, stellte der
Tempelvorhof eine mächtige Festung dar. Längs der Mauern, im In-
neren des Hofes, zogen sich die Säulengänge hin. Hier waren jetzt
unter dem Befehl des Jochanan die erlesensten Streitkräfte versam-
melt. Der Tempel verwandelte sich in ein Kriegslager. Wegen Mangels
an Priestern und Opfertieren wurde die alltägliche Opferdarbringung
(Tamid) eingestellt (17. Tammus). Der erneute Versuch des Josephus
Flavius, Jochanan durch seine Bitte zu bestimmen, den Tempel zu
schonen und sich den Römern zu ergeben, schlug fehl. Nur eine ganz
kleine Gruppe vorwiegend Angehöriger der Priesterfamilien lief ins-
geheim in das römische Lager über und bekam das Provinzstädtchen
Gophna von Titus zugewiesen. In diesen Tagen verließ Jerusalem wohl
auch das Haupt der friedfertigen Pharisäer, Jochanan ben Sakkai, dem
Titus in Jabne Zuflucht gewährte (s. unten, § 91). Die Zeloten aber
fuhren fort, ihre letzte Zufluchtsstätte zu verteidigen. Von den Dä-
chern der Tempelsäulenhallen herab bewarfen sie die ringsherum einen
Sturmwall errichtenden Römer mit Pfeilen, Steinen und Feuerbrän-
den. Einmal gelang es den Zeloten, die Römer in eine Falle zu locken.
Sie täuschten vor, als verließen sie die westliche Säulenhalle und zö-
gen sich in das Innere des Tempelhofes zurück, während sie zwischen
den Säulen unbemerkt Holz und Pech aufhäuften. Viele waghalsige
Römer erklommen sogleich auf Leitern das Dach der verlassenen
Halle, doch in demselben Augenblick zündeten die Juden den bereit-
gelegten Brennstoff an, so daß die Römer in den Flammen den Tod
fanden oder mit den zusammenbrechenden Säulen in die Tiefe stürz-
§ 87. Die Einäscherung des Tempels
ten. Jetzt entschlossen sich auch die Römer zur Brandstiftung. Auf
Geheiß des Titus zündeten die Soldaten das mit Silber beschlagene
hölzerne Tor in der Tempelumfriedung an. Das Metall schmolz, das
Holz begann zu brennen und rasch griff das Feuer auch auf die be-
nachbarten Hallen und die anderen Bauten über. Nunmehr war der
Zugang zum äußeren Tempelhof frei. Die Juden wurden in den in-
neren Tempelhof zurückgedrängt (8. Ab).
Am nächsten Tage berief Titus einen Kriegsrat. Die Frage stand
zur Entscheidung, was mit dem Tempel geschehen solle. Die einen
waren für die Zerstörung dieses „Bollwerks der Meuterer“, um so den
Juden den Glauben an die Unzerstörbarkeit ihres Heiligtums zu neh-
men; die anderen rieten hingegen, den prächtigen, in der ganzen Welt
berühmten Bau zu verschonen1). Diese letztere Meinung drang durch
und der Entschluß wurde in diesem Sinne gefaßt. Doch vermochte
man in der Hitze des Gefechtes nicht daran festzuhalten. Die in den
inneren Tempelhof zurückgedrängten Juden unternahmen nämlich mit
der ganzen Energie der Verzweiflung unausgesetzt Ausfälle und be-
stürmten mit Ungestüm die den Hof umstellenden römischen Wachen.
Während eines dieser Gefechte, an einem glühenden Sommertage, als
die vor kurzem niedergebrannten Hallen des Vorhofes noch rauchten,
begannen die römischen Soldaten Feuerbrände in den inneren Hof zu
schleudern. Ein Feuerbrand geriet durch ein Fenster in einen der in-
neren Tempelräume, und das Riesengebäude stand in hellen Flammen
(io. Ab, August 70). Unter den Verteidigern des Tempels und den
dort Zuflucht suchenden Bürgern setzte eine wilde Panik ein. Rasch
näherte sich Titus mit der Hauptstreitmacht. Er hatte kaum noch Zeit,
einen Blick in das Innere des Tempels zu werfen — dann mußte er
schleunigst vor den Flammen zurückweichen. Ohne weiter auf die Be-
fehle zu hören, setzten die römischen Soldaten ihr Brandstiftungswerk
an verschiedenen Stellen des Tempelbaues fort und gar bald verwan-
delte sich der ganze Platz in ein einziges Flammenmeer.
Die blutige Schlacht erreichte jetzt ihren Höhepunkt. Zwischen den
brennenden und einstürzenden Bauten rannten die von Entsetzen er-
griffenen Bürger hin und her. Die Römer machten alle, auf die sie
1) Dem Zeugnis des Josephus Flavius, eines Panegyrikers des Titus, zufolge,
war dieser für die Schonung des Tempels. In der „Chronik“ des Sulpicius Severus
(zu Beginn des V. Jahrhunderts), der alte Quellen zugrunde liegen, wird dagegen
behauptet, daß gerade Titus auf der Zerstörung des Tempels bestanden hätte.
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
stießen, kurzerhand nieder: groß und klein, Bewaffnete und Wehr-
lose, die sich ergebenden so gut wie die, welche sich zur Wehr setzten.
Viele Juden stürzten sich selbst in die Flammen, von dem Wunsche
beseelt, zusammen mit ihrem nationalen Heiligtum unterzugehen. „Der
Tempelberg — so erzählt der Augenzeuge Josephus Flavius — schien
von Grund aus zu glühen, da er von allen Seiten in Feuer gehüllt war;
aber noch heftiger als die Feuerströme schienen die Blutströme zu
fließen . . . Nirgend sah man mehr vor Leichnamen den Boden: über
ganze Berge von Toten rannten die Soldaten den Fliehenden nach.“
Ein Haufen Frauen und Kinder suchte in einer der Außenhallen des
Tempels Zuflucht, die Römer steckten diese aber in Brand und alle
kamen um. Nachsicht wurde gegen niemanden geübt. Als einige ge-
fangene Priester vor Titus geführt wurden und ihn um Gnade anfleh-
ten, gab er mit beißender Ironie zurück: „Den Priestern geziemt es,
mit ihrem Tempel zusammen zugrundezugehen“ — und ließ sie sämt-
lich hinrichten.
Nur wenigen der Tapferen gelang es, sich durch die Reihen der
Römer durchzuschlagen und aus den brennenden Trümmern zu flie-
hen. Unter ihnen befand sich auch der Zelotenführer Jochanan von
Gis’chala mit einem Haufen ihm ergebener Krieger. Sie retteten sich
in die von den Römern noch nicht niedergerungene und von den
Scharen des Simon bar Giora verteidigte Oberstadt hinüber. Hierauf
pflanzten die römischen Legionen mitten unter den rauchenden Trüm-
mern des Tempels, dem östlichen Tore gegenüber, ihre Feldzeichen
auf. Hier riefen sie nach alter römischer Sitte Titus zum „Imperator“
(Ehrentitel des siegreichen Heerführers) aus. Zum Zeichen seiner An-
erkennung gab Titus seinen Soldaten alle eroberten Stadtteile zur
Plünderung preis. Es wurden ausgeplündert und verbrannt die Akra,
Ophla (Ophel), das Gebäude des Stadtrats und des Archivs und dann
auch die ganze Unterstadt bis zum Siloahkanal.
§ 88. Die Einnahme der Oberstadt und die Zerstörung Jerusalems
Die Zelotenscharen des Jochanan und des Simon verschanzten sich
in der Oberstadt, die von der von den Römern besetzten Unterstadt
eine früher überbrückt gewesene Schlucht trennte. Die Zeloten hätten
sich noch lange in der wohlbefestigten Oberstadt halten können, wenn
462
§ 88. Die Zerstörung Jerusalems
ihnen ausreichende Lebensmittelvorräte zur Verfügung gestanden hät-
ten. Ohne Proviant jedoch, mit einer durch die Hungersnot erschöpf-
ten und nach der Einäscherung des Tempels ihres früheren Glaubens
an die Errettung des Vaterlandes beraubten Bevölkerung bedeutete die
Fortsetzung der Verteidigung eine übermenschliche Aufgabe. Simon
und Jochanan erklärten daher Titus, sie seien zur Räumung der
Hauptstadt unter der Bedingung bereit, daß man ihnen in voller Waf-
fenrüstung freien Durchzug gewähre. Die Forderung des Titus jedoch,
die Waffen zu strecken und bedingungslos zu kapitulieren, wiesen die
Zeloten entschieden ab, sich darauf berufend, sie hätten geschworen,
solange sie lebten, die Waffen nicht aus der Hand zu legen. So wur-
den die Unterhandlungen abgebrochen und der Kampf begann von
neuem.
Die Zeloten sammelten sich in dem ehemaligen Palast des Herodes.
Es war dies eine starke Festung mit drei massiven Türmen, die Hippi-
kus, Phasael und Mariamme genannt wurden. An diesem Punkte er-
richteten die Römer ihre Wälle. Die Belagerten waren nicht mehr im-
stande, sich mit der früheren Tatkraft zu wehren. Die Zucht in ihren
Reihen hatte nachgelassen. Die unter dem Befehl des Simon stehen-
den Edomiterscharen begannen zu den Römern überzulaufen und die
härtesten Maßnahmen des Führers vermochten nicht, der Fahnenflucht
Einhalt zu gebieten. Viele Zeloten suchten in den unterirdischen Gän-
gen Zuflucht in der Hoffnung, auf diese Weise dem unausbleiblichen
Blutbade zu entgehen. Die übriggebliebenen Kämpfer verteidigten mit
letzter Kraftanstrengung ihre Stellung. Doch die ersten von den römi-
schen Sturmböcken in die Festungsmauer gelegten Breschen ließen
sie erkennen, daß jeder weitere Widerstand zwecklos sei. So verlie-
ßen sie ihre Türme und zogen sich in die unterirdischen Gänge /zu-
rück. Die Römer brachen darauf in die Oberstadt ein und pflanzten,
ihre Banner auf den Türmen des Herodespalastes auf (Elul, Septem-
ber 70). Wie raubgierige Tiere stürzten sie sich mordend, sengend
und plündernd auf die entkräfteten, erschöpften Einwohner. Nicht
selten stießen die beutegierigen Römer bei ihrem Einbruch in Häuser
und Höfe auf Haufen von Leichen, die Opfer der Hungersnot, und
der Anblick flößte sogar den rauhen Soldaten solches Entsetzen ein,
daß sie, an ihre Beute vergessend, wieder heraussprangen. Tag und
Nacht stand die Oberstadt in Flammen. „Und am nächsten Morgen —
463
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
so bemerkt wehmütig der Augenzeuge (Josephus) — ging die Sonne
über den rauchenden Trümmern Jerusalems auf“.
Nach fünfmonatlicher Belagerung befand sich nunmehr die ganze
Stadt, zerstört, eingeäschert, blutüberströmt, von Leichen überfüllt,
in den Händen des Feindes. Die dem Hunger und dem Schwerte Ent-
gangenen wurden von den Römern gefangen genommen und zu Skla-
verei, Zwangsarbeit oder zur Aufführung von Gladiatorenkämpfen be-
stimmt. Begnadigt wurden nur jene friedlichen Bürger, die schon frü-
her zu den Römern geflohen waren und sich ihnen ergeben hatten. Dem
Josephus Flavius gelang es noch außerdem, bei Titus die Begnadigung
für eine Gefangenengruppe zu erwirken, in der sich über zweihundert
seiner Verwandten und Freunde befanden. Die Anführer des Aufstan-
des und die zelotischen Kämpfer wurden zum Teil hingerichtet, zum
Teil, namentlich die hochgewachsenen und wohlgestalteten, als Zier-
figuren für den Triumpheinzug des Titus in Rom am Leben gelassen.
Die sich in den unterirdischen Höhlen verborgen haltenden Zeloten
kamen, vom Hunger gepeinigt, heraus und fielen gleichfalls in die
Hände der Römer. Auch der aus der Höhle herausgekommene Jo-
chanan von Gis’chala ergab sich den Römern. Noch später kam Simon
bar Giora aus seinem Versteck hervor. Zwischen den Trümmern des
Tempels erschien einst in der Nacht eine in ein weißes Gewand gier
hüllte Gestalt. Auf den Anruf der römischen Wache erfolgte die Ant-<
wort: „Holet den Feldherrn!“ Der herbeigeeilte Befehlshaber erkannte
in dem Unbekannten den schrecklichen bar Giora, der noch vor kur-
zem die Römer mit Entsetzen erfüllt hatte. Beide Anführer des Auf-
standes wurden in Fesseln nach Caesarea gebracht, und von dort nach
Rom, um den Triumphzug zu schmücken.
Das noch vor kurzem so lärmerfüllte, prächtige Jerusalem war
nun in einen Trümmerhaufen verwandelt. Nur die drei oben erwähnten
Türme des Herodespalastes wurden für die Nachwelt stehen gelassen
zum Andenken daran, wie mächtig die von den römischen Waffen nie-
dergerungene Stadt befestigt gewesen war1). Unversehrt blieb der
westliche Teil der Festungsmauer, hinter der die in den Ruinen zu-
rückgelassene römische Besatzung (die zehnte Legion) ihr Lager auf-
1) Einer dieser Türme hat sich bis zum heutigen Tag in Jerusalem erhalten
und ist unter dem Namen „Davidsturm“ (Migdal David, an dem heutigen Jaffa-
tore) bekannt.
464
§ 89. Der Jubel der Sieger
schlug. Es ist dies jene Mauer (Kothel Maarabi), an der bis zum
heutigen Tage die Betenden, denen sie als eine unversehrt gebliebene
Mauer des Tempels gilt, ihre Tränen vergießen.
§ 89. Der Jubel der Sieger
Rom triumphierte. Nach vielen Jahren des Kampfes, der nicht
wenig Opfer verschlungen hatte, nach äußerster Anstrengung seiner
militärischen Hilfsmittel war es ihm endlich gelungen, das helden-
mütige, winzige Judäa zu unterwerfen und seine Hauptstadt durch
Aushungerung und Brandstiftung einzunehmen. Es war dies nicht so
sehr ein heroischer Sieg als ein Sieg über Heroen. Die Weltbezwm-
ger hatten keinen Anlaß, stolz zu sein: sie konnten nur darüber froh1
sein, daß der mühevolle und gefährliche Krieg nun zu Ende war.
Nachdem Titus in dem verheerten Jerusalem eine Besatzung zurück-
gelassen hatte, brach er mit den übrigen Legionen nach Caesarea am
Meere auf. Hierher wurden auch die wichtigsten unter den jüdischen
Gefangenen gebracht, und hier wurden die erbeuteten Kriegstrophäen
vorderhand niedergelegt. Einige Zeit weilte Titus als Gast in Caesarea-
Philippi, der Residenz des Agrippa. Zu Ehren des Siegers wurden hier
fröhliche Schauspiele und Gladiatorenkämpfe veranstaltet. Viele jü-
dische Gefangene kamen bei den Tierkämpfen in der Arena um. Am
Geburtstag seines Bruders Domitian, des künftigen Kaisers, be-
lustigte Titus die Römer in Caesarea am Meere durch Gladiatoren-
spiele, bei denen mehr als zweitausend jüdische Gefangene von den
wilden Tieren zerrissen oder in Ringkämpfen verstümmelt wurden^
In Berytus feierte Titus in derselben blutigen Weise den Geburtstag
seines Vaters, des Kaisers Vespasian.
Dies alles war aber nur ein Vorspiel zu dem bevorstehenden großen
Triumph in Rom. Nach einer Reise durch Syrien und Ägypten segelte
Titus nach Italien. Dorthin wurden aus Caesarea auch die Zelofen-
führer Simon und Jochanan, sowie etwa siebenhundert jüdische Ge-
fangene von auserlesenem Wuchs und hervorragender Schönheit ge-
führt. Der Kaiser Vespasian zog persönlich seinem Sohne zur Begrü-
ßung entgegen. Einige Tage später fand in Rom ein gemeinsamer
Triumphzug zu Ehren des Vespasian, des Titus und des Domitian
statt (71). Die gesamte Bevölkerung Roms überflutete die Plätze und
Straßen, durch die die feierliche Prozession ihren Weg nahm. Die
30 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd.II
465
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
Triumphatoren, mit Lorbeer bekränzt, von den Senatoren, den höch-
sten Würdenträgern und von Truppen umgeben, wurden mit begeister-
tem Jubel empfangen. In der Prozession schritten mit gesenktem
Haupt die jüdischen Kriegsgefangenen einher, der letzte Überrest der
Helden des Freiheitskrieges. Unter den aus Judäa gebrachten Trophäen,
die vor den Siegern einhergetragen wurden, zogen besonders die im
Jerusalemer Tempel erbeuteten Kostbarkeiten die Aufmerksamkeit auf
sich: der massive Schaubrottisch, ein siebenarmiger Leuchter und eine
Thorarolle. Als nun die Prozession an dem Tempel des Kapitolinischen
Jupiter angelangt war, wurde haltgemacht, um der alten Sitte gemäß
die Hinrichtung des Führers des besiegten Volkes zu vollziehen. Aus der
Schar der im Zuge einherschreitenden Gefangenen holte man Simon
bar Giora hervor, warf ihm einen Strick um den Hals und schleppte
ihn in das Gefängnis neben dem Forum. Dort wurde der jüdische
Held dem Tode preisgegeben. Die Bekanntgabe seiner Hinrichtung
wurde auf dem Platze mit allgemeinem Jubelgeschrei begrüßt. Den
zweiten Führer, Jochanan von Gis’chala, verurteilte man zu lebens-
länglicher Einkerkerung.
Die kostbaren Reliquien des Jerusalemer Tempels wurden später
dem von Vespasian und Titus erbauten Tempel der „Friedensgöttin“
übergeben. Auf dem in späterer Zeit vom römischen Senat zu Ehren
des Titus errichteten Triumphbogen waren in Reliefabbildungen die
Trophäen aus dem Jerusalemer Tempel und Episoden aus dem jüdi-
schen Kriege dargestellt. Zur Erinnerung an den errungenen Sieg
ließen die Römer Münzen schlagen, auf denen die Gestalt einer von
Trauer niedergebeugten Frau mit gefesselten Händen abgebildet ist,
worunter die Aufschrift prangt: Judaea devicta, Judaea capta („das
besiegte Judäa“, „das gefangene Judäa“). Jedoch lehnten es (dem
Zeugnis des Geschichtsschreibers Dio Gassius zufolge) sowohl Vespa-
sian als Titus ab, den Beinamen Judaicus als Ehrentitel für die Bezwin-
ger Judäas anzunehmen, wohl aus der Befürchtung, die Bezeichnung
könnte so ausgelegt werden, als seien sie „Verehrer der jüdischen Re-
ligion“.
Das „gefangene Judäa“ stöhnte jedoch nicht nur auf den lärm-
erfüllten Plätzen Roms, in den Triumphzügen und in den Rennbah-
nen, in denen sich die Gladiatorenkämpfe abspielten; Tausende von
Gefangenen schmachteten auch in den abgelegensten Orten Syriens
und Palästinas, wohin sie an die Heiden als Sklaven verkauft wur-
466
§ 90. Der Fall der letzten* Festungen
den. Auf den Märkten Vorderasiens ward der jüdische Sklave zu einer
gangbaren Ware. Die Volkssage überliefert uns viele durch ihre Tra-
gik erschütternde Episoden aus den Geschicken der unglückseligen
jüdischen Sklaven. Unter anderem hat sich die folgende Erzählung
erhalten: zwei Geschwister, ein Bruder und eine Schwester aus einer
vornehmen Jerusalemer Familie, wurden an zwei benachbarte Sklaven-
besitzer verkauft; ihre Verwandtschaft nicht ahnend, beschlossen ihre
Herren, den wohlgebauten Jüngling mit der schönen Sklavin zu ver-
mählen; als die Neuvermählten dann in der Nacht zusammengeführt
wurden und einander erkannten, hauchten sie vor Entsetzen auf der
Stelle ihr Leben aus.
§ 90. Der Fall der letzten Festungen
Nach der Zerstörung von Jerusalem blieben noch drei Provinz-
festungen in den Händen der Juden: Herodeion, Machärus und Ma-
sada. Hier sammelten sich die jüdischen Flüchtlinge, mit dem Ent-
schluß, unter dem Schutze der dort verschanzten zelotischen Truppen-
teile sich zur Wehr zu setzen. Dem römischen Statthalter in Palästina
Bassus wurde nun der Auftrag zuteil, diese Festungen zu bezwingen.
Die Jerusalem zunächst liegende Festung Herodeion ergab sich fast ohne
Kampf. Energischeren Widerstand leistete hingegen Machärus, eine
feste Stadt an der südöstlichen Grenze Judäas. Die jüdische Garnison
der Zitadelle von Machärus belästigte die Römer durch jähe Ausfälle
und fügte ihnen nicht selten bedeutende Verluste zu. Die Belagerung
würde sich vielleicht in die Länge gezogen haben, wäre dem Feinde'
nicht ein Zufall zu Hilfe gekommen. Während eines kühnen Ausfalls
der Belagerten nahmen nämlich die Römer einen von diesen, den
tapferen Jüngling Eleasar, gefangen, der mit besonderem Ungestüm
gegen den Feind angekämpft und die Belagerungsvorrichtungen zerstört
hatte. Die Römer entblößten den Jüngling und geißelten ihn in grau-
samer Weise vor den Augen der auf der Festungsmauer stehenden
Juden. Hierauf befahl Bassus, der Mauer gegenüber ein Kreuz zu er-
richten und Anstalten zur Kreuzigung des Eleasar zu treffen. Das
Jammern des gepeinigten Jünglings war herzzerreißend. Da erklärten
sich die Verteidiger der Festung bereit, diese unter der Bedingung zu
übergeben, daß man ihnen den Eleasar herausgäbe und freien Abzug
gewähre. Die Belagerer willigten ein; viele von den Stadtbewohnern
467
30*
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
fürchteten jedoch, in die Hände der Römer zu fallen, und suchten
sich durch die Flucht zu retten, wobei es manchen gelang, sich durch
das feindliche Lager durchzuschlagen, während die anderen in die
Gefangenschaft gerieten und teils niedergemacht, teils als Sklaven ver-
kauft wurden.
Besonders heroischen Widerstand leisteten den Römern die jüdischen
Patrioten, die sich in Masada, einer fast uneinnehmbaren Festung an
den felsigen Ufern des Toten Meeres, festgesetzt hatten. Diese in den
ersten Jahren des jüdischen Aufstandes von den Sikariern besetzt ge-
wesene Festung stand jetzt unter dem Schutze einer tapferen Zeloten-
schar. Ihr Führer war Eleasar ben Jair, ein Sproß des ruhmreichen
Geschlechtes des Juda Galiläus, dieses Stammhauptes der Zeloten-
führer. Mit Lebensmittelvorräten und Waffen reichlich versehen,
schworen die Verteidiger von Masada, sich unter keiner Bedingung
dem Feinde zu ergeben. Gegen dieses letzte Bollwerk der jüdischen
Insurgenten zog nun mit einem zahlreichen Heere der römische Feld-
herr Silva ins Feld, der dem Bassus in dem Amte des Statthalters von
Palästina gefolgt war. Er ließ Masada mit hohen Wällen umgeben und
auf diesen Bailisten und Mauerbrecher aufstellen, wie sie bei der Be-
lagerung Jerusalems verwendet worden waren. Als die Belagerten
merkten, daß die wuchtigen Schläge des Widders eine Bresche in die
Außenmauer gelegt hatten, erbauten sie schleunigst dahinter eine an-
dere Mauer. Den Zwischenraum füllten sie mit Holzbalken und Erd-
haufen, um durch die elastische Masse den Schlägen der Maschi-
nen entgegenzuwirken. Als die Römer nun sahen, daß die Festung
durch Sturmangriff nicht zu nehmen sei, griffen sie auch hier zur
Brandstiftung. Die unausgesetzt in die Festung geschleuderten Feuer-
brände entzündeten schließlich die hölzernen Teile der Festungsmauer,
worauf diese zusammenstürzte. Die Römer umstellten hierauf in dich-
ten Massen die Festung, damit niemand dem bevorstehenden Gemetzel
entgehen könne. Allein die Verteidiger von Masada dachten gar nicht
an Flucht. Nachdem die letzte Hoffnung auf Errettung der Stadt ver-
loren war, machte Eleasar ben Jair seinen Kampfgenossen einen Vor-
schlag, der nur zu einer Zeit denkbar war, als die Angst vor dem
Tode ihre Gewalt über die Menschen gänzlich verloren hatte. Leb-
haft schilderte er ihnen alle Qualen und Demütigungen, die sie selbst,
ihre Frauen und Kinder erwarteten, wenn sie in die Gewalt der Römer
gerieten, und redete ihnen zu, den Tod von eigener Hand der Skia-
468
§ 90. Der Fall der letzten Festungen
verei und der Schmach vorzuziehen. „Ungeschändet mögen unsere Wei-
ber sterben — ohne die Knechtschaft gekostet zu haben, unsere Kin-
der! Möge unser ehrendes Sterbekleid der Ruhm sein: sie haben sich
die Freiheit nicht rauben lassen!“ Durch die Rede des Eleasar be-
geistert, töteten die jüdischen Krieger ihre Weiber und Kinder und
gaben sich dann selbst gegenseitig den Tod. Als tags darauf die Römer
in Masada einzogen, fanden sie statt lebender Menschen einen Haufen
von Leichen mitten unter rauchenden Trümmern (April 73). Zwei der
Selbstvernichtung zufällig entgangene Frauen mit fünf Kindern kro-
chen aus einer Höhle hervor und erzählten von dem furchtbaren Er-
eignis, das sich tags zuvor in der Stadt abgespielt hatte.
So fielen die letzten Helden Judäas. Der letzte Akt des erschüttern-
den Dramas, das in der Geschichte der nationalen Verteidigungskriege
fast ohne Beispiel dasteht, war nun zu Ende. Noch nie war in dem
Kampfe einer kleinen Nation gegen den allmächtigen Welträuber so
viel Heldenmut, Begeisterung und Selbstaufopferung an den Tag ge-
legt worden, wie hier. In diesem begeisterten Kampf um die nationale
Freiheit, in dem der Tod der Schmach der Sklaverei vorgezogen, die
persönlichen Interessen denjenigen der Nation restlos untergeordnet
wurden, kam die in einer Reihe von Generationen aufgespeicherte
grenzenlose Geistesstärke zum Durchbruch. Der jüdische Staat mußte
fallen, doch nie war der Sturz eines Staates ruhmreicher und erhabe-
ner als dieser.
Nunmehr war das Los Judäas besiegelt. Vespasian erklärte das
unterworfene Land zur Domäne der kaiserlichen Familie und gab
viele Landesteile Römern, Griechen und den noch übriggebliebenen
Ortsansässigen in Pacht. In dem Städtchen Emmaus, unfern von Je-
rusalem, gründete er eine Kolonie von 800 römischen Veteranen. Die
zerstörte und verwüstete Hauptstadt selbst diente nur als Standquarh
tier für die im Lande zurückgelassene zehnte römische Legion. Die
zwei Drachmen hohe Abgabe, die die Juden aller Länder ehedem zu-
gunsten des Jerusalemer Tempels entrichtet hatten, mußte fortan an
die Schatzkammer des Tempels des Jupiter Kapitolinus in Rom ab-
geführt werden. Die durch die vieljährigen Kriege ruinierten Pro-
vinzbewohner in Judäa waren in äußerste Not geraten. In dem Kampfe
um die politische Unabhängigkeit war auch jene nationale Autonomie
zugrunde gegangen, deren sich Judäa sogar noch unter dem Regime
469
Der nationale Krieg und der Untergang des judäischen Staates
der römischen Procuratoren erfreut hatte. Nun tat eine außerordent-
liche Anspannung aller geistigen Kräfte des Volkes not, um nach
einem solchen fürchterlichen Zusammenbruch die innere national-
gesellschaftliche Ordnung wieder aufzurichten und abermals das alte
Experiment der jüdischen Geschichte zu wiederholen: das der Erhal-
tung der Nation auf den Trümmern des Staates.
Fünftes Kapitel
Der Judaismus im Heimatlande und in
der Diaspora
§ 91. Die Neugruppierungen innerhalb der pharisäischen Partei
Wäre es dem Geschichtsschreiber vergönnt, den die tiefgreifenden
Prozesse des geistigen Lebens in Judäa und in der Diaspora des
I. Jahrhunderts d. ehr. Ära verhüllenden Schleier zu lüften, so würde
er einen Schlüssel in die Hand bekommen zur Entzifferung der tief-
gründigsten Probleme nicht allein der jüdischen, sondern auch der
gesamten Weltgeschichte. Denn hier gerade ist der Knoten zweier re-
ligiöser Richtungen geschürzt, die sich von dem alten Judaismus ab-
zweigten: der nationalen und der kosmopolitischen. Bekanntlich reicht
jedoch weder Quantität noch Qualität des erhaltengebliebenen ge-
schichtlichen Stoffes dazu aus, um ein an Einzelheiten ebenso reiches
Bild des jüdischen geistigen Lebens des I. Jahrhunderts erstehen zu
lassen, wie dies bei der Schilderung der politischen Ereignisse mög-
lich ist. Durch das Getöse der äußeren Umwälzungen wird für die
Nachwelt die mächtige gedankliche Gärung übertönt, die um jene
Zeit in den Tiefen des Volksgeistes vor sich gegangen war. Das ein-
zige, was dem Geschichtsschreiber auf diesem Gebiete übrig bleibt,
ist der Versuch, durch intensive Nachforschungen den allgemeinen
Prozeß der geistigen Bewegung und des Ideenkampfes jener Zeit in
seinem Zusammenhänge mit den äußeren Ereignissen zu erfassen.
Die stürmische Epoche der römischen Procuratoren zeitigte
stärkste Schwankungen sogar in den Reihen der Pharisäer, die-
ser widerstandsfähigsten nationalen Gruppe. Je nach den äußeren
Umständen gewinnen hier bald die aktiven, bald die passiven Phari-
säer, bald deren linker, bald deren rechter Flügel das Übergewicht
(§ 59). Die Zeloten und die Friedensfreunde, die Eiferer der Freiheit
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
und die Eiferer des Glaubens, gelangen abwechselnd zu ausschlag-
gebendem Einfluß in den maßgebenden Gesellschaftskreisen. Aller-
dings gibt es auch Fälle, wo die einen wie die anderen sich zu gemein-
samer Tat vereinigen. So setzt während der römischen Volkszählung
oder des „Census“ der Pharisäer Zadok in Gemeinschaft mit Juda
Galiläus den ersten zelotischen Protest ins Werk (§ 68). Seitdem
gehen aus dem linken Flügel gar viele leidenschaftliche Fanatiker der
Unabhängigkeit hervor, in denen die religiöse Inbrunst von deT politi-
schen nicht zu trennen ist. Die zelotischen Pharisäer spielten an-
scheinend eine wichtige Rolle auch bei jenem Volksprotest, der durch
die Anschläge des Pilatus und Galigula auf die religiöse Freiheit Ju-
däas veranlaßt worden war (§§ 69, 73). Der erfolgreiche Ausgang
der Protestkundgebung und der darauffolgende flüchtige Schein po-
litischer Unabhängigkeit brachten indessen die pharisäische Opposi-
tion zur Ruhe. Unter Agrippa I. gelangen die Pharisäer sogar ans
Staatsruder.
Das Synhedrion, das schon unter den ersten Procuratoren eine zen-
trale Stellung in der jüdischen Selbstverwaltung gewonnen hatte, steht
ganz unter pharisäischem Einfluß. Für eine Zeitlang scheint der frü-
here Dualismus des Synhedrion (§ 59) zu verschwinden, und das
pharisäische Gelehrtenkollegium tritt in das offizielle Jerusalemer
Synhedrion als die ausschlaggebende Instanz in allen Fragen der Ge-
setzgebung ein. Ebenso wie unter Herodes I. an der Spitze des Ge-
lehrtenkollegiums Hillel gestanden hatte, so hatte unter Agrippa I.
und später (um 4o—60) diesen Posten des Hillel Enkel, Gamaliel
der Alte (ha’saken), inne, der den höchsten Gelehrtentitel „Rabban“,
d. i. „unser Lehrer“, trug1). Gleich seinem Vorgänger war auch Rab-
■*•) Graetz (III, 349) un<1 andere Geschichtsschreiber nennen Gamaliel I. den
Alten einen „Präsidenten des Synhedrion“ („Nassi“ bei Weiß, I. Kap. 20). Dies
trifft nicht ganz zu, denn um jene Zeit führte von Amts wegen im großen Syn-
hedrion der Hohepriester den Vorsitz. Gamaliel mochte allenfalls als das Haupt
des Gelehrtenkollegiums Mitglied des Synhedrionvorstandes gewesen sein. Die tal-
mudischen Quellen erwähnen ihn als „Nassi“ (ohne Bezugnahme auf das Synhed-
rion) nur an einer Stelle (Trakt. Sabbat, i5) neben seinem Großvater Hillel und
seinem Sohne Simon; doch können auch diese Männer nicht als Präsidenten des
Synhedrion gelten, es sei denn, daß man unter diesem das pharisäische Gelehrten-
kollegium verstünde. Der Nassititel bürgerte sich in Wirklichkeit in dem Geschlechte
des Hillel erst seit Gamaliel II. von Jabne ein, nachdem Jerusalem bereits gefallen
und das Hohepriestertum abgeschafft worden war; doch bedeutete damals, bei
472
§ 91. Die. Neugruppierungen innerhalb der pharisäischen Partei
ban Gamaliel bestrebt, die Gesetzgebung dem Leben anzupassen. Er
vervollkommnete das Eherecht und führte auch eine Reihe anderer
Reformen durch, die die damaligen bürgerlichen und wirtschaftlichen
Verhältnisse (Tikkun ha’olam) dringend verlangten. Im Namen des
Jerusalemer Synhedrion schickte Gamaliel an die jüdischen Gemein-
den in der Provinz und in der Diaspora Rundschreiben, in denen die
Fristen für die Sammlung des priesterlichen Zehnten vom Getreide
und vom Obst festgesetzt und die kalendermäßigen Festtagstermine
bekannt gegeben wurden. Einige derartige Sendschreiben in der ara-
mäischen Umgangssprache sind uns erhalten geblieben; Gamaliel dik-
tierte sie seinem Schreiber, „auf den Stufen des Tempelberges sit-
zend4 *, wahrscheinlich also in einer der äußeren Tempelhallen, wo die
Sitzungen des Synhedrion stattfanden. Es möge hier der Wortlaut
folgen: „Unseren Brüdern in Ober- und Untergaliläa, möge sich euer
Wohlstand mehren! Wir tun euch kund, daß die Zeit des Abschei-
dens des Zehnten (zugunsten der Priester) gekommen ist, beeilet euch
darum, den Zehnten von der Olivenlese abzuscheiden“. Die Bewoh-
ner des Südens wurden rechtzeitig ermahnt, den Zehnten von der Ge-
treideernte abzuliefern. Die Juden des fernen Babylonien und der
verschiedenen Orte der griechischen Diaspora erhielten die Benach-
richtigung von dem Herannahen der Feiertage1). Die alten Überliefe-
rungen, sogar die evangelischen, stellen Gamaliel als einen duldsamen
und friedliebenden Menschen dar (s. unten, § 102). Unter anderem
wird ihm die Verordnung zugeschrieben, derzufolge die von Gesetzes
wegen für die armen Bürger bestimmten Ernteüberreste auch den be-
dürftigen in Judäa lebenden Fremden zur Verfügung stehen sollten.
Es geschah dies zwecks Pflege freundschaftlicher Beziehungen zu den
Nachbarvölkern (mi’pne darke schalom). Hierin kam die versöhnliche
Stimmung jenes Kreises um Agrippa I. zum Ausdruck, in dem das
der geschmälerten Autonomie, „Nassi“ schon soviel wie „Patriarch“. Simon I.,
der zwischen Hillel und Gamaliel Inhaber der Nassiwürde war, wird von vielen
als erdichtete Person angesehen, da über seine Wirksamkeit nichts bekannt ist.
Dieser Grund scheint uns jedoch nicht stichhaltig genug zu sein: die talmudische
Überlieferung (Sabbat i5), in der es heißt, die Wirksamkeit des Hillel, Simon I„
Gamaliel und Simon II. hätte das letzte Jahrhundert vor dem Falle Jerusalems
ausgefüllt, ist chronologisch durchaus einwandfrei und beruht, wie es scheint, auf
einer alten Quelle.
1) S. Sanhedrin, 11; Tosephta Sanhedrin, Kap. 2; Jerus. Talmud, Maasser-
Scheni 5, 6 (Varianten der Sendschreiben).
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
Haupt der Pharisäer Garnaliel eine hervorragende Stellung eingenom-
men hatte.
Eine andere Richtung hatte die Wirksamkeit des Synhedrion unter
dem Sohne Gamaliels, Rabbi Simon, eingeschlagen, der zur Zeit der
letzten Procuratoren und der großen nationalen Erhebung an der
Spitze der Körperschaft der Gesetzeslehrer stand (um 60—68). Die
Zeit war stürmisch. So veranlaßten denn die außergewöhnlichen po-
litischen Ereignisse die Führer der pharisäischen Partei, die Legisten
jener Epoche, zu einer praktischen Kampfgesetzgebung überzugehen,
die die Verteidigung der Nation zum Zwecke hatte. Als im Jahre 66
der blutige Nationalitätenkampf zwischen Juden und Heiden in Pa-
lästina und in der Diaspora entbrannte (§ 82), fand in Jerusalem eine
Versammlung der Gesetzeslehrer statt, die „achtzehn Regeln“ (jud-
cheth dabar) ausarbeitete, um die Juden in strengster Weise von den
Fremdstämmigen abzusondern. Diese Regeln untersagten den Juden.
Brot, Wein, Butter, Käse und andere Nahrungsmittel bei den Heiden
zu kaufen, Opfer für den Tempel von ihnen anzunehmen, in ihrer
Sprache zu reden, ihre Zeugenaussagen entgegenzunehmen, geschweige
denn mit ihnen freundschaftlich zu verkehren oder gar in verwandt-
schaftliche Beziehungen zu treten. Es war dies gleichsam ein Kodex
für die Kriegszeit, eine Reihe von Repressalien, die dazu bestimmt
waren, aus der Mitte der jüdischen Nation die ihr feindlichen Fremd-
stämmigen herauszudrängen, die, sich auf die despotische Gewalt der
Römer stützend, die Juden in ihrem eigenen Lande bedrängten. In
der talmudischen Überlieferung sind uns dumpfe Nachklänge jener
leidenschaftlichen Debatten erhalten geblieben, die diese außerordent-
liche Versammlung der Gesetzeslehrer besonders auszeichneten. Man
erzählte, es hätte sich ein Kampf zwischen den gestrengen „Scham-
maiten“ und den gemäßigten „Hilleliten“ entsponnen, der sogar zu
Blutvergießen geführt haben soll, bis die ersteren gesiegt hätten. Es
ist Grund zu der Vermutung vorhanden, daß die Hauptteilnehmer an
dieser Versammlung Eleasar ben Chananja (§ 80), der Zelotenführer
in dem Kampfe gegen Florus, der gerade in diesem kritischen Jahre
die Einstellung der Tempelopferdarbringung zu Ehren des Kaisers
durchgesetzt hatte, sowie das Haupt des pharisäischen Gelehrtenkol-
legiums, Simon ben Garnaliel, gewesen waren.
Nach den ersten Erfolgen der Revolution, die in der Niederlage des
Cestius Gallus zum Ausdruck gekommen waren, trat Simon ben Ga-
474
§ 91. Die Neugruppierungen innerhalb der pharisäischen Partei
maliel bekanntlich in die Regierung der nationalen Verteidigung ein.
Von der revolutionären Bewegung fortgerissen, trug er eifrigste Sorge
um die Organisierung der Landesverteidigung und unterstützte unter
anderem den Protest des Zeloten Jochanan von Gis’chala gegen die
verbrecherische Untätigkeit des Josephus Flavius in Galiläa. Doch ver-
mochte der gemäßigte Zelotismus des Simon ihn vor dem Mißtrauen
der extremen Parteien nicht zu schützen, und so fiel auch er als Opfer
der Umwälzung, die die aristokratische Regierung des Chanan in Je-
rusalem stürzte und die Gewalt in die Hände der extremen Zeloten
gab. Es ist ungewiß, ob er zusammen mit Chanan von der Hand der
Sikarier oder aber nach der Einnahme von Jerusalem von der Hand
der Römer fiel1).
So war das Band, das die politischen und geistigen Zeloten ver-
knüpft hatte, endgültig zerrissen. Der Ausbruch der großen Krise
stellte die Pharisäer vor das schwierige Dilemma: soll der Kampf um
den freien Staat weiter fortgesetzt werden oder wäre es angesichts
seiner Aussichtslosigkeit nicht richtiger, nur für die geistige Erret-
tung der Nation Sorge zu tragen? Ist die Hoffnung auf die Erhaltung
der geborstenen Schale der Staatlichkeit vergeblich, so wäre es viel-
leicht geboten, die nationalen Kräfte von dem Kriege gegen Rom ab-
zulenken und sie nach innen hin, auf die Festigung des nationalen
Kernes, zu richten? Der linke, zelotische Flügel der Pharisäer entschied:
keinesfalls! Dagegen war das Losungswort des rechten Flügels: man
kann und man soll! Den unabwendbaren Untergang des agonisierenden
Staates, das Verschwinden der letzten Überreste der politischen Autono-
mie voraussehend, rafften sich die Führer der gemäßigten Pharisäer da-
zu auf, das zu retten, was von der geistigen Autonomie des Volkes noch
zu retten war. Neben den für das Volk in dem ungleichen Kampfe
gegen Rom sterbenden Helden erstehen Helden, die entschlossen sind,
für das Volk zu leben und es in Zukunft wieder aufzurichten. Mitten
unter den Schrecken des Krieges proklamiert Jochanan ben Sakkai,
1) Bezeichnend ist die Mittelstellung des Simon ben Gamaliel zwischen den
beiden Parteien: den Zeloten und der Anhängerschaft des sadduzäischen Hoheprie-
sters Chanan (dieser und nicht Simon war, trotz der gegenteiligen Meinung von
Graetz, Präsident des Synhedrion). In der Selbstbiographie des Josephus Flavius
wird Simon als ein Mann von Weisheit und Weitblick geschildert (Kap. 38, 3g,
44); dies muß also sogar der politische Gegner zugeben; freilich fügt er hinzu,
daß Simon in seinen Entschlüssen viel zu sehr von Chanan und seinen Genossen
abhängig gewesen sei.
475
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
einer der besten Repräsentanten der „Hillelschule“, dieses Losungswort
der geistigen Verteidigung. Auch er war ein „Friedensfreund“, doch
nicht von dem Schlage derer, die einem Agrippa II. oder Josephus
Flavius Folge leisteten. Josephus war ein Friedensfreund, weil er ein
Römerfreund war; Jochanan hingegen war ein Feind der römischen
Kultur und wollte das Judentum von ihr trennen; die Herrschaft Roms
bedeutete ihm ein fürchterliches Unglück, doch ein noch fürchter-
licheres — die Zertrümmerung der Nation unter den Trümmern des
Staates. Für das Entweder-Oder der Zeloten: „Siegen oder unter-
gehen!“ hatte er nichts übrig, denn er hielt dafür, daß man den
Feind, die ganze dem Judentum feindlich gesinnte Welt, nicht nur
durch Errettung des eigenen Staates, sondern auch durch Errettung
der eigenen gesellschaftlich-geistigen Gemeinschaft besiegen könne.
So vollbringt denn Jochanan zu der Zeit, als um Jerusalem herum
die Schlacht tobt und die jüdischen Streiter Wunder an Tapferkeit
vollbringen, eine Heldentat ganz anderer Art: er bereitet rechtzeitig
den Boden vor für eine gesellschaftlich-geistige Restauration des po-
litisch zugrundegehenden Volkes.
Die Sage erzählt, Jochanan ben Sakkai hätte während der Belage-
rung Jerusalems die Stadt heimlich verlassen. Angesichts der Verfü-
gung der zelotischen Regierung, niemanden aus der Stadt herauszu-
lassen, legten die Schüler Jochanan in einen Sarg und trugen ihn als
Leichnam zum Tore hinaus. Als Jochanan sich nun außerhalb der
Stadt befand, erschien er vor dem römischen Oberbefehlshaber1) und
stellte sich ihm als einer der Führer der Friedenspartei vor. Von dem
Feldherrn freundlich empfangen, bat ihn Jochanan nur um eines:
ihm mitsamt seinen Freunden und Schülern die Erlaubnis zu ertei- i)
i) In der talmudischen Legende (Gittin, 56; Aboth de’Rabbi Nathan, 5 u.
sonst) heißt er nicht Titus, sondern Vespasian, wobei noch hinzugefügt wird, Jo-
chanan hätte Vespasian als „Kaiser“ begrüßt, indem er ihm die baldige Thron-
besteigung voraussagte. Ein auffallender Anachronismus, — denn die Einschlie-
ßung Jerusalems durch die Römer, das Verbot, es zu verlassen, und die in der
Legende so lebhaft geschilderten Schrecken der Hungersnot („Kann denn Men-
schen, die sich von Streuabsud nähren, der Sieg zufallen?“ — dachte Jochanan bei
sich) — all dies bezieht sich auf den Zeitpunkt, als Vespasian bereits nach Rom
zurückgekehrt war und vor Jerusalem an der Spitze des Heeres Titus stand. Der
Umstand, daß in der talmudischen Legende Jochanan ben Sakkai Vespasian mit
„Kaiser“ anredete, was lebhaft an das gleiche Benehmen des Josephus Fla-
vius in Galiläa bei der Übergabe von Jotapata erinnert, legt den Gedanken nahe,
daß wir es in der talmudischen Legende mit einer Vermengung verschiedener Er-
zählungen zu tun haben.
476
§ 92. Der Niedergang des Sadduzäertnms und das Essäertum
len, sich in dem von den Römern besetzten Städtchen Jamnia (Jabne),
in der Nähe von Jaffa, niederzulassen und dort ein „Lehrhaus“ zu
gründen. Der Bitte soll stattgegeben worden sein, und so hätte eine
Gruppe von Pharisäern ganz nahe von dem durch den Krieg umbran-
deten Jerusalem eine Zufluchtsstätte gefunden. Dieser Volkslegende
liegt eine geschichtliche Tatsache zugrunde, und zwar die, daß kurz
vor dem Falle Jerusalems ein engerer Kreis in der Öffentlichkeit an-
gesehener Männer in dem nahegelegenen Jabne einen geistigen Mittel-
punkt gebildet hatte, der der Kern der nachmaligen Restauration ge-
worden ist. Der weitblickende Pharisäerführer hatte somit beizeiten
in dem Reiche des Todes und der Zerstörung eine Stätte für eine
künftige Wiedergeburt geschaffen. Das nationale Judentum, das
solche Helden des Schwertes wie Jochanan von Gis’chala und Simon
bar Giora in den Tod schickte, behielt zugleich seine Helden des Gei-
stes, und ihnen folgend, schickte es sich an, in eine neue Phase seines
geschichtlichen Daseins einzutreten.
§ 92. Der Niedergang des Sadduzäertnms und die Umwandlung des
Essäertums
Während die Pharisäerpartei unter der Einwirkung der politischen
Krisen sich einem Differenzierungsprozesse hatte unterziehen müssen
und in ihren zentralen Gruppierungen der veränderten Lage sich be-
reits anzupassen vermochte, ging hingegen ihre minder geschmeidige
Riva]in, die rein staatlich eingestellte Sadduzäerpartei, einem natür-
lichen Ende entgegen. Zu Beginn der dargestellten Epoche schien sich
zwar diese Partei von dem ihr ehemals durch den Fall der Hasmonäer-
dynastie versetzten Schlage erholt zu haben. Unter dem Regime der
Procuratoren begannen die Sadduzäer eine bedeutende Rolle in der Je-
rusalemer Selbstverwaltung zu spielen. Sie sind es, aus deren Mitte
sich die höchsten Vertreter der Tempelpriesterschaft rekrutieren. Viele
der von den Procuratoren oder von Agrippa II. ernannten Hohepriester
gehörten der Partei der Sadduzäer oder deren Gesinnungsgenossen,
der Boethosäer, an. Mit theokratischem Aushängeschild treiben diese
Würdenträger eine gewöhnliche weltliche Politik, die Politik einer ari-
stokratischen Oligarchie, die den Tempel nur als Futterkrippe betrach-
tet, sich aber wenig um die Interessen des Volkes schert1). Noch am
1) S. oben, §§ 78 und 79. Die sadduzäischen Hohepriester finden die gleiche
477
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
Vorabend des Aufstandes bekleidete ein Mitglied der Sadduzäerpartei,
Chanan ben Chanan, das Amt des Hohepriesters. Diese Priester gingen
Hand in Hand mit dem Römerfreund Agrippa II. und riefen seinen
Beistand gegen die revolutionären Zeloten an (§ 80). Nur im Moment
des allgemeinen Aufschwungs der patriotischen Gefühle, nach der
Niederlage des Cestius, schloß sich die sadduzäische Aristokratie, un-
ter der Anführung des erwähnten Chanan, der Regierung der natio-
nalen Verteidigung an; es waren dies jedoch die letzten Augenblicke
ihrer Wirksamkeit als einer aktiven gesellschaftlichen Kraft.
Der Sturz der aristokratischen Regierung durch die Zeloten setzte
der politischen Wirksamkeit der Sadduzäer ein Ziel, während der
Untergang Jerusalems und des Tempels dem sadduzäischen Grund-
prinzip selbst den Gnadenstoß versetzte. Ohne Tempel und Opfer-
kultus einerseits und ohne Staatsapparat andererseits büßten die Über-
reste der sadduzäischen Aristokratie den eigentlichen Sinn ihres Da-
seins ein. Als staatlich gesinnte Oligarchen verschwinden die Sadduzäer
zugleich mit der Ablösung der Schale, des Staates, und überlassen es
den Pharisäern, den Kern der kulturell autonomen Nation unversehrt
zu erhalten. Das Sadduzäer tum, das in der eigenartigen Volkskultur
nie verankert gewesen war, verschwindet seitdem als organisierte so-
ziale Macht vom Schauplatz der Geschichte. Nur die verneinende Ideo-
logie der Sadduzäer vermag sich als theoretische Opposition zu der
„mündlichen Lehre“ der Pharisäer, oder gar als gewöhnliches Frei-
denkertum, noch eine Zeitlang zu halten. Im Talmud ist das Wort
„Zadduki“ häufig mit einem die „mündliche Lehre“ nicht anerken-
nenden „Freidenker“ gleichbedeutend; sehr oft wird es auch abwech-
selnd mit dem Ausdruck „Kuthi“, Samaritaner, gebraucht, was zu
der Annahme Anlaß gibt, daß gewisse Elemente der Sadduzäerpartei
späterhin mit den Samaritanern verschmolzen. In jüngster Zeit sind
Urkunden aufgefunden worden, die den Gedanken an das Bestehen
einer sektenartigen Organisation aus den Überresten der Sadduzäer-
partei im I. Jahrhundert d. ehr. Ära nahelegen1).
Auch die dritte Richtung im Judaismus, das Essäertum, entwächst
allmählich dem nationalen Boden, sie verschwindet jedoch nicht, son-
dern erfährt eine Umwandlung und nimmt eine neue Gestalt an.
Beurteilung sowohl in Ant. XX, 9, 1 als auch in der Apostelgeschichte 5, 17 und
in dem Matthäus- und Markus-Evangelium. 9
Ü S. Anhang am Schluß des Bandes, Note 4-
478
§ 92. Der Niedergang des Sadduzäertums und das Essäertum
Schon in der Lehre selbst wie auch in der Ordensorganisation der Es-
säer lagen die Gründe beschlossen, die diese Neugestaltung herbeifüh-
ren mußten. Unter den ersten Hasmonäern und Herodes I. hielten sich
die Essäer noch fern vom bürgerlichen Leben und schlossen ihr Da-
sein in die engen Schranken einer mönchsordenartigen Gemeinschaft
ein. Ihr Ideal bildete die sittliche Vervollkommnung des Individuums,
nicht aber der sozial-kulturelle Fortschritt der Nation. Im Gegensatz
zu dem komplizierten politischen Gemeinwesen schufen sie den ver-
einfachten Typ einer „Gemeinde der Gläubigen“ oder eines geschlos-
senen Ordens, der nur ein bestimmtes Ziel verfolgte, nämlich die
Pflege der Heiligkeit und Reinheit des persönlichen Lebens. Je mehr
sich der Horizont Judäas mit schweren Wolken bedeckte, umso in-
tensiver wurden im Essäertum diese anti-staatlichen und mystischen
Stimmungen. Die soziale Not in der Epoche der römischen Herrschaft,
der Kampf der Patrioten mit der Willkür der Procuratoren, der in-
nere Zwist in der jüdischen Gesellschaft selbst, das Revolutionsfieber
der Zeloten — all dies erschien den Essäem als ein Zeichen des „En-
des der Zeiten“, der nahen und unabwendbaren Katastrophe. Die Men-
schen haben aufgehört — so sagten sie — in Gott zu leben, das Volk
ist in politische Leidenschaften verstrickt, die Waffen klirren, das
Blut fließt — so kann es nicht weiter fortgehen; es muß sich ein über-
natürlicher Ausweg finden, vom Himmel muß die Rettung kommen,
es naht die Zeit des Erlösers, des Messias: nicht eines politischen Mes-
sias, wie der, von dem die begeisterten Patrioten träumen, sondern eines
mystischen, eines halb-göttlichen, der aus „den Wolken des Himmels“
niedersteigen wird. Nicht dazu ist er auserkoren, das irdische Reich zu
erneuern, sondern das Himmelreich auf Erden zu schaffen; nicht die
unter dem Fremden joch stöhnende Nation zu befreien, sondern die in
Sünde verkümmernde Persönlichkeit zu erlösen, die menschliche Seele
zu läutern. Das Erscheinen des Messias kann nur auf einem Wege be-
schleunigt werden: durch die inbrünstige religiöse Buße.
So beginnt denn der in sich geschlossene essäische Orden, aus dem
ehedem nur gottesfürchtige Asketen, „Gottesmänner“ und heilkundige
Wundertäter hervorgegangen waren, einen Hang zur Propaganda sei-
ner Ideen an den Tag zu legen: aus seiner Mitte treten nun feurige
Prediger hervor. Einer dieser Prediger erscheint in der Legende als
der Vorbote des Stifters des Christentums (s. unten, § 99).
Über das Leben der Essäer im I. Jahrhundert d. ehr. Ära, das
479
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
zugleich das letzte ihres Daseins in der alten jüdischen Form war, er-
zählen uns drei Zeitgenossen: der Philosoph Philo, der Geschichts-
schreiber Josephus Flavius und der römische Schriftsteller Plinius
der Ältere. Dem Zeugnis der beiden jüdischen Schriftsteller zufolge
belief sich die Zahl der Essäer in Palästina ungefähr auf 4ooo
Männer, die vornehmlich in Dörfern lebten. Josephus erzählt, daß er
selbst in früher Jugend drei Jahre in der Wüste bei einem essäischen
Einsiedler namens Banus verbracht habe, der „seine Kleidung aus
Holzstoffen verfertigte, nur das genoß, was die Erde frei erzeugt, und
zur Aufrechterhaltung seiner Heiligkeit sehr oft in kaltem Wasser
badete, sowohl am Tage wie auch des Nachts“. Plinius, der sich
während des jüdischen Krieges im Hauptquartier des Titus befand und
so die Möglichkeit hatte, das Leben in Judäa zu beobachten, schildert
in seiner umfangreichen, im Jahre 77 beendeten und dem Titus zu-
geeigneten Enzyklopädie „Die Naturgeschichte“ (der Verfasser selbst
fand bekanntlich bei einer Eruption des Vesuv im Jahre 79 den Tod)
die in der Nähe des Toten Meeres gelegene Essäerkolonie in folgender
Weise:
„Die Essener (Essäer) leben am westlichen Ufer des Asphaltsees
(des Toten Meeres), abseits vom See, um seiner schädlichen Wirkung
zu entgehen. Es ist dies ein Volk, das einzig in der Welt dasteht, ein
sonderbares Volk, ohne Weiber, das sich von Venus losgesagt hat, das
kein Geld gebraucht und nur in der Gesellschaft von Palmen lebt.
Es wird, durch ständigen Zufluß von Ankömmlingen erneuert, die in
großer Zahl dorthin kommen, von jenen Lebensmüden (vita fessos),
die sich nach schweren Schicksalsschlägen von der Lebensweise die-
ses Volkes angezogen fühlen. So . . . lebt ein ewiges Volk, in dem
niemand geboren wird: so vermehrt es sich allein dadurch, daß andere
mit dem Leben unzufrieden sind . . . Weiterhin befand sich die Stadt
Engada, die an Fruchtbarkeit und Reichtum an Palmenhainen nur Je-
rusalem (Jericho?) nachstand und die nun einem Friedhof gleicht.
Noch weiter — die Festung Masada auf einem Felsen, auch unfern
des Asphaltsees. Hier endet Judäa.“
Ein Römer, der als Gast in Judäa weilte und in die geschichtliche
Entwicklung der jüdischen Parteien keinen Einblick hatte, vermochte
freilich nur den allgemeinsten Grund des Wachstums des Essäeror-
dens zu erfassen. In diesem Orden suchten lebensmüde Menschen Zu-
flucht, die zugleich den Lärm des öffentlichen Lebens, die sturmbe-
48o
§ 93. Das pseudo-biblische Schrifttum
wegten politischen Umwälzungen flohen. Viele dieser von der Gesell-
schaft Abgefallenen gingen späterhin zu der neuen Sekte der Chri-
sten über, die gleichfalls von einem „Reiche nicht von dieser Welt“
träumte.
§ 93. Das pseudo-biblische Schrifttum
Mitten im Getöse der politischen Umwälzungen entwickelte sich
immer weiter jenes pseudo-klassische Schrifttum, in dem unbekannte
Verfasser unter den Decknamen der biblischen Helden ihre Belehrun-
gen darlegten oder die Sehnsucht ihrer ruhelosen Seele ergossen
(§ 61). Aus der pseudobiblischen oder „pseudepigraphischen“ Litera-
tur des letzten Jahrhunderts vor dem Falle Jerusalems sind hier be-
sonders zwei umfangreiche Bücher hervorzuheben: „Die Testamente
der zwölf Patriarchen“ und die „Himmelfahrt Moses’“, die in grie-
chischer Sprache vollständig erhalten geblieben sind.
In den „Testamenten der zwölf Patriarchen“ sind die Vermächt-
nisse aller Söhne Jakobs, der Stammväter der zwölf israelitischen
Stämme, dargelegt, die an ihre Kinder oder Nachkommen, d. i. an
das ganze jüdische Volk, gerichtet sind. Ein jeder der Stammväter —
Rüben, Levi, Jehuda, Joseph und die anderen — erzählt von seinem
Lebenswandel, von seinen guten und bösen Taten, indem er die bibli-
sche Erzählung durch poetische Erdichtung ausschmückt; dann folgen
Ermahnungen an die Kinder, sie mögen dem Vater in der Tugend
nach eifern, sich aber vor seinen Lastern hüten, die er selbst vor sei-
nem Tode bitter bereut; endlich weissagt der Testator seinen Kin-
dern ihren zukünftigen Abfall von Gott und von dem Kern der Na-
tion, den Stämmen Levi (der Priesterstand) und Juda (das Symbol
des nationalen Mittelpunktes in Jerusalem), wofür sie in großes Elend
und in Gefangenschaft geraten und in alle Länder zerstreut werden
würden. Überall wird der Gedanke betont, die Stämme Levi und Juda
seien zu Führern des Volkes berufen, der eine, weil ihm der Gesetz-
geber Moses und das Priestergeschlecht entstamme, der andere, weil
aus ihm die königliche Dynastie und der noch bestehende Staat
hervorgegangen seien. Der Stamm Levi, als das Symbol des Himmel-
reiches, wird höher gestellt als Juda, das Symbol des irdischen Rei-
ches. „Und nun, Kinder, liebt den Levi — sagt Juda in seinem Te-
stament —, damit ihr bleibet, und erhebt euch nicht gegen ihn, damit
ihr nicht vertilgt werdet. Mir nämlich gab der Herr das Königtum
31 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd.II
481
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
und jenem das Priestertum, und er ordnete das Königtum dem Prie-
stertum unter. Mir gab er das auf der Erde, jenem das im Himmel..
Wie der Himmel die Erde überragt, so überragt das Priestertum Got-
tes das Königtum auf Erden“. In einer der Lesarten des Textes
schließt sich diesen letzten Worten noch folgender Vorbehalt an:
„wenn es (das Priestertum) nicht durch eine Sünde vom Herrn ab-
fällt und beherrscht wird vom irdischen Königtum“. Levi selbst ver- 4
fällt in seinem Vermächtnis bei der Verkündung seiner erhabenen
Mission oft in den Ton der Selbstbeschuldigung: er sieht eine Nach-
kommenschaft von korrumpierten, habgierigen, zuchtlosen Priestern
voraus, die die Tempelgaben verschwenden und Jerusalem zu einem
Sodom und Gomorrha machen wird, prophezeit aber für das „Ende
der Zeiten“ das Erscheinen eines neuen Priesters, eines wahren See>~
lenhirten, der dem Recht und der Gerechtigkeit auf Erden zum Siege
verhelfen werde.
Der Verfasser der „Testamente“ steht offenbar auf dem Boden des
nationalen Kultes und der pharisäischen Gesetzestreue, schätzt aber
am höchsten die Gebote der Sittlichkeit, der persönlichen wie der
sozialen. Ein jeder von den Testatoren stellt in seiner Beichte irgend-
ein Laster bloß oder preist irgendeine Tugend. So schildert der Pa-
triarch Rüben, der der biblischen Sage zufolge das „Bett seines Va-
ters“ durch unerlaubten Verkehr mit dessen Kebsweib Bilha „befleckt“
hat, die teuflische Gewalt des weiblichen Wesens und warnt vor die-
ser in Wendungen, die eines rauhen Asketen würdig wären: „Achtet
nicht auf den Blick des Weibes und seid nicht allein mit einer ver-
heirateten Frau, achtet nicht auf die Schönheit der Weiber . . . Flieht
nun die Hurerei, meine Kinder, und befehlt euren Weibern und Töch-
tern, daß sie nicht ihre Häupter und ihre Angesichter schmücken“.
Simon spricht von den furchtbaren Folgen des Neides, da er selbst
aus Neid seinen Bruder Joseph beinahe ins Verderben gestürzt hätte
und sein ganzes Leben lang von Gewissensbissen geplagt worden sei.
Levi und Juda, als die Stammväter der auserwählten Stämme, reden
ein jeder von seiner nationalen Mission, aber auch sie warnen vor
sittlich verwerflichen Eigenschaften: vor Eigendünkel, Habgier und
Unzucht (dies letztere aus Anlaß der von Juda an Tamar begangenen
Sünde); zur Buße wird dem Sünder empfohlen, sich des Genusses
von Fleisch und Wein zu enthalten. Issakar und Sebulon, von denen
der erstere den wackeren Ackerbauer, der andere den an der Kiistö
48a
§ 93. Das pseudo-biblische Schrifttum
lebenden Fischer versinnbildlicht, predigen Einfalt und ein recht-
schaffenes Arbeitsleben im Schoße der Natur: „Ich weiß, meine
Söhne, daß in den letzten Zeiten eure Söhne die Einfalt verlassen und
der Habgier anhängen werden . . . und sie werden den Ackerbau fah-
ren lassen und werden zerstreut werden unter den Heiden.“ In den
übrigen Testamenten der Patriarchen fällt das sich oft wiederholende,
seltsame Vermächtnis auf: „den Willen Gottes festzuhalten und den
Willen des Teufels zu verwerfen“, was von dem Eindringen des par-
sischen Dualismus in die religiöse Vorstellungswelt zeugt. Der Teufel
wird hier „Beliar“ (Belial) genannt
In den „Testamenten“ wird häufig das „Buch Henoch“ als eine
alte heilige Geheimschrift erwähnt, aus der die Patriarchen ihre Weis-
sagungen ablesen. Dies zeugt von einem gewissen Zusammenhang der
beiden Apokryphen, und somit gilt das, was oben (§ 61) zur Kenn-
zeichnung dieses früheren Werkes gesagt worden ist, auch für das
spätere. Auch in den „Testamenten“ tritt das gleiche Gemisch von
pharisäischen und essäischen Elementen, von Gesetzestreue und Aske-
tismus zutage wie im „Henoch“, bei einem im allgemeinen gleich
hohen Niveau des ethischen Idealismus der beiden Werke.
Die Fülle von nachbiblischen Legenden im erzählenden Teil macht
dieses Buch den späteren „Midraschim“ der talmudischen Epoche
verwandt, und nicht selten stimmen sogar die Legenden selbst in den
beiden Quellen überein. Jedoch macht sich in den „Testamenten“
in einem noch höheren Maße als in dem „Buche Henoch“ die Bei-
mischung eines dritten Elementes bemerkbar: des christlichen. Die
Interpolationen im Geiste der christlichen Dogmatik: über den Gott-
menschen, den Erlöser, den „Hohepriester-Christus“, über das Er-
scheinen Gottes auf Erden in menschlicher Gestalt zur Erlösung der
Menscheit sind in dem ganzen Buche in einer solchen Fülle verstreut,
daß viele in seinem Verfasser eines der Mitglieder der jüdisch-christ-
lichen Sekte des I. oder II. Jahrhunderts erblickten. Dieser Vermu-
tung widersprechen indessen die pharisäischen, ja auch die priester-
lichen Elemente des Buches: die Hochhaltung des Gesetzes, des Tem-
pelkultes, die Auszeichnung der Leviten-Priester als einer auserwähl-
ten Gruppe. Ein Christ würde über den Jerusalemer Tempel, der da-
mals, nach dem Grundton des Buches zu urteilen, noch bestand,
sowie über die Priester und die Allmacht des Gesetzes ganz anders
geschrieben haben. So scheint es, daß der Grundtext der Feder eines
31*
483
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
rechtgläubigen Juden oder zweier Juden, wenn man sich für die Dop-
pelautorschaft eines Pharisäers und eines Essäers entscheidet, ent-
stammt, die christlichen Einfügungen aber aus einer späteren Zeit,
aus dem II. Jahrhundert, herrühren. Dies findet seine Bestätigung
zum Teil darin, daß in der alten, nach dem ursprünglichen Text ge-
machten armenischen Übersetzung viele christologische Einfügungen
fehlen. Der ganze Stil und verschiedene Einzelwendungen weisen dar-
auf hin, daß das Buch ursprünglich in Judäa in hebräischer Sprache
abgefaßt worden ist und dann ins Griechische übertragen und in
christlichem Geiste umgearbeitet wurde; der griechische Text hat sich
dank der Fürsorge der Kirche erhalten (die Kirchenväter Origenes und
Hieronymus zitieren dieses Buch als ein außerkanonisches), während
das von den Pharisäern nicht kanonisierte Original verschollen ist1).
Dagegen sind in einem anderen Werke dieser Zeit, in der „Him-
melfahrt Moses’“, die essäischen Anschauungen vorherrschend. Ur-
sprünglich in hebräischer oder griechischer Sprache abgefaßt und
von den Kirchenschriftstellern der ersten Jahrhunderte häufig er-
wähnt, hat sich das Buch jedoch nur in einer alten lateinischen
Übersetzung unter dem Titel „Assumptio Mosis“ erhalten, die im
Jahre 1861 auf gefunden und veröffentlicht worden ist. In dem Buche
wird eine von Moses vor seinem Tode an seinen Nachfolger Josua im
transjordanischen Lande gehaltene Ansprache wiedergegeben. Der
große Meister übergibt seinem Schüler die die künftigen Schicksale
des jüdischen Volkes weissagenden Bücher zur Aufbewahrung, und
übermittelt ihm bei diesem Anlaß zugleich eine Reihe mündlicher'
Prophezeiungen. Zehn Stämme werden dem Volksbunde abtrünnig
werden, aber auch die zwei übriggebliebenen Stämme werden einem
„König vom Osten“ (Nebukadrezzar) zum Opfer fallen, der Jerusa-
lem zerstören und seine Einwohner in die Gefangenschaft führen
wird. Die aus der Gefangenschaft Heimgekehrten werden ihre Stadt
!) Im Jahre 1894 hat M. Gaster den hebräischen Text eines Teiles des Buches
und zwar das „Testament des Naftali“ in einer vom griechischen Text stark ab-
weichenden Lesart entdeckt. Jedoch macht das Bruchstück nicht den Eindruck
eines echten alten Textes und erscheint eher als eine freie Übersetzung nach dem
griechischen Original. Es gibt auch eine aus dem Mittelalter stammende lateinische
und slawische Übersetzung der „Patriarchentestamente“. Die Vermutungen, denen
zufolge die „Testamente“ in der Epoche des Jochanan-Hyrkanus (Charles, The
Apocrypha) oder gar im dritten vorchristlichen Jahrhundert (Ed. Meyer, Ursprung
des Christentums, II, 12, 44) auf getaucht sein sollen, scheinen uns nicht begrün-
det zu sein.
484
§ 94. Die nationalen Kämpfe in der Diaspora
und den Gottesdienst wiederherstellen, doch werden es „traurige und
seufzende“ Menschen sein; es wird dem Volke an Einmütigkeit ge-
brechen, der Altar wird von Dienern nichtpriesterlicher Herkunft ent-
weiht werden (die Zeit des Antiochus Epiphanes), die Schriftgelehr-
ten (doctores) werden parteiisch sein und das Recht beugen. Sodann
werden Könige mit priesterlicher Würde erstehen (die Hasmonäer),
aber auch sie werden Gottlosigkeiten im Tempel verüben (der Krieg
der Hasmonäerbrüder?). Schließlich wird ein frecher und gottloser
König — nicht aus dem Priestergeschlechte — erstehen (Herodes I.),
der die Angesehensten des Volkes ausrotten wird; vierunddreißig
Jahre lang wird er regieren, seine Söhne aber nur kürzere Zeit (Ar-
chelaus), denn Truppen aus dem Abendlande werden in das Land
eindringen, deren Führer (Varus) einen Teil des Tempels einäschern
und gar viele ans Kreuz schlagen wird. Dann werden sich die Zei*
ten erfüllen . . . Nunmehr wird die Weissagung des Moses immer
dunkler: es ist die Rede von dem Auf tauchen Scheinheiliger, Gewinn-
süchtiger, die die Güter des Volkes fressen werden (wohl eine An-
spielung auf die Priester der Procuratorenzeit). Eine neue Katastrophe
wird verkündet: der König der Könige wird die Juden zum Abfall
vom Gesetze, zu der Anbetung von Götzen zwingen (Galigula), doch
wird das Volk errettet werden. Die Herrschaft des Teufels wird zu
Ende gehen und es wird das Himmelreich anbrechen, die Zeit des
Strafgerichts über die Heiden, eine Zeit der Glückseligkeit für Israel,
das „auf Adlersschwingen“ zum Sternenhimmel auf steigen wird.
Das abweisende Verhalten des Verfassers der „Himmelfahrt Mo-
ses’“ zu der ganzen Lebensordnung des damaligen Judäa, zu den hö-
heren Gesellschaftsklassen, zu den Regierenden, den Priestern, ja so-
gar zu den Gelehrten verrät deutlich seine essäische Gesinnung. Das
Buch ist wahrscheinlich bald nach der unruhvollen Zeit des Galigula
entstanden, vielleicht unter der Einwirkung der lichten Zeitspanne
der Regierungszeit Agrippas I., die dem pessimistisch gestimmten
Verfasser als der Anbruch einer besseren Zeit erscheinen mochte.
§ 94. Die nationalen Kämpfe in der Diaspora: Ägypten, Syrien, Rom
In seiner Schrift „Gesandtschaft an Cajus“ (Caligula) schildert
Philo von Alexandrien die Ausbreitung der jüdischen Diaspora in der
ersten Hälfte des I. Jahrhunderts der ehr. Ära in folgender Weise:
485
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
„Jerusalem ist die Hauptstadt nicht nur von Judäa, sondern von den
meisten Ländern (deren jüdischer Bevölkerung), wegen der Kolonien,
die es ausgesandt hat in die angrenzenden Länder: Ägypten, Phönii
zien, Syrien, Goelesyrien, und in die weiter entfernten: Amphylien,
Cilicien, in die meisten Teile von Asien (Kleinasen) bis nach Bithy-
nien und in die entlegensten Winkel des Pontus; desgleichen nach
Europa: Thessalien, Boethien, Macedonien, Ätolien, Attika, Argos,
Korinth, in die schönsten Teile des Peleponnesus. Und nicht nur das
Festland ist voll von den jüdischen Ansiedlern, sondern auch die be-
deutendsten Inseln: Euböa, Gypern, Kreta. Und ich schweige von den
Ländern jenseits des Euphrat; denn alle, mit Ausnahme eines gerin-
gen Teiles, Babylons und der ringsum gelegenen fruchtbaren Ge-
genden, haben jüdische Einwohner“. In der Apostelgeschichte (2,
5—11), in der die christliche Propaganda der vierziger und fünfzi-
ger Jahre des I. Jahrhunderts geschildert wird, werden jüdische Wall-
fahrer erwähnt, die aus Parthien, Mesopotamien, Kleinasien, Ägypten,
Libyen (Cyrenaica) und Rom nach Jerusalem zu pilgern pflegten. Der
Apostel Paulus findet in vielen Städten Kleinasiens und Griechen-
lands, wo er zwischen 4o und 60 die Lehre Christi predigte1), jü-
dische „Synagogen“ vor. Aus ihren asiatischen Zentren dringt die
jüdische Diaspora immer weiter nach Europa vor. Nicht allein Grie-
chenland und Italien, sondern auch die entferntesten Kolonien der
Griechen und Römer auf dem europäischen Festlande ziehen jüdische
Ansiedler an. Einzelne Diasporasplitter geraten schon früh an die
nördliche Küste des Pontus Euxinus (Schwarzes Meer), und Denk-
mäler aus dem I. Jahrhundert legen Zeugnis von jüdisch-helle-
nistischen Gemeinden auf der Halbinsel Krim ab.
Als Zentren des kulturellen Lebens behaupten sich auch in dieser
Epoche die alten Diasporagemeinden in Ägypten und Syrien, insbe-
sondere Alexandrien. Doch unruhvoll und stürmisch gestaltet sich das
Leben in diesen Zentren. Die Erschütterung, die die alexandrinische
Gemeinde unter Caligula erfuhr (§ 72), hinterließ tiefe Spuren. Die
gegenseitigen Beziehungen zwischen den Griechen und Juden in der
„Kosmopolis“ waren für immer getrübt. Nach dem Tode Galigulas
machte sich unter den alexandrinischen Juden eine Bewegung bemerk-
bar, die darauf ausging, für die kürzlich erduldete Judenhetze Rache
!) Die Briefe des Apostels Paulus. S. Apostelgeschichte i3, i4; 1; 16—18
(Antiochia, Ikonion, Philippi, Thessalonike, Korinth, Ephesus u. a.).
486
§ 94. Die nationalen Kämpfe in der Diaspora
zu nehmen; doch befahl Kaiser Claudius seinem Statthalter in Ägyp-
ten, die Zwistigkeiten im Keime zu ersticken. Zugleich traf der Kai-
ser auf das Drängen des Königs Agrippa I. hin auch wirksamere Maß-
nahmen zur Beschwichtigung der erregten jüdischen Bevölkerung:
durch einen besonderen Erlaß, der in sehr energischen Wendungen1)
abgefaßt war, gab er den wahnwitzigen Anschlag seines Vorgängers
auf das religiöse Gewissen der Juden der Verurteilung preis und ver-
kündete seinen Willen, daß „dem jüdischen Volke (in Ägypten) sein
Recht in keiner Weise verkürzt werde“ und daß ihm die Selbstverwalr
tung mit der Befugnis, einen eigenen Ethnarchen zu wählen, zuge-
standen werden solle. Dabei forderte der neue Kaiser, daß „von bei-
den Seiten alles vermieden werde, wodurch neue Unruhen entstehen
könnten“.
Zugleich erließ Kaiser Claudius auf die Fürbitte der Könige Agrip-
pa I. und Herodes von Chalkis ein Edikt, das die Freiheiten und Vor-
rechte der Juden in allen Rom untergebenen Provinzen bestätigte.
„Ich erachte es für billig — heißt es in diesem Erlaß —, daß map
in keiner griechischen Stadt die Juden der Rechte beraube, die ihnen
unter dem göttlichen Augustus bestätigt worden sind. Auch erachte ich
es als gerecht, daß die Juden in unserem gesamten Reiche ihren her-
kömmlichen Gebräuchen, ohne alle Anfechtungen, treu bleiben, doch
unter der Bedingung, daß sie sich duldsam benehmen und die religi-
ösen Gebräuche anderer Völker nicht verachten“. Der Erlaß sollte
den Behörden aller Städte sowohl innerhalb wie außerhalb Italiens
kundgegeben und allerorten an einem geeigneten Platz zur allgemeinen
Kenntnisnahme angeschlagen werden.
Doch war es nicht leicht, in Alexandrien die aufgepeitschten Lei-
denschaften zu dämpfen. Die judenfeindliche Agitation in den öf-
fentlichen Versammlungen und in der Literatur ließ nicht nach. Ein
typischer Vertreter des alexandrmischen Judenhasses war jener
„Grammatiker“ Apion, der an der Spitze der nach der Judenhetze
in Alexandrien zu Caligula geschickten judenfeindlichen Gesandtschaft
stand. Ein den Griechen assimilierter Ägypter, der auch das „alexan-
drinische Bürgerrecht“ erhalten hatte, kannte Apion voll neophy-
tischen Eifers in seiner Lobpreisung der griechischen Kultur keine
Grenzen. In Alexandrien, Rom und anderen Städten Griechenlands
!) Wenn man der Treue der Textwiedergabe in Ant. XIX, 5 Glauben schen-
ken will. Vgl. unten, Anhang, Note 6.
487
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
machte er sich durch seine Vorträge über Homer sowie über die Glau-
bensformen und Sitten verschiedener Völker als Wanderrhetor einen
gewissen Namen; doch waren diese Vorträge reicher an Dichtung
denn an Wahrheit und besonders reich an unverhohlener Prahlerei.
So nahm z. B. Apion keinen Anstand zu erklären, Alexandrien könne
auf ihn als seinen Mitbürger stolz sein, und er hätte es in der Hand,
jeden, dem er eine Schrift zueignen wollte, unsterblich zu machen.
Der Kaiser Tiberius, dessen Gunst sich dieser Abenteurer zu ver-
schaffen suchte, nannte ihn die „Weltglocke“ (cymbalum mundi),
wozu der römische Schriftsteller Plinius der Ältere bemerkt, es wäre
richtiger, ihn die „Pauke seines eigenen Ruhmes“ (propriae famae
tympanum) zu nennen. Dies war nun der Mann, der den literarischen
Vernichtungsfeldzug gegen das Judentum eröffnete. In seine „Ägyp-
tischen Bücher“ (Aigyptiaca) fügte er eine skrupellose Schmähschrift
gegen die Juden im allgemeinen und gegen die alexandrinischen im
besonderen ein. Er wiederholt die sinnlose, noch von Manetho erfun-
dene judenfeindliche Legende über den Auszug der Israeliten aus
Ägypten und ergänzt die Charakteristik des jüdischen Volkes und
seiner Religion durch abergläubische Ammenmärchen, die um jene
Zeit unter den Heiden im Umlauf waren. So erzählt Apion, im Je-
rusalemer Tempel wäre ein aus Gold gefertigter Eselskopf aufgestellt
gewesen, den die Juden bis zu der Zeit des Antiochus Epiphanes an-
gebetet hätten; des weiteren behauptet er, die Juden pflegten alljähr-
lich irgendeinen Griechen zu rauben, ihn ein Jahr lang im Tempel
zu mästen, um ihn dann in einen Wald zu schleifen und dort nach
besonderem Ritus zu töten, wobei sie Haß gegen die Griechen schwü-
ren; einen solchen zum Zwecke des Abschlachtens gemästeten Griechen
soll einstmals Antiochus Epiphanes im Jerusalemer Tempel aufgefun-
den haben. Diesen ganzen Lügenwust benötigte Apion, um die ihm ver-
haßten alexandrinischen Juden anschwärzen zu können. Er trat hier-
bei nur als Werkzeug der damals betriebenen judenfeindlichen Agi-
tation auf, die darauf ausging, die Juden Alexandriens ihrer bürger-
lichen Rechte zu berauben. Der Hetzer gab sich alle Mühe, zu bewei-
sen, daß die Juden in Ägypten Eindringlinge seien, daß sie sich dort
auf gesetzwidrige Weise das Bürgerrecht angeeignet hätten, daß sie
nicht nur den Griechen, sondern auch den Römern feind seien, wie
dies aus ihrer Ablehnung des „Caesarenkultes“ erhelle. Die Schrift-
stellerei des Apion war darauf berechnet, die Geister in Alexandrien
488
§ 94. Die nationalen Kämpfe in der Diaspora
in Erregung zu versetzen und auch in Rom Eindruck zu machen. Die
alexandrinische Judenhetze im Jahre 38 setzte dieser literarischen
Agitation, die die Straßenagitation der Volks verführ er von der Art
eines Isidoras und Lampon aufs beste ergänzte, eine ihrer durchaus
würdige Krone auf. Doch erwies sich die Propaganda des Apion als
noch weit schädlicher denn die Hetzarbeit der Straßenagitatoren, da
sie ihre Wirkung auch weit über die Grenzen Ägyptens hinaus nicht
verfehlte. Die in der Schmähschrift verewigten Lügen verzerrten noch
lange die Vorstellungen der Heiden vom Judentum, und die besten
Schriftsteller der Antike standen unter ihrem Einfluß. Aus dieser
Quelle eben schöpften Plutarch, Tacitus und die anderen ihre sonder-
baren Begriffe von der Religion und der Lebensweise der Juden. Die
schädliche Einwirkung der Schriften des Apion bewog nun den jü-
dischen Geschichtsschreiber Josephus Flavius, eine „Widerlegung“ ab-
zufassen („Über das hohe Alter des jüdischen Volkes — gegen Api-
on“), in der er die Verleumdungen des fixen Alexandriners erbar-
mungslos der Lächerlichkeit preisgab und ihn selbst der Verfälschung
geschichtlicher und zeitgenössischer Tatsachen überführte.
Während der Regierungszeit des Kaisers Claudius, in der die rö-
mische Obergewalt sich den Juden gegenüber wohlwollend verhielt,
vermochte die Agitation der Judenhasser keine praktischen Folgen
nach sich zu ziehen. Doch später änderte sich die Lage. Die von
Claudius im Zaume gehaltenen alexandrinischen Judenhasser schöpf-
ten unter Nero neuen Mut. Nach dem Vorbild der Caesareer trafen
auch die ortsansässigen Griechen Anstalten zur Entsendung einer Ab-
ordnung nach Rom, die um die Abschaffung der jüdischen Gleich-
berechtigung ansuchen sollte. Im Zusammenhänge mit eben diesen
Anstalten spielte sich jene oben (§ 82) geschilderte Metzelei zu Alex-
andrien ab, die seitens der jüdischen Bevölkerung Tausende von Op-
fern forderte. Dies geschah in dem verhängnisvollen Jahre 66, im
Jahre der Erhebung Judäas gegen Rom und der Erhebung der heid-
nischen Welt gegen die Juden. Darauf mußte die alexandrinische jü-
dische Gemeinde vier Jahre lang voll Kummer die qualvolle Agonie
Judäas miterleben und dann, nach dem Falle von Jerusalem, Flücht-
linge aus dem Mutterlande in ihrer Mitte sehen, Überreste der zer-
streuten zelotischen Scharen, Haufen von Helden, die nunmehr hier
bei ihren Stammesgenossen Rachegefühle gegen den Welträuber, den
Zerstörer der heiligen Stadt, anzufachen sich bemühten. So springen
489
Der Judaismus im Heimatlande un4 in der Diaspora
die Funken des in Judäa gelöschten revolutionären Brandes auf Ägyp-
ten und das benachbarte Cyrenaica über.
Zur selben Zeit, als in Judäa der Schlußakt des großen Kriegen
seinem Ende entgegenging, im Jahre des Falles der Festung Masada
(73), machten sich in Alexandrien Anzeichen einer revolutionären
Gärung bemerkbar. Die aus Palästina eingetroffene zahlreiche Zelo-
tengruppe (Josephus Flavius nennt sie „Sikarier“) machte die Grau-
samkeit der Römer weit und breit bekannt und reizte die alexandrini-
schen Juden zu einem Aufstande auf. Die in Erregung versetzte Volks-
masse war schon bereit, den Agitatoren zu folgen und das Banner des
Aufstandes zu entfalten, doch die jüdische Aristokratie Alexandriens
trat dem Drängen des Volkes mit Entschiedenheit entgegen. Die Mit-
glieder der jüdischen „Gerusia“ überredeten das Volk, sich zu be-
ruhigen, indem sie auf die verderblichen Folgen des geplanten un-
gleichen Kampfes mit den Römern bei dem feindseligen Verhalten
der es umgebenden griechischen Bevölkerung hinwiesen. Diese Gründe
konnten ihre Wirkung auf die Alexandriner, die erst vor kurzem
so fürchterliche Verfolgungen hatten erdulden müssen, nicht verfeh-
len. So blieben denn die Organisatoren des Aufstandes ohne Gefolg-
schaft. Viele von denen, die bis dahin den Zeloten Zuflucht gewährt
hatten, begannen jetzt, sie um ihrer persönlichen Sicherheit willen
den römischen Behörden auszuliefern, und der römische Präfekt Ju-
lius Lupus versäumte nicht, die Aufrührer aufs grausamste zu bestra-
fen. Die Römer wollten die gefangenen Zeloten auf der Folterbank zu
der Erklärung zwingen, sie würden fortan treue Untertanen des rö-
mischen Kaisers sein; doch die Unversöhnlichen, die Rom ewigen Haß
geschworen hatten, erduldeten standhaft jede Marter und weigerten sich
hartnäckig, sich dem Feinde zu unterwerfen. „Staunenerregend war
— so sagt der den Zeloten nichts weniger als gewogene Josephus
Flavius — ihre Standhaftigkeit und Seelenstärke . . . Sie bewahrten
alle ihre Geistesgröße, als ob ihr Leib keine Empfindung und ihre
Seele über die Martern beinahe Freude hätte. Am meisten Staunen
erregten die jungen Knaben, denn auch von ihnen ließ sich keiner
dahin bringen, den Kaiser seinen Herrn zu nennen“.
Viele Zeloten flüchteten vor dem grausamen Strafgericht des Lu-
pus nach Theben und in andere Städte Oberägyptens. Es entstand die
Befürchtung, daß auch dort Unruhen ausbrechen könnten. Dem Kai-
ser wurde darüber Bericht erstattet. Noch unter dem Eindruck des
490
§ 94. Die nationalen Kämpfe in der Diaspora
eben zu Ende geführten jüdischen Krieges stehend, geriet Vespasian
in hellen Zorn: es schien ihm nunmehr, daß der revolutionäre Brand
unter den Juden nie zum Erlöschen kommen werde. Es galt, außer-
ordentliche Maßnahmen zu ergreifen, damit Ägypten nicht zum Herd
einer neuen nationalen Bewegung werde. Wie es scheint, bestand die
Besorgnis, daß die ihres zentralen Heiligtums, des Jerusalemer Tem-
pels, beraubten jüdischen Patrioten sich jetzt den „Oniastempel“ im
Heliopolisbezirke nutzbar machen würden, um ihn zum religiösen
Mittelpunkt für die von Haß gegen Rom erfüllten Flüchtlinge aus
Judäa zu machen. Um nun die Bewegung im Keime zu ersticken, gab
Vespasian seinem Statthalter Lupus den Befehl, den „Jahvetempel“
zu Leontopolis, der 2 33 Jahre lang den religiösen Mittelpunkt der
ägyptischen Diaspora gebildet hatte, zu schließen (73). Der Nach-
folger des Lupus im Statthalteramte, Paulinus, untersagte überdies
den Juden, sogar den Bereich des „geweihten Oniasbezirkes“ zur Ab-
haltung des Gottesdienstes zu betreten. Der Oniasbezirk wurde öde und
leer. Durch die Beseitigung des alten Heiligtums wurde der ägypti-
schen Diaspora ein harter Schlag versetzt, von dem sie sich nie mehr
zu erholen vermochte.
Zur gleichen Zeit kam es auch in dem benachbarten Libyen, in
der Stadt Cyrene zu Unruhen. Der flüchtige Zelot Jonathan wiegelte
die jüdischen Einwohner Cyrenes zu einem Aufruhr auf. Ihm schlos-
sen sich nahezu zweitausend Mann an. Doch unterdrückte der römi-
sche Statthalter des libyschen Gebietes, Gatullus, den Aufruhr mit
Waffengewalt und ließ den dabei festgenommenen Jonathan gefes-
selt nach Rom bringen. Um seine Verdienste aufzubauschen, suchte
Catullus auch einflußreiche Juden Alexandriens und Roms, darunter
den „Friedensfreund“ Josephus Flavius, in die Sache zu verwickeln,
indem er sie der geheimen Unterstützung der revolutionären Organi-
sation beschuldigte; doch schlug sein Versuch fehl. Vespasian be-
gnügte sich mit der Hinrichtung des Jonathan: der Held wurde ge-
geißelt und dann lebendig verbrannt.
Auch in einem anderen Diasporazentrum, im syrischen Antiochia,
war der Abschluß dieser Epoche durch Zusammenstöße zwischen den
Juden und der ortsansässigen griechischen Bevölkerung gekennzeich-
net. Bis dahin hatte sich zwischen den beiden Teilen der Bevölkerung
Antiochias keine Feindseligkeit bemerkbar gemacht. Die zahlreiche
jüdische Gemeinde übte hier in weitestem Maße ihre Selbstverwal-
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
tungsvorrechte aus, besaß ihre eigenen „Archonten“ (Oberen) und
war auf die Pracht ihrer Synagoge stolz. In manchen Kreisen der
heidnischen Gesellschaft machte sich sogar ein gewisser Hang zum
Judaismus sowie zu der dort eben eindringenden christlichen Lehre
bemerkbar. Als im Jahre 66 überall die nationalen Kämpfe ausge-
brochen waren, ließen es die Heiden in Antiochia zu einer Juden-
hetze nicht kommen. Doch bald darauf, als Vespasian in Syrien seine
Legionen zur Züchtigung des meuternden Judäa sammelte, brach auch
hier eine anti-jüdische Bewegung aus. Ihr Urheber war ein Spröß-
ling der antiochenischen Juden selbst: ein gewisser Antiochus, der
Sohn eines dortigen jüdischen Archonten, der seiner Religion abtrün-
nig geworden war und sich durch Verrat bei den ortsansässigen Grie-
chen und Römern einschmeicheln wollte. Antiochus erklärte nun im
Theater angesichts einer großen Bürgermenge, sein Vater und an-
dere Vertreter der dortigen jüdischen Gemeinde hätten den Entschluß
gefaßt, in einer Nacht die ganze Stadt in Asche zu legen. Die De-
nunziation mag vielleicht mit den Vorbereitungen der Juden zur
Selbstwehr für den Fall einer Judenhetze in Zusammenhang gestan-
den haben, doch war sie in der Form, in der sie Antiochus vorbrachte,
nichts als eine niederträchtige Verleumdung. Der Denunziant erreichte
trotzdem sein Ziel. Die wütend gewordene Menge ergriff die ver-
leumdeten Gemeindemitglieder sowie deren vermeintliche Mittäter,
einige von außerhalb gekommene Juden, und verbrannte sie kurzer-
hand in der Nähe des Theaters auf einem Scheiterhaufen. Viele Ju-
den wurden außerdem gezwungen, Opfer „nach hellenischem Ritus“
darzubringen (vielleicht zu Ehren des Kaisers), wobei man die Wi-
derstrebenden für Verschwörer erklärte und niedermachte. Der ver-
räterische Renegat vermochte seine böse Tat nur unter der Mitwir-
kung der römischen Behörden in Antiochia zur Ausführung zu brin-
gen, die die Juden damals allenthalben als kriegführende Partei, als
Sprößlinge einer aufrührerischen Nation behandelten. So gab denn der
römische Stadtvogt dem Antiochus eine Soldatenabteilung, mit deren
Hilfe der judenfeindliche Jude seine Volksgenossen zwang, am Sab-
bat Arbeiten zu verrichten und die Ruhe des heiligen Tages zu ver-
letzen.
Kurz darauf brach in Antiochia wirklich eine Feuersbrunst aus,
die die Agora (den Markt), das Gebäude des Stadtrates mit dem Ar-
chiv und den Palast vernichtete. Antiochus beeilte sich, die Juden der
492
§ 94 Die nationalen Kämpfe in der Diaspora
Brandstiftung zu beschuldigen. Schon war der Pöbel bereit, dem
Hetzer zu folgen, und der jüdischen Gemeinde drohte ein fürchter-
liches Blutbad; da griff jedoch der römische Legat Collega ein und
untersagte strengstens jede Selbsthilfe, bis die Sache durch die Be-
hörden aufgeklärt werden würde. Die Nachforschungen ergaben, daß
die Feuersbrunst von einigen in Armut verfallenen Schuldnern an-
gelegt worden war, die ihre im Stadtarchiv aufbewahrten Schuldver-
schreibungen vernichten wollten. So ward die Judenhetze verhütet,
doch hatte die Gemeinde von Antiochia bis dahin eine Reihe sorgen-
voller Tage zu überstehen (67).
Nachdem den antiochenischen Judenhassern die Organisierung der
Hetze mißlungen war, richteten sie all ihre Anstrengungen auf eine
legale Bekämpfung der Juden. Zu diesem Zwecke beschlossen sie,
sich die patriotische Stimmung der Römer in der Zeit nach der Un-
terdrückung des jüdischen Aufstandes zunutze zu machen. Als nach
der Einnahme von Jerusalem Titus sich auf seinem Triumphzuge
durch Syrien befand, bereiteten ihm die Griechen von Antiochia einen
begeisterten Empfang. Sie zogen aus der Stadt dem Sieger entgegen
und hier ertönten mitten im Begrüßungsjubel Rufe aus der Menge,
die die Vertreibung der „Feinde Roms“ aus Antiochia verlangten.
Titus ließ die Zurufe unerwidert. Als sich aber dann im Stadttheater
die Mitglieder des Stadtrates mit der gleichen Bitte an Titus wand-
ten, bekamen sie zur Antwort, daß die Juden schon aus dem Grunde
nicht vertrieben werden könnten, weil die Vertriebenen, deren Vater-
land eben zerstört worden sei, nirgends Unterkunft finden würden.
Auch die Bitte der antiochenischen Griechen, die Erztafeln, auf denen
die Rechte und die Freiheiten der Juden von Antiochia eingeprägt
waren, zerstören zu dürfen, wurde von Titus abschlägig beschieden.
Dagegen teilte, wie wir bereits wissen (§ 82), eine andere jüdische
Gemeinde in Syrien, die von Damaskus, das Los, das im Jahre des
Schreckens viele Diasporagemeinden getroffen hatte. In dem Augen-
blick der Niederlage des Gestius Gallus in Judäa konnte oder wollte
die römische Macht denjenigen, die die Juden unter der Parole der
Rache für die Ehrenverletzung Roms vernichteten, nicht entgegen-
treten.
In Rom selbst war die jüdische Gemeinde vor den Ausschreitun-
gen des Pöbels allerdings geschützt, doch war ihre Lage in dieser un-
ruhvollen Zeit nichts weniger als günstig. Nach den Repressivmaß-
493
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
nahmen des Kaisers Tiberius (§ 68) wurde die römische Gemeinde
unter dessen Nachfolgern wieder aufgebaut. Das Haupt der Gesandt-
schaft an Caligula, Philo von Alexandrien, scheint während seines
Aufenthaltes in Rom mit den dortigen Juden in Verbindung gestanden
zu haben. Unter Claudius und Nero mußte die Gemeinde viel unter
den Verfolgungen leiden, denen dort die Anhänger des neugeborenen
Christentums ausgesetzt waren (unten, §§96 u. io4). Wie es den rö-
mischen Juden in den Jahren des großen nationalen Krieges zumute
gewesen sein mag, als alles ringsum von Wut gegen das „aufrühre-
rische Volk“ erfüllt war, und, als sie später bei dem Triumphzug des
Vespasian und des Titus durch die Straßen Roms die Siegestrophäen,
die Geräte aus dem eingeäscherten Tempel und die gefesselten Hel-
den zu Gesicht bekamen, kann man sich leicht denken. Die nationale
Trauer mußte besonders schmerzlich in der jüdischen Kolonie der
jubelnden Hauptstadt empfunden werden. Das einzige, was diese Ko-
lonie zur Erleichterung des Volkselends noch zu unternehmen ver-
mochte, waren die Bemühungen, möglichst viele der nach Italien in
Gefangenschaft abgeführten oder in die Sklaverei geratenen Volks-
genossen loszukaufen. Die losgekauften Gefangenen oder Sklaven wur-
den zu Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Roms und verpflanzten
so die nationalen Traditionen der zerstörten Heimat dahin.
§ 95. Die Propaganda des Judaismus und die Proselyten
Überaus bemerkenswert ist es, daß gerade in dem Jahrhundert
des größten nationalen Antagonismus zwischen den Juden und den
anderen Völkern zugleich in den verschiedenen Schichten der heidni-
schen Bevölkerung der stärkste Hang zur jüdischen Religion zutage
trat. Darin kam die Wirkung jener Kräfte der Anziehung und Ab-
stoßung zum Vorschein, die gleichzeitig das Verhalten der antiken
Welt zum Judaismus bestimmten. Vieles an der jüdischen nationalen
Kultur war der griechisch-römischen Gesellschaft gewiß fremd. Auf-
reizend war die innere Abgesondertheit und Zurückhaltung des win-
zigen jüdischen Volkes den es umgebenden, auf ihre Bildung so stol-
zen Völkern gegenüber; verletzend war auch die Verachtung, mit der
die Juden auf jede Art von Gottheitsdarstellung und auf den kompli-
zierten heidnischen Kultus überhaupt herabblickten, den die Griechen
und Römer in einem so hohen Maße mit raffinierter Symbolik und
494
§ 95. Die Propaganda des Judaismus und die Proselyten
ästhetischer Sinngebung bereicherten. Die bilderlose Religion der Ju-
den schien dem Heiden ebenso verbildet und der Schönheit entbeh-
rend zu sein, wie dem Juden der antike Götzendienst und die heid-
nische Mythologie ein Greuel waren1). Auf den gemeinen Mann un-
ter den Heiden, der in dem Standbild seiner Gottheit ein beseeltes
Wesen sah, machte der betende Jude den seltsamen Eindruck eines
Menschen, der zu sich selbst oder zum Himmel redet (daher das rö-
mische coelicolae: zum Himmel Betende). Sonderbar und mitunter
a,uch lächerlich erschienen die mit peinlicher Strenge befolgten reli-
giösen Bräuche und Sitten der Juden. Und dennoch sehen wir zur
selben Zeit, wie sich jener geistige Prozeß unabwendbar auswirkt,
der sich allmählich in dem Schoße der heidnischen Welt vollzog und
von dem Polytheismus zum Monotheismus hinüberführte. Die gebil-
deten Griechen und Römer, die die Lehre des Judaismus aus der grie-
chischen Bibelübersetzung und den Werken der jüdisch-hellenistischen
!) Welchen Abscheu sogar Juden mit römischer Bildung gegen die griechisch-
römische Abgötterei empfanden, ist aus der ätzenden Kritik zu ersehen, die Jo-
sephus Flavius an der griechischen Mythologie übt, an all diesen Vorstellungen von
Zeus und den anderen Göttern und Göttinnen mit ihren Ausschweifungen und den
niedrigen Leidenschaften, die dadurch auch für die menschliche Gesellschaft legi-
tim wurden (Contra Apion. II, 33—35): „Sie (die Dichter und Gesetzgeber) be-
stimmten die Zahl der Götter nach eigenem Gutdünken, ließen nach eigener Will-
kür die einen von den anderen abstammen, unterschieden sie voneinander als wä-
ren es Tierarten, je nach Wohnort und Lebensweise, indem sie den einen die
Erde, den anderen das Meer zuwiesen, die ältesten aber in den Tartarus einschlos-
sen. Für die Götter nun, denen sie den Himmel zugewiesen hatten, setzten sie
einen ,Vater* (Zeus) ein, in Wirklichkeit aber einen Tyrannen und Despoten,
gegen den sich eine Verschwörung der Gattin, des Bruders und der aus seinem
Kopfe geborenen Tochter (Hera, Poseidon, Pallas-Athene) bildet, um ihn einzu-
sperren, wie er es selbst mit dem eigenen Vater (Kronos) getan hatte . . . Sie
alle, Götter wie Göttinnen, geben sich ausschweifendem Geschlechtsverkehr mit
Menschen hin. Die mächtigsten der Götter, und vor allem der edle Vater selbst
(Zeus), sehen in aller Ruhe zu, wie man die von ihnen verführten oder geschwän-
gerten Frauen in den Kerker wirft oder im Meere ertränkt (Lete, Semele u. a.).
Schamlos ergötzen sich die Götter am Ehebruch, der bei ihnen im Himmel verübt
wird (eine Anspielung auf die Episode bei Homer, in der die Götter am Anblick
des Ares und der Aphrodite Gefallen finden, die von dem Gatten der letzteren,
Hephästus, auf dem Ehebette ertappt und durch eine besondere Kunstvorrichtung
so gefesselt werden, daß die Liebhabenden sich nicht von der Stelle rühren kön-
nen) . . . Die Menschen legten ihren Göttern Kleinmut und Furchtsamkeit, Jäh-
zorn und Tücke und die niedrigsten Leidenschaften bei . . . Die Maler und die
Bildhauer ersannen ein jeder irgendeine neue Gestalt der Gottheit, wobei der
eine sie aus Ton formte, der andere zeichnete, während die ruhmreichsten Künst-
ler für ihre Werke Elfenbein und Gold als Materialien gebrauchten.“
4.95
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
Literatur kennen lernten, fühlten sich von den dieser Lehre eigen-
tümlichen erhabenen Begriffen von Gott, Sittlichkeit und Lebenssinn
oft unwiderstehlich angezogen. Die Lehre von dem abstrakten Gotte,
dem Schöpfer der Welt und zugleich dem Born höchster Wahrheit,
vom ethischen Monotheismus, der das Doppelproblem des Glaubens
und der Sittlichkeit zur Lösung brachte, mußte einem weder in der
Mythologie des Heidentums, noch in der kühlen „vernunftgemäßen
Tugend“ der Stoiker Befriedigung findenden Geist überaus Zusagen.
Viele Eigentümlichkeiten der jüdischen Lebensführung mochten auch
auf das gemeine Volk anziehend gewirkt haben. Die große Anhäng-
lichkeit der Juden an ihren Glauben und ihre Sitten, der den höheren
Geistesbedürfnissen geweihte Sabbat, die Reinheit des Familienlebens,
die Kraft, sein Leben für seine religiöse Überzeugung hinzugeben,
die namentlich in der Abweisung des „Caesarenkultes“ unter Cali-
gula zutage getreten war — all dies nötigte unwillkürlich auch denen
Achtung vor dem Judaismus ab, die sich durch die Fülle seiner äuße-
ren Riten abgestoßen fühlten. Schließlich spielte bei alledem auch
die aktive jüdische Propaganda keine geringe Rolle. Die Mitglieder
der jüdischen autonomen Gemeinden in der Diaspora waren nämlich
gar oft genötigt, den Fremdgläubigen die Berechtigung ihrer reli-
giösen Überzeugungen zu beweisen, und von hier aus war es nur ein
[Schritt zum Nachweis der Verkehrtheit der entgegengesetzten An-
sichten. So trat denn dem Apologeten der Missionar zur Seite. Die
Behauptung des Evangelisten, wonach „die Schriftgelehrten Land und
Wasser umzogen, um auch nur einen einzigen Menschen zu bekehren“
(Matth. 2 3, i5), mag wohl auf Übertreibung beruhen; es erscheint
jedoch durchaus nicht unwahrscheinlich, daß nicht nur die jüdischen
Gelehrten, sondern auch die reisenden Kaufleute jede günstige Gele-
genheit benutzten, um unter den Andersgläubigen, mit denen sie in
geschäftlichen Beziehungen standen, für die Ideen des Judaismus zu
werben.
Die Folge von alledem war eine weite Ausbreitung jüdischer re-
ligiöser Ansichten und Bräuche unter den heidnischen Massen der
Diasporaländer in Syrien, Kleinasien, Griechenland, Italien. „Unsere Ge-
setze — so erzählt Josephus Flavius — finden immer mehr Anklang
bei den anderen Völkern . . . Viele der Hellenen sind zu unseren Ge-
setzen übergegangen; die einen sind dabei geblieben, andere, welche
der Standhaftigkeit nicht fähig waren, sind wieder abgefallen ‘. In
§ 95. Die Propaganda des Judaismus und die Proselyten
Antiochia strömten zum jüdischen Gottesdienst in den Synagogen
große Massen von Heiden herbei. „Sie (die Juden von Antiochia) —
berichtet derselbe Zeitgenosse — zogen zu ihrem Glauben eine große
Menge Hellenen heran und machten sie gleichsam zu einem Bestand-
teil ihrer Gemeinde“. Besonders gern nahmen die Frauen das jüdische
Gesetz an, was in der größeren Leichtigkeit der für sie geltenden
Übertrittsform (das Fehlen des Beschneidungsritus) seinen Grund ha-
ben mochte. So bekannten sich in Damaskus viele Frauen zum Juden-
tum, und sie waren es, die ihre heidnischen Männer während der Ju-
denhetzen in den Jahren 66—67 von Gewalttaten gegen die Juden
zurückhielten. Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß der Brauch der
Beschneidung als des Symbols des Eintritts in den „Bund Abrahams“
der Bekehrung der Heiden zum Judentum am meisten im Wege stand.
Hätten sich die geistigen Führer des jüdischen Volkes zu jener Zeit
entschlossen, den neubekehrten Erwachsenen diese Operation zu erlas-
sen und sie nur für deren künftige Kinder als verbindlich zu erklären,
so wären dem Judentum im Laufe der Zeit Millionen neuer Bekenner
zugeströmt.
In Kleinasien drangen Elemente des Judaismus in jenes bunte Ge-
misch der orientalisch-hellenischen Kulte, das den charakteristischen
Zug diesei Ländergruppe bildete, in der der Prozeß der Orientalisie-
rung des Hellenismus mit besonderer Intensität vor sich ging. Hier
herrschte ein religiöser Synkretismus vor. Die Baale und Astarten des
alten Kanaan, die griechischen Adonis (Tammus der Semiten) und
Aphrodite, die phrygischen Attis und Cybele, die ägyptischen Osiris
und Isis, endlich der parthische Mithra — sie alle verschmolzen zu
einer einzigen Götterfamilie. Die Kulte hatten oft einen orgiastischen
Charakter. Sie waren den Vorstellungen von der „Mutter der Götter“,
der fruchtbaren und gebärenden Göttin, sowie von dem sterbenden
und auf erstehenden Gotte, dem Sinnbild des Verwelkens und Wieder-
aufblühens der Natur, des Herbstes und des Frühlings, angepaßt. Da-
her auch die „heilige Prostitution“, die in Pergamon, Phrygien, Ci-
licien und den anderen Gegenden Kleinasiens weit verbreitet war, wo
die Mädchen die Tempel füllten, um sich dem ersten besten hinzu-
geben und den von ihm erhaltenen Lohn zugunsten der Göttin, d. i.
des Tempels ihres Namens (die von dem Deuteronomium verpönte
„Buhlerinnengabe“) zu spenden. Aber auch all die Zeremonien des
Beweinens des sterbenden Adonis oder Attis und der Freudentaumel zu
S2 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
497
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
Ehren der auferstehenden Gottheit, all diese Mysterien und Orgien,
mittels derer die Priester die Menschen, ihre Leidenschaften auf-
peitschend, an sich fesselten, hatten hierin ihren Grund. In dieses
Gemisch von Glaubens- und Kultformen drang nun der Judaismus
ein, dessen Anhänger ihre Gemeinden und Synagogen in allen Städten
Kleinasiens und Griechenlands hatten, und brachte den Gärstoff der
Zersetzung mit sich. Lange kämpfte der Hellenismus gegen die Vor-
stellung von einem einzigen, unsichtbaren, von den Menschen durch
eine undurchdringliche Hülle getrennten Gotte; die Juden schienen
den Griechen „gottlose'4 Menschen zu sein, die die Götter abschaffen
und die Tempel aller sinnfälligen Darstellungen berauben wollten;
und doch verrichtete der jüdische Gärstoff sein Vernichtungswerk, in-
dem er die Bahn für eine neue Weltanschauung freilegte. Dem reinen
Judaismus war es freilich nicht beschieden, in diesem Reiche des
Heidentums zu triumphieren; das kompromißfähigere Christentum
jedoch fand hier ein weites, zum Teil schon gelockertes Feld für eine
erfolgreiche Propaganda.
Äußerst komplizierte Folgen verursachte das Eindringen des Ju-
daismus in Rom, wo die religiösen Kulte unter der Vormundschaft
der Staatsgesetze standen, die jede Abweichung von der offiziellen
Religion der Priester und der Auguren erbarmungslos verfolgten. Die
orientalisch-hellenischen synkretistischen Kulte gewannen in Italien
besonders nach den Siegen des Pompe jus im Orient an Ausdehnung,
gerade als auch die jüdische Einwanderung nach Rom größere Di-
mensionen anzunehmen begann. Im I. Jahrhundert des Kaiserreiches
kämpfte die Regierung unausgesetzt gegen die in Rom eindringenden
unzüchtigen Kulte der Isis und Gybele, gegen die ägyptischen Myste-
rien und kleinasiatischen Tempelorgien, und da gleichzeitig auch der
Judaismus dort an Boden gewann, so wurden auch dessen Anhänger
mitunter von den Unterdrückungsmaßnahmen betroffen. Unter Kai-
ser Tiberius bekundeten, dem Zeugnis der Geschichtsschreiber zufolge
(Josephus Flavius, Suetonius, Tacitus), viele Römer einen Hang zu
„ägyptischen und judäischen Riten“. In der Stadt Rom selbst bestand
ein Tempel der Isis, wo die „Schamlosigkeiten kein Ende nehmen
wollten“. Die Behörden nahmen erst nach einer aufsehenerregenden
Skandalgeschichte in der großen Welt davon Notiz. Eine schöne rö-
mische Matrone Paulina, eine Verehrerin des Isiskultes, wies nämlich
einen in sie verliebten jungen Mann, Dezius Mundus, ab. Der abge-
§ 95. Die Propaganda des Judaismus und die Proselyten
wiesene Liebhaber bestach darauf die Priester des Isistempels, und
diese verkündeten nun der Paulina, daß sie der Gott Anubis selbst,
der mit ihr, dem Isisritus gemäß, eine Nacht verbringen wolle, zu sich
berufe. Durch die hohe Ehre geschmeichelt, begab sich Paulina mit
Einwilligung ihres Gatten in den Tempel und brachte dort eine Nacht
mit dem „Gotte“ zu; bald aber wurde es bekannt, daß unter dem
Schutze der Nacht an Stelle des Gottes Mundus untergeschoben wor-
den war, der auf diese Weise sein Ziel erreichte und später mit sei-
nem Siege prahlte. Zur selben Zeit wurden vier jüdische Abenteurer,
deren einer sich für einen Kenner des Mosesgesetzes ausgab, bei fol-
gendem Gaunerstreich ertappt: sie überredeten die Gattin eines römi-
schen Würdenträgers namens Fulvia, eine Verehrerin des Judaismus,
Gold und Purpur als Weihgaben für den Jerusalemer Tempel zu
schicken; nachdem sie aber die Kostbarkeiten zur Weiterbeförderung
nach Jerusalem von ihr erhalten hatten, nahmen sie diese einfach
selbst in Besitz. Dem Kaiser Tiberius wurde über die Schelmenstreiche
der ägyptischen Priester und der jüdischen Abenteurer Bericht er-
stattet, worauf er Befehl gab, gegen die in Rom lebenden Andersgläu-
bigen strenge Maßnahmen zu ergreifen. Eine Folge dieser Unterdrük-
kungsmaßnahmen war die obenerwähnte (§ 68) Verbannung einer
Menge von Juden nach Sardinien. Dabei hatten die Priester der Isis
wegen eines Betruges zu leiden, der mit dem Kult ihrer Religion
selbst in Zusammenhang stand, während die jüdischen Abenteurer
durch eine ganz gewöhnliche Gaunerei das Unheil über ihre Stammes-
genossen heraufbeschworen hatten. Die römischen Behörden kümmer-
ten sich indessen wenig um die Unterschiede zwischen den fremden
Religionsformen: alles, was von dem offiziellen Kult abwich, galt
ihnen als „Aberglauben“ (superstitio), dessen Verbreitung strengstens
verpönt war.
Aus der Zeit des Kaisers Claudius ist uns eine verworrene Nach-
richt erhalten geblieben, wonach die Juden infolge „ständiger, durch
die Agitation des Ghrestus hervorgerufener Tumulte“ aus Rom aus-
gewiesen worden seien. Diese Nachricht des späteren Geschichtsschrei-
bers Suetonius (Divus Claudius, 2 5) begegnet uns in noch zwei an-
deren Versionen. So wird in der Apostelgeschichte (18, 2) beiläufig
berichtet: „Claudius gebot allen Juden aus Rom zu weichen“, und bei
Dio Cassius (Geschichte der Römer, LX, 6) heißt es: „Da sich die
Juden in Rom wieder vermehrt hatten und man sie, ohne Tumulte
32*
499
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
seitens dieses Pöbels hervorzurufen, nicht aus der Stadt ausweisen
konnte, so vertrieb er (Claudius) sie nicht, sondern untersagte nur
denen, die ihren väterlichen Sitten gemäß lebten, jegliche Zusammen-
künfte“. Aus allen diesen sich widersprechenden Nachrichten kann
die allgemeine Schlußfolgerung gezogen werden, daß infolge irgend-
einer religiösen Propaganda die Juden unter Claudius in Rom Ver-
folgungen ausgesetzt waren. Um diese Zeit (um 5o) begann sich
wahrscheinlich in Rom bereits jene christliche Propaganda zu regen,
die dort einige Jahre später durch den Apostel Paulus zu besondere^
Entfaltung gelangte, und es erscheint nicht ausgeschlossen, daß in
diesem Falle eben die Anhänger der neuen Sekte zu Schaden kamen
(der Name „Chrestus“ bestärkt diese Vermutung, wenn darunter tat-
sächlich Christus, nicht aber ein in der jüdisch-hellenischen Diaspora
verbreiteter Eigenname zu verstehen ist). Man kann wohl annehmen,
daß unter jenen Verfolgungen der ersten Christen, die unter dem
grausamen Nero in Rom eingesetzt hatten, nicht nur die Bekenner des
neuen Glaubens, sondern auch die rechtgläubigen Juden zu leiden hat-
ten, um so mehr als gerade damals aus Judäa besorgniserregende
Nachrichten über gegen die römische Herrschaft gerichtete Unruhen
einzutreffen begannen.
In den Werken der römischen Schriftsteller dieser Epoche finden
sich Bemerkungen, die davon Zeugnis ablegen, daß das Ferment des
Judaismus in manchen Kreisen der römischen Gesellschaft bereits
eine Gärung hervorgerufen hatte. Schon der Dichter aus der Zeit des
Augustus, Horaz, vermerkt in seinen Satiren in ironischer Form die
Erfolge der jüdischen Propaganda in Rom. Horaz liebte es, „die be-
schnittenen Judäer zu verspotten“ (curtis Judaeis oppedere), während
sein Freund, der Schriftsteller Fuscus, gestand, daß er „wie viele
andere“ für den Judaismus Sympathien hege und die Sabbatruhe
einhalte, weswegen er es auch ablehnte, mit dem Dichter am Sabbat-
tage geschäftlich zu verhandeln. Er war, wie es scheint, einer jener
Römer, die man die „Verehrer des Sabbat“ (metuentes sabbata)
nannte. In einer seiner Satiren erwähnt Horaz die Juden als diejeni-
gen, die alle in ihre Gemeinschaft hereinzuziehen suchen, und wies
auf die Gefährlichkeit ihrer Propaganda hin. Von der Sabbatheiligung
spricht in seiner „Kunst der Liebe“ an drei verschiedenen Stellen auch
der jüngere Zeitgenosse des Horaz, der Dichter Ovid. Er kennt
die „Verehrung der heiligen Sieben durch den syrischen Juden“ und
§ 95. Die Propaganda des Judaismus und die Proselyten
vergleicht diesen Kult mit dem Feste des „von Venus beweinten
Adonis“; bekannt ist es ihm auch, daß „der allwöchentliche Feiertag
der Syrer Palästinas für die Geschäftsführung behinderlich ist“ und
daß „der fremdländische Sabbat“ (peregrina sabbata) als ein ungün-
stiger Tag gilt, an dem es sich nicht empfiehlt, irgend etwas zu un-
ternehmen. Ein Dichter der Glaudiuszeit, Persiiis, schildert in einer
seiner Satiren den Anbruch des „Herodestages“ (des Sabbat): durch
die Fenster der Häuser sieht man mit Blumen geschmückte brennende
Lampen, während auf den Tischen Schüsseln mit Fisch und weinge-
füllte Krüge aufgestellt sind — ein bekannt anmutendes Bild des
Sabbats in einem jüdischen Viertel. Doch verrieten die römischen
Schriftsteller eine nur mangelhafte Kenntnis des Judentums, wenn
sie den Sabbat für einen Fasttag hielten („jejuna sabbata“ bei Petro-
nius, vielleicht Jom-Kippur, der Sabbat der Sabbate?). Wie es scheint,
waren in der römischen Gesellschaft, trotz aller über das Leben der
Juden in Haus, Synagoge und auf der Straße angestellten Beobachtun-
gen, immer noch die sonderbarsten Vorstellungen von der den Körnern
unverständlichen fremden Religion und von dem Kult des „namen-
losen Gottes von Judäa“ (Ausdruck des Lukianus) verbreitet.
Eine Gereiztheit gegen die Juden ist auch in den Worten des
Staatsmannes aus der Zeit des Claudius und Nero, des stoischen Philo-
sophen Seneca, unverkennbar. Er tadelt in scharfer Weise die reli-
giösen Bräuche der Juden, insbesondere die Sabbatheiligung, die er
aus dem Grunde für schädlich hält, weil der Müßiggang an jedem
siebenten Tage mit dem Verlust eines siebenten Teiles des Lebens
gleichbedeutend sei. „Die Bräuche dieser verbrecherischen Nation —
so sagt mit Entrüstung Seneca — nehmen so sehr überhand, daß
sie bereits in allen Ländern ihre Anhänger haben, und so zwingen die
Besiegten den Siegern ihre Gesetze auf“ (victi victoribus leges dede-
runt). Die Gereiztheit des Seneca war eine Folge der damals herr-
schenden Erregung der Römer gegen das meuternde Judäa. Mit Sorge
erfüllten ihn auch Fälle der „Verführung“ von Römern zum Juden-
tum, sowie die einsetzende christliche Propaganda. Auch persönliche
Motive mochten dabei ausschlaggebend gewesen sein: in dem Kampfe
der Parteien am Hofe des Nero war nämlich eine Hauptgegnerin des
Philosophen die Kaiserin Poppäa, deren Sympathien für den jüdi-
schen Glauben allgemein bekannt waren.
Eine Folge der jüdischen Propaganda, der passiven oder der
5oi
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
aktiven, war das Auf tauchen eines zahlreichen Judenanhangs (judai-
zantes) in den Ländern der Diaspora. Diese mit dem Judaismus Sym-
pathisierenden nahmen das jüdische Gesetz nicht in seiner Gesamtheit
an, sondern nur einige seiner Hauptpunkte: sie bekannten sich zu der
Idee des einzigen Gottes, wohnten dem Gottesdienste in den Synago-
gen bei und hielten den Sabbat. Solcher „Gottverehrender“ oder
„Gottesfürchtiger“ (sebomenoi ton theon, phoboumenoi ton theon) x)
gab es unter den Hellenen und Römern nicht wenig. Dagegen waren
eigentliche Proselyten (Gere zedek), die das jüdische Gesetz in seinem
ganzen Umfange befolgten und sich der Beschneidungsoperation un-
terzogen, viel, seltener anzutreffen, da gar viele vor dem Judaismus
wegen der Fülle und der Strenge seiner Satzungen zurückschreckten.
Unter den theoretischen Verehrern des Judaismus, den sogenannten
„Gottverehrenden“ warb nun das damals auf gekommene Christentum
vornehmlich seine Jünger. Als im dritten Viertel des I. Jahrhunderts
das Judentum, von dem Kampfe gegen Rom ganz in Anspruch ge-
nommen, in seiner religiösen Propaganda unter den Heiden innehielt,
entfalteten in den Diasporaländern der Apostel Paulus und seine Mit-
streiter ihre Missionstätigkeit. Nach dem Falle von Jerusalem ver-
mochten die Führer der niedergeworfenen Nation vollends nicht an
religiöse Propaganda zu denken. Der Judaismus mußte sich damals
erst den durch die ungeheure Katastrophe, den Sturz des jüdischen
Staates, geschaffenen neuen Lebensbedingungen anpassen. Auf eine
noch strengere Weise mußte jetzt die religiöse Gesetzgebung mit den
Zielen des nationalen Partikularismus in Einklang gebracht werden;
unter solchen Umständen war aber die Zulassung fremdgearteter Pro-
selyten schwierig, ja gefährlich geworden, wie es gefährlich ist, un-
erfahrene Neulinge in die Mitte gestählter Krieger aufzunehmen. Seit
dieser Zeit wurde unter den geistigen Führern des Volkes die Meinung
vorherrschend, daß der Proselytismus mit dem nationalen Judaismus
unvereinbar sei und daß die „gerim für Israel so unerträglich seien
wie der Aussatz“* 2). Der Grundsatz hatte sich durchgesetzt, daß ein
1) Diese Bezeichnungen kehren in der „Apostelgeschichte“ (die Kapitel io,
i3, 16—18), in den Schriften des Josephus (Ant. XIV, 7, 2) und bei Juvenal (Sat.
XIV, 96—106: metuentem sabbata) wieder. In den Inschriften auf den griechischen
Denkmälern aus dem ersten christlichen Jahrhundert begegnen wir auch der Form:
„die Verehrer des höchsten Gottes“ (sebomenoi ton theon hypsiston). t
2) Babyl. Talmud, Jebamoth 47; vgl. daselbst 46: der Streit über die Ver-
bindlichkeit des Beschneidungs- und Tauchbadritus für einen Neubekehrten.
002
§ 96. Die Diaspora im Partherreiche
großer Zufluß von Neubekehrten der Standhaftigkeit der um ihre
Existenz kämpfenden Nation nicht zum Nutzen, sondern nur zum
Schaden gereichen würde. Ein die Welt bezwingender Judaismus
würde sich notgedrungen von eben dieser Welt bezwingen lassen, seine
Individualität aufgeben, seine national-geschichtlichen Grundlagen
verleugnen müssen.
§ 96. Die Diaspora im Partherr eiche: Babylonien lind Adiabene
Ein Widerhall des Angriffskampfes des Judentums gegen das Hei-
dentum während dieser Epoche dringt auch aus der fernen, jenseits
der Grenzen des römischen Reiches, an den Ufern des Euphrat und
Tigris gelegenen Diaspora zu uns. Nunmehr rührte sich auch die bis
dahin ruhig gebliebene Judenheit Parthiens, eines Staates, der aus
den verschiedenartigsten ethnischen Gruppen: aus einheimischen Sy-
rern, Griechen, Persern, parthischen Skythen und Juden künstlich
zusammengezimmert worden war. In diesem in autonome Satrapien
zerfallenden Staate war der „große König“ aus der Arsacidendynastie
in der Regel mehr von seinen Satrapen abhängig als diese von ihm.
Das Dezentralisationssystem wurde so sehr auf die Spitze getrieben,
daß die einzelnen Provinzen des öf teren die Stellung von selbständigen
Vasallenstaaten erlangten. In den Städten Babyloniens, wo die aramäi-
sche Sprache vorherrschend war, liefen sich drei Nationalitäten: Grie-
chen, Juden und Perser, sowie drei Religionen: das hellenische Hei-
dentum, der Judaismus und der Masdaismus oder Parsismus, den
Rang ab. In der großen Handelsstadt Seleucia am Tigris und in der
Landeshauptstadt Ktesiphon war der Einfluß der Griechen überwie-
gend, während in den zwei babylonischen Städten Nehardea und Ni-
sibis (Nezibin) die jüdische Bevölkerung den Ausschlag gab. Hier
spielte sich in der Regierungszeit Artabanus III. (12—4i) etwas ganz
Außerordentliches ab, was mit den fortwährenden Kämpfen der Sa-
trapen mit diesem Könige und den damaligen Wirren in Parthien
in Zusammenhang stand.
In einer Erzählung voll Raubritterromantik, die doch ihrem We-
sen nach auf geschichtlicher Wahrheit beruht1), wird das Lebens-
schicksal eines jüdischen heldenhaften Bruderpaares aus Nehardea ge-
schildert, das sich die inneren Wirren in Parthien zunutze machte und
D Ant. XVIII, 9.
5o3
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
einen kleinen Freistaat gründete. Die jugendlichen Brüder Asinäus
und Aniläus (Chasinai und Chanilai), ihres Zeichens Weber, ließen
von ihrem Handwerk, siedelten sich in der Steppe am Euphratufer
an und versammelten hier eine freie Kriegerschar aus allerlei auf
Abenteuer ausgehendem Gesindel. Die bewaffneten Freischärler über-
fielen die benachbarten Landleute und Hirten und legten ihnen Abga-
ben auf. Die beiden Recken, die sich in der Nähe von Nehardea eine
Burg erbaut hatten, jagten der Einwohnerschaft der ganzen Umgegend
Schrecken ein. Da zog der babylonische Satrap mit einem Heere gegen
die meuternden Brüder und umzingelte ihr Lager in der Absicht, die
Schar am Sabbattage zu überfallen, an dem die Juden jede Kriegs-
handlung zu vermeiden pflegten. Doch hatte er falsch gerechnet. x4si-
näus stürzte sich an der Spitze seiner Schar aus der Burg auf die her-
angekommenen Parther und schlug sie aufs Haupt. Nun sah der par-
.thische König Artabanus III. ein, daß die jüdische Schar ihm in sei-
nem Kampfe wider die gegen ihn meuternden Satrapen gute Dienste
erweisen könnte. Er ließ darauf die beiden Brüder zu sich kommen,
empfing sie in huldreichster Weise und ernannte den älteren, Asinäus,
zum Regenten eines Teiles der babylonischen Provinz, indem er ihm
auftrug, die Einwohner vor Überfällen und Plünderung zu schützen.
Im Besitze der ihnen vom „großen König“ von Parthien erteilten
Vollmachten^ gingen nun die Brüder an die Errichtung von Festungen
in ihrem Bereiche und wurden dort so zu unumschränkten Herrschern.
Sie scheinen dabei dieselbe Rolle gespielt zu haben, wie nachmals die
Kurdenführer in der Türkei oder die Kosakenatamane in der polni-
schen Ukraine. Fünfzehn Jahre lang hielt sich die freie Kriegerrepu-
blik in dem Bezirk von Nehardea (um 25—4o d. ehr. Ära); dann be-
gann jedoch ihr Zerfall, veranlaßt durch innere Wirren. Aniläus ver-
liebte sich nämlich in eine schöne kriegsgefangene Heidin, ehelichte
sie und mußte in seinem Hause die Befolgung heidnischer Riten dul-
den. Dadurch brachte er sowohl seine Schar wie auch seinen eigenen
Bruder Asinäus gegen sich auf. Und als sich dann Aniläus von neuem
auf gewagte kriegerische Unternehmungen einließ, hatte ihn das Glück
verlassen Bei einem Zusammenstoß mit dem Heere des königlichen
Schwiegersohnes Mithradates wurde die Schar des Aniläus zerstreut
und er selbst fiel auf dem Schlachtfelde; sein Bruder Asinäus ging
schon früher an einem Gifttrank zugrunde, der ihm von der rach-
süchtigen Heidin, dem Weibe des Aniläus, verabreicht worden war.
5o4
§ 96. Die Diaspora im Partherreiche
Nach dem Sturze der freien Republik begannen die Babylonier an der
ortsansässigen jüdischen Bevölkerung für die früheren Überfälle des
Asinäus und Aniläus Rache zu üben. Die verfolgten Juden flüchteten
in die Stadt Seleucia am Tigrisufer, doch fielen auch hier Tausende
von der Hand der einheimischen Griechen und Syrer. Der Rest rettete
sich durch Flucht nach Ktesiphon, der Hauptstadt von Parthien. So
siedelten Massen von Juden, vor der heidnischen Bevölkerung Schutz
suchend, aus den Randgebieten in die festen Städte Nehardea und
Nisibis über, wo sie sich infolge der großen Zahl ihrer Volksgenossen
gegen die Überfälle wehren konnten.
In dieser Episode spiegeln sich in verzerrter Form die national-re-
ligiösen Kämpfe im Partherreiche wieder, wo die jüdische Bevölke-
rung bereits zu einem imponierenden gesellschaftlichen Faktor heran-
gewachsen war, so daß der Gegensatz zwischen Judentum und Heiden-
tum in seiner ganzen Schärfe zutage trat. Daß die Juden dort tatsäch-
lich eine kraftvolle religiöse Propaganda entfalteten, wird aus einer
anderen Episode ersichtlich, die sich um die gleiche Zeit innerhalb der
Grenzen Parthiens abspielte. An der Grenze der parthischen und rö-
mischen Besitzungen im nördlichen Mesopotamien lag nämlich das
kleine Königreich Adiabene (im Talmud — Ghedajab), das zu den par-
thischen Königen im Vasallenverhältnis stand. Das Land regierte
das hellenisierte königliche Paar Monobazus und Helena. Allen seinen
Söhnen zog der König den jüngsten, Izates, vor. Da die älteren Brüder
diesen Prinzen mit ihrer Mißgunst verfolgten und ihn bedrohten,
schickte der König den jugendlichen Izates zur Erziehung zu seinem
Freunde, dem Könige von Mesene (eine Gegend am Tigrisufer mit der
Hauptstadt Spasinu). Der König von Mesene gewann den Jüng-
ling lieb und gab ihm seine Tochter zur Ehe. Am Hofe dieses Königs
verkehrte nun ein jüdischer reisender Kaufmann namens Ananias, der
die königliche Familie in die Hauptlehren der jüdischen Religion ein-
führte. Zunächst wurden die Frauenherzen für den neuen Glauben ge-
wonnen, dann fesselten aber die Lehren des Ananias auch den Prinzen
Izates. Inzwischen starb der König von Adiabene Monobazus und be-
stimmte vor seinem Tode Izates zu seinem Nachfolger. Als dieser dann
in seine Heimat zurückgekehrt war und den Thron bestiegen hatte,
entschloß er sich, offen zum Judentum überzutreten. Seine Mutter He-
lena und seine Gattin Symacho hatten sich schon früher zum jüdi-
schen Glauben bekehrt; für Izates aber knüpfte sich an den Über-
5o5
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
tritt die Bedingung der Beschneidung. Der König war bereit, sich auch
dieser zu unterziehen, doch die Königin-Mutter suchte ihn von diesem
Schritte zurückzuhalten, weil sie befürchtete, die öffentliche Lossa-
gung des Königs von dem Glauben der Väter könnte die Empörung
des Volkes hervorrufen. Auch der Kaufmann Ananias, anscheinend ein
freidenkender hellenisierter Jude, suchte den König zu überzeugen,
daß man, auch ohne sich dem Beschneidungsritus unterzogen zu ha-
ben, den jüdischen Gott wohl verehren könne, um so mehr, als diese
Abweichung vom Gesetze durch die politischen Umstände geboten er-
scheine. Kurz darauf kam jedoch ein galiläischer Jude von strengster
Gesetzestreue namens Eleasar nach Adiabene, der dem König erklärte,
der Übertritt zum Judentum erscheine ohne Beschneidung keinesfalls
als vollzogen. Als Eleasar Izates beim Lesen der Thora antraf, sagte
er ihm, es genüge nicht, das Gesetz zu lesen, sondern es wolle auch
in seinem vollen Umfange befolgt sein. Auf das Zureden dieses stren-
gen Glaubenseiferers hin ließ nun Izates ohne Wissen seiner Ange-
hörigen den Beschneidungsakt an sich vollziehen1). Vorerst erwiesen
sich die Befürchtungen der Angehörigen als unbegründet: die Bevöl-
kerung empörte sich nicht gegen den zum Juden gewordenen König.
Nur unter den Würdenträgern machte sich eine verhaltene Unzufrie-
denheit bemerkbar, die aber erst später zutage trat. Die Macht des Iza-
tes hatte sich mittlerweile so sehr befestigt, daß sein Souverän, der
parthische König Artabanus III., bei ihm gegen seine aufrührerischen
Satrapen Beistand suchte. Als dann Artabanus sich den Thron gesi-
chert hatte, entlohnte er seinen treuen Vasallen dadurch, daß er den
dem armenischen König entrissenen benachbarten Bezirk seinen Be-
sitzungen angliederte (um 36).
Anders stellten sich die Nachfolger des Artabanus zu dem das Ju-
dentum bekennenden König. Um diese Zeit folgten dem Beispiele des
Izates sein Bruder Monobazus II. und viele seiner Angehörigen: sie
sagten sich vom Heidentum los und traten zum Judentum über. Der
1) Mit dieser Erzählung des Josephus (Ant. XX, 2—4) stimmt im wesentlichen
eine Midraschlegende (Bereschith Rabba, Kap. 46) überein: die Prinzen Mono-
bazus und Izates lasen in dem Buche der Genesis; als sie an das Abraham zuteil
gewordene Gebot der Beschneidung kamen, wurden sie von Tränen übermannt,
worauf sie hingingen und den Ritus insgeheim an sich vollziehen ließen. Die Mut-
ter, die davon erfahren hatte, sagte dem König, um ihn zu beschwichtigen, bei den
Kindern hätte sich ein Auswuchs am Leibe gezeigt, den der Arzt wegzuschneiden
verordnet hätte. So söhnte sich der König mit der unumgänglichen Operation aus.
5o6
§ 96. Die Diaspora im Partherreiche
völlige Abfall der Dynastie von dem Glauben der Väter rief schließ-
lich die offene Empörung der Würdenträger hervor. So knüpften sie
denn Unterhandlungen mit dem benachbarten arabischen König Abias
an und bewogen ihn, mit seiner Streitmacht gegen Adiabene zu ziehen,
indem sie ihrerseits versprachen, im entscheidenden Augenblick ihren
König im Stiche zu lassen. Der Verrat wurde auch tatsächlich verübt;
trotzdem erlitt jedoch der arabische König eine Niederlage. Die ver-
räterischen Würdenträger büßten ihr Leben ein, doch setzten ihre Ge-
sinnungsgenossen im Lande die Wühlarbeit gegen die Dynastie fort.
Sie baten den Nachfolger des Artabanus, den König Vologeses, den
„glaubensabtrünnigen“ Izates abzusetzen und ihnen einen der altehr-
würdigen Religion die Treue haltenden Herrscher zu geben. Vologeses
rückte darauf mit einer großen Heeresmacht gegen Izates vor, dem
es wohl schlimm ergangen wäre, wenn der parthische König nicht ge-
rade die Nachricht erhalten hätte, daß Skythen und andere Nomaden
in sein Land eingebrochen seien. So war Vologeses gezwungen, aus
Adiabene abzuziehen.
In der Mitte des I. Jahrhunderts d. ehr. Ära trat die Königsfamilie
von Adiabene in lebhaften Verkehr mit Judäa. Izates schickte seine
Söhne nach Jerusalem, damit sie sich dort die Sprache und die Ge-
setzeslehre ihrer neuen Glaubensgenossen aneigneten. Die Königin-
Mutter Helena wallfahrtete häufig zum großen Tempel, um dem Got-
tesdienst beizuwohnen, und hielt sich nicht selten längere Zeit in der
heiligen Stadt auf. Während einer in Jerusalem wütenden Hungersnot
spendete sie große Summen für die Speisung der notleidenden Bevöl-
kerung, indem sie Getreide aus Alexandrien und Früchte aus Gypern
auf Schiffen herbeiholen ließ. Helena, ihr Sohn Izates sowie sein nach
ihm zur Regierung gelangter Bruder Monobazus II. trugen ständige
Sorge um die Ausschmückung des Jerusalemer Tempels und bedach-
ten ihn mit kostbaren Weihgaben. Sie besaßen in Jerusalem in der
Unterstadt einen eigenen Palast. In der Umgebung der Stadt wurde
eine prächtige Familiengruft mit Marmorpyramiden errichtet, in der
Monobazus nach dem Tode seiner Mutter und seines Bruders (um 55)
ihre Asche bestatten ließ1).
1) Dieses Grabmal bestand, dem Zeugnis der zeitgenössischen Schriftsteller
zufolge, noch in den ersten Jahrhunderten der christlichen Ära. Seine Ruinen mit
unterirdischen Gängen und Säulen haben sich bis auf den heutigen Tag erhalten
und werden irrtümlicherweise „Königsgräber des Davidshauses“ genannt.
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
Monobazus II. regierte nur kurze Zeit. Das kleine Adiabene wurde
zum Schauplatze des Kampfes zwischen Rom, Parthien und dem be-
nachbarten Armenien. Im Jahre 60 brachte der armenische König Ti-
granes, ein Nachkomme Herodes I., dem Monobazus eine Niederlage
bei und entriß den Parthern für eine Zeitlang Adiabene. Sechs Jahre
später, im Jahre der Erhebung Judäas, wurden zu Nero nach Rom
Geiseln aus dem parthischen Königshause gebracht, unter denen sich
auch die Kinder des Monobazus befanden1). In dem gleichen Jahre
setzten die Führer des Aufstandes in Jerusalem noch große Hoffnun-
gen auf die Herrscher von Adiabene, so daß Agrippa II. in seiner be-
rühmten Rede den Jerusalemern die Vergeblichkeit ihrer Hoffnungen
auf „unsere Stammesgenossen aus Adiabene**, die ja von den Parthern
an einem Feldzug gegen die Römer gehindert werden würden, nach-
drücklich vor Augen führen mußte. Angehörige des entthronten Mo-
nobazus beteiligten sich aber dennoch an dem jüdischen Kriege gegen
Rom; zwei von ihnen, Monobazus und Kenedäus, legten bei dem An-
griff der Jerusalemer auf die Armee des Cestius Gallus große Tapfer-
keit an den Tag.
Die talmudische Legende hat die Geschichte der gottesfürchtigen
„Königin Helena“ (Helena ha’malka) und ihrer beiden Söhne aufs
farbenreichste ausgeschmückt. Den strengen Verehrern des Gesetzes
war diese Familie das Vorbild „gerechter Proselyten“, GereZedek, die
das jüdische Gesetz in seinem ganzen Umfange angenommen und sich
der jüdischen Nation in der für sie schwersten Zeit angeschlossen hat-
ten. Es war dies ein kleiner Triumph der jüdischen religiösen Propa-
ganda gerade in den Jahren, als die Propaganda des Apostels Paulus
ihre großen Erfolge unter den heidnischen Massen, ja zum Teil unter
den* Juden der Diaspora errang. Der bald darauf folgende, fast gleich-
zeitige Fall von Adiabene und Judäa bildete eine der Ursachen, die
der christlichen Propaganda ein entschiedenes Übergewicht über die
jüdische verliehen.
§ 97. Philo von Alexandrien
Kurz vor dem Auftreten der Apostel des Christentums erstand in
der jüdisch-hellenischen Welt ein Denker, der zum Apostel des philo-
sophischen Judaismus wurde. Philo von Alexandrien oder „Philo der
-1) Tacitus, Annal. XV, i u. i4.
5o8
§ 97. Philo von Alexandrien
Jude“ (Philo Judäus) war die reife Frucht jener komplizierten jü-
disch-hellenischen Gedankenarbeit, die im Laufe von drei Jahrhunder-
ten in der jüdischen Diaspora und namentlich in Alexandrien zur Ent-
faltung kam. Ein Sproß zweier geistiger Kulturen, der jüdischen und
der hellenischen, sah Philo seine Sendung in der Synthese beider, in
der Schaffung einer harmonischen Weltanschauung aus deren höch-
sten philosophisch-ethischen Bestandteilen. Demgemäß war seine Auf-
gabe eine doppelseitige; es galt einerseits den Juden den philosophi-
schen Sinn ihrer eigenen Glaubenslehre vor Augen zu führen, and an-
dererseits den Griechen die Tiefen der religiös-sittlichen Weisheit des
Judaismus zugänglich zu machen. Philo wandte sich nicht sowohl an
die Volksmassen als vielmehr an die Elite der jüdischen und griechi-
schen Gesellschaft, an die internationale Intelligenz. Es lag ihm fern,
die Rolle eines Glaubenslehrers zu beanspruchen, und doch wurde er
der Schöpfer einer religiösen Philosophie, die in dem Prozeß des
Überganges der griechisch-römischen Welt vom Heidentum zum Mo-
notheismus eine nicht unerhebliche Rolle spielte.
Von den persönlichen Lebensumständen Philos ist nur das bekannt,
was mit seiner Teilnahme an der Gesandtschaft an Caligula nach der
alexandrinischen Judenhetze im Jahre 38 (§ 72) in Zusammenhang
steht. Nach den Worten des Philo selbst zu urteilen, stand er bei die-
ser Reise bereits in hohem Alter, woraus zu schließen ist, daß die Blü-
tezeit seiner Wirksamkeit in den Anfang des I. Jahrhunderts d. ehr.
Ära fällt; er war somit ein jüngerer Zeitgenosse des Hillel. Philo ent-
stammte einer vornehmen Familie, die in Alexandrien zu Hause war, wo
sein Bruder Alexander Lysimachus den Posten eines „Alabarchen“ und
eines einflußreichen Mitgliedes des Ältestenrates innehatte. Daß auch
der Philosoph selbst dem öffentlichen Leben nicht fern stand, ist
durch die wichtige Mission bezeugt, die ihm in einem für die Ge-
meinde äußerst kritischen Augenblick übertragen wurde. In einem
seiner Bücher („Über die speziellen Gesetze“ III, 1) beschwert sich
Philo über die öffentlichen Sorgen, die ihn von einem beschaulichen
Leben ablenken. Er scheint zu dem König Agrippa I., mit dem sein
Bruder, der Alabarch, verschwägert war (die berühmte Berenike, die
Tochter des Agrippa, war in erster Ehe mit dem Alabarchensohn Mar-
cus verheiratet), in Beziehungen gestanden zu haben. Philo erzählt,
er hätte einst eine Reise nach Jerusalem unternommen, um sich in
dem großen Tempel der Andacht hinzugeben und ein Opfer darzu-
5og
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
bringen- Seine Beteiligung an der Gesandtschaft an Caligula im Au-
genblick der Unruhen in Judäa verschaffte seinem Namen auch in
dem jüdischen Mutterlande einen guten Klang. Ihn als Führer dieser
Gesandtschaft erwähnend, kennzeichnet ihn sein jüngerer Zeitgenosse
Josephus Flavius als „einen wegen seiner philosophischen Bildung
hochberühmten Mann“1).
In dem Geiste Philos war die Kenntnis des jüdischen Schrifttums
mit einer tieffundierten hellenischen Bildung vereinigt. Die griechische
Literatur, die Philosophie Platos, der Stoiker und Pythagoräer hatten
sein Denken nicht weniger geschult als die Thora und die Lehre der
Propheten. Obwohl er alle seine Werke in der Sprache der Diaspora,,
nämlich der griechischen, abfaßte und die Bibel stets nach der Septua-
ginta zitierte, war er zweifellos mit der nationalen Sprache sowie mit
den Originaltexten des biblischen Schrifttums vertraut. Dies ist aus
den ethy mologischen Ausdeutungen hebräischer Wörter und biblischer
Eigennamen, die in seinen Werken Vorkommen, zu ersehen. Wenn er
sich in seinen Zitaten dennoch an die Übertragung der Septuaginta
hält, wobei er manchmal auch deren Fehler wiederholt, so geschieht
das nur aus dem Grunde, weil diese Übertragung in der jüdisch-helle-
nischen Diaspora bereits kanonisiert war, in den Synagogen vorgelesen
wurde und auch den Heiden zugänglich war. Auch mit der mündli-
chen Lehre, die sich damals in Judäa immer weiter entwickelte, war
Philo wohl vertraut. In der Vorrede zu seinem „Leben Moses’“ sagt er,
das Buch gründe sich nicht nur auf die Heilige Schrift, sondern auch
auf die mündlichen Überlieferungen der „Volksältesten“. In den Wer-
ken des Philo finden wir Auslegungen von Thoragesetzen ganz im
Geiste der pharisäischen, später in die Mischna aufgenommenen In-
terpretationen, sowie didaktische Schlußfolgerungen aus den bibli-
schen Erzählungen, die lebhaft an die Deutungen der talmudischen
Haggada und des Midrasch erinnern* 2). Wohl nennt er die griechische
Sprache „unsere Mundart“ und hat sogar die antike Einteilung in
Griechen und Barbaren mitübernommen, doch hat er dabei seine Na-
tion und deren geistigen Mittelpunkt, Jerusalem, nie verleugnet und
!) Ant. XVIII, 8, i u. XIX, 5, i.
2) Die Einwirkungen der palästinischen Halacha und Haggada auf das Le-
benswerk Philos sind durch viele durch ihre Ähnlichkeit auffallende Parallelen
erwiesen. ;S. Bibliographie.
5io
§ 97. Philo von Alexandrien
das Banner des Judaismus stets hoch gehalten. Die Bibel war ihm eine
tiefe Offenbarung, in der, wenn auch manchmal in verhüllter Form,
die ewigen Wahrheiten der Religion, der Philosophie und der Moral
beschlossen liegen. Das jüdische Volk galt Philo als ein auserwähltes
Volk, als der „Priester und Prophet für das gesamte Menschenge-
schlecht“. Die von ihm im Greisenalter miterlebte Judenhetze, die er-
niedrigende Audienz bei Ga jus Caligula, der Kampf mit den Juden-
hassern aus der Partei des Apion — all dies mußte auf den jüdischen
Philosophen einen nachhaltigen Eindruck machen. Die durch diese
Ereignisse angeregten geschichtlichen und philosophischen Meditatio-
nen sind von ihm in den zwei Büchern: „Gegen Flaccus“ und „Ge-
sandtschaft an Cajus“ niedergelegt. Mit der Begeisterung eines Pro-
pheten führt hier der Verfasser den Grundgedanken durch, daß alle
Judenverfolger schließlich zu einem traurigen und schmählichen
Ende verdammt seien, während das Judentum als Träger ewiger, uni-
versaler Wahrheiten unvergänglich sei.
Die Werke des Philo, in denen er seine religionsphilosophischen
Ideen niedergelegt hat, lassen sich in zwei große Gruppen einteilen.
In der einen wird die Lehre des Pentateuch, so wie sie sich aus der
Weltschöpfungsgeschichte, den Lebensbeschreibungen der Erzväter
und den Mosessatzungen ergibt, systematisch wiedergegeben; hierzu
gehören die Bücher: „Von der Weltschöpfung“, „Das Leben Abra-
hams“, „Das Leben Josephs“, „Vom Dekalog“, „Über die speziellen
Gesetze“. Die zweite Gruppe enthält einen umfangreichen Kommentar
zu den Erzählungen der Genesis, die hier, vermittels einer in einer
Reihe von psychologischen und ethischen Schlußfolgerungen durch-
geführten Verallgemeinerung, als Allegorien gedeutet werden („Alle-
gorien der heiligen Gesetze“, „Von den Cherubim und dem Feuer-
schwerte“, „Von den Opfern des Abel und Kain“, „Von der Nach-
kommenschaft des Kain“, „Von dem Ackerbau Noahs“, „Von der
Nüchternheit“, „Von den Giganten“, „Von der Sprachenverwirrung“,
„Von den Wanderungen Abrahams“, „Von den Träumen und den Got-
tesoffenbarungen“). Außerhalb dieser beiden Hauptzyklen steht eine
Reihe vereinzelter Schriften Philos: eine katechetische Erklärung des
Pentateuch unter dem Titel „Fragen und Lösungen“, Abhandlungen
über die Stoiker und die Essäer, die bereits erwähnte „Gesandtschaft
an Cajus“ und „Gegen Flacous“ sowie einige uns nicht mehr erhaltene
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
Bücher, deren von den alten Schriftstellern, vornehmlich von den Kir-
chenvätern, Erwähnung getan wird1).
Am systematischsten sind die philosophischen Grundprinzipien
Philos in seinem Buche „Von der Weltschöpfung nach Moses“ dar-
gestellt. Hier überträgt er die Gedankengänge Platos und der Stoiker
unvermittelt auf die biblische Kosmogonie, indem er sie dem Geiste
des ethischen Monotheismus anpaßt. Er ist der Meinung, die Ge-
schichte der Weltschöpfung sei den Satzungen Moses’ zum Beweise
dafür vorangeschickt, daß „die Welt und das Gesetz miteinander in
Einklang stehen und daß der dem Gesetze treu ergebene Mensch schon
dadurch zum Weltbürger (kosmopolites) wird, daß er seine Hand-
lungsweise dem die Welt regierenden und in der Natur waltenden
Willen gemäß einrichtet“. Hier kommt deutlich der stoische Grund-
gedanke zum Vorschein, demzufolge das Sittengesetz kosmischer Na-
tur ist und die Sittlichkeit darin besteht, den Naturgesetzen gemäß zu
leben (secundum naturam vivere). Dieses kosmische Gesetz findet nun
Philo in der Lehre Moses’, in der Thora wieder. Für das Dogma von
der Offenbarung des göttlichen Willens im Weltschöpfungsakte ein-
tretend und die Ansicht des Aristoteles von der „Ewigkeit und Unge-
schaffenheit der Welt“ bekämpfend, setzt sich Philo zugleich für das
Prinzip des Dualismus von Gott und Welt ein, d. i. für das selbst^
!) Neben den echten Schriften Philos haben sich unter seinem Namen auch
solche Schriften erhalten, deren phiionische Herkunft zweifelhaft erscheint. Die-
ser Art ist z. B. das Buch „Über das beschauliche Leben“ (De vita contemplativa,
wie der lateinische Titel lautet), wo der asketische Lebenswandel der Sekte der
Therapeuten, „Ärzte der Seelen“, die in der Nähe Alexandriens und in den an-
deren Nomen Ägyptens in Einsamkeit leben, geschildert wird. Die Therapeuten be-
wohnen Einsiedlerklausen, sich der Betrachtung und dem Lesen der Heiligen
Schrift hingebend; sie kommen nur zum Gottesdienst zusammen; ihre Nahrung ist
dürftig, oft fasten sie, sie führen, kurz gesagt, das Leben christlicher Mönche. Da
die Sekte der Therapeuten sonst in den zeitgenössischen Quellen nirgends erwähnt
wird, so schloß die Mehrzahl der Forscher, daß das Buch „Über das beschauliche
Leben“ eine Fälschung sei, die im III. oder IV. Jahrhundert zur Lobprei-
sung des Klosterlebens (das Wort „monasteria“ kommt im Text selbst vor) von
einem christlichen Mönch verfaßt worden ist und unter Philos Namen, den die
kirchliche Tradition um jene Zeit zu den Vorläufern des Christentums rechnete,,
Verbreitung gefunden hat. Damit wird zugleich das Bestehen der Therapeutensekte
selbst in Zweifel gezogen. Erscheint sie doch in der Tat nur als ein christliches
Abbild der von Philo in einem anderen Buche („Quod omnis probus über“ —
„Jeder Rechtschaffene ist frei“) erwähnten Essäersekte. Dessenungeachtet zwei-
feln viele Gelehrte nicht daran, daß ein Mönchsorden der Therapeuten in der
Diaspora tatsächlich existiert hat.
5l2
§ 97. Philo von Alexandrien
ständige Sein Gottes als einer über der Welt stehenden, sie erschaffen-
den und regierenden Macht. In diesem letzteren Punkte tritt er dem
Pantheismus der Stoiker und deren Lehre von der „Weltvernunft“ in
der mit Gott identischen, „beseelten“ Materie entgegen und betont ge-
genüber der Immanenz der Gottheit in der Welt deren Transzendenz.
Um so entschiedener schließt er in die biblische Kosmogonie die ganze
Lehre Platos von den schöpferischen Ideen-Prototypen ein. Uranfäng-
lich, „am ersten Tage der Schöpfung“, war der Lehre des Philo zu-
folge die Welt der „Ideen“ oder der abstrakten Modelle, der Urbilder
der Dinge, erschaffen. Nach diesen Urbildern der idealen Welt ward
sodann die sichtbare reale Welt erzeugt, gleichwie ein Baumeister
nach einem vorgefaßten Plane eine Stadt erbaut. Die sichtbare Welt
hat ihr Urbild in dem schöpferischen Denken Gottes. In diesem Sinne
eben ist die biblische Wendung aufzufassen, wonach der Mensch nach
dem Ebenbilde Gottes erschaffen sei. Nicht allein der Mensch jedoch,
sondern auch die ganze Welt ist nach dem Bilde, oder richtiger [nach
dem Vorbilde Gottes geschaffen. In Verfolgung dieses Gedankens ver-
einigt Philo in einer gemeinsamen Kraft alle einzelnen zwischen Gott
und Welt vermittelnden „Ideen“ oder schöpferischen Kräfte. Hier
nimmt die Emanationslehre ihren Anfang, die bei Philo von der Idee
des „Logos“, der gottähnlichen Vernunft oder des Wortes, als der un-
mittelbaren Widerspiegelung der Gottheit, gekrönt wird. Der Logos
ist zugleich der Inbegriff der schöpferischen Kräfte („Die Idee der
Ideen“) nach der platonischen Redeweise und das schöpferische „Wort
Gottes“, wie die Bibel sich ausdrückt („Gott sprach: ,Es werde
Licht!‘)“. Der Logos wird von Philo bald als das Werkzeug, vermit-
tels dessen Gott die Welt erschuf und sie regiert (der platonische
Demiurg), bald als der Mittler zwischen Gott und Mensch, als „der
erstgeborene Sohn Gottes“, der „Hohepriester“ oder als der über al-
len Engeln Gottes, den Urideen, stehende „Erzengel“ gedeutet. Philo
gebrauchte alle diese Vergleiche, um seine Metaphysik anschaulich
zu machen, doch zogen die Kirchendogmatiker aus diesen Ver-
gleichen später die ihnen erwünschten Schlußfolgerungen über die
reale Existenz des Gottessohnes oder eines zweiten Gottes, ebenso wie
die Kabbalisten des Mittelalters daraus die Lehre von den „Sephiroth“
oder den göttlichen Emanationen herleiteten.
Aus allen seinen Erörterungen in der Abhandlung „Von der Welt-
schöpfung“ leitet Philo fünf allgemeingültige Grundsätze oder Dog-
83 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
5i3
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
men ab, in denen die Gotteserkenntnis mit dem Glauben an die Vor-
sehung verbunden erscheint. „Wer es tief in seine Seele eingeprägt
hat, daß Gott existiert und regiert, daß der wahrhaft Seiende einzig
ist, daß er die Welt erschaffen hat und um seine Schöpfung ständig
Sorge trägt, der wird ein glückseliges, mit den Geboten der GottesH
furcht übereinstimmendes Leben führen4 \
Den festeren Boden der Psychologie und der Ethik betritt Philo
in jenen Teilen seines Systems, in denen er das Leben der biblischen!
Helden behandelt. Die Gestalten der biblischen Erzväter stellen, nach
einem genialen Ausspruch des Philo, „ungeschriebene Gesetze“ (agra-
phoi nomoi) dar: sie sind die Verkörperung der sittlichen Gebote in
Menschen, die noch vor der Sinai-Offenbarung und vor der Verkündi-
gung dieser Gebote durch Moses gelebt haben. Die neueste wissen-
schaftliche Kritik sieht in den Erzvätern die Versinnbildlichung na-
tional-geschichtlicher Typen; Philo, der die Erzväter als reale Persön-
lichkeiten betrachtet, erblickt jedoch in ihnen zugleich eine Versinn-
bildlichung sittlicher Wahrheiten oder Gesetze: nicht zufällig, meint
er, treten in der Bibel zuerst Gestalten der dem Gesetze gemäß leben-
den Menschen auf und erst dann kommt das Gesetz selbst; die leben-
digen Musterbeispiele erscheinen also vor den geschriebenen Ge-
boten. So ist denn auch die Lebensbeschreibung des Abraham in der
philosophischen Darstellung des Philo folgendermaßen betitelt: „Das
Leben eines auf dem Wege der Lehre zur Vollkommenheit gelangten
Weisen, oder das erste Buch der ungeschriebenen Gesetze“. Abraham
erscheint als das Musterbeispiel eines „Sophos“, eines Weisen, der
unter göttlicher Anleitung der Tugend teilhaftig wird; ebenso ist Jo-
seph der Typ des Staatsmannes. Einzelne Begebenheiten aus dem Le-
ben des Abraham deutet Philo oft in allegorischer Weise. Der an
Abraham ergangene Befehl: „Geh aus deines Vaters Haus!“ gebietet
die innere Lossagung vom angestammten chaldäischen Heidentum um
der wahren Gotteserkenntnis willen. Der Aufenthalt der Sara im Hause
des Pharao ist ein anschauliche Anleitung für den Kampf um die
Keuschheit Der Streit der Leute Lots mit den Leuten Abrahams ist
der Widerstreit der materiellen und der geistigen Lebensauffassung.
In immer weitergehender symbolischer Ausdeutung erblickt der Ver-
fasser in der Ehe Abrahams und Saras den Bund der Vernunft mit
der Tugend und in den fünf Städten Sodoms das Sinnbild der
§ 97. Philo von Alexandrien
fünf menschlichen Sinne, die ohne die führende Vernunft zu Sünde
und Verderben verleiten.
Eine besondere Stelle nimmt in dem System der biblischen Philo-
sophie des Philo die umfangreiche Abhandlung „Über das Leben Mo-
ses’“ ein. Sich gleichsam chronologisch an die Geschichte der Erz-
väter anschließend, unterscheidet sich jedoch dieses Buch von ihnen
durch seine Darstellungs weise, in der der Ton einer warmempfunde-
nen Apologetik und das Bestreben, den Hellenen die Erhabenheit der
jüdischen Gesetzgebung vor Augen zu führen, vorherrschend ist. In
der Einleitung hebt der Verfasser mit Bedauern hervor, daß der Ruhm
der Gesetze Moses’ wohl bis ans „Ende der Welt“ gedrungen, die
Persönlichkeit des Gesetzgebers selbst jedoch „von den hellenischen
Schriftstellern infolge der Mißgunst und der in vielen Hinsichten be-
stehenden Gegensätzlichkeit zwischen den Gesetzen Moses’ und denen
der Gesetzgeber anderer Staaten unbeachtet geblieben“ sei. Philo machte
es den griechischen Schriftstellern zum Vorwurf, daß sie ihre Be-
gabung mit der Herstellung von „Komödien und schamlosen unzüch-
tigen Büchern in Versen und in Prosa vergeuden“, statt das Leben
der Leuchten der Menschheit, der edlen Männer des Altertums und
der neueren Zeit zu schildern. Dieses Buch scheint der jüdische Phi-
losoph hauptsächlich zur Zurechtweisung der Hellenen geschrieben zu
haben. So verwandelte er die Lebensbeschreibung Moses’ in einen vor-
trefflichen didaktischen Roman von der Art der „Kyropädie“ des
Xenophon, und schmückte das Leben seines Helden von der Wiege,
dem Rohrkästlein auf dem Nil, bis zum Grabe an der Schwelle Ka-
naans mit den leuchtendsten Farben aus. Nach der Schilderung des
Lebens Moses’ im ersten Teile stellt ihn der Verfasser im zweiten
Teile in der dreifachen Gestalt eines führenden Gesetzgebers, Prie-
sters und Propheten dar. Sich auf den Ausspruch Platos berufend,
daß es für jeden Staat ein Glück wäre, wenn sein Herrscher ein Phi-
losoph und ein Philosoph sein Herrscher sein würde, bemerkt er, in
der Person Moses’ sei diese Vereinigung erreicht. In allen Ländern
Asiens und Europas zögen die Gesetze Moses’ die allgemeine Auf-
merksamkeit auf sich. Die hebräischen heiligen Bücher seien unter
Ptolemäus Philadelphus ins Griechische übertragen worden, und die
hellenische Welt müsse nun die darin beschlossenen großen Wahr-
heiten schätzen lernen.
Eine ausführliche Würdigung der Gesetze des Pentateuch gibt
33*
5i5
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
Philo in den Abhandlungen „Vom Dekalog“ und „Über die speziellen
Gesetze“. Indem er sich die pythagoreische Lehre von der symboli-
schen Bedeutung der Zahlen zu eigen macht, erblickt der Verfasser
schon in der Zahl der Gebote das Kennzeichen ihrer Vollkommenheit,
denn die Zahl zehn gilt in den arithmetischen und geometrischen Pro-
portionen als vollkommen; in der Philosophie des Aristoteles be-
stimmt sie gerade die Anzahl der logischen Kategorien u. dgl. mehr.
Philo gibt eine Erklärung dafür, warum die Sinaigebote in der Wüste
verkündet worden waren: das Leben in den Städten sei durch die*
menschlichen Leidenschaften verderbt geworden, die ewigen Gesetze
des Lebens mußten daher zuerst in dem reinen Raume zwischen Him-
mel und Erde ertönen. Bei der Deutung des Sinnes jedes einzelnen Ge-
botes verweilt Philo mit besonderer Ausführlichkeit bei dem Verbote
aller Gottesdarstellungen, wobei er sowohl den anmutigen griechischen
Kult der menschenähnlichen Standbilder wie den häßlichen ägypti-
schen Tierkultus ablehnt. Die zehn Sinaigebote stellten gleichsam zehn
allgemeine Kategorien dar, denen alle anderen Satzungen Moses’, die
„speziellen“, untergeordnet werden können. So ordnet denn auch Philo
in seinem umfangreichen Werke „Über die speziellen Gesetze“1) diese
nach zehn Rubriken, indem er an die Spitze einer jeden von ihnen
eines der zehn Gebote stellt. Er entdeckt in jedem der Gesetze einen
sittlichen Inhalt, sogar in dem Zeremoniell des Opferdienstes, wo-
bei er sich ganz besonders für die sozialen Gesetze des Pentateuch be-
geistert, die sich auf den Prinzipien der Menschengleichheit und Näch-
stenliebe gründen, wie zum Beispiel die die Armen und die Fremden
betreffenden Gesetze, oder die Vorschriften über die Zurücklassung
eines Teiles der Ernte für die Unbemittelten, oder über das Sabbat- und
Halljahr, Diese Normen entlocken ihm den begeisterten Ausruf: „Wie
kann man Gesetzen die Hochachtung versagen, die die Reichen dazu
anleiten, von ihrem Besitze den Notdürftigen zu spenden and die
Armen zu trösten? Ist denn das Gesetz, das verordnet, alle sieben
Jahre den Witwen, Waisen und ihres Landbesitzes Beraubten ihr
Hab und Gut zurückzuerstatten, nicht der tiefsten Verehrung würdig?“
Die dem Leibe und der Seele zum Heil gereichende Sabbatruhe, die
1) Die dieser Klassifikation gemäß angeordneten Teile des Buches „Über die
speziellen Gesetze“ werden nicht selten als selbständige Bücher zitiert: „Von der
Monarchie“, „Von den Opferdarbringungen“, „Vom siebenten Jahre“, „Von der
Gerechtigkeit“, „Von der Buße“, „Von den Belohnungen und Strafen“ usf.
5i6
§ 97. Philo von Alexandrien
zur Enthaltsamkeit erziehenden, periodisch wiederkehrenden Fasttage,
die die Keuschheit und die Reinheit betreffenden Gesetze — all dies
wird allen aufgeklärten Menschen ohne Unterschied der Nationalität
dringend anempfohlen.
In der zweiten Gruppe seiner Schriften, die einen Kommentar zur
Genesis enthalten, arbeitet Philo fast ausschließlich mit der allegori-
schen Methode. Das erste Buch dieser Reihe, „Allegorische Auslegung
der heiligen Gesetze“, setzt mit der charakteristischen Auslegung des
Bibelverses: „Also ward vollendet Himmel und Erde mit ihrem gan-
zen Heer“ ein. „Symbolisch — so schreibt Philo — nennt Moses die
Vernunft den Himmel, denn ihn bewohnen nur Vernunftwesen, un,d
die Sinnlichkeit nennt er Erde, denn die Sinnlichkeit ist mit der
irdischen Materie verbunden. Die Welt der Vernunft umfaßt alles
Körperlose und Ideelle, die Welt der Sinnlichkeit aber alles Körper-
liche und durch die Sinne Wahrnehmbare“. Dieser metaphysischen
Allegorie tritt eine psychologische und ethische zur Seite. Die vier
Flüsse des Eden, in dem Adam lebte, versinnbildlichen die vier Kar-
dinaltugenden: die Weisheit, die Besonnenheit, die Tapferkeit und
die Gerechtigkeit. Adam und Eva vertreten zwei Grundprinzipien: den
Geist und die Sinnlichkeit; wie die Frau dem Manne untergeordnet
ist, so muß sich die Sinnlichkeit dem Geiste, der Trieb der Vernunft
unterordnen, denn nur bei einer strengen Beherrschung der seelischen
Kräfte ist ein wahrhaft sittlicher Lebenswandel möglich. Dieses Be-
streben, in den biblischen Erzählungen alles allegorisch oder symbo-
lisch auszudeuten, erinnert an die Methode der stoischen Philosophen,
die in gleicher Weise die Mythologie des Homer und die Theogonio
des Hesiod interpretierten, indem sie die Mythen in Sinnbilder kos-
mischer Erscheinungen verwandelten und philosophische Ideen in
sie hineindeuteten. Doch war für Philo sein Allegorismus nicht das
Ergebnis eines Zweifels an der Wahrheit der biblischen Überlieferun-
gen: vielmehr war er überzeugt, daß in der Heiligen Schrift neben
dem offenbaren Sinne der Worte noch ein verborgener beschlossen
liegt, der nur dem Philosophen, dem Weisen zugänglich ist, der es
vermag, aus der Umhüllung der religiösen Überlieferungen das sich
in ihnen bergende philosophische System herauszuschälen. Er war
somit von der realen Bedeutung der beiden Sinndeutungen überzeugt:
der konkreten wie der abstrakten, der geschichtlichen wie der kos-
mischen. Aus dieser Überzeugung eben schöpfte er jenen Enthusias-
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
mus, mit dem er die biblischen Texte entzifferte und die tiefsten
philosophischen Wahrheiten in ihnen entdeckte. Ganz so unterschie-
den auch die Talmudisten bei der Auslegung der Thora den „Pe-
schat“ (den direkten Sinn) und den „Derasch“ (die Ausdeutung), und
auch die späteren Kabbalisten ließen zwei gleichwertige Sinngehalte
der Thora, einen offenbaren und einen geheimen, gelten1).
Liest man den ausführlichen philosophischen Kommentar zu den
ersten Abschnitten der Genesis (Die Allegorien der Gesetze, Von den
Cherubim, Von Kain und Abel, Von der Sprachen Verwirrung usf.),
so drängt sich unwillkürlich der Gedanke auf, daß es vor einer gro-
ßen Zuhörermenge vorgetragene Reden sind, die erst nachträglich für
die Nachwelt niedergeschrieben wurden. Der ganze Kommentar weist
die Form von Predigten an Hand von biblischen Texten auf. Jedes
Kapitel beginnt mit einem bestimmten Bibelvers, worauf seine Aus-
legung folgt. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß Philo in der Tat
in der Synagoge öffentlich predigte, indem er den Sinn des an dem
betreffenden Sabbat vorgelesenen Thoraabschnitts erläuterte. Da in den
Synagogen Alexandriens der griechische Thoratext gelesen zu werden
pflegte, so bediente sich auch die Predigt der allen Zuhörern verständ-
lichen griechischen Sprache. In seihen Predigten brachte Philo die
am meisten charakteristischen Verfahrensweisen jener palästinischen
Homiletiker zur Anwendung, deren Predigten späterhin die so über-
aus umfangreiche Literatur der Haggada und der Midraschim zeitig-
ten. Die Ausdeutung der biblischen Wörter, die Parabeln und Ver-
gleiche, die Sprachform der rhetorischen Frage — all dies stimmt
bei Philo und den Haggadisten in merkwürdiger Weise überein. Nicht
selten begegnet uns auch eine Übereinstimmung dem Wesen, dem In-
halte der Auslegung selbst nach* 2). Dies mag wohl nicht auf Zufall,
D Im „Leben Abrahams“ (217) sagt Philo: „Wir haben bisher die Aus-
führungen der Bibel dem wörtlichen Sinne nach erörtert, für diejenigen jedoch,
die neben dem buchstäblichen Sinne auch den geistigen (allegorischen), die seeli-
schen Phänomene offenbarenden anerkennen, wollen wir auch diese in Erwägung
ziehen.“ In der Einleitung zum „Dekalog“ spricht er es offen aus, daß er die
Gebote parallel auch auf „allegorischem Wege, der die in der Schrift verborgenen,
und nicht nur die auf der Oberfläche liegenden Wahrheiten offenbart“, erklären
werde. Solcher Stellen gibt es in den Werken Philos nicht wenig.
2) Aus der Fülle der phiionischen Parallelen zur Haggada möge die folgende
herausgegriffen sein. Philo sagt, in den zwei Gottesnamen: Theos und Kyrios (Gott
und Herr) kämen seine zwei Attribute zum Ausdruck: die Güte und die Macht.
Dieselbe Behauptung stellt die Haggada auf, indem sie in den zwei Gottesnamen
5i8
§ 97. Philo von Alexandrien
sondern auf direkter Entlehnung beruhen. Da indessen die palästini-
schen Pharisäer aus der ihnen verdächtigen „griechischen Weisheit“
Philos, dessen Werke bei den Gesetzes treuen keine Beachtung fanden,
keinesfalls geschöpft haben können, so müssen die Entlehnungen von
Philo gemacht worden sein, der die palästinische synagogale Predigt
während seines Aufenthaltes in Jerusalem oder durch die Vermittlung
der Wanderpropagandisten der „mündlichen Lehre“ in der Diaspora
kennen gelernt haben mochte. Dies wirft ein helles Licht auf die le-
bendigen nationalen Quellen des phiionischen Schaffens, das man un-
gebührlicherweise als etwas Exotisches in der Geschichte des jüdi-
schen Denkens anzusehen pflegt.
Philo von Alexandrien war in viel höherem Maße national gesinnt,
als man es gewöhnlich gelten läßt. Von der Weltanschauung des ethi-
schen Monotheismus durchdrungen, einer seiner größten Interpreten
von Weltruf, sah er in dem jüdischen Volke den unvergänglichen Trä-
ger dieser zur Erleuchtung der Menschheit berufenen religiös-philo-
sophischen Offenbarung. Er glaubte an die Auserwähltheit des jüdi-
schen Volkes, ganz im Geiste des prophetischen Wortes: „Israel —
eine Leuchte der Völker“. Die Mission des Judentums ist eine geist-
liche Mission: „Das jüdische Volk steht in dem gleichen Verhältnis
zu der gesamten Menschheit, in dem der Priester zum Staate steht“.
„Wenn ein solcher Mensch, ein weiser und gerechter, sich in einer;
Stadt befindet, ist er der ganzen Stadt ein Haupt; besteht eine ganze
Stadt aus solchen Menschen, so ist sie dem ganzen Lande ein Haupt;
wenn sich aber ein ganzes Volk aus solchen Menschen zusammensetzt,
so wird es für alle Völker das sein, was das Haupt für den Leib ist“.
Philo träumt von einem universalen Judaismus, der sich durch passive
und aktive Propaganda ausbreiten wird, doch will er dies nicht auf
dem Wege der Assimilation oder des Aufgehens des Judentums, als
eines Gärstoffes, in der Menschheit erreicht wissen. Dieser der Sprache
nach hellenisierte Jude verpönt Mischehen mit Griechen, da die sol-
Jahve und Elohim, die zwei Attribute, Liebe und Gerechtigkeit (Midath ha’racha-
mim, Midath ha’din) wiedererkennt. Also eine völlige Übereinstimmung des Gedan-
kenganges, wenn auch nicht des Wortklanges, denn in der Septuaginta wird Jahve
mit Kyrios und Elohim mit Theos wiedergegeben, sodaß auch nach Philo, der sich
der griechischen Übersetzung bedient hatte, Jahve Macht, d. i. strenge Gerechtig-
keit, und Elohim Güte, d. i. Liebe, bedeutet. Der alexandrinische Philosoph scheint
die palästinische Idee der griechischen Terminologie (der sakrale Name Jahve
wurde Adonai ausgesprochen, woher ,,Kyrios“, Herr — das Symbol der Herrschaft,
der Macht, der Gerechtigkeit — stammt) angepaßt zu haben.
5ig
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
chen Ehen entsprießenden Kinder unter dem Einfluß des heidnischen
Vaters oder der heidnischen Mutter dem Monotheismus untreu wer-
den könnten1). Zum Unterschiede von seinen jüngeren Zeitgenossen,
den ersten Aposteln des Christentums, die gleichfalls von einem all-
weltlichen Monotheismus träumten, verwarf Philo jene dogmatischen
Kompromisse, die eine mit dem strengen Monotheismus unvereinbare
Christologie geschaffen haben. Eine noch größere Entfernung trennte
ihn von dem Antinomismus des Apostels Paulus, der durch seine
Zurückweisung der nationalen Gesetzeszucht den Zusammenhang
zwischen dem alten und dem neuen Glauben gelöst hat. Es ist ims
nicht bekannt, in welchem Maße die das Gebiet der religiösen Pra-
xis betreffende mündliche Lehre der Pharisäer um jene Zeit unter
den alexandrmischen Juden verbreitet gewesen war, doch ist es zwei-
fellos, daß Philo viele der die Thora ergänzenden, „umzäunenden“
Gesetze sowie die palästinische Halacha kannte1 2). Immer wieder legt
er die strengste Befolgung aller Thoragesetze ans Herz, denn jedes
einzelne Gesetz ist ihm der Ausdruck einer kosmischen oder sittli-
chen, durch das Gesetz symbolisierten Idee. Und bei all seiner Nei-
gung zu Allegorie und Symbolismus warf er dennoch den freiden-
kerischen Alexandrinern Leichtsinn vor, insofern sie, „die geschrie-
benen Gesetze als Symbole geistiger Phänomene betrachtend, die Be-
folgung der Gesetze mißachteten“; solche Menschen würden, seiner
Meinung nach, recht behalten, wenn sie in einer Wüste lebten ode#
nur aus einer Seele ohne Leib bestünden, dagegen können sich in
der Gesellschaft lebende Menschen mit der „nackten Wahrheit“ al-
lein nicht begnügen, sondern müssen ihr auch in ihren Handlun-
gen konkreten Ausdruck verleihen3).
Und doch vermochte dieser überragendste Apostel des Judaismus
im Altertum, der es verstanden hatte, das Nationale mit dem Uni-
1) „Über die speziellen Gesetze“, III, 5; vgl. II, 3o4. Die vorhergehenden Zi-
tate — ibid. II, i63, 167 u. sonst.
2) In dem „Leben Moses’“ (II, 22) preist er die Einhaltung der absoluten
Sabbatruhe und hält es für unzulässig am Sabbat, sogar einen Zweig von einem
Baume zu schneiden oder ein Blatt oder eine Frucht zu pflücken, was an die Strenge
talmudischer Vorschriften erinnert. Andererseits treffen wir aber unter den von
ihm aufgezählten „speziellen Gesetzen“ einen so wichtigen Brauch, wie das An-
legen der Phylakterien (Tephillin) beim Gebet, der sich auf die Auslegung von
biblischen Textstellen gründet, nicht an; unerwähnt bleibt bei ihm auch das tal-
mudische Verbot, Milch- und Fleischspeisen zusammen zu genießen u. dgl. mehr.
3) „Von den Wanderungen Abrahams“, Kap. 16.
520
§ 97. Philo von Alexandrien
versalen zu vermählen, keine tieferen Spuren in der Geschichte des
Judentums zu hinterlassen. Gleich vielen Apokryphen wurden auch
die Werke Philos jenseits der Umfriedung des in sich gefestigten,
und geschlossenen jüdischen Lagers gelassen; man nahm sie in das
nationale Schrifttum nicht auf, und so wurden sie nur von den christ-
lichen Kirchenvätern gelesen, deren Fürsorge sie vor der Verges-
senheit bewahrte. Dieses Los wurde den Werken Philos nicht dar-
um allein zuteil, weil sie nicht hebräisch abgefaßt waren. Blieben
doch auch die Apokryphen, die ursprünglich in Palästina in hebräi-
scher oder aramäischer Sprache verfaßt waren, außerhalb des ka-
nonisierten Schrifttums, so daß auch sie dem Untergange geweiht ge-
wesen wären, hätte nicht für ihre Erhaltung in griechischer Über-
tragung zunächst die jüdische Diaspora und dann die alte christ-
liche Kirche Sorge getragen. Die Ursachen lagen vielmehr tiefer. Das
Werk Philos reifte gerade zu einer Zeit heran, als Judäa von den,
Flammen der Erhebung gegen Rom ergriffen ward, und als diese
Erhebung hinwiederum den Haß der ganzen griechisch-römischen
Welt gegen alles Jüdische hervorrief, mit anderen Worten, als sich
zwischen diesen zwei Welten eine unüberschreitbare Kluft auftat. Die
Propaganda der jüdisch-hellenischen Diaspora und die literarische
Mission suchte freilich diese Kluft zu überbrücken, doch ward die
Diaspora selbst nach der Vernichtung des jüdischen Zentrums durch
harte Schläge erschüttert (die Zerstörung des Tempels in Ägypten
und der Niedergang der alexandrinischen Gemeinde infolge einer
Reihe von Judenhetzen). Der in Judäa erstarkte religiöse Zelotis-
mus, der nun an die Stelle des politischen getreten war, ließ der
hellenischen Kultur gegenüber keine Konzessionen gelten. Die grie-
chische Weisheit (Chachmath jewanith) war aufs strengste ver-
pönt. So gerieten auch die Bücher Philos, dieses begeisterten Ver-
künders jüdischer, mit Elementen griechischer Philosophie vermisch-
ter Weisheit, unter die verbotenen Schriften. Die.zwischen dem Ju-
daismus und dem Hellenismus gespannte Brücke beschritt nicht das
in sich gekehrte Judentum, sondern das Christentum, das der heid-
nischen Kultur die weitgehendsten Konzessionen machte. Der Apostel
Paulus in seinen Briefen, der Verfasser des vierten Evangeliums und
die späteren Kirchenväter haben sich vieles von den Ideen Philos,
die sie in ihrer Art umarbeiteten, zu eigen gemacht, während die{
geistigen Brüder dieses Denkers ihn verstießen und seine Ideen aus
Ü2I
Der Judaismus im Heimatlande und in der Diaspora
ihrem verengerten kulturellen Gesichtskreis verbannten. Sie haben es
eben nicht vermocht, den Universalismus des auf dem Boden des na-
tionalen Judaismus stehenden Philo von dem Universalismus der
Schöpfer des Christentums zu unterscheiden, der dem nationa-
len Judentum gerade im Augenblick seines verzweifelten Kamp-
fes ums Dasein entgegentrat. Für sie bestand kein Unterschied zwi-
schen einem Denker, der, gleich den alten Propheten, im Judentum
einen zum Frommen der Menschheit an der Küste des Ozeans ra-
genden Leuchtturm erblickte, und jenen Predigern, die daran waren,
diesen Leuchtturm in die Tiefen des Menschheitsozeans zu versen-
ken. Die Tragödie des Judentums jener Epoche kam eben darin zum
Ausdruck, daß es in seinem erbitterten Kampf mit der feindlichen
Umwelt seine Apostel von seinen Apostaten nicht mehr zu unter-
scheiden vermochte.
522
Sechstes Kapitel
Die Entstehung des Christentums
§ 98. Die Krise der national-religiösen Denkungsart
ZurZeit der größten Anspannung der Kräfte des jüdischen Volkes
in seinem Kampfe ums Dasein, als die Frage von Sein oder Nicht-
sein der unter den zermalmenden Schlägen Roms erzitternden Nation
zur Entscheidung stand, begann in Judäa und der Diaspora eine
religiöse Bewegung, die auf die negative Lösung dieser Existenz-
frage ausging. In einem kleinen Teile des Volkes erfolgte eine
scharfe Schwenkung vom Nationalen zum Individuellen, die mit der
essäischen Bewegung vom Sozialen zum Persönlichen hin verwandt,
aber nicht identisch war. Die Teilnahme am politischen gesellschaft-
lichen Leben um der persönlichen geistigen Vervollkommnung wil-
len passiv ablehnend, blieben die Essäer dennoch im Umkreis
der Nation und der nationalen Kultur; dagegen mußte die neue
Lehre, indem sie zunächst grundsätzlich und sodann auch in der
Praxis die nationale Religiosität um der individuellen willen zurück-
wies, notgedrungen den Rahmen der tausendjährigen geschichtlichen
Evolution des Judentums überschreiten.
Eine Frage von allergrößter Wichtigkeit für die kommenden Ge-
schicke des Judaismus und seines Trägers, des jüdischen Volkes, stand
auf der Tagesordnung. Schon viele Jahrhunderte lang stellte der Ju-
daismus eine der Potenz nach universale, in Wirklichkeit aber na-
tionale Religion dar. Es war dies die Folge einer unvermeidlichen
Anpassung des Ideals an die Wirklichkeit, an die Stellung des Juden-
tums unter den Völkern. Der alte Prophetismus, der den Judaismus
bis zu dem Range einer Weltreligion und das jüdische Volk bis zum
Range ihres Verkünders erhoben hatte, mußte der Tatsache der Zer-
brechlichkeit des jüdischen Staates als der Schale des nationalen Kerns
523
Die Entstehung des Christentums
Rechnung tragen, und so machte er die harte religiös-sittliche Zucht
zur Voraussetzung für die Erhaltung des Keims. Die späteren geisti-
gen Führer, von Esra bis zu den Pharisäern, Augenzeugen der schwe-
ren Krisen der jüdischen Staatlichkeit, sahen die Unzulänglichkeit
der rein moralischen Disziplin ein und ergänzten sie daher durch
die Zucht des religiösen Gesetzes, des Ritus. Unermüdlich schmiede-
ten die Pharisäer die eiserne, für die Pfeile der griechisch-römischen
Kultur undurchdringliche Rüstung des Gesetzes. Die schwere Rü-
stung hemmte die Bewegungen, doch man entledigte sich ihrer nicht,
denn die Gefahr des politischen und geistigen Druckes der heidni-
schen Umwelt war zu groß. Indem sich jedoch das Judentum gegen
die umgebende Welt absperrte, stieß es diese immer weiter von sich1
und rückte dadurch die Verwirklichung des prophetischen Ideals
der Verwandlung des Judaismus in eine Weltreligion immer mehr
in die Ferne. So hatte sich der Kreis geschlossen: zur Erhaltung des
jüdischen Volkes, des Trägers der wahren Religion, tat es not, seine
Vermischung mit den anderen Völkern zu verhindern und es in den
Harnisch der nationalen Religion einzuzwängen, während für die Ver-
wandlung des Judaismus in eine universale Religion es ebenso ge-
boten war, sich mit der Auflösung des auserwählten Volkes unter
den anderen abzufinden. Es wurde immer klarer, daß nur eine indi-
vidualistische Religion, nur der der nationalen Färbung entbehrende
persönliche Glaube zum Universalismus aufzusteigen vermag, denn
die persönlichen religiösen Bedürfnisse sind psychologisch bei allen
Menschen die gleichen. Die Neigung zum persönlichen Glauben ver-
stärkte sich aber gerade damals in gewissen Kreisen des Judentums
infolge der Hypertrophie der pharisäischen nationalen Religiosität.
Noch war es den Essäern möglich, das Prinzip des persönlichen Glau-
bens mit dem komplizierten System der rituellen Strenge zu ver-
einen, aber sowohl in ihrer Mitte wie auch um sie herum brach sich
das Bewußtsein von der Bedingtheit der rituellen Formen immer mehr
Bahn. Philo von Alexandrien machte allerdings den Versuch, das
religiöse Ritual durch sein System der sittlichen Symbolik zu retten,
doch erwies sich seine philosophische Synthese der nationalen und
universalen Religion in der Atmosphäre des Widerstreites zwischen
Nation und Welt als durchaus unzeitgemäß.
Die Antinomie zwischen nationaler und persönlicher Religiosität
hatte sich im letzten Jahrhundert des Bestehens Judäas besonders
5a4
§ 98. Die Krise der national-religiösen Denkungsart
verschärft Den Ausgang des ungleichen Kampfes gegen Rom sahen
viele klar voraus: sowohl der aktive Widerstand der Zeloten wie die
passive Resistenz der Pharisäer schienen ohne den Eintritt eines mes-
sianischen Wunders völlig aussichtslos zu sein. Die Volksmassen wa-
ren von mystischem Taumel ergriffen. Es geht über die menschliche
Kraft — hieß es —, den fürchterlichen Schlag abzuwenden; nur der
Gesandte Gottes, ein Übermensch, der Messias (Moschiach) könnte
auf wunderbare Weise das „Volk Gottes“ erretten. Aber welcher Art
wird dieser Messias sein? Wird er ein politischer oder nur ein gei-*
stiger Erlöser sein? Ist er dazu berufen, unmittelbar die Nation als
Ganzes oder die einzelne Persönlichkeit, die menschliche Seele zu
retten? Die aber, denen die Auflösung des Heidentums und die Sehn-
sucht der Völker nach einem neuen Glauben offenbar geworden war,
fragten sich, ob nicht vielleicht die Stunde geschlagen habe, die uni-
versalistische Potenz des Judaismus nun zu realisieren.
Das jüdische religiöse Denken spaltete sich. Die Idee eines na-
tionalen Messias aus dem Hause Davids (Moschiach ben David), die
von jeher in den Tiefen der Volksseele lebendig gewesen war, trat
namentlich in den Kreisen der Pharisäer und Zeloten hervor. Hier
verband sie sich mit dem Prinzip des passiven oder aktiven Wider-
standes: der Widerstand dem Unterjocher gegenüber wurde nämlich
als Freilegung der Bahn für den kommenden Messias, der dann die
Tat der endgültigen und allseitigen Befreiung der Nation zu vollbrin-
gen hätte, angesehen. Dagegen wurde in den essäischen Kreisen und bei
den zur Mystik neigenden parteilosen Teilen des Volkes die Idee des
geistigen Messias als des Erlösers und des Heilands der Persönlichkeit
vorherrschend. Hier eben reifte jene tiefe seelische Krise heran, die
die endgültige Loslösung der religiösen Idee von der nationalen her-
beiführte.
Wozu — überlegte man sich in diesen Kreisen — diese über-
menschliche Kraftanspannung im Kampfe um die politische Freiheit
oder um die Rettung der nationalen Eigenart? Wozu diese tau-
sendjährige Anpassung der Religion an die Bedürfnisse des Volks-
ganzen? In dem unausgesetzten Kampf um die Nationalität gerieten
die religiösen und sittlichen Interessen der Einzelpersönlichkeit in
Vergessenheit. Der Glaube und der sittliche Lebenswandel des Einr
zelnen stehen mit dem Grade politischer Freiheit oder der Einheit •
5a5
Die Entstehung des Christentums
der Nation in gar keinem Zusammenhang. Die Religion ist dem Men-
schen, nicht aber dem Volke gegeben; sie soll kein Werkzeug der
gesellschaftlichen Zucht sein. Der ganze von der jüdischen Geschichte
zurückgelegte Weg ist ein Weg der Sünde, ein Weg der Verleugnung
des Himmelreiches um des irdischen Reiches willen. Es gilt, einen
neuen Weg zu betreten, es gilt, den Menschen ohne die Vermittlung
des Kollektivs Gott unmittelbar nahe zu bringen. Diese Umwälzung
naht heran, das „Himmelreich“ steht vor der Tür. Bald wird auch
der Messias erscheinen, aber nicht, um die Nation zu erretten, son-
dern um die menschliche Seele zu erlösen. Er wird eine neue Offen-
barung verkünden und die glaubenerfüllte Persönlichkeit zu neuem
Leben erwecken. — So sprach der „Vorläufer“ des Messias, ihm
folgte bald der „Messias“, der Erlöser, selbst, und dann kamen die
Apostel des neuen Glaubens. Seine ersten Verkünder waren bestrebt,
das Vermächtnis der individuellen Religiosität innerhalb des Juden-
tums selbst zu erfüllen; ihre Nachfolger gingen aber weiter: sie
glaubten, die Zeit sei gekommen, die universalistische Potenz des Ju-
daismus in Aktualität umzusetzen, sei es auch durch Preisgabe seiner
geschichtlichen nationalen Form, ja sogar auf dem Wege eines dog-
matischen Kompromisses mit der Weltanschauung des Heidentums.
In der Entwicklung des ursprünglichen Christentums sind drei
verschiedene Phasen zu unterscheiden: i. die Phase der Vorbereitung
und des persönlichen Asketismus; 2. die Phase der Offenbarung und
des inneren Bruches mit dem nationalen Judaismus; 3. die Phase der
Propaganda und der formellen Lossagung vom nationalen Judentum.
Die erste Phase repräsentierte Johannes der Täufer, die zweite Je-
sus Christus, die dritte der Apostel Paulus. Johannes verkündete das
Herannahen des „Himmelreiches“, Jesus brachte vom Himmel eine
Lehre „nicht von dieser Welt“ herab, und Paulus zog daraus die prak-
tischen Konsequenzen für diese Welt.
Die ersten zwei Gestalten scheinen vielen eher Ideensymbole als
geschichtliche Persönlichkeiten zu sein. Doch folgt ihre reale Existenz
aus dem ganzen Zusammenhang der Tatsachen und der Stimmungen
dieser Epoche, und ihre Wirksamkeit steht mit dem geschichtlichen
Prozeß durchaus in Einklang. Die Gestalten des Johannes und des
Jesus verlieren sich ebenso in dem Nebel von Legenden wie die
Gestalten vieler Glaubenslehrer, die keine schriftlichen Denkmäler
ihrer Wirksamkeit hinterlassen haben. In klareren Umrissen tritt uns
526
§ 99. Johannes der Täufer
die Gestalt des Apostels Paulus entgegen, soweit sie sich in seinen
als echt anerkannten „Briefen4* spiegelt, aber auch seine Biographie
stellt ein Gemisch von Wahrheit und Dichtung dar. Wir besitzen
über das Leben und die Wirksamkeit der ersten Schöpfer der neuen
Religion Nachrichten, die einzig und allein aus den Schriften der
späteren Evangelisten geschöpft sind. Deren Bestreben ging darauf,
der heiligen Legende von den Persönlichkeiten ihrer Glaubenslehrer
feste Formen zu verleihen und sie weiter zu entfalten. Der Forscher
wird dadurch in Verlegenheit gebracht, daß im ersten Jahrhundert
des Hervortretens des neuen Glaubens seine Existenz von keinem
Außenstehenden bezeugt ist, wenn man von den unklaren und über-*
dies auch noch sehr bestrittenen Bruchstücken in den „Jüdischen
Altertümern“ des Josephus Flav,ius, des jüngeren Zeitgenossen des
Apostels Paulus, absieht1). Im Getöse des politischen Kampfes, von
dem Judäa zur Zeit der Tetrarchen und der Procuratoren erfüllt war,
scheint die abseits von der großen Heerstraße der Geschichte, in den
Kreisen der Mystiker und Einsiedler sich entwickelnde religiöse Be-
wegung gleichsam unbeachtet geblieben zu sein, während die mehr
in der Öffentlichkeit verlaufende Wirksamkeit des Apostels Paulus
ihren Schauplatz außerhalb Judäas, in der fernen Diaspora gefunden
hatte. Und doch vermag der Geschichtsschreiber, trotz aller Sagen-
haftigkeit und Einseitigkeit der Quellen, den Kern der geschichtlichen
Wahrheit aus ihnen herauszuschälen. Diese, von den grellen Bildern
der politischen Zeitgeschichte in den geschichtlichen Hintergrund ge-
drängten, schwankenden Schatten kann man von dort in unseren Seh-
kreis bringen, und dann gewinnen diese Schatten reale Umrisse und
es werden jene geistigen Lebenstiefen offenbar, in denen in dem
weiteren Verlauf der Ereignisse verhängnisvolle geschichtliche Bewe-
gungen ihren Anfang nehmen.
§ 99. Johannes der Täufer
In der Regierungszeit des Kaisers Tiberius, als Judäa von den er-
sten Procuratoren und Galiläa von dem Tetrarchen Herodes-Antipas
verwaltet wurde (um 25—28 d. ehr. Ära), trat in der „judäischen
Wüste“, in der Umgegend des Toten Meeres, dieses Mittelpunktes des
essäischen Ordens, die sonderbare Gestalt eines Einsiedlers hervor, der
!) S. Anhang, Note 5.
527
Die Entstehung des Christentums
angetan mit einem groben Gewände aus Kamelhaar und mit einem Le-
derriemen umgürtet daher kam. Der rauhe feremit, der durch sein Ge-
haben an den alten Propheten Elias erinnerte, zog an den Ufern des
Jordan umher, des längeren in Galiläa und Peräa verweilend, und
rief das Volk zur Buße auf, denn der Zorn Gottes werde bald über
das Land hereinbrechen. Er verkündete, daß das „Himmelreich“ und
das Jüngste Gericht Gottes, für die Bösen verderblich, für die Guten
erlösend, vor der Tür stehe. „Tut Buße, denn das Himmelreich ist
nahe!“ — dies war der Kehrreim aller seiner Reden. Als Symbol der
Läuterung von den Sünden galt der essäische Brauch des Tauchbades
im Flusse. Der Name des Predigers war Jochanan oder Johannes;
späterhin erhielt er den Beinamen der „Täufer“, da seine Jünger den
Akt der „Taufe“ oder des Tauchbades zu vollziehen pflegten.
Aus welchen Gesellschaftskreisen dieser Mann hervorgegangen ist,
bleibt unbekannt. Die evangelische Legende macht Johannes zum
Sprößling eines Priestergeschlechtes, den seine Eltern von Kindheit
auf „Gott geweiht“ hätten. Solche gottgeweihte „Nasiräer“ enthielten
sich des Weingenusses und der geschlechtlichen Berührung. Die Es-
säer kannten ein gemäßigtes Nasiräer tum in ihren religiösen Kommu-
nen, während die extremen Nasiräer Einsiedler wurden. Von dieser
Einsiedlerart war auch der „in der Wüste wandernde“ Johannes.
Wenn aber auch Johannes zu Beginn seines asketischen Lebensweges
dem Essäertum nahestand, so ging er später in der Verleugnung des
geschichtlichen Judaismus viel weiter als diese Sekte.
Zu Johannes — so erzählt die Sage — kam viel Volks aus Judäa
und den „Ländern an dem Jordan“, um die Taufe im Jordan zu emp-
fangen und die Sünden zu beichten. Dabei redete der Prediger zu
dem Volke von dem kommenden Gerichte Gottes: „Schon ist die
Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum welcher Baum nicht
gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen“. Wenn
man ihn fragte, wie man handeln solle, antwortete er: man solle seine
Kleider mit den Notdürftigen teilen; den Steuerpächtern oder „Zöll-
nern“ redete er aber zu, nicht über das Festgesetzte hinaus abzuforj-
dern, und den Kriegern — niemand etwas zuleide zu tun. Neben die-
ser Predigt der Tugend und der sittlichen Läuterung fand der rauhe
Einsiedler jedoch auch zornige Worte gegen den nationalen Hoch-
mut der Juden. „Ihr Otterngezüchte! — rief er einst einer Gruppe
528
§ 99. Johannes der Täufer
Herbeigekommener1) zu — wer hat denn euch gewiesen, daß ihr dem
zukünftigen Zorn entrinnen werdet? Sehet zu, tut rechtschaffene
Früchte der Buße und nehmet euch nicht vor, zu sagen: Wir haben
Abraham zum Vater; denn ich sage euch: Gott kann dem Abraham
aus diesen Steinen Kinder erwecken“. Es ist allerdings schwer, für
die Genauigkeit dieser Wendungen einzustehen, doch mochten solche
Predigten in den Gesellschaftskreisen, in denen die Idee des auserwähl-
ten Menschen der Idee der auserwählten Nation entgegengesetzt wurde,
nichts Außergewöhnliches gewesen sein. Der Zorn des Predigers traf
diejenigen seiner Hörer, die die frohe Botschaft von dem Erlöser
aus der politischen Not zu vernehmen hofften und sich enttäuscht
sahen, als sie den Aufruf des Moralisten zur Läuterung von persön-
lichen Sünden zu hören bekamen.
Die unerschrockenen Straf reden des Johannes hatten einen ver-
hängnisvollen Zusammenstoß zwischen ihm und dem Tetrarchen von
Galiläa Herodes-Antipas zur Folge. Johannes warf dem Tetrarchen
nicht seine anti-nationale Landesverwaltung vor, nicht seine Dienst-
fertigkeit Rom gegenüber oder seine Unbekümmertheit um das Wohl
des eigenen Volkes, sondern seine Familiensünde, die gesetzwidrige
Ehe mit Herodias (oben, § 70). Der evangelischen Überlieferung zu-
folge veranlaßte gerade dieser Vorwurf den erzürnten Tetrarchen,
Johannes einkerkern zu lassen* 2). Der Geschichtsschreiber jener Zeit
(Josephus) führt die Inhaftnahme und dann die Hinrichtung des Jo-
hannes in der Festung Machärus auf die Befürchtungen des Tetrar-
chen zurück, der Prediger könnte seinen religiösen Einfluß auf das
Volk zur Anzettelung eines Volksaufstandes benützen; doch hält
der Geschichtsschreiber selbst diesen Verdacht für unbegründet, da
Johannes die Juden nur zur Tugendhaftigkeit, Gerechtigkeit, Fröm-
migkeit und zur Befolgung des Tauchbad-Ritus auf gerufen hätte3).
1) Bei einem der synoptischen Evangelisten (Luk. 3, 7—8) sind diese Worte
an die „zur Taufe gekommenen“ überhaupt, während sie bei dem anderen (Matth.
3, 7—9) an eine Gruppe von Sadduzäern und Pharisäern gerichtet sind.
2) So heißt es im Berichte der zwei älteren Evangelisten (Mark. 6, 17—18;
Matth. i4, 3—4). Der dritte Evangelist (Luk. 3, 19) fügt noch hinzu: „Herodes
aber, der Vierfürst, da er von ihm gestraft ward um der Herodias willen, seines
Bruders Weib, und um alles Übels willen, das Herodes tat . . .** Indessen mochte
„alles Üble“ in der Sprache des Evangelisten gleichfalls nur die persönliche, nicht
aber die nationale Sünde bedeutet haben.
3) Anl. XVIII, 5, 2. Indem wir der Ansicht derer zuneigen, die diese Stelle
nicht für eine spätere christliche Interpolation (hierfür scheint die Erzählung des
34 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
Die Entstehung des Christentums
Die evangelische Sage schmückte das tragische Ende des Johannes
durch folgende erschütternde Einzelheiten aus. Während eines der
Gastmähler im Palaste (wahrscheinlich in der Festung Machärus selbst
wo der Tetrarch einen Palast besaß) geriet Herodes-Antipas bei dem An-
blick der jugendlichen Tochter seiner Gattin Herodias (man vermutet,
daß es Salome, die Tochter der Herodias aus einer anderen Ehe war),
die anmutsvoll vor den Gästen tanzte, in ein so großes Entzücken,
daß er ihr verhieß, jeden ihrer Wünsche zu erfüllen. Auf die Ein-
flüsterung ihrer Mutter bat nun die Tochter, man möge ihr den Kopf
des eingekerkerten Johannes des Täufers bringen. Das grausame Ver-
langen wurde erfüllt; man hieb Johannes im Gefängnis das Haupt
ab und brachte es in einer Schüssel dem Mädchen, das es seiner Mut-
ter darreichte. Auf diese Weise rächte sich Herodias an dem Manne,
der ihre Ehe mit dem Tetrarchen gebrandmarkt hatte.
So ungefähr endete um das Jahr 29 d. ehr. Ära der erste Akt.
der Tragödie des „neuen Glaubens“. Scheidet man das sagenhafte
Element darin aus, so kommt man zu dem folgenden geschichtlichen
Ergebnis: schon in den ersten Anfängen stieß die Predigt rein-reli-
giöser und sektiererischer Ideen auf den Argwohn der von Rom be-
günstigten Herrscher, die darin eine politische Verschwörung, einen
Anschlag auf ihre eigene Macht oder auf die römische Oberhoheit
witterten. Die durch die religiöse Bewegung in Judäa eingeschüchter-
ten Herrscher vermochten nicht zu begreifen, daß die neue Predigt
Josephus nicht genügend tendenziös gefärbt zu sein) halten, erklären wir die bei-
fälligen Äußerungen des Josephus über Johannes den Täufer als einen heiligem
Mann durch die allgemeine Vorliebe des Geschichtsschreibers für alle, die sich der
zelotischen Bewegung nicht angeschlossen und die Aussichtslosigkeit des Kampfes’
gegen Rom eingesehen hatten. Das betreffende Stück in den „Altertümern“ des
Josephus lautet wie folgt: „In der Niederlage der Streitmacht des Herodes (-Anti-
pas. irn Kriege gegen die Araber) sahen viele eine gerechte Strafe Gottes für die-
Tötung des Johannes, genannt der Täufer, eines trefflichen Mannes, der die Juden
ermahnte, sich der Tugend zu befleißigen, Gerechtigkeit gegeneinander und
Frömmigkeit gegen Gott zu üben und zur Taufe zu kommen. Denn die Taufe er-
achtete er als Gott angenehm, wenn man sie gebrauche, nicht um Vergehungen
abzubitten, sondern zur Reinigung des Körpers, in dem die Seele schon zuvor durch
Gerechtigkeit gereinigt ist. Da sich viele an Johannes wandten, durch seine Re-
den aufs höchste erregt, so fürchtete Herodes, es möchte der gewaltige Einfluß'
(des Predigers) auf die Menge, die seinen Rat allgemein befolgte, einen Aufstand
herbeiführen. Er (der Tetrarch) hielt es darum für besser, seinen etwaigen Neue-
rungsplänen durch Hinrichtung zuvorzukommen, als nach geschehenem Umsturz
den erlittenen Unfall bereuen zu müssen. So ward Johannes gefesselt in die vorhin
erv äbnto Festung Machärus gebracht und daselbst getötet.“
*
53o
§ 100. Josua von Nazareth
ihnen nur vorteilhaft war, denn die Mystiker und Streiter für „das*
Himmelreich“ machten die Massen den unversöhnlichen, für das ir-
dische Reich kämpfenden Zeloten abspenstig. Indessen war die rö-
misoh-herodianische Regierungsmaschinerie gegen „Unruhestifter“
überhaupt eingestellt und zermalmte unterschiedslos alle, ohne viel
zu untersuchen, woher die „Unruhen“ kamen. Das Gespenst des po-
litischen Messias rief Furcht hervor, und man erblickte ihn nicht nur
in jedem volkstümlichen revolutionären Führer, sondern auch in dem
von einer Zuhörermenge umgebenen religiösen Prediger, der zu per-
sönlicher geistiger Läuterung und zu reumütiger Ruße auf rief.
Doch die Zeit war gluterfüllt, die Atmosphäre von messianischer
Energie gesättigt, und so trat an die Stelle des gestrengen Einsiedlers
Johannes des Täufers unverzüglich ein Prediger, der ihn an Tiefe
der religiös-ethischen Weltanschauung übertraf und der neuen Lehre
sein Gepräge gab.
§ 100. Josua von Nazareth
Unter jenen Heilsuchenden, die zu Johannes an den Jordan kamen,
um von ihm die Taufe zu empfangen, war auch ein junger Mann
aus dem galiläischen Städtchen Nazareth, namens Josua oder Jesus
(die griechische Form dieses Namens), ein Sohn des Zimmermannes
Joseph und seiner Frau Mirjam (Maria). Der Sage zufolge brachte
ihn die Mutter zur Welt, als sie noch die anverlobte Braut des Jo-
seph war. In seine Kindheitsjahre fällt der von Juda Galiläus anläß-
lich des römischen Census (§ 68) entfachte Volksaufstand. Noch wa-
ren den Galiläern die diesem Aufstande vorangegangenen Wirren
frisch in Erinnerung, als nach dem Tode Herodes I. die römischen
Legionen des Varus den Hauptsitz der jüdischen Insurgenten, das in
der Nähe des Heimatstädtchens Jesu gelegene Zippora, eingeäschert
und Tausende von Patrioten ans Kreuz geschlagen hatten (§ 56). Ga-
liläa war überhaupt seit jeher ein Herd der revolutionären Bewegun-
gen gewesen. Die politischen Unruhen in der Metropole wirk-
ten auf diese Grenzmark besonders schmerzhaft zurück. Zugleich
machte sich aber auch gerade hier zuerst die Reaktion, sowohl gegen
den politischen Kampf wider Rom als auch gegen die strenge Zucht
der Staatsreligion, die von den Pharisäern zur Erhaltung der natio-
nalen Eigenart gepflegt wurde, bemerkbar. In kultureller Beziehung
84*
53i
Die Entstehung des Christentums
stand die Bevölkerung Galiläas derjenigen Judäas, d. i. des Jerusa-
lemer Bezirkes, nach. In Galiläa waren die Sitten schlichter, es gab
hier weniger gebildete, schriftkundige Menschen; vorherrschend war
das gemeine Volk: Ackerbauer, Fischer, Handwerker. Ein energischer
politischer Agitator konnte diese einfältige Menge leicht zu einem
aufopfernden revolutionären Kampf mit fortreißen, doch ebenso leicht
war sie auch dem Einfluß eines agitierenden Mystikers, eines reli-
giösen Predigers zu unterwerfen, der die Nutzlosigkeit des politischen
Kampfes zu beweisen und die Aufmerksamkeit auf das „Himmel-
reich“ zu lenken verstand. Die schlichten Leute Galiläas, die soge-
nannten „Landleute“ („Am-ha’arez“), auf die die gelehrten Pharisäer
von oben herabsahen, neigten stark zu jenen verworrenen messiani-
schen Hoffnungen, die von den Wanderpredigern ins Volk getragen
wurden und die von dem gleichen Geiste beseelt waren wie das „Buch
Henoch“, die „Patriarchentestamente“ und ähnliche Werke der apo-
kryphischen Literatur. In dieser Umgebung nun, die zwischen dem
politischen und religiösen Messianismus hin und her schwankte, ver-
brachte der Stifter des Christentums seine Jugend. •
Den evangelischen Legenden kann man über die Erziehung und
die Jugend Jesu nur wenig entnehmen. Vermutlich wurde er im ga-
liläischen und nicht im Jerusalemer Geiste erzogen. Die „mündliche
Lehre der Schriftgelehrten und Pharisäer“ blieb ihm nicht fremd,
doch war sie nicht nach seinem Herzen. Schon früh regte sich in Je-
sus der Protest des unmittelbaren Glaubens gegen den religiösen For-
malismus. Sein Geist wurde von jener mystischen Ekstase erfüllt,
die ihn der Jüngerschar Johannes des Täufers zuführte. Alles, was
um ihn herum geschah, überzeugte Jesus davon, daß durch den Mund
des das Herannahen des „Himmelreiches“ verkündenden Predigers
die Wahrheit sprach. Diese Predigt, die durch den Märtyrertod des
Johannes besiegelt wurde, erhielt gleichsam eine himmlische Sank-
tion. Der „Vorläufer“ verkündete, daß das Reich Gottes herbei-
komme; folglich mußte nach ihm ein Mensch kommen, ausersehen,
die Erfüllung dieses Reiches zu verkünden. Und in der Tat tritt in
Galiläa, unmittelbar nach dem Tode des Johannes, Jesus mit dem
neuen Losungsworte auf: „Die Zeit ist erfüllet und das Reich Gottes
ist herbeigekommen; tuet Buße und glaubt an die Heilsbotschaft
(Evangelium)!“ Bald erweiterte er den Rahmen seiner Predigt und
änderte auch ihre Formen. Zu dem Einsiedler Johannes strömte das
532
§ 100. Josua von Nazareth
Volk herbei; Jesus, dem Einsiedlertum abhold und von dem Verlan-
gen beseelt, die menschlichen Seelen durch seine Offenbarung zu
neuem Leben aufzurütteln, ging selbst zum Volke. Er zog durch die
Synagogen Galiläas und predigte die neue Lehre, indem er der offi-
ziellen Religion die schlichte Religiosität des Herzens entgegensetzte,
die sich in der Vertrautheit mit dem „himmlischen Vater“ und in gu-
ten Werken äußert. In Nazareth betrachtete man ihn mit mißtraui-
schen Rücken und fragte ironisch: Woher denn dies alles bei dem
uns wohl bekannten Zimmermannssohne? Da sah Jesus ein, daß „man
in seinem Vaterlande nicht Prophet sein könne“, verließ seine Hei-
matstadt und deren zweifelsüchtige Rürger und begann in den benach-
barten Ortschaften umherzuziehen, wo das einfache Volk vertrauens-
seliger und für das „Wort Gottes“ empfänglicher war. Doch konnte
unter dem gemeinen Volke nur ein Glaubenslehrer Zuspruch finden,
der bereits im Rufe eines „heiligen Mannes“ stand; ein solcher Mann
mußte die „Wunder“ vollbringen können, an die die heiligen Männer
aus der Mitte der Essäer das Volk von jeher gewöhnt hatten: von kör-
perlichen oder geistigen Gebrechen heilen, durch die Macht des „Wor-
tes“ oder der psychischen Suggestion den Irrsinnigen das Rewußtsein
zurückgeben (die „Austreibung der Teufel“), den Rlinden das Augen-
licht wieder verleihen u. dgl. mehr. Diesen Weg schlug nun Jesus ein,
dessen exaltierter Natur die Doppelrolle eines Glaubenslehrers und
Wundertäters, der die Geister sowohl durch die Predigt als durch psy-
chische Suggestion zu gewinnen vermochte, vollauf entsprach. Die an
den Hochmut der Vornehmen und „Schriftgelehrten“ gewöhnten ein-
fältigen galiläischen Landleute spürten in den Reden und in dem Be-
nehmen Jesu etwas, was ihr Herz unmittelbar berührte. Sie vernah-
men von ihm Worte des Protestes gegen die stolze Geschlechts- und
Geistesaristokratie. Jesus verkündete, daß es den aller irdischen Gü-
ter teilhaftigen Reichen schwer fallen werde, in das „Himmelreich“
Einlaß zu finden. Dieses soziale Element seiner Predigt führte Jesu
nicht wenige Anhänger aus der Mitte der notleidenden Bevölkerung
Galiläas zu. Eine Schar Fischer von den Ufern des Genezarethsees
folgte ihm nach, und einige von ihnen wurden seine treuesten Jün^
ger (der spätere Apo&tel Simon Petrus und andere).
Dies geschah in Galiläa zur Zeit der Regierung des Herodes-Anti-
pas, bald nach der Hinrichtung Johannes des Täufers. Da Jesus den
Regenten selbst nicht antastete, wie er überhaupt die politischen Fra-
533
Die Entstehung des Christentums
gen unberührt ließ, so hatte der Tetrarch keinen Anlaß, ihm nachzu-
stellen. Allerdings war die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen,
daß der neue Prophet, der von dem hingerichteten Johannes die Taufe
empfangen hatte, sich auf die religiöse Predigt nicht beschränken,
daß der volkstümliche „Wundertäter“ und Freund der Armen wider
seinen Willen in die politische Bewegung hineingezogen werden
würde. So behielt der Tetrarch die Wirkungen seiner Propaganda im
Auge; Jesus aber suchte ihm aus dem Wege zu gehen. Sie sollten erst
später, außerhalb Galiläas, in Jerusalem, aufeinanderstoßen.
Die Erfolge der Predigten in Galiläa bewogen Jesus und seine
Jünger, nach Jerusalem zu ziehen, um die Zitadelle des offiziellen
Judaismus mit der Gewalt des Wortes zu erobern. Hier begannen die
Zusammenstöße des neuen Glaubenslehrers mit den pharisäischen Ge-
setzeslehrern und den Priestern aus der Mitte der sadduzäischen Ari-
stokratie immer häufiger zu werden und immer schroffere Formen
anzunehmen. In der durch die Verwaltung des Procurators Pontius
Pilatus terrorisierten Hauptstadt, mitten im Strudel der politischen
und religiösen Leidenschaften mußte sich die neue Lehre noch viel
schärfer als eine Antithese zu der alten kenntlich machen. Die Ehr-
furcht seiner Anhänger und die Verfolgungen der Feinde wirkten zu-
sammen, um Jesus zur Verkündung seines Erlösertums zu treiben.
Unter dem Einfluß seiner Anhänger ebenso wie unter dem Drucke
der Gegner vollzog sich in der exaltierten Natur Jesu die bei den My-
stikern so häufige Entwicklung: hatte er sich zu Beginn seiner Wirk-
samkeit nur als einen Prediger, als den Verkünder der „Heilsbot-
schaft* * von dem sich erfüllenden Gottesreiche betrachtet, so begann
jetzt, in der glühenden Atmosphäre des Ideenkampfes, der mit einem
Martyrium zu enden drohte, die Überzeugung in ihm immer stärker
zu werden, er selbst sei jener Übermensch, der Gesandte Gottes, der
die Herrschaft Gottes auf Erden zu begründen berufen sei. Ging von
Galiläa die Mär von Jesus als dem Propheten und Wundertäter aus,
so ertönten in Jerusalem zuerst die zündenden Worte: „Messias**,
„Gottes Sohn**, „König der Juden“ (in mystischem Sinne); diese
Worte schlugen wie Blitze in die von Sprengstoffen gesättigte Atmo-
sphäre Jerusalems ein und wurden für das Schicksal des neuen Glau-
benslehrers verhängnisvoll. Die Benennung „Messias** mußte ebenso in
den jüdischen offiziellen Kreisen Besorgnis erregen, wie der Titel
„König der Juden** im Kreise der römischen Machthaber. Es fanden
534
)
§ 100. Josua von Nazareth
sich Denunzianten unter den Jesus Nahestehenden (die Sage nennt als
Verräter einen seiner Jünger, Juda Ischariot), die den neuerstandenen
Propheten, der das Volk durch seine Reden und „Wunder“ in Unruhe
versetzte, den Behörden anzeigten; sie hinterbrachten auch die Worte
Jesu, er vermöge es, den Jerusalemer Tempel zu zerstören und ihn
in drei Tagen wieder aufzubauen, d. i. statt des steinernen einen „nicht
von Menschenhand erschaffenen“, geistigen Tempel zu errichten. Auf
Grund all dieser Denunziationen wurde nun Jesus dem Gerichte über-
geben.
Der in den drei Evangelien wiederkehrenden Überlieferung zufolge
bejahte der vor Gericht zitierte Jesus sowohl die ihm von dem Jerusa-
lemer Synhedrion durch den ihm vorstehenden Hohepriester vorge-
legte Frage, ob er sich für den Messias, Christus, halte,, als auch die
Frage des Procurators Pilatus, ob er sich denn wirklich für den „Kö-
nig der Juden“ ausgäbe. Der Procurator stellte darauf Jesus als einen
Galiläer vor das Gericht seines Herrn, Herodes-Antipas, der sich da-
mals gerade in Jerusalem auf hielt; doch der Tetrarch, der in Jesus
nur einen Sonderling sah, schickte ihn zur Aburteilung dem Pilatus
zurück. So waren es zwei Befürchtungen, die das Los des Glaubens-
lehrers besiegelten: das Jerusalemer Synhedrion verurteilte Jesus als
ein eil sich „Messias“ und „Gottessohn“ nennenden falschen Prophe-
ten und Gotteslästerer („Megadef“), während der römische Statthalter
ihn zur Vorbeugung politischer Wirren als einen angeblichen „König
der Juden“ hinrichten ließ. Daß dieser letzte Grund der ausschlag-
gebende war, ist aus der Überlieferung zu ersehen, wonach die römi-
schen Soldaten, die das Urteil vollzogen, auf das Kreuz, an das Chri-
stus geschlagen worden war, die Worte schrieben: „König der Juden“
(Rex Judaeorum), sei es zur Verspottung des Verurteilten oder zur
Kennzeichnung seiner Schuld; auch darüber hat sich bei allen Evan-
gelisten eine Überlieferung erhalten1). Die Hinrichtung wurde in der
1) Der Bericht der Evangelisten, demzufolge Pilatus vorgehabt hätte, „Jesus
nur zu bestrafen und dann loszugeben“, wohingegen die „Hohepriester, Ältesten
und das Volk“ seine Hinrichtung verlangt hätten, ist offenbar auf eine durch die
spätere Erbitterung der sektiererischen Christen gegen die orthodoxen Juden ent-
standene Tendenz zurückzuführen. Die Grausamkeit des Pilatus gegen die ihm
untergebene Bevölkerung Judäas gibt keinen Anlaß, ihm in diesem Falle Milde
zuzutrauen. Wenn er die samaritanischen Ältesten, die die harmlose Wallfahrt zum
Berg Gerisim gewagt hatten, auf den bloßen Verdacht hin, sie hätten Politisches
im Sinne, hinrichten ließ (S 69), so konnte er in der Sache Jesu um so weniger
Nachsicht üben.
535
Die Entstehung des Christentums
Bannmeile Jerusalems, in der Landschaft Golgatha (Gulgoleth, Stätte
der Schädelbestattung, Richtplatz), um das Jahr 35 d. ehr. Ära voll-
zogen.
Die unmenschliche römische Hinrichtungsart der Kreuzigung war
in Judäa nichts neues mehr: einige Jahrzehnte früher hatte der Statt-
halter Yarus Tausende von jüdischen Insurgenten ans Kreuz schlagen
lassen; auch die Zeit des Pilatus war an politischen Märtyrern über-
reich, und unter den späteren Procuratoren war die Kreuzigung die
übliche Art der Hinrichtung der Freiheitskämpfer, der „Zeloten“.
Neben den Märtyrern der nationalen Freiheit erhob sich nun die Ge-
stalt eines Märtyrers, der außerhalb des nationalen Kampfes und des
damaligen geschichtlichen Geschehens überhaupt gestanden hatte. Für
die Mehrzahl der Zeitgenossen blieb die Kreuzigung auf Golgatha ganz
unbemerkt. Niemand hätte damals voraussehen können, daß das Gol-
gathakreuz dereinst auf dem Gipfel der Weltgeschichte ragen und
seinen düsteren Schatten über alle kommenden Jahrhunderte der jü-
dischen Geschichte werfen werde.
§ 101. Die Lehre nicht von dieser Welt
Von der ursprünglichen Lehre Jesu, die bald die Bezeichnung
„Christentum“ (die Lehre Christi, des Messias) erhielt, kann nur in-
sofern die Rede sein, als es vermittels der geschichtlichen Analyse
möglich wird, die echten Aussprüche des Stifters des Christentums
aus den Lehren seiner Apostel zu entnehmen. Es ist anzunehmen, daß
anfänglich die von Jesus in seinen Gesprächen und Predigten ge-
äußerten Gedanken von Mund zu Mund gingen oder in den Aufzeich-
nungen seiner verschiedenen Jünger auf bewahrt wurden. Diese „Lo-
goi“ (Aussprüche) Christi wurden später, nebst den Überlieferungen
über sein Leben, in jene drei evangelischen Bücher auf genommen,
die fünfzig bis siebzig Jahre nach dem Tode des Glaubensstifters von
den Jüngern seiner Apostel, Markus, Matthäus und Lukas, verfaßt
worden sind. Jene Gruppen von Aussprüchen oder einzelne Sprüche,
die in allen drei Büchern oder wenigstens in zweien wiederkehren,
können als mehr oder weniger genaue Wiedergabe der echten gelten,
da sie offensichtlich einer gemeinsamen älteren Quelle oder unmittel-
baren Überlieferungen oder Aufzeichnungen entstammen. Solcherart
sind die Aussprüche, aus deren Gruppierung sich in zwei Evangelien
536
§ 101. Die Lehre nicht von dieser Welt
(Matth. 5—7 und Lukas 6) die „Bergpredigt“ zusammensetzt, sowie
die belehrenden Gespräche und Antworten, die bei dem ältesten Evan-
gelisten Markus und bei seinen Genossen wiederkehren. Die ältesten
literarischen Quellen der christlichen Lehre sind allerdings diejenigen
unter den „Briefen des Apostels Paulus“, deren Echtheit nicht bezwei-
felt wird, doch erscheint darin diese Lehre dermaßen im Geiste der
Doktrin des Apostels selbst umgearbeitet, daß es beinahe unmöglich
ist, aus dieser Vermischung die Lehre Jesu in ihrer Reinheit auszu^
sondern.
Fassen wir alle diese Aussprüche Christi nach Gruppen zusam-
men, so finden wir, daß die einen gegen die Zeloten und politischen
Patrioten, die anderen gegen die Sadduzäer, wieder andere gegen die
Pharisäer gerichtet sind, während der Rest die positive Lehre Jesu
zum Ausdruck bringt.
Gegen die Zeloten und die Kämpfer für die politische Freiheit
sind die eindrucksvollsten Sätze der Bergpredigt gerichtet, die, solange
man nicht weiß, wen sie im Auge haben, befremdend anmuten müs--
sen3). Die Zeloten begegneten Jesus sowohl in seinem heimatlichen
Galiläa als auch später in Jerusalem, wo das Regime des Pilatus den
Haß gegen Rom besonders gesteigert hatte, doch vermochte Jesus
weder diesen Haß gegen die Unterdrücker, noch das Bedürfnis nach
Gegenwehr in sich zu verspüren. Mitten in den Brand der politischen
Leidenschaften schleuderte er seine schroffen Worte: „Folget nicht
dem Gesetze der Vergeltung — Auge um Auge, Übel um Übel“. „Wi-
derstrebe nicht dem, der dir Übles zufügt“ — war das Losungswort
des politischen Quietismus. In der Hitze des Streites trieb Jesus seinen
Gedanken auf die Spitze und rief aus: „So dir jemand einen Streich
gibt auf deine rechte Backe, so biete ihm die linke auch dar“. Den
zornsprühenden Patrioten rief er zu: „Liebet eure Feinde, segnet, die
euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, so
euch beleidigen und verfolgen“. Denn Gott ist voll Liebe für die Lei-
denden, für die sowohl im politischen wie im sozialen Leben Bedrück-
ten. „Selig sind die Armen1 2), denn das Himmelreich ist ihrer. Selig
sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig
sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig
1) S. Anhang, Note 5.
2) So die richtige Lesart in Luk. 6, 20 in Abweichung von der Lesart
Matth. 5, 3: „geistig arm“.
Die Entstehung des Christentums
sind die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Him-
melreich ist ihrer“. Als man Jesus fragte, ob man die Abgaben an den
Kaiser entrichten oder aber die Zahlung verweigern solle, Avie es die
extremen Zeloten befürworteten, erwiderte er: „Gebt dem Kaiser, was
des Kaisers ist“. Den Kampf um die Freiheit hielt er nicht nuir für
aussichtslos, sondern auch für unnütz; diese Auffassung bedeutete
eine völlige Ablehnung sowohl des aktiven wie des passiven Wider-
standes, die Predigt eines politischen Indifferentismus. Es hieß so-
viel wie: ordnet euch ohne Murren der Herrschaft der Römer und
ihrer Günstlinge, der Herodianer, unter; lasset die Sorge um das Los
des Landes und der Nation und gebet euch ein jeder dem Gedanken
an seine Seele hin. Persönliche sittliche Vollkommenheit ist auch un-
ter der Fremdherrschaft möglich. Die geistige Freiheit der Persön-
lichkeit steht unermeßlich höher als die politische Freiheit der Nation.
Die Vervollkommnung der Gesellschaft ist nur auf dem Wege der
sittlichen Vervollkommnung ihrer unteilbaren Bestandteile, der Indi-
viduen, möglich. Das Maß der Dinge ist das Individuum, nicht das
Kollektiv. Das Seelenheil jedes Einzelnen ist wichtiger als die Erret-
tung der Nation. So ließ die neue Lehre außer acht, daß in dem ge-
schichtlichen Prozeß auch eine kollektive Seele zur Entstehung
kommt, der um seine freie Entwicklung kämpfende Geist der lebendi-
gen Nation,
Gegen die Sadduzäer aber war sowohl der religiöse als auch der
soziale Protest Jesu gerichtet. Die neue Lehre verdammte die Saddu-
zäer vor allem als die Repräsentanten der offiziellen Tempelreligion,
die im Grunde des Herzens irreligiös, „kleingläubig“ waren und alles
Mystische, so auch das Dogma von der Auferstehung der Toten und
folglich auch das ganze System des „Himmelreiches“, in Abrede stell-
ten; dann aber auch als die Geschlechts- und Geldaristokratie und als
das Großbürgertum, das die werktätigen Massen ausbeutete. Gegen
diese Kreise eben waren solche Aussprüche Jesu gerichtet, wie z. B.:
„Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurchgehe, als
daß ein Reicher ins Himmelreich komme“, sowie andere Aphorismen,
die das Laster mit dem Reichtum und die Tugend mit der Armut in
Zusammenhang bringen.
Die Spitze der neuen Lehre war jedoch vornehmlich gegen die
Pharisäer gerichtet. Das pharisäische Prinzip def* nationalen Religion,
die Anpassung des ganzen Kultussystems an das Ziel der „Umzäu-
538
§ 101. Die Lehre nicht von dieser Welt
nung“ oder der Befestigung der nationalen Einheit und der daraus
entspringende religiöse Formalismus — all dies mußte Menschen von
der Art Jesu, Menschen des persönlichen Glaubens und der persön-
lichen Moral zutiefst empören. Empörung riefen die zahlreichen
Speisegesetze, die Vorschriften über die rituelle Reinheit und die Sab-
batheiligung hervor, insofern sie nicht selten mit den moralischen
Forderungen in Konflikt gerieten. Darf man wirklich am Sabbattage
nicht Ähren pflücken, auch wenn es gilt, Hungernde zu speisen? Darf
am Ruhetage auch zur Heilung der Kranken keine Arbeit verrichtet
werden? Die Pharisäer ließen allerdings solche Abweichungen vom
Gesetze gelten, jedoch nur in den alleräußersten Fällen, nämlich wenn
es um die Lebensrettung (Pikuach nefesch) ging. Aber entbehrt denn
dieser peinlichst eingehaltene Sabbatkultus nicht des Sinnes über-
haupt? Ist doch „der Sabbat um des Menschen willen gemacht, nicht
aber der Mensch um des Sabbats willen“ (Mark. 2, 27). Freilich war
ein gleicher Ausspruch auch bei den Pharisäern bekannt: „Der Sabbat
ist euch (den Juden) gegeben, nicht aber ihr dem Sabbat“ (Talmud,
Trakt. Joma, 85); und doch wurde die Peinlichkeit in der Sabbat-
heiligung immer mehr verschärft, weil der Sabbat eben weniger eine
religiöse als eine nationale Institution war, ein Werkzeug der natio-
nalen Zucht. Vom moralischen Standpunkte aus konnten die Phari^
säer gegen den Aphorismus Jesu: „Nicht was zum Munde eingeht,
verunreinigt den Menschen, sondern was zum Munde ausgeht — arge
Gedanken, falsch Zeugnis, Lästerung“ (Matth. i5, nf.) nichts ein-
wenden; das ganze Netz der Speisegesetze und der Vorschriften
über die rituelle Reinheit war indessen um der nationalen Absonde-
rung willen geknüpft worden, und dieses Ziel konnten die Pharisäer
unmöglich preisgeben. Das Christentum Jesu verwarf somit in seiner
Grundauffassung, wenn vorerst auch noch nicht in der Praxis, den
ganzen Entwicklungsprozeß des Pharisäismus, der im Verfolg der na-
tionalen Ziele das persönliche Glaubensgefühl vor dem religiösen Ri-
tus zurücktreten ließ. Doch mußte die neue Lehre zwangsläufig von
der theoretischen Verwerfung zur praktischen fortschreiten und so
dem kommenden Abfall ihrer Bekenner vom Kerne der Nation den
Boden bereiten.
In der dem Pharisäismus gegenüber bekundeten Opposition war
zweifellos auch ein gesundes Prinzip verborgen, insofern sich diese
Opposition gegen die Auswüchse einer Partei wandte, die in allen
539
Die Entstehung des Christentums
Regionen des geistigen Lebens der Nation vorherrschend war. Das da-
malige Pharisäertum enthielt neben vielen fördernden, lebenskräfti-
gen Elementen gar manches, was die Bekenner eines religiösen Pietis-
mus abstoßen mußte. Die übermäßig große Bedeutung, die die Phari-
säer der Gesetzeskunde, der Gelehrsamkeit und dem Buchwissen bei-
legten, rief in gewissen Gesellschaftskreisen eine Verachtung für den
des Gesetzes unkundigen gemeinen Mann, den „Landmann“, den
„Am-ha’arez“, hervor. Dem gemeinen Manne wurde wahre Religiosi-
tät abgesprochen; man blickte auf ihn als auf ein nicht rechtsfähiges
Mitglied der Gesellschaft herab. Dieser geistige Aristokratismus der
Pharisäer empörte die Begründer des Christentums nicht weniger als
der Geschlechtsaristokratismus der Sadduzäer. Dem niederen Volke
selbst entsprossen, vermochten sich Jesus und die galiläischen Fischer
in dessen Seelenverfassung besser einzufühlen. Sie wußten nur zu
gut, daß der schlichte Mann des innigen religiös-sittlichen Gefühls
nicht weniger teilhaftig zu werden vermag als der Bücherweise. Und
überdies sahen sie, wie oft in den pharisäischen Kreisen äußere Fröm-
migkeit in Scheinheiligkeit ausartete, in marktschreierische Werk-
heiligkeit, die nur auf irdische Vorteile und gesellschaftlichen Ein-
fluß bedacht war. Diese Heuchler und Scheinheiligen eben, die auch
die Besten unter den Pharisäern als die „Gefärbten“ (Zewuim) kenn-
zeichneten, tadelte die neue Lehre mit der ganzen Wucht ihrer Straf-
reden, indem sie die ganze Partei mit jenen identifizierte.
Das Bestreben, das religiös-sittliche Empfinden zu vertiefen, stellte
das wertvollste positive Element der neuen Lehre dar. Doch war diese
Strömung nicht neu; schon längst besaß sie innerhalb des Judaismus
ihre Vertreter: vielseitige (die alten, gegen den Kultus und für den
reinen sittlichen Glauben kämpfenden Propheten) und einseitige (die
Essäer mit ihrer mystischen Vertiefung der religiösen Akte), und auch
noch in einer viel späteren Epoche kommt sie in einer mächtigen
Volksbewegung zum Durchbruch (im Chassidismus). Ja sogar in dem
Pharisäertum der Zeiten Jesu war diese Strömung bemerkbar. Einer
der ältesten Evangelisten, ein ausgesprochener Gegner der Pharisäer-
partei, führt denn auch die rührende Erzählung von einem Schrift-
gelehrten an, der in der Beantwortung der Frage: Welches ist das
vornehmste Gebot vor allen? mit Jesus völlig einig war. Beider Ant-
wort lautete: an den einzigen Gott glauben, ihn von ganzem Herzen
lieben und seinen Nächsten als sich selbst lieben. Jesus billigte die
§ 101. Die Lehre nicht von dieser Welt
Worte des Pharisäers, indem er sprach: „Du bist nicht ferne von
dem Reich Gottes“ (Mark. 12, 28—34). Der Vertreter der vorher-
gehenden Pharisäergeneration, der große Hillel, hatte in seiner Ant-
wort, die er dem Heiden, der zum Judentum übertreten wollte, gab,
auch nichts anderes gesagt (§ 60). Auch zu vielen anderen Aussprü-
chen Jesu finden sich Parallelen im zeitgenössischen pharisäischen
Schrifttum, das später in den Bestand des Talmud aufgenommen
wurde. Solcher Art sind z. B. die folgenden Parallelen zur Berg-
predigt: „Sei unter den Bedrückten, nicht aber unter den Bedrückern,
unter den Beleidigten, die sich nicht widersetzen, die das Gute in
Liebe tun und freudig das Leid tragen“ («Sabbat 88, Joma 2 3); „Du
sagst deinem Nächsten: entferne den Span aus deinem Auge, doch er
kann dir erwidern: entferne den Balken aus deinem eigenen Auge“
(Erachin, 16, Baba-bathra i5). Sogar die evangelische Grundformel:
„Das Reich Gottes ist inwendig in euch“ (Luk. 17, 21) hat zur
Quelle das Gebot des Deuteronomiums (3o, 11 f.): „Das Gesetz, das
ich dir heute gebiete, ist nicht im Himmel, noch jenseits des Meeres,
sondern in deinem Herzen“. Mithin war in der Lehre Jesu der Inhalt
nicht neu, nur waren die dem Judaismus entlehnten Elemente anders
zusammengefügt. Neu war die schroffe Entgegensetzung der Religion
des Herzens und der persönlichen Moral dem Prinzip des kollektiven
Glaubens und der kollektiven Moral, die den besonderen Bedingungen
des geschichtlichen Lebens der Nation angepaßt waren. Noch nie war
der Gegensatz von Individualität und Kollektivität, von elementarem
Humanismus und kompliziertem geschichtlichen Nationalismus so
scharf zugespitzt, wie in dieser Predigt, deren Widerhall aus der
Ferne der Jahrhunderte zu uns herübertönt. Ihre Neuheit bestand in
der theoretischen Geradlinigkeit, mit der sie ihre Ideen bis in deren
äußerste Konsequenzen hinein verfolgte. Die neue Lehre riß die Re-
ligion von ihrem geschichtlichen Boden los und ihre ersten Stifter
sahen nicht einmal selbst, wie weit diese Ideologie sie führen würde.
In der jüdischen Gesellschaft jener stürmischen Zeit aber, als das
Schicksal der Nation auf dem Spiele stand, hatte man sofort gespürt,
wohin der neue Wind wehe.
Dem Christentum konnten im Moment seiner Entstehung weder
die Zeloten noch die geistigen Pharisäer friedlich gegenübertreten.
Die ersteren vermochten sich ihrer politischen Überzeugungen wegen
der neuen Richtung, die das Ideal des „Reiches nicht von dieser
Die Entstehung des Christentums
Welt“ (Johan. 18, 36) proklamiert hatte, nicht anzaschließen, denn
der ganze Sinn ihrer Tätigkeit bestand ja gerade in der Wiederauf-
richtung eines mächtigen und freien jüdischen Staates, als eines
realen Faktors für die Erhaltung und Entfaltung der Nation. Aber
auch den geistigen Pharisäern konnte die sich in der neuen Lehre
bergende anti-nationale Tendenz nicht entgehen. Wohl sahen sie die
ganze Wahrheit des Prinzips: „das Gottesreich ist inwendig in euch“
ein, doch hielten sie seine Verabsolutierung in der Praxis vom gesell-
schaftlichen Standpunkte aus für unerreichbar. Dieses erhabene Prin-
zip war allerdings, wie sie meinten, für die sittliche Verankerung des
Einzelnen zureichend, nicht aber für die der Nation; denn es wa,r
nur auf die aus dem geschichtlichen Milieu herausgelöste Persönlich-
keit anwendbar. Für das Volk aber, für die geschichtlich gewordene
und um seine nationale Existenz ringende kollektive Individualität
war es notwendig, daß das „Gottesreich“ sich in einer ganzen Reihet
äußerer Normen und Gesetze, die die einzelnen Teile des Volks-
organismus zu einer Einheit zusammenschweißten, kundtue. Diese
äußere Inkarnation des „Gottesreiches“ in der Form der national-
religiösen Zucht hielten die Pharisäer für das Judentum in der Zeit
des durch die römische Herrschaft herbeigeführten Niederganges der
national-politischen Zucht für besonders unentbehrlich. Dies der
Grund, warum ihnen das Christentum, eine Lehre „nicht von dieser
Welt“, auf den von ihnen miterlebten zeitgeschichtlichen Moment
praktisch unanwendbar, den realen psychischen Eigentümlichkeiten
der Persönlichkeit als eines Mitgliedes der Nation nicht angepaßt und
folglich auch schädlich erscheinen mußte.
Die neue Lehre fesselte zunächst entweder politisch gleichgültige
oder beschaulich, mystisch gestimmte Menschen. Unter diesen waren
sicherlich in einem gewissen Maße auch die Essäer vertreten, wie
denn überhaupt der Einfluß essäischer mystischer Anschauungen auf
Theorie und Praxis des ursprünglichen Christentums außer Zweifel
steht. Vom Essäertum wurden hier alle Arten von Wundertätigkeit
(die Austreibung der Teufel, die wunderbare Heilung von Siechen,
das Wiedergeben des Augenlichts an Blinde usf.) mitübernommen,
durch die die neue Lehre die Volksmassen viel eher anzog als durch
die erhabensten Predigten (ebenso wie dies in der Neuzeit bei
der Ausbreitung des Chassidismus der Fall war). Dies erklärt
auch die schnelle Verbreitung derartiger Glaubensformen wie der
§ 102. Die ursprüngliche jüdisch-christliche Gemeinde
Glaube an das „feurige Gehenna“ und das Paradies, an die leib-
liche Auferstehung der Toten und das Jüngste Gericht, endlich an
den übermenschlichen Messias, der zur Erlösung des sündigen Men-
schengeschlechtes, zur Läuterung der Seelen, nicht aber zur Befreiung
der unterjochten Nation, in die „Wolken des Himmels“ gehüllt, her-
niederfährt. Der Märtyrertod Jesu und die an seinen Namen sich an-
rankende Legende lenkten alle diese Glaubensformen in ein neues
Flußbett.
§ 102. Die ursprüngliche jüdisch-christliche Gemeinde
Wie weit auch die Lehre Jesu ihrem Grundprinzip nach von den
national-geschichtlichen Aufgaben des Judentums entfernt gewesen
sein mag, so verharrten dennoch ihre Jünger in der ersten Zeit for-
mell innerhalb der Schranken der volkstümlichen Lebensweise. Der
Stifter des Christentums sprach es selbst mehrfach aus, daß er mit
seiner Offenbarung zu den Juden gesandt sei. Er lehnte es ab, „da,s
Brot den Kindern (den Juden) zu nehmen und es vor die Hunde (Hei-
den) zu werfen“ (Matth. i5, 26), und gebot seinen Jüngern, „nicht
zu den Heiden und Samaritanern zu gehen, sondern zu den verlorenen
Schafen aus dem Hause Israel“ (ib. 10, 5—6). Wiewohl er die Aus-
wüchse des Ritenwesens tadelte, so unterließ er es dennoch nicht, zu
betonen, daß er „die Thora nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen“
gekommen sei und daß „kein Jota vom Gesetz zergehen werde“ (ib. 5,
17—18). Diese Verkündigungen waren insofern aufrichtig gemeint,
als weder der Stifter des Christentums noch seine ersten jüdischen
Bekenner es vorauszusehen vermochten, daß ihr innerer Bruch mit
dem nationalen Judaismus späterhin auch zu dem äußeren Bruche
führen werde.
Nicht bewußt waren sich dessen auch die Jesus am nächsten ste-
henden Jünger, die mit ihm zusammen aus Galiläa nach Jerusalem
gekommen waren und späterhin die Schar der „zwölf Apostel“ bilde-
ten: Simon Kephas oder Petrus, Jakob, der „Bruder des Herrn“, und
andere. Durch den Märtyrertod des Meisters erschüttert und Verfol-
gungen seitens der jüdischen und römischen Behörden befürchtend,
flohen die Jünger zunächst aus Jerusalem nach Galiläa. Hier aber, in
ihrer Heimat, wo sie Zeugen des ersten Hervortretens des jungen
Jesu gewesen waren, empfanden sie noch tiefer die sie mit dem
Die Entstehung des Christentums
Heimgegangenen verknüpfenden geistigen Bande. Er lebte in ihren
Gedanken und in ihren Herzen fort; sein schreckliches Ende schien
ihnen jetzt nicht den Tod, sondern den Beginn eines neuen Lebens im
Himmel zu bedeuten. Schon begann die Legende das Bild des auf-
erstandenen Messias, nicht des früheren irdischen, sondern eines
himmlischen Wesens göttlicher Art zu gestalten.
Bald kehrten die Mitkämpfer Jesu nach Jerusalem, dem Schau-
platz des Märtyrertodes ihres Meisters, zurück. Sie hatten sich von
dem ersten Schrecken erholt und begannen unter der Hauptstadtbe-
völkerung für die neue Lehre zu werben. Sie wagten es sogar, im
Tempel zu predigen, indem sie das Volk dazu aufriefen, der Lehre des
gekreuzigten Seelenheilands, der von den Toten auferstanden sei oder
auferstehen werde, zu folgen. Durch diese Predigten gelang es Simon
Petrus und den anderen Aposteln, das einfache Volk, namentlich die
Frauen, an die sich die offiziellen Gesetzeslehrer nur selten mit einem
für die Massen verständlichen und zum Herzen dringenden Wort
wandten, für sich zu gewinnen. Auf das unaufgeklärte Volk wirkten
die Apostel durch ähnliche „Wundertaten“, wie sie auch Jesus zu sei-
nen Lebzeiten vollbracht hatte: im Namen des Gekreuzigten heilten
sie Kranke, vornehmlich von Geisteskrankheiten Befallene oder, wie
man damals glaubte, vom „unsauberen Geiste Besessene“.
So bildete sich in Jerusalem eine kleine Sekte oder Brüderschaft,
die in ihrer Lebensführung den frommen essäischen Brüderschaften
ähnlich war. Von den Essäern hatte sie die Gütergemeinschaft und
die gemeinsamen Mahlzeiten übernommen; von ihnen stammte auch
der beim Eintritt in die Brüderschaft zu vollziehende Hauptritus: die
Taufe. Besonders wurde das Prinzip des Kommunismus eingehalten:
alle Mitglieder der Brüderschaft verkauften ihre ganze Habe und
führten das Geld an die gemeinsame Kasse ab, um so den Unterschied
zwischen reich und arm aufzuheben. Alle diese Neuerungen ärgerten
besonders die der Regierung nahestehenden Sadduzäer: sowohl die
mystische Propaganda der Sektierer als auch ihre soziale Verfassung
flößten ihnen Befürchtungen ein. So verbot denn auch der Hoheprie-
ster den Aposteln, im Tempel zu predigen, und als diese »sich nicht
fügen wollten, gab er Befehl, Petrus und die anderen Häupter der
Sekte zu verhaften. Sie wurden vor das Gericht des Synhedrion ge-
stellt und angeklagt, daß sie fortführen, durch die gleichen Predig-
ten, die die Hinrichtung Jesu veranlaßt hatten, Unruhe im Volke zu
544
§ 102. Die ursprüngliche jüdisch-christliche Gemeinde
stiften. Diesmal setzten sich jedoch die Pharisäer für die Verfolgten
ein, die in dem Verhalten der Sektierer keine formelle Gesetzesübertre-
tung zu erblicken vermochten: die Sektierer hielten alle jüdischen Ri-
ten ein — die Beschneidung, die Feier- und Fasttage, die Speise-
gesetze; was aber ihre eindringlichen, für die Sadduzäer so anstößi-
gen Predigten über die Auferstehung der Toten betraf, so konnte den
Pharisäern nur die extreme sektiererische Ausdeutung dieses Dogmas
ein Dorn im Auge sein. Darum warnte auch der Pharisäerführer Rab-
ban Gamaliel das Gericht vor Verfolgungen der demütigen Sektierer,
um noch größere Volksunruhen zu vermeiden. Petrus und seine Ge-
nossen wurden zu Stockhieben (Malkoth) verurteilt und dann freige-
lassen.
Je mehr aber die Zahl der Mitglieder der christlichen Sekte wuchs
und je nachdrücklicher in deren Propaganda die messianische Rolle
Jesu in den Vordergrund gerückt wurde, um so häufiger wurden auch
die Zusammenstöße. Besonders vermehrten sie sich während der Re-
gierung Agrippas I. (4i—44), als sich für eine kurze Zeit die Macht
der nationalen Partei befestigte. Um diese Zeit strömten der kleinen
Gemeinde der Judenchristen in Jerusalem viele Adepten aus der Mitte
der „Hellenisten“, d. i. der griechisch sprechenden Juden, zu, die aus
den Diasporaländern dorthin übersiedelt waren und eigene Synagogen
in der Hauptstadt besaßen (es gab Synagogen der Alexandriner, der
Cilicier und anderer Auswanderer aus den römischen Provinzen). Die
Hellenistengruppe scheint radikalere Ansichten in die Lehre der Sekte
hineingetragen zu haben. Einer der Führer dieser Gruppe, der den
griechischen Namen Stephanus trug, wurde vor dem Synhedrion an-
geklagt, daß er im Namen Jesu die Zerstörung Jerusalems oder des
Tempels und die Änderung der Mosesgesetze vorausgesagt hätte. Der
zu einem Bekenner Christi gewordene hellenisierte Jude hatte den un-
mittelbaren Schluß aus dessen Lehre gezogen und es offen ausgespro-
chen, daß das nationale Prinzip der Religion vor der persönlichen
Frömmigkeit zurückzutreten habe. Stephanus hielt vor dem Synhe-
drion eine lange Rede, in der er die Gegner der Lehre Jesu scharf
tadelte und sie der Schuld an seinem Märtyrertode bezichtigte. Die
durch diese Rede gereizte Volksmenge machte mit dem Verkünder des
Verderbens des Vaterlandes kurzen Prozeß: Stephanus wurde zur Stadt
hinausgejagt und gesteinigt.
Die Genossen des Stephanus flohen darauf aus Jerusalem. Einer
35 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd.II
.545
Die Entstehung des Christentums
von ihnen, der den gleichfalls griechischen Namen Philippus trag,
begab sich nach Samaria und begann, die „Heilsbotschaft von dem
Reiche Gottes“ zu verkünden, indem er durch wunderbare Heilungen
von „Gichtbrüchigen und Besessenen“ das Volk anlockte. In dieser
halb jüdischen Stadt vermochte es der Prediger des Christentums mit
seinen Wundern erfolgreich mit dem dortigen Wundertäter Simon
dem Magier aufzunehmen. Simon fühlte sich sogleich zu der Glau-
benslehre hingezogen, bei der die Wundertaten eine so große Rolle
spielten. Andere Gesinnungsgenossen des Stephanus begaben sich nach
Phönizien, Cypern und Antiochia, um die dortigen Heiden für ihre
Sekte zu gewinnen. In Antiochia wirkte damals mit großem Erfolge
der Missionar Barnabas, der als erster auch den heidnischen Juden-
anhang oder die sogenannten „Verehrer des höchsten Gottes“ der
Sekte zuzuführen begann1). In Jerusalem aber blieb eine Gruppe von
Juden Christen mit dem Apostel Petrus an der Spitze zurück. Unter
Agrippa I. und in den unmittelbar darauffolgenden Jahren gerieten
die Führer dieser Gruppe nicht selten mit den Behörden in Konflikt.
Der Apostel entfaltete seine Missionstätigkeit auch in Caesarea, dem
Standquartier der römischen Garnison, wo der König Agrippa des öf-
teren als Gast weilte. Eines Tages wurde der Apostel auf Geheiß des
Königs in Haft genommen und eine Zeit lang in Gewahrsam gehal-
ten, wonach er vor ein Gericht gestellt werden sollte; Petrus gelang
es jedoch noch rechtzeitig, zu fliehen und sich in Sicherheit zu brin-
gen. In dem plötzlichen Tod des Agrippa zu Caesarea1 2) erblickten die
Sektierer eine Strafe Gottes für die Verfolgungen, denen sie seitens
des Königs ausgesetzt gewesen waren.
1) Für die Geschichte des Christentums in den ersten Jahrzehnten nach dem
Tode seines Stifters bildet das Buch „Die Apostelgeschichte“ die, nach den Briefen
des Paulus, der Zeit nach den Ereignissen am nächsten liegende Quelle. Trotz der
Sagenhaftigkeit der Berichte hat sich in der „Apostelgeschichte“ ein wesentlicher
geschichtlicher Kern erhalten. Der Verfasser scheint mit der historischen Sachlage
im Judäa Agrippas I. und II. und der römischen Procuratoren Felix und Festus
aufs genaueste vertraut zu sein; indem er seine Erzählung von den Verfolgungen
der Sekte mit diesen Namen in Zusammenhang bringt, bleibt er der chronologischen
Reihenfolge meistenteils treu und hält die Ereignisse treffend auseinander. Durch
sorgfältige Analyse kann hier aus der Verschleierung der Legenden und der sek-
tiererischen Tendenzen der geschichtliche Kern wohl herausgeschält werden.
2) Dieses Ereignis wird in der christlichen Legende (Apostelgeschichte, 12,
21 f., wo Agrippa mit dem Geschlechtsnamen Herodes genannt wird) unter Um-
ständen geschildert, die mit denen in der Erzählung des Josephus merkwürdig über-
einstimmen. S. oben, S 74-
546
§ 103. Der Apostel Paulus und der Bruch mit dem Judentum
Bald wurde es klar, daß die neue religiöse Bewegung nicht in den
engen Schranken einer Sekte verharren, daß sie nicht die innere»An-
gelegenheit des Volkes, aus dessen Mitte sie entsprungen war, nicht
eine schismatische Form des Judaismus bleiben konnte. Die in ihr
verborgene zentrifugale Kraft mußte zum Durchbruch kommen und
diese Bewegung weit über die Grenzen Judäas und des Judaismus hin-
ausführen. Der Urheber dieser Umwälzung war der unter dem Na-
men des Apostels Paulus bekannte Saul aus Tarsus (er lebte um
10—63).
§ 103. Der Apostel Paulus und der Bruch mit dem Judentum
Saul der auch den römischen Namen Paulus trug, war aus der
hellenisierten Stadt Tarsus im kleinasiatischen Cilicien gebürtig. Ein
griechisch sprechender Diasporasohn, wurde Paulus noch in seiner
Jugendzeit der nationalen Kultur in ihrem Hauptsitze, in Jerusalem,
teilhaftig. Er trat dort in die Schülerschar des Pharisäers Gamaliel
ein und wurde „im Gesetze der Väter“ gründlich unterwiesen. Eine
Zeit lang war der Geist des Paulus von den pharisäischen Einflüssen
so sehr beherrscht, daß er der mystischen Lehre Jesu, die sich damals
in Judäa zu verbreiten begann, mit äußerster Feindseligkeit gegen-
überstand. Als man in Jerusalem den „Hellenisten“ Stephanus, gleich-
falls einen Sprößling der Diaspora, aburteilte, befand sich Paulus
unter seinen Anklägern und Verfolgern. Der religiöse Eifer des Pau-
lus ging so weit, daß er den Sektierern in Jerusalem persönlich nach-
spürte, um sie den Behörden auszuliefern. Von dem Wunsche beseelt,
die Ketzerei auch in der heimatlichen Diaspora auszurotten, brach er,
mit Briefen des Jerusalemer Hohepriesters an die dortigen Obersten
der „Synagoge“ oder Gemeinde versehen, nach Damaskus auf.
Da aber vollzog sich in der Seele des Paulus ein entscheidender
Umschwung: plötzlich überzeugte er sich von der Wahrheit jener
Lehre, die er bis dahin mit Ungestüm verfolgt hatte. Die christliche
Sage führt diesen Umschwung auf eine wunderbare Vision zurück,
die Paulus auf dem Wege nach Damaskus erleuchtete: in einem Zu-
stand der Ekstase vernahm er die Stimme Jesu: „Saul, Saul, was ver-
folgst du mich?“ Geschichtlich betrachtet, war diese Bekehrung frei-
lich das Ergebnis eines langwierigen inneren Prozesses. Sie erklärt
sich durch den Zwiespalt in der Erziehung des Paulus, in dessen
85*
54?
Die Entstehung des Christentums
Geiste die jüdischen und die hellenischen Anschauungen, die strenge
Gesetzestreue und die Verlockungen der „griechischen Weisheit“, das
Nationale und das Kosmopolitische in Widerstreit geraten waren. Saul
der Jude und Paulus der Hellenist stritten in seiner Seele und riefen
einen Zwiespalt in ihr hervor. Zunächst schien der Jude die Ober-
hand zu gewinnen, der denn auch seine Prinzipien auf die Spitze
trieb; dann aber machte sich der Widerstand des Hellenisten geltend,
und so ergab sich die Resultante: die Lehre Jesu (wie bei Philo der
philosophische Judaismus). Hierin kam die Neigung der Diaspora zu
einem Ideensynkretismus zum Ausdruck. In der Lehre Jesu fand Pau-
lus die Versöhnung der sich in ihm bekämpf enden geistigen Elemente;
dazu bedurfte er aber einer Umarbeitung der von ihm angenommenen
Doktrin nach seiner Art: er bereicherte sie durch viele hellenistische
Prinzipien und schuf aus der Vermengung verschiedenartigster Ideen
die Mythologie und die Dogmatik des Christentums. Dazu trieben ihn
nicht nur seine inneren religiösen Bindungen, sondern auch die Le-
bensbedingungen jenes Milieus, in dem er zu wirken hatte, d. i. des
Milieus der jüdisch-hellenistischen Diaspora und der heidnischen Ge-
sellschaft, um derentwillen die Strenge des nationalen Judaismus ge-
mildert werden mußte.
Nachdem sich Paulus zum „wahren Glauben“ bekehrt hatte, ging
er mit dem Feuer des Neophyten an dessen Verbreitung. Sein Ge-
sichtskreis war viel weiter als der der „galiläischen Fischer“, der Apo-
stel in Judäa, und auch sein Zuhörerkreis war ein ganz anderer; so
wurde er auch zum Schöpfer neuer Propagandamethoden. Er begann
seine Missionstätigkeit in Damaskus, doch erst in Antiochia, wo
sich kurz zuvor eine Gemeinde von Jesusbekennern aus den vom
Missionar Barnabas Bekehrten gebildet hatte, kam sie zu vol-
ler Entfaltung. Hier legten sich die Neubekehrten als erste den
Namen „Christen“, d. i. die an den erschienenen Messias Glaubenden,
bei (Christos ist die wörtliche griechische Übersetzung des hebräischen
Moschiach — der Gesalbte, der Messias). Die Gemeinde setzte sich
aus einer Gruppe ortsansässiger Juden zusammen, denen sich der
heidnische Judenanhang aus der Mitte der „Gottesfürchtigen“ oder
„Gottverehrenden“ angeschlossen hatte (§ 95). In Gemeinschaft mit
dem dortigen Missionar Barnabas entfaltete Paulus von hier aus eine
weitestgehende Propaganda. Antiochia wprde seine Operationsbasis,
von der aus er seine Missionsreisen durch die Städte Syriens und 1
548
§ 103. Der Apostel Paulus und der Bruch mit dem Judentum
Kleinasiens unternahm. Feurig predigte er überall unter den Juden
und Griechen die neue Lehre, indem er sich den Besonderheiten die-
ses gemischten Milieus anpaßte. Die Bekehrung der Heiden wurde
für Paulus zur Hauptaufgabe. Er war ganz von der großartigen Idee
besessen, die ganze Welt zum wahren Glauben zu bekehren und das
Christentum aus einer Sektenlehre in eine Weltreligion zu verwan-
deln. Die Erfahrung überzeugte aber Paulus endgültig, daß das
Christentum nie weite Verbreitung unter den Heiden finden würde,
wenn es von seinen Bekennem die Befolgung aller Riten des Juden-
tums, sogar des beschwerlichsten, des der Beschneidung der neube-
kehrten Männer, verlangte. Andererseits tat es, zur Gewinnung der
Proselvten unter den Heiden, not, die neuen Begriffe vom einzigen
Gotte und vom Messias Jesus den altüberkommenen heidnischen re-<
ligiösen Anschauungen und Bräuchen anzupassen. Hier zeigte sich
nun die synkretistische Erfindungsgabe des Paulus in ihrer ganzen
Genialität. Aus den verworrenen, mit Elementen orientalisch-helleni-
scher Kulte jener Zeit untermischten jüdisch-christlichen Glaubens-
anschauungen schuf er eine neue dogmatische Lehre, die in mancher
Hinsicht dem Judaismus fern, doch der heidnischen Weltanschauung
durchaus verwandt war. Die Reform des Paulus verwandelte die Lehre
„nicht von dieser Welt“ in eine Lehre „von der Welt“ und für diei
Welt, jedoch nicht für die jüdische Welt, sondern für die heidnische.
Seine religiöse Doktrin legte er in systematischer Form nicht nur in
den mündlichen Predigten, sondern auch in den griechisch abgefaßten
ausführlichen Schreiben nieder, die an die in verschiedenen Städten
entstehenden christlichen Gemeinden gerichtet waren1).
Vor allem riß Paulus die messianische Idee endgültig von ihrem
jüdischen Heimatboden los. Herrschte im Kreise der ersten Apostel,
der unmittelbaren Jünger Jesu, noch die Vorstellung von ihm als von
einem gottbegnadeten, zum geistigen Heile des jüdischen Volkes ge-
sandten Menschen vor, so verwandelte er sich in dem Geiste des Pau-
1) Aus den in das „Neue Testament“ aufgenommenen Briefen des Paulus
werden von der Mehrzahl der Kritiker die folgenden als echt, vom Apostel selbst
herrührend, anerkannt: die Briefe an die Galater, Korinther, Römer, Thessaloni-
cher, Philipper und an Philemon. Die Autorschaft der übrigen ist umstritten. Daß
Paulus der Verfasser des „Briefes an die Hebräer“ sei, wurde von vielen noch in
den ersten christlichen Jahrhunderten geleugnet. Jedoch sind auch die umstrittenen
Briefe zum größten Teil im Geiste des Paulus gehalten und wahrscheinlich von
seinen in den echten Briefen erwähnten Jüngern und Mitstreitern verfaßt.
549
Die Entstehung des Christentums
lus, der dem lebendigen Jesus fern stand, in ein himmlisches Wesen,
das nur vorübergehend Menschengestalt angenommen hatte. Er ist für
ihn ein Wesen göttlicher Natur, ein wahrer „Sohn Gottes“, den der
Vater vom Himmel auf die Erde herabgesandt hat, damit er im Flei-
sche und in der Gestalt eines Menschen Marter und Tod erleide und
so die Menschen von ihren der Erbsünde Adams entsprungenen Sün-
den erlöse; durch seine Auferstehung von den Toten und durch seine
Wiederkehr in den Schoß des Vaters habe Jesus den Tod in der Welt
besiegt, so daß alle an ihn Glaubenden des ewigen Lebens nach dem
Tode teilhaftig werden würden. Er vermag es, die Seelen derer, die
durch ihren Glauben und gewisse symbolische Akte sich ihm nähern,
zu neuem Leben zu erwecken. Die wichtigsten Symbole der Annähe-
rung an Christus sind die Taufe und die Teilnahme an dem „Abend-
mahl“ oder dem „Liebesmahl“ (das griechische Agape), d. i. an der
gemeinsamen Mahlzeit der Gläubigen, die zum Andenken an den
Kreuzestod Jesu eingeführt worden war; das dabei verzehrte Brot und
der genossene Wein symbolisieren den Leib und das Blut Christi, des-
sen die Tischgenossen auf diese Weise teilhaftig werden (Eucharistie),
Diese ganze Lehre von dem Gottmenschen, von seinem Tode und sei-
ner Auferstehung und die dem angepaßten symbolischen Bräuche
wurzelten in den heidnischen Glaubensformen und Mysterien, die um
jene Zeit in Syrien und Kleinasien weit verbreitet waren. Die volks-
tümlichen Vorstellungen von dem sterbenden und wieder auf erstehen-
den Gotte waren dort mit den orientalisch-hellenischen Kulten des
Adonis und Attis verbunden. In Antiochia, wo Paulus predigte, wurde
alljährlich das Frühjahrsfest des Todes und der Auferstehung des
Adonis begangen: das Standbild des Gottes wurde zuerst unter Weh-
klagen zu Grabe getragen und dann am nächsten Tage feierlich hervor-
geholt, wonach man verkündete, daß der Gott lebe. Zu den Mysterien
der hellenisierten persischen Religion des Mithra, dessen Kult auch in
Tarsus, der Heimatstadt des Paulus, gepflegt wurde, zählte unter an-
derem das heilige Mahl, das von den Symbolen des Teilhaftigwerdens
an der Gottheit durch Genuß von Brot und Wein begleitet war1).
So konnte der in die Christengemeinde eintretende Heide sich in ge-
wissem Maße in der gewohnten religiösen Atmosphäre fühlen; neu
1) In weitergehendem Maße drangen alle diese heidnischen Symbole und
Mysterien in die Dogmatik und den Kultus der christlichen Kirche erst in den
folgenden Jahrhunderten ein.
§ 103. Der Apostel Paulus und der Bruch mit dem Judentum
war freilich der Begriff des einzigen Gottes, aber auch dieser wurde
durch die Hinzunahme des Begriffes des zeitweilig Mensch geworde-
nen „Gottessohnes“ in seiner Schroffheit gemildert. Am schwersten
fiel die Lossagung vom Götzendienst.
Um den Heiden den Übertritt zu der neuen Religion noch mehr zu
erleichtern, befreite sie der Apostel Paulus gänzlich von dem „Joche“
des jüdischen Gesetzes. Zu diesem Ende brachte er einerseits die Idee
der „Auserwähltheit“ der jüdischen Nation als der Trägerin der wah-
ren Gotteserkenntnis zum Verschwinden und schuf andererseits den
Gegensatz zwischen Glauben und Gesetz. Juden und Heiden, sagt er,
sind in gleicher Weise „unter der Sünde“. Der Stolz der Juden, ihre
heilige Thora, hat sie von der Sünde nicht nur nicht gereinigt, son-
dern sie noch tiefer in sie verstrickt. „Durch das Gesetz kommt Er-
kenntnis der Sünde“; „das Gesetz ist gekommen, auf daß die Sünde*
mächtiger würde.“ Die religiöse Mission Israels hat mit dem Kommen
des Messias — Christus — ein Ende genommen. Von nun ab ist das
alte jüdische Gesetz außer Kraft gesetzt und an seine Stelle ist der;
Glaube getreten. Der Mensch mag seine Seele nicht durch die Erfül-
lung der Thoravorschriften, sondern nur durch den Glauben an die
neue christliche Offenbarung zu erlösen. „Der Mensch wird gerecht
ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ „Nicht durch
die Thora ist Abraham und seinem Samen die Verheißung geschehen,
sie sollen der Erde Erbe sein, sondern durch die Gerechtigkeit des
Glaubens.“ „Die Sünde wird nicht herrschen können über euch, sinte-
mal ihr nicht unter dem Gesetze seid, sondern unter der Gnade (des
Glaubens).“ „Durch das Gesetz wird niemand gerecht vor Gott, denn
der Gerechte lebt seines Glaubens . . . Der Messias hat uns von dqim
Fluch der Thora erlöst.“ „So besteht nun in der Freiheit, zu der uns
der Messias befreit hat, und lasset euch nicht wiederum in das
knechtische Joch fangen1)!“
Diese Befreiung von dem „knechtischen Joch“ oder genauer von
der Zucht des Gesetzes äußerte sich hauptsächlich in der von dem
Apostel Paulus verkündeten Außerkraftsetzung der für die neubekehr-
ten Heiden besonders beschwerlichen Hauptbräuche des Judentums,
vor allen Dingen — des Beschneidungsritus. Statt der „Beschneidung
des Fleisches“ fordert er die symbolische „Beschneidung des Her-
1) An die Römer, 3, 9—28; 4; 13; 5, 20; 6, i4- An die Galater, 3,
11—13; 5, 1.
55i
Die Entstehung des Christentums
zens“, die Befolgung des Gesetzes „dem Geiste, nicht dem Buch-
staben nach.“ Sowohl die Beschnittenen wie die Unbeschnittenen er-
löst Gott durch den Glauben. Die Beschneidung ist durch die Taufe
als das Symbol der neuen Offenbarung ersetzt. Der an die Stelle der
Thora getretene Glaube äußert sich in der Anerkennung der wunder-
baren Auferstehung Christi und der von ihm vollbrachten Erlösung
der Menschheit von der Erbsünde. Die Lehre Moses’ hatte nur die
Rolle einer Wärterin zu erfüllen, die die Kinder großziehen und dem
wahren Messias zuführen sollte, mit dessen Kommen sie ihre Gültig-
keit eingebüßt hat1).
§ lOä. Die Spaltung in Juden- und Heidenchristen
Die Umwälzung, die das „Alte Testament“ um des „Neuen Testa-
mentes“ willen aufgehoben hatte, fand in den Reihen der Bekenner*
des Christentums nicht so bald Anhänger. Die neubekehrten Heidenj
aus dem Judenanhange begrüßten allerdings diese Form mit Freu-
den, doch unter den Judenchristen Palästinas stieß sie auf heftigen
Widerstand. Die Häupter der Christengemeinde in Jerusalem be-
kämpften den das Prinzip des Gesetzes um des subjektiven Prinzips
des Glaubens willen abschaffenden Antinomismus des Paulus und
suchten in ihren Reden und Briefen zu beweisen, daß der Glaube
ohne Werke, ohne Gesetze jeder Bedeutung bar sei. „Was hilft’s,
liebe Brüder, so jemand sagt, er habe den Glauben, und hat doch die
Werke nicht? Der Glaube allein, wenn er nicht Werke hat, ist tot an
ihm selber. . . Ist nicht Abraham, unser Vater, durch die Werke ge-
recht geworden, da er seinen Sohn Isaak auf dem Altar opferte? Der
Glaube hat an seinen Werken mitgewirkt, und durch die Werke ist
der Glaube vollkommen geworden ... So seht ihr nun, daß der
Mensch durch die Werke gerecht wird, nicht durch den Glauben
allein“1 2).
Aber noch ehe Paulus sein negatives Verhalten zu dem geschicht-
1) An die Römer, 2, 26—29; 3, 3o; Gal. 3, 2 4—2 5.
2) Der Brief des Apostels Jakobus, 2, i4—2 4* Mag dieser Brief tatsächlich
vom Apostel Jakobus herrühren oder auch nicht, jedenfalls bringt er die Auffas-
sung der Jerusalemer Judenchristen zum Ausdruck und unterscheidet sich über-
haupt von den Paulinischen Briefen durch das Fehlen jeglicher mystischen Chri-
stologie, an deren Stelle hier das Prinzip der praktischen Religion und der Moral
im Geiste der Thora tritt.
552
§ 10h. Die Spaltung in Juden- und Heidenchristen
liehen Judaismus so schroff formuliert hatte, begann die Art seiner
Propaganda in Antiochia den Häuptern der jüdisch-christlichen Ge-
meinde zu Jerusalem Befürchtungen einzuflößen. So begaben sich
denn einige zu den „Gesetzeseiferem“ gehörende Mitglieder der
Gemeinde, an deren Spitze, wie es scheint, der Apostel Jakob, der
„Bruder Jesu“, stand, nach Antiochia, um den Neuerungen des Pau-
lus entgegenzutreten. Die Agitation der Neuangekommenen, die von
den bekehrten Heiden die Befolgung der jüdischen Grundgesetze ver-
langten, brachte die gemischte Christengemeinde Antiochias in Ver-
wirrung. Durch die Predigten der „falschen Brüder, die eingeschli-
chen waren“ (wie er die Angekommenen in seinem Ärger nannte),
beunruhigt, brach Paulus zusammen mit seinem Gesinnungsgenossen
Barnabas nach Jerusalem auf, wo er seine Sache einer besonderen
Apostelversammlung unterbreitete (um 52). Den ihm zur Last geleg-
ten Umstand, daß er von den zum Christentum übertretenden Hei-
den nicht die Befolgung des Mosesgesetzes in seinem ganzen Umfange
fordere, suchte Paulus durch einen ausführlichen Bericht über seine
Missionstätigkeit unter den Fremdstämmigen zu entkräften, indem er
erklärte, daß die glänzenden Erfolge auf diesem Gebiete nur der Art
seiner Propaganda zu verdanken seien; wollte man hingegen von den
Neubekehrten die Befolgung der jüdischen Gesetze fordern, so würde
man die Gewinnung fremdstämmiger Proselyten zur Unmöglichkeit
machen. Nach heftigen Auseinandersetzungen, bei denen der Apostel
Petrus Paulus in gewissem Maße unterstützte, gestatteten ihm die
Führer der Jerusalemer Christengemeinde, aus Furcht, die so erfolg-
reich begonnene Heidenmission zunichte zu machen, den Heiden ein
von strenger Gesetzesbeobachtung befreites Christentum zu predigen,
unter der Bedingung jedoch, daß die Neubekehrten zur Enthaltung
von Götzendienst, Unzucht oder Blutschande, sowie von dem Genuß
des Fleisches erstickter Tiere und des Blutes verpflichtet werden soll-
ten.
Aber auch nach dieser Vereinbarung wiederholten sich gar oft die
Konflikte zwischen den Gesetzeseiferern und den Anhängern des Pau-
lus. Als der Apostel Petrus nach Antiochia kam, lehnte er es ab, ein
Tischgenosse der Heidenchristen zu sein, die das Gesetz nicht einmal
im Rahmen der Vereinbarung beobachteten; viele von den Juden-
christen folgten seinem Beispiel, und der gemischten antiochenischen
Gemeinde drohte ein Zwiespalt. Da trat Paulus öffentlich gegen Pe-
553
Die Entstehung des Christentums
trus auf und zeihte ihn der Inkonsequenz und des Unverständnisses
der wahren Lehre Christi, die gerade in der Abschaffung des früheren
Dogmas von der „Rechtfertigung durch das Gesetz“ bestünde. Es
entbrannte nun ein offener Kampf in den Gemeinden Kleinasiens
und Syriens zwischen den judenchristlichen Aposteln und dem „Apo-
stel der Heiden“, wie man Paulus nannte. Ein Widerhall dieses Kamp-
fes ist noch in den „Briefen“ des Paulus (besonders in denen an die
Galater und Korinther) in seinem leidenschaftlich polemischen Tone
sowie in seiner schonungslosen, manchmal die Grenze des Judenhas-
ses streifenden Zurückweisung des „Alten Bundes“ zu vernehmen.
Immer weiter in der einmal erwählten Richtung fortschreitend,
setzte Paulus seine Missionstätigkeit in Griechenland und Macedonien
fort, wo sich um jene Zeit (5o—60) bereits Keimzellen des Christen-
tums herausgebildet hatten: so die kleinen Gemeinden von Korinth,
Philippi, Thessalonike und anderen Städten. In jeder Stadt, die eine
jüdische Kolonie barg, predigte er zuerst in der Synagoge; da er je-
doch nur selten Proselyten unter den Juden gewann, so wandte er sich
dann mit seiner „Heilsverkündigung“ an die Heiden. Viele Griechen
fühlten sich durch die ihren religiösen Anschauungen verwandte Theo-
sophie des Paulus angezogen; besonderes Wohlgefallen fanden sie an
den gemeinsamen Mahlzeiten oder brüderlichen Abendmahlen, die an
manchen Orten in orgiastische, den hellenistischen Kulten eigentüm-
liche Mysterien ausarteten. Der Apostel der Heiden mußte die Erfah-
rung machen, daß die von ihm der Anschauungsweise und den Nei-
gungen der Neubekehrten gemachten Konzessionen von diesen des-
wegen angenommen wurden, um die neue Religion zu einem weiteren
Entgegenkommen an das Heidentum zu veranlassen. So mußte er in
Korinth mit Empörung der Unzucht unter den neubekehrten Grie-
chen gewahr werden, die der Meinung waren, daß die von der „Skla-
verei des Gesetzes“ befreite neue Religion alles erlaube. Diesem Erbe
der antiken Kultur, der Unzucht, trat nun Paulus mit der ganzen
ihm eigenen Macht des Wortes entgegen. Er verfiel in das entgegen-
gesetzte Extrem und begann die Lehren des strengen Asketismus zu
predigen. Die Moral des Paulus gründet sich auf dem Prinzip des
Gegensatzes von Fleisch und Geist; das Fleisch ist der Urquell der
Sünde: gegen das Fleisch müsse man kämpfen, von der Sünde könne
man durch den Glauben und die Kommunion mit Christus, dem
Erlöser, erlöst werden. Diese These einer unbedingten Sündhaftigkeit
554
§ 10b. Die Spaltung in Juden- und Heidenchristen
des Fleisches und der Dualismus von Fleisch und Geist war der Ethik
des Judaismus durchaus fremd, die nicht das Ideal der Unterdrückung
fleischlicher Triebe, sondern das ihrer vernünftigen Einschränkung oder
„Heiligung“ durch das höchste sittliche Ziel proklamierte. Dieser Ge-
gensatz zeigte sich auch in dem verschiedenartigen Verhalten beider
Lehren zu der Ehelosigkeit, an der Paulus in seinem persönlichen
Leben festhielt und die er als Ideal für auserlesene Naturen hin-
stellte, wie auch zu der Ehescheidung, die von Paulus, im Gegensatz
zu dem humanen jüdischen Gesetz, verboten wurde.
Nachdem Paulus in Griechenland und Kleinasien (in der Stadt
Ephesus u. a.) eine weitgehende Propaganda entfaltet hatte, begab
er sich von neuem nach Jerusalem (5g), um der dortigen Christen-
gemeinde die von ihm für sie gesammelten Spenden zu übergeben.
Hier harrten aber seiner große Unannehmlichkeiten. Gleich nach sei-
ner Ankunft in Jerusalem wurde Paulus von seinen Freunden ge-
warnt, man sei in der Stadt gegen ihn aufs äußerste wegen der Ge-
rüchte aufgebracht, er hätte nicht nur die Heiden, sondern auch die
Juden der Diaspora „gelehrt, von Moses abzufallen, und gesagt, sie
sollten ihre Kinder nicht beschneiden und das Gesetz nicht befol-
gen“1). Die Freunde rieten ihm, zusammen mit einigen Frommen,
die ein Gelübde der Reinigung getan hatten, in den Tempel zu gehen
und dort das übliche Opfer darzubringen, damit sich alle überzeuge
ten, daß er das Gesetz halte. Doch diese Vorsichtsmaßregel nützte
nichts. „Juden aus Asien“ (Kleinasien), die von den Predigten des
Paulus in der Diaspora gehört hatten, begannen, als sie ihn im Tem-
pel sahen, zu schreien: „Dies ist der Mensch, der alle? Menschen an
allen Enden lehret wider dies Volk, wider das Gesetz und widei^
diese Stätte (wider den Tempel)“. Das Volk geriet in Erregung. Man
stürzte sich auf Paulus und stieß ihn zum Tempel hinaus. Auf den,
Lärm hin eilte der Hauptmann der römischen Garnison herbei und
ließ Paulus, den er für einen falschen Propheten und Unruhestifter
!) Die hier wie auch unten in Anführungszeichen wiedergegebenen Sätze
sind der Erzählung der „Apostelgeschichte“ (Kap. 21—26) entnommen, in der bei
aller Tendenz der Darstellung der wahre Grund der Yolksempörung gegen Paulus
klar hervortritt. Unverhohlen erscheint hier auch die Verlegenheit des Apostels
selbst, der angesichts der Gefahr seinen Antinomismus zu mildern und mitunter
sogar in Abrede zu stellen bestrebt war. Die Schilderungen der Procuratoren und
Agrippas II. zeichnen sich in diesem Bericht durch besondere Präzision aus, so
daß seine geschichtliche Grundlage uns zweifellos erscheint.
555
Die Entstehung des Christentums
hielt, fesseln. Es war dies in den unruhigen Zeiten der Verwaltung
des Procurators Felix, als in Jerusalem die Sikarier ihr Unwesen trie-
ben, während verschiedene falsche Messiasse das Volk wider die Rö-
mer aufzuwiegeln suchten. Der Hauptmann, der die Ursache der im
Tempel gegen Paulus zum Ausbruch gekommenen Empörung in Er-
fahrung bringen wollte, führte den Verhafteten „in die Versamm-
lung der Hohepriester und des ganzen Synhedrion“, an dem sich
Sadduzäer wie Pharisäer beteiligten. Paulus erklärte, er sei „ein Pha-
risäer und eines Pharisäers Sohn“ und werde wegen seines Glaubens
an die von den Sadduzäern geleugnete Auferstehung der Toten an-
geklagt. Das war ein überaus geschicktes Verteidigungsmanöver: in-
dem Paulus seine Predigt von der wunderbaren Auferstehung Jesu
hinter das allgemeine, die Sadduzäer und Pharisäer entzweiende Dog-
ma der Totenauferstehung zurücktreten ließ, säte er Zwietracht un-
ter die Richter, die denn auch sofort miteinander in Streit gerieten.
Als der römische Hauptmann nun sah, daß er es nicht mit einer po-
litischen, sondern mit einer religiösen Bewegung zu tun habe, war
er bereit, Paulus dem Synhedrion zu überantworten; da jedoch die-
ser erklärte, er sei aus Tarsus gebürtig und besitze das „römische
Bürgerrecht“, ließ ihn der Hauptmann nach Caesarea zu dem Pro-
curator Felix bringen.
In Caesarea, das durch den kurz vorher anläßlich des Streites
um die Gleichberechtigung erfolgten Zusammenstoß zwischen Grie-
chen und Juden noch in Aufregung war, entbrannte um Paulus ein
heftiger Parteikampf. Der Hohepriester Chananja kam aus Jerusa-
lem und verlangte von Felix, daß Paulus vor ein Gericht gestellt
werde, denn, sagte er, wir kennen diesen Menschen als einen, „der
Aufruhr erregt unter allen Juden, die auf dem Erdboden leben, und
als den vornehmsten der Sekte der Nazarener“ (Jesu von Nazareth).
Paulus entgegnete, daß, obwohl er die Lehre, die sie eine Irrlehre
nennen, anerkenne, er doch ein gesetzestreuer Jude bleibe, der „al-
lem, was geschrieben stehe im Gesetze und in den Propheten, glaube“
und nur den auch von den gesetzestreuen Juden anerkannten Aufer-
stehungsglauben in den Vordergrund stelle. Felix begriff wohl, daß
dieser innere religiöse Streit die römische Gewalt nichts anging, be-
hielt aber Paulus dennoch in Gewahrsam, in der Hoffnung, von dem
Gefangenen für seine Befreiung Geld zu erpressen. Einmal beriefen
der Procurator und seine Gattin, die jüdische Prinzessin Drusilla,
556
§ 10U. Die Spaltung in Juden- und Heidenchristen
Paulus zu sich und fragten ihn voll Neugierde über die von ihm ge-
predigte sonderbare Lehre aus.
Bald darauf wurde Felix in seinem Amte von dem Procurator
Festus abgelöst. Der neue Machthaber unterzog den Gefangenen ei-
nem Verhör, bei dem Paulus behauptete, er hätte sich kein Verbre-
chen, weder gegen den römischen Kaiser noch gegen das jüdische Ge-
setz und den Tempel, zu Schulden kommen lassen. Auf die Frage, ob
er vor das Gericht in Jerusalem gestellt zu werden wünsche, erwi-
derte Paulus, er wolle, da er aus Tarsus gebürtig sei und das römi-
sche Bürgerrecht genieße, von dem Kaiser in Rom abgeurteilt wer-
den. In Caesarea traf Paulus auch mit dem nominellen judäischen
König Agrippa II. und mit dessen Schwester Berenike zusammen, die
als Gäste bei Festus weilten. Der Procurator erzählte seinen Gästen
von dem sonderbaren Häftling, den die Juden beschuldigten, daß er
„von irgendeinem verstorbenen Jesus“ wie von einem lebenden rede.
Agrippa bat nun, ihm Paulus vorzuführen, und als dieser erschienen
war, ersuchte ihn der König, alles, was er zu seiner Rechtfertigung
sagen könne, vorzubringen. Vor seinem hellenisierten Stammesgenos-
sen führte Paulus eine freiere Sprache: er gestand, daß er sich zu
dem Messias-Christus bekenne, der nach der Weissagung der alten
Propheten sterben und dann auf erstehen sollte, um Heiden wie Ju-
den zu erleuchten; doch ließ er es auch hierbei an der gebotenen
Vorsicht nicht fehlen, indem er erklärte, er werde von den Juden
nur um deswillen verfolgt, weil er „in alle Gegend des jüdischen
Landes und auch den Heiden verkündige, daß sie Buße täten und
sich bekehrten zu Gott“. Der Römer Festus, der den leidenschaftli-
chen Worterguß mitangehört hatte, nannte Paulus einen Rasenden.
Paulus bat jedoch Agrippa, seinerseits zu bestätigen, daß die alten
Propheten in der Tat das Erscheinen des Heilands geweissagt hätten.
Agrippa bestätigte nichts, sagte aber ironisch zu Paulus: „Es fehlt
nicht viel, du überredest mich, daß ich ein Christ würde.“ Für
Agrippa und Berenike bedeutete das Ganze nichts als einen unter-
haltenden Auftritt. Beide stimmten Festus zu, daß in der Agitation
des Paulus kein Verstoß gegen die römischen Gesetze liege, wobei
Agrippa noch hinzufügte, daß man den Gefangenen freigeben könnte,
wenn er nicht selbst als „römischer Bürger“ das Gericht des Kaisers
angerufen hätte. So ließ denn Festus den Apostel nach Rom bringen.
Die Entstehung des Christentums
Nach einer langwierigen Seereise, während der Paulus, infolge
der gefahrvollen Winterfahrt, in verschiedenen Häfen und auf den
Inseln längeren Aufenthalt nehmen mußte, traf er schließlich in
Rom ein (61 oder 62). Hier lebte er zwei Jahre lang unter Aufsicht der
römischen Behörden, was ihn jedoch nicht daran hinderte, mit den
dortigen christlichen Sektierern unter den Juden und den Heiden
in ständigem Verkehr zu stehen. Eine kleine Christengemeinde bil-
dete sich in Rom noch unter dem Kaiser Claudius; sie bestand aus
einigen Mitgliedern der dortigen jüdischen Kolonie und „gottver-
ehrenden“ Heiden und war vielleicht von dem obenerwähnten rätsel-
haften „Chrestus“ (§ 95) gegründet worden. Unter Nero (vom Jahre
54 ab) war die Zahl der Sektierer in stetem Anwachsen begriffen,
wie dies aus dem einige Jahre vor seiner Ankunft in Rom von Pau-
lus verfaßten Hirtenbrief zu ersehen ist: darin werden Namen vieler
„Gehilfen in Christo“ genannt, denen Paulus seinen brüderlichen
Gruß «entbietet (Priscilla, Aquila u,. a. „An die Römer“, Kap. 16).
In der römischen Gemeinde vermochten sich anscheinend die Juden-
christen mit den das Gesetz leugnenden Heidenchristen nicht zu ver-
tragen, und so mußte Paulus in seinem Brief die Gesetzeseiferer dar-
auf verweisen, daß mit dem Kommen des Christus-Messias die Thora
bereits aufgehoben und durch den Glauben an den Heiland Jesus er-
setzt sei. In diesem „Brief an die Römer“, dem hervorragendsten sei-
nem Stile und der Kraft seiner Argumentation nach, betont Paulus
besonders seine Sendung als eines Apostels der Heiden und gibt der
Hoffnung Ausdruck, daß er mit seinen römischen Gesinnungsgenos-
sen bald Zusammenkommen werde. Als er dann als Angeklagter nach
Rom kam, setzten seine Freunde zweifellos alle Hebel in Bewegung,
um ihn vor den römischen Behörden reinznwaschen und seine Be-
freiung zu erwirken. Sich in Rom aufhaltend, trieb Paulus seine
Propaganda weiter fort und verfaßte seine Hirtenbriefe an die Chri-
stengemeinden in Griechenland und Kleinasien. Dann aber verschwin-
det jede Spur des Apostels. Die eine Sage berichtet, er sei zur Ver-
breitung des Christentums aus Rom weiter gezogen und habe die
„Schranke des Abendlandes“, Spanien, erreicht. Andere vermuten da-
gegen, daß Paulus während des grausamen Christengemetzels, das
unter Nero nach dem berühmten Brand (64) in Rom stattgefunden
hatte, zugrunde gegangen sei. Wenn die chronographischen Berichte
§ 10U. Die Spaltung in Juden- und Heidenchristen
über das Gemetzel auf Wahrheit beruhen1), so hatten wahrschein-
lich auch die römischen Juden darunter zu leiden, da der rasende
Stadtmob damals wohl kaum einen Juden Christen von einem gesetzes-
treuen Juden zu unterscheiden vermochte.
Die Wirksamkeit des Apostels Paulus brach am Vorabend des
großen nationalen Krieges ab, den Judäa Rom erklärt hatte. Paulus,
der vom nationalen Judaismus abgefallen und Kosmopolit bis auf den
Grund seiner Seele war, konnte sich der Freiheitsbewegung in Ju-
däa gegenüber nicht anders als mit völliger Mißbilligung verhalten.
Ein Gegner jedes Kampfes gegen den Despotismus, der blinden Ge-
horsam der römischen Gewalt gegenüber verlangte („Jedermann sei
untertan der Obrigkeit, denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott“) * 2),
mußte er in dem heldenmütigen Kampfe der Juden gegen Rom nur
Eigensinn und „Meuterei“ erblicken. Nicht anders dachte darüber
auch die Christengemeinde zu Jerusalem: am Vorabend der Belage-
rung der von den Zeloten beherrschten Hauptstadt flohen die Christen
von dort nach der heidnischen Stadt Pella in Transjordanien, um
den Gefahren des Krieges zu entrinnen. Sie taten dies auf Grund
„göttlicher Weisung“, wie die Kirchenväter behaupten3), in Wahrheit
aber infolge des ihrer Lehre eigenen politischen Indifferentismus.
Sie verhielten sich gleichgültig nicht nur dem Schicksal des jüdischen
Staates, sondern auch dem der Nation gegenüber. Hatten sie doch
ihren Erlöser gerade zu einer Zeit gefunden, als die Nation voll Lei-
denschaft den ihren herbeisehnte.
* *
*
.!) Das fast einzige Zeugnis von diesem Ereignis findet sich in den ,,Annalen*‘
des Tacitus (XV, 44)> demzufolge Nero zur Entkräftung der ihm den Brand Roms
zur Last legenden Gerüchte „diejenigen, die ihrer schmählichen Taten wegen ver-
haßt waren und im Volke Christen genannt wurden, für schuldig erklärte und sie
den gesuchtesten Todesqualen preisgab“: sie wurden verbrannt, im Zirkus den wil-
den Tieren vorgeworfen u. dgl. Außer Tacitus streift diese Vorgänge in flüchtiger
Weise auch Suetonius („Nero“, 16): „Strafen wurden über Christen verhängt, eine
Gruppe von Menschen, die einem schädlichen Aberglauben huldigten.“
2) Römer, i3, 1—7. Aus diesem Zusammenhänge ist zu ersehen, daß diese
Sentenz indirekt gegen die Aufrührer in Judäa, die Zeloten, gerichtet war. Über
die Stellung zur Sklaverei s. An die Epbeser, 6, 5 und I. Timotheus, 6, if.:
„Die Knechte sollen ihre Herren aller Ehren wert halten“ usw.
3) Eusebius, Kirchengeschichte, III, 5, 2—3.
559
Die Entstehung des Christentums
Am Vorabend der Agonie Judäas vernahm das aufgewühlte Volk
drei Losungsrufe. Die Zeloten riefen ihm zu: „Wappne dich mit
dem Schwerte, um den Staat zu erretten!“ Die Pharisäer sagten:
„Bewaffne dich geistig, um die Nation auch nach dem Untergange
des Staates retten zu können!“ Die Christen aber sagten: „Entwaffne
dich, laß sowohl das Schwert des Zeloten wie den geistigen Schild des
Pharisäers fahren, denn es gilt weder um den Staat noch um die
Nation zu kämpfen, sondern einzig und allein um die religiöse Er-
lösung jeder einzelnen Seele.“ Mitten in der schwersten Krise der
jüdischen Nation erklang dieser Schlachtruf des extremsten Indi-
vidualismus. Die persönliche, mystische Religiosität trat gegen die
nationale, geschichtliche Religiosität auf; die Aussöhnung mit der
politischen Unterjochung und der Verzicht auf die Verteidigung
der eigenen Freiheit wurden dem lebendigen Prinzip des Kampfes
um die Freiheit und Gerechtigkeit entgegengesetzt. Im Grunde ge-
nommen handelte es sich um einen tragischen Konflikt zweier Indivi-
dualismen: des Individualismus der Einzelpersönlichkeit und desjeni-
gen der Kollektivpersönlichkeit. War die Einzelpersönlichkeit berech-
tigt, für sich Gewissensfreiheit ohne Rücksichtnahme auf das nationale
Kollektivganze, dessen Bestandteil sie doch bildete, zu verlangen, so war
auch dieses geschichtlich gewordene Kollektivganze zum mindesten
ebenso berechtigt, seinen Anteil an ungehemmter, eigenartiger, vom
Druck ihm fremder kultureller Kollektiveinheiten freier Entwick-
lung zu fordern. Zu derselben Zeit, als der Verkünder des per-
sönlichen Glaubens, Jesus, am Kreuze verblutete und seine Beken-
ner unter Nero ausgerottet wurden, bluteten an Tausenden von rö-
mischen Kreuzen in Jerusalem und Galiläa die zu Tode gemarterten
Kämpfer um die Freiheit Judäas, die Zeloten. Der Todesschrei des
gekreuzigten „Heilands“ der menschlichen Seele ertönte mitten im
Stöhnen der zerfleischten Nation und angesichts der Kreuzesqualen
ihrer heldenhaften Söhne, der Heilande der Volksseele, der Seele
einer lebendigen und zum Leben entschlossenen Nation. Wessen Kreuz
soll nun heiliger sein, wessen Heldentat ist eher durch die Glorie
geistigen Heroismus verklärt? Wer will entscheiden, wo mehr Hel-
denmut an den Tag gelegt wurde — auf Golgatha oder an den
Mauern des belagerten Jerusalem, das von den das Golgathakreuz
Vergötternden im Augenblick der Gefahr im Stich gelassen wurde?
Zwischen dem Individuellen (dem Menschen) und dem Universa-
56o
§ 10U. Die Spaltung in Juden- und Heidenchristen
len (der Menschheit) steht das Nationale, d. i. das Kollektiv-Indivi-
duelle. Diese Zwischenstufe wurde von dem ursprünglichen Christen-
tum ganz außer acht gelassen, und so übersprang es ein von Lebens-
kräften strotzendes Volk, das mit Selbstverleugnung für sein Recht
auf freie Entfaltung kämpfte. Im Augenblick der größten Anspan-
nung der zentripetalen Kräfte {zur Nation hin) im Judentum ent-
fachte das Christentum eine ungeheure zentrifugale Kraft (von der
Nation weg). Abgesehen von einer kleinen Schar, versagte das jüdi-
sche Volk der neuen Lehre die Gefolgschaft und es mußte einer
Lehre die Gefolgschaft versagen, die es dazu aufrief, nationalen
Selbstmord an sich zu begehen, sich und seine tausendjährige Kultur
im Ozean der Völker aufzulösen. Solange die Kräfte reichten, kämpfte
die jüdische Nation heldenmütig für ihre politische Freiheit; im
ungleichen Kampfe unterlegen, setzte sie auf dem Wege der inneren
Zucht und vermittels passiver Resistenz ihr Ringen um die Erhaltung
der geistigen Einheit unentwegt fort. Und auch später noch mußte
sich der Judaismus, der eine nationale Religion mit einer universa-
listischen Potenz blieb, diesem Ziele anpassen.
Ist es aber dem Christentum gelungen, diese Potenz zu verwirk-
lichen? — Nun, sobald es auf gehört hatte, eine verfolgte Sektenlehre
zu sein und die Stellung einer Staatsreligion des römischen Reiches
(unter Konstantin dem Großen) erlangte, wurde es in viel höherem
Maße das Werkzeug einer Eroberungspolitik, als der Judaismus ein
Werkzeug der nationalen Selbstverteidigung war. Es zersplitterte sich
in eine Fülle von Staats- und Nationalkirchen, die im Laufe der fol-
genden Jahrhunderte in der Geschichte des Judentums ihre blutigen
Spuren hinterlassen haben . . . Eine wahrhaft universelle Religion
wird aber erst „am Ende der Tage“, von dem die israelitisch-jüdi-
schen Propheten geträumt hatten, möglich werden, in jenem idealen
Zeitalter, da „die Wölfe mit den Lämmern weiden werden“, da es
keine Völker-Wölfe und Volker-Schafe mehr geben wird, da die Not-
wendigkeit, die Religion zu einem Werkzeug der Selbstverteidigung
gegen den religiösen und nationalen Druck zu machen, verschwinden
und das Ideal der freien Persönlichkeit innerhalb der freien Nation,
im Bunde gleicher, freier und brüderlicher Nationen — in der fried-
vollen Menschheit — erreicht sein wird.
Ende des zweiten Bandes
36 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd.II
56i
Ergänzungen und Exkurse
Note 1: Zur Quellenkunde und Methodologie
Unter den Quellen zur Geschichte des „zweiten Judäa“ oder der jü-
disch-hellenisch-römischen Epoche nehmen die Bücher unseres alten Ge-
schichtsschreibers Josephus Flavius dieselbe zentrale Stellung ein, die die
Bibel unter den Geschichtsquellen der vorhergehenden, „ältesten“ Epoche
innehat1). Es ist dies die Hauptquelle, hinter der alle übrigen Denkmäler
jener Epoche an Bedeutung zurücktreten. Diese Parallelen sind übrigens
sehr spärlich. Die dieser Periode entstammenden epigraphischen Daten
sind noch dürftiger, als die aus der vorhergehenden Epoche stammenden.
Für die „biblische“ Geschichte besitzen wir wenigstens die, wenn auch un-
zulänglichen, Parallelen der assyrischen und ägyptischen Inschriften; für
die jüdisch-hellenische Epoche haben wir aber nur die Aufschriften auf
den hasmonäischen ünd herodianischen Münzen aus Judäa und einige
wenige Papyri und Grabinschriften aus der Diaspora* 2). Was sich aber
aus dem hebräischen und griechischen Schrifttum dieser Epoche erhalten
hat, macht es möglich, die Darstellung des Josephus nur in einigen ihrer
Teile zu ergänzen und zu überprüfen, da dieses Schrifttum an geschicht-
lichem Stoffe recht arm ist.
Schriftliche Parallelen zu den geschichtlichen Büchern des Josephus
*) Flavii Josephi Opera graece et latine ed. Oberthür. Tom. I—III, Lipsiae,
1782—1785. Die neueste kritische Textausgabe von Niese, 7 Bände mit Index, Ber-
lin, 1885—1895. Deutsche Übersetzungen von: Martin, Altertümer (i852, 3. Aufl.
1892); Clementz, Altertümer (1900); Gfrörer, Jüd. Krieg (i836); Paret, Jüd.
Krieg und Gegen Apion (i856). Eine vollständige kritisch bearbeitete französi-
sche Übersetzung: Oeuvres completes de Flavius Josöphe, herausgegeben von T.
Reinach (bis 1924 sind 4 Bände erschienen, die Ausgabe wird fortgesetzt). In
hebräischer Sprache liegt eine neue wissenschaftliche Übersetzung des Jüd. Krie-
ges von Simchoni vor (Warschau, 1924).
2) Über die Münzen: Graetz, Geschichte III, Note 3o (ed. 1888); Schürer,
Gesch. d. jüd. Volkes, B. I, Beilage 4 (1901); Klausner, Bi’jeme baith scheni,
Berlin, 1923. — Papyri und Inschriften: Mitteis-Wilcken, Grundzüge und Chre-
stomathie der Papyruskunde, Histor. Teil, B. I—II, Berlin, 1902 (die wenigen
in Betracht kommenden Papyri in B. II, Nrn. 54—02 u. 16—18); Schürer,
1. c. III, § 3i (ausführlich über die Inschriften aus der Diaspora in der 4- Aufl.
1909, S. 6-70).
565
Anhang
sind in den folgenden Gruppen der damaligen literarischen Erzeugnisse
verstreut: i. in den Apokryphen und Pseudepigraphen, 2. in den Wer-
ken Philos von Alexandrien, 3. in Bruchstücken aus den Werken grie-
chischer und römischer Schriftsteller, 4- im Talmud, 5. in den Evangelien
und in der Apostelgeschichte. Betrachten wir nun des näheren die Be-
deutsamkeit einer jeden dieser Quellen für sich.
Aus der apokryphischen Literatur1) sind der Historiographie nur zwei
„Makkabäerbücher“ zuzurechnen, die oben im Text (§§ 37 und 39) bereits
kurz charakterisiert worden sind. Diese zwei Urquellen sind für die Ge-
schichte der Hasmonäererhebung und der Freiheitskriege bis zur Wahl
des Fürsten Simon des Hasmonäers überaus wichtig; aus ihnen scheint
auch Josephus Flavius seine Nachrichten geschöpft zu haben, und so ge-
winnen wir durch sie die Möglichkeit einer Konfrontierung und Über-
prüfung. Dagegen bietet die ganze übrige, aus religiösen und moralischen
Unterweisungen oder mystischen Visionen bestehende Literatur der Apo-
kryphen und Pseudepigraphen nur für die Erforschung der Lebensweise
und der geistigen Strömungen jener Epoche Stoff, nicht aber für die Ge-
schichte des Volkes im weiteren Sinne.
Von den zahlreichen Werken des Philo von Alexandrien kommen für
die soziale Geschichte nur zwei kurzgefaßte Abhandlungen: „Gegen Flac-
cus“ und „Gesandtschaft an Ga jus“ in Betracht, in denen die alexandrini-
sche Judenhetze vom Jahre 38 und die Erlebnisse der Gesandtschaft an
Caligula, an der der Verfasser selbst teilgenommen hatte, geschildert wer-
den. Über diese Begebenheiten wie auch über die bürgerrechtlichen Ver-
hältnisse der ägyptischen Juden unter römischer Herrschaft überhaupt
geben uns die genannten zwei Bücher des Philo überaus wertvolle Aus-
kunft; dagegen haben alle seine sonstigen Werke nur dogmatischen Cha-
rakter. Noch ärmer an historischen Daten sind die erhaltengebliebenen
Bruchstücke des jüdisch-hellenistischen Schrifttums der vor-philonischen
Zeit 2).
Sehr dürftig ist auch der geschichtliche Stoff, den man den Werken
der griechischen und römischen Schriftsteller jener Zeit entnehmen kann.
Kurze Exzerpte aus den erhaltengebliebenen geschichtlichen Büchern des
Polybius, des Zeitgenossen des Antiochus Epiphanes, ferner aus den Bü-
chern des Strabo und des Diodorus von Sizilien, der Zeitgenossen des
Julius Caesar und des Augustus, schließlich — aus den Reden des Cicero
und der späteren römischen Geschichtsschreiber Tacitus und Suetonius
— dies ist beinahe alles, was uns die antike Literatur über die Juden jener
!) Die besten Ausgaben: Kautzsch, Die Apokryphen und Pseudepigraphen des
Alten Testaments, B. I—II, 1900; Charles, The Apocrypha and Pseudepigrapha of
the Old Testament, vol. I—II, 1910—1913.
2) Diese Bruchstücke sind gesammelt und untersucht in dem Buche von Freu-
denthal, Alexander Polyhistor und die von ihm erhaltenen Reste der judäischen
und samaritanischen Geschichtswerke (Hellenistische Studien, Breslau, 1875). Hier-
über s. Schürer, III, § 33.
566
Anhang
Zeit bietet1). Bruchstücke aus den nicht erhaltengebliebenen griechischen
Büchern, vornehmlich aus judenfeindlichen, hat uns Josephus Flavius in
seinem Traktat „Gegen Apion“ überliefert. Was er sonst in seinen ge-
schichtlichen Büchern aus anderen Schriftstellern anführt, ist nicht immer
aus dem Zusammenhang seiner Darstellung herauszulösen, da er nur sel-
ten seine Quelle ausdrücklich nennt.
In der talmudischen Literatur hat sich nur ein kurzgefaßter geschicht-
licher Kalender „Megillath Taanith“ erhalten, der die alljährlichen Ge-
denktage aufzählt, die anläßlich der wichtigsten Ereignisse der Hasmonäer-
und der ihr zunächstliegenden Epoche festgesetzt worden sind. Der über-
aus dunkle Text dieses Kalenders wurde später von einem der Talmudi-
sten mit einem Kommentar versehen, jedoch fällt es schwer, festzustellen,
inwiefern dieser Kommentar zutreffend ist. Was aber das sonstige tal-
mudische Schrifttum betrifft, so findet sich allerdings in der Mischna,
der Gemara und in verschiedenen Midraschim eine Fülle von Überliefe-
rungen aus den altverklungenen Zeiten des „zweiten Tempels“, doch ist
as überaus schwer, den geschichtlichen Kern darin aus der Umhüllung
von Legenden und didaktischen Erzählungen, in denen die verwischten
Spuren der vergangenen Epoche mit den Farben der späteren Zeit übcr-
tüncht erscheinen, herauszuschälen* 2). Ihren Wert behalten nur jene Le-
genden, die mit den Angaben des Josephus Flavius übereinstimmen.
Überaus wichtigen Stoff für die Geschichte Judäas im ersten christ-
lichen Jahrhundert bieten die Bücher der synoptischen Evangelisten, die
.echten Teile der Briefe des Apostels Paulus und die Apostelgeschichte,
doch kann dieser Stoff nur auf dem Wege einer sorgfältigen Kritik, nach
Beseitigung alles Sagenhaften und Tendenziösen in diesen Büchern des
„Neuen Testaments“, gewonnen werden.
Dem modernen Geschichtsschreiber bleibt somit nichts anderes übrig,
als die Hauptquelle, die Schriften des Josephus Flavius, vermittels einer
inneren Analyse ihres Inhalts und einer Konfrontierung ihrer einzelnen
Teile mit den erwähnten Parallelquellen zu verarbeiten. Überdies bieten
die Texte der Bücher des Josephus selbst oft die Möglichkeit einer in-
neren Vergleichung, da die Geschichte der Zeit von der Erhebung der
Hasmonäer gegen die Griechen bis zur letzten Volkserhebung gegen die
Römer von dem Verfasser parallel in zwei zu verschiedener Zeit von ihm
*) Alle diese Exzerpte sind gesammelt in dem Buche von T. Reinach, Textes
d’auteurs grecs et romains relatifs au judaisme. Paris, 1895. S. Schürer, I,
106—m.
2) Bis jetzt fehlen uns geschichtliche, aus der Literatur des Talmud und der
Midraschim exzerpierte Regesten, die man aus den Quellen selbst heraussuchen
muß. Als Hilfswerke kommen in Betracht die Arbeiten von: Zunz, Gottesdienstliche
Vorträge der Juden, i832; Derenbourg, Essai sur l’histoire de la Palestine d’apräs
les Talmuds etc., Paris, 1867; Graetz, Geschichte der Juden, B. III. „Megillath
Taanith“ in einer neuen Ausgabe mit Lesarten nach den Handschriften — von
Neubauer, Mediaeval Jewish Ghronicles, Oxford, i8g5. Vgl. Kahane, Safruth
ha’historia, Warschau, 1922.
Anhang
verfaßten Werken dargestellt ist: im „Jüdischen Kriege“ und in den „Jü-
discher. Altertümern“ (von Buch XI bis zum Schluß). Darüber hinaus
bieten die zwei kleineren Werke des Josephus, „Gegen Apion“ und seine
Selbstbiographie, manche faktische Ergänzungen zu seinen großen Ge-
schichtswerken. Mit der kritischen Analyse der Werke des Josephus be-
schäftigten sich alle hier in Betracht kommenden jüdischen und christ-
lichen Geschichtsschreiber. Die ersteren, insbesondere Derenbourg und
Graetz, suchten die Angaben des Josephus an Hand der verstreuten tal-
mudischen Überlieferungen zu verifizieren, während die christlichen For-
scher (Niese, Schürer u. a.) sich vor allem in die Kritik der Texte ver-
tieften und deren Kollationierung mit anderen Quellen durchführten.
Bei allen den Werken des alten jüdischen Geschichtsschreibers anhaftenden
Mängeln (die Subjektivität in der Darstellung des letzten nationalen Krie-
ges, in dem er selbst eine überaus zweideutige Rolle spielte, wie auch die
Tatsache allein, daß die Bücher in Rom unter dem Schutze der Zerstörer
Judäas abgefaßt worden waren) sind ihre großen äußeren und inneren
Vorzüge durchaus anzuerkennen. Josephus ist es zu verdanken, daß durch
seine Wiedergabe vieler Ereignisse auf Grund alter, später verschollener,
geschichtlicher Bücher diese Ereignisse vor Vergessenheit bewahrt worden
sind. So hat er sich beispielsweise für seine sehr ausführliche Geschichte
der Regierung Herodes I. der uns nicht mehr erhaltengebliebenen Bücher
des Hofchronisten Nicolaus Damascenus bedient. Seinen Quellen gegen-
über verhielt er sich oft durchaus kritisch, insofern er selbst eine richtige
Auffassung von der einen oder der anderen geschichtlichen Konstellation
besaß. Ein besonderes Verdienst des Josephus bildet überdies noch der
Umstand, daß er in seinen Büchern viele offizielle Urkunden aus den
letzten zwei Jahrhunderten vor der christlichen Ära aufbewahrt hat: die
die jüdische Autonomie betreffenden Erlasse Antiochus III. (Ant. XII, 3)
sowie die des Julius Caesar, Antonius und Augustus (Ant. XIV, io und
XVI, 6). Die Echtheit dieser Urkunden wurde lange bezweifelt, doch ha-
ben dn neueren Forschungen die Grundlosigkeit dieser Zweifel, soweit sie
den eigentlichen Inhalt dieser Erlasse betrafen, klar erwiesen. Ohne die
Bücher des Josephus könnte man, kurz gesagt, eine Geschichte der vier
von Alexander dem Großen bis zur Zerstörung Judäas durch die Römer
verflossenen Jahrhunderte überhaupt nicht schreiben.
Bei einer solchen Dürftigkeit des geschichtlichen Stoffes muß der
moderne Geschichtsschreiber bei dessen Behandlung mit besonderer Be-
hutsamkeit Vorgehen, um die Einseitigkeit der Urquelle durch einseitige
Beleuchtung nicht noch mehr zu verstärken. Und doch wird keine andere
Periode der jüdischen Geschichte mit größerer Voreingenommenheit be-
handelt als gerade diese „Periode des zweiten Tempels“, wie der übliche
unwissenschaftliche Ausdruck lautet. Besonders machen sich dabei die
christlichen Geschichtsschreiber, Theologen wie Freidenkende, der Vorein-
genommenheit schuldig. Ihnen erscheint diese ganze Periode nur als eine
Zwischenpause, eine Zeit des Überganges vom Judentum zum Christen-
tum, in der das „Alte Testament“ immer mehr veraltet und entartet, um
568
Anhang
den Platz für das „Neue Testament“ frei zu machen. Die deutschen Ge-
lehrten, die sich mehr als die anderen mit der Erforschung dieser Periode
abgeben, nennen deren Geschichte eine „Zeitgeschichte“, d. i. die Geschichte
des Zeitalters Christi, und so betitelte denn der beste Fachmann auf die-
sem Gebiete, Schürer, sein großangelegtes dreibändiges Werk über die jü-
disch-hellenisch-römische Epoche: „Geschichte des jüdischen Volkes im
Zeitalter Jesu Christi (4. Aufl. Lpz. 1901—1909). Es sei noch bemerkt,
daß von allen christlichen Theologen dieser im Jahre 1910 verstorbene
Göttinger Professor als der gewissenhafteste und verhältnismäßig objek-
tivste und vielseitigste anzusprechen ist. Sein Werk bietet die ausführ-
lichste Analyse der Quellen dieser Epoche, die sorgfältigste kritische Dar-
stellung der Ereignisse in Judäa und in der Diaspora sowie eine Wieder-
gabe der Ereignisse der geistigen Entwicklung und des literarischen Schaf-
fens. Und doch gibt die theologische Betrachtungsweise der Tatsachen
seinem Werke, insbesondere jenen Teilen, in denen die geistig-kulturelle
Geschichte des Judentums zur Sprache kommt, eine spezifische Färbung.
So gelangt z. B. Schürer bei der Darstellung des jüdischen „Lebens unter
dem Gesetz“ (S 28, im zweiten Bande) zu dem Schluß, daß das Leben
des Juden unter dem Joche der zahllosen religiösen Gesetze und Bräuche
eine „stete Qual“, gleichsam ein Widersinn war, ohne den inneren Sinn
dieser ganzen schwerlastenden Zucht zu begreifen, nämlich das Ziel der
Erhaltung der Nation unter Bedingungen, unter denen andere Nationen
zugrunde gingen.
Mit scharfer, in wissenschaftlichen Werken ganz und gar unange-
brachter Mißbilligung stehen der Entwicklung des Judaismus und der
vorchristlichen Periode die nicht-jüdischen weltlichen Geschichtsschrei-
ber: Mommsen, Renan, Wellhausen und neuerdings Ed. Meyer gegen-
über. So würdigt Mommsen in dem Kapitel über Judäa im fünften Bande
seiner „Römischen Geschichte“ die jüdische nationale Bewegung nach der
Einnahme Jerusalems durch Pompe jus vom Standpunkte eines römischen
Staatsmannes. Die heldenmütige Erhebung Judäas unter Nero und der
letzte nationale Krieg scheinen ihm eine sinnlose Meuterei gegen die ge-
setzliche römische Macht gewesen zu sein. Renan, der der jüdischen Psy-
che, was ihren religiösen Gehalt anbelangt, viel eher Verständnis entge-
genzubringen vermochte, wollte ihren nationalen Zielen nicht gerecht
werden. In den letzten zwei Bänden seiner „Geschichte des Volkes Israel“
schildert er den Entwicklungsgang des Judentums von der persischen bis
zur römischen Herrschaft als einen Prozeß unaufhaltsamen Niedergan-
ges. Die Freiheitskriege der Hasmonäer sind ihm eine Rebellion von „Fa-
natikern“, denen es besser bekommen wäre, wenn sie sich mit der Herr-
schaft der syrischen Griechen abgefunden hätten, und die griechisch-römi-
schen Reformen Herodes I., die die Juden mit Entrüstung erfüllten,
scheinen ihm ein anstrebenswertes Ideal gewesen zu sein. Alles National-
Politische im Judentum ruft den Protest des Historikers wach, der sich
ein für allemal dafür entschieden hat, daß ein Volk, das in der Lehre der
Propheten den höchsten geistigen Gipfel erklommen hatte und zur Vor-
56g
Anhang
bereitung des Christentums berufen war, nach der Erfüllung dieser Mis-
sion als eine Nation vom Schauplatz verschwinden sollte und nur als
eine religiöse Gemeinde, als der Gärstoff des Monotheismus in der heid-
nischen Welt fortleben dürfte.
Derselbe Yorwurf kann auch dem wissenschaftlich mehr bedächtigen
Wellhausen nicht erspart bleiben. In seiner gedrängten „Israelitischen und
jüdischen Geschichte“ wird ein Bild entrollt, wie das alte Israel den
Berg hinaufsteigt und wie Juda nach dem babylonischen Exil den Berg
hinunterrutscht, bis es schließlich gleichsam in einen dunklen Abgrund
herabstürzt, just in dem Augenblick, als am Horizont der Geschichte die
Sonne des Christentums auf geht. Was die neuesten deutschen, das Juden-
tum der griechisch-römischen Epoche schildernden Geschichtsschreiber an-
belangt, so scheint bei ihnen gleichsam der Judenhaß des alten Geschichts-
schreibers Tacitus noch nachzuklingen. Der aller jüngste Historiker des
Christentums, Ed. Meyer, der der Zeitgeschichte nachgehend, einen gan-
zen Band dem Judentume gewidmet hat (den zweiten Band des Werkes
„Ursprung und Anfänge des Christentums“, Berlin, 1921), führt zustim-
mend die gehässigen Ausfälle des Tacitus gegen die „die Götter verach-
tende“ Nation an (II, 277, 3o4). In diesem Werke, in dem neben will-
kürlichen Hypothesen überaus glückliche Lösungen umstrittener Fragen
anzutreffen sind, läßt sich der verdienstvolle Verfasser der „Geschichte
des Altertums“ manchmal zu vulgären Charakteristiken des Judentums
ganz nach antisemitischer Art hinreißen.
So kam mit der neuesten wissenschaftlichen Literatur eine sonder-
bare oppositionelle Historiographie zur Entstehung, in der die moder-
nen Geschichtsschreiber gegen einen nationalen Entwicklungsprozeß im
Judentum polemisieren, der sich zwei Jahrtausende früher abgespielt hat.
Nur die freidenkenden jüdischen Geschichtsschreiber, die diesen Prozeß
begreifen oder unmittelbar nacherleben können, vermochten es, ihn, un-
abhängig von der religiösen Dogmatik, mehr oder weniger zutreffend
zu würdigen. In dem dritten Bande seiner „Geschichte“ (in der vervoll-
ständigten Ausgabe vom Jahre 1888) stellt Graetz die Geschichte seines
Volkes in der vorchristlichen Epoche mit viel mehr Objektivität als alle
nicht jüdischen Forscher dar, und verhält sich sogar dem ursprünglichen
Christentum gegenüber viel unparteiischer als die freidenkenden christ-
lichen Historiker gegenüber dem damaligen Judentum. In der aller jüng-
sten Zeit legte eine solche Objektivität auch der jüdische Historiker Jo-
seph Klausner an den Tag in seinem Werke „Jeschu von Nazareth“
(Jeschu ha’nozri, Jerusalem, 1922) sowie in den drei Bänden seiner
„Vorlesungen über jüdische Geschichte“ (Historia Israelith, Jerusalem,
1924), die die Epoche der Hasmonäer, der Herodianer und des Falles
Judäas umfassen.
Neben das umfangreiche geschichtskritische Werk des christlichen Theo-
logen Schürer tritt nunmehr ein ergänzendes jüdisches Seitenstück. Die
zweibändige, zu Beginn des Weltkrieges erschienene Untersuchung des
Pariser Rechtsgelehrten Jean Juster: Les juifs dans l’empire Romain,
570
Anhang
Paris, 1914, bringt unter Aufbietung einer hervorragenden Gelehrsam-
keit die rechtliche und sozial-wirtschaftliche Lage der Juden im römi-
schen Imperium zur Darstellung, also gerade dasjenige, was von den ge-
schichtsschreibenden Theologen vernachlässigt worden war. Das Werk Ju-
sters hat übrigens eine noch viel größere Bedeutung für die Geschichte
der späteren römisch-byzantinischen Epoche. Infolge des Todes des Ver-
fassers (er ist im Weltkrieg gefallen) blieb sein Werk unvollendet.
Und doch ist die jüdische Geschichtswissenschaft auch den das alte
Judäa behandelnden christlichen Geschichtsschreibern zu Danke verpflich-
tet: nach den Quellen ihrer Religion eifrig forschend, untersuchten sie
in aller Ausführlichkeit die ganze vorchristliche Periode und gewannen
so viele überaus wertvolle Ergebnisse. (Neben den genannten allgemeinen
Werken liegt eine Fülle von Monographien vor, die zum Teil unten in
der Bibliographie vermerkt sind.) Der soziologisch orientierte Ge-
schichtsschreiber vermag unter Beiseitelassung der Tendenzen dieser For-
scher und bei aller kritischen Zurückhaltung sich ihre Forschungsergeb-
nisse dennoch zunutze zu machen.
Note 2: Sadduzäer und Pharisäer
(zu den §§ 24, 35, 59, 91, 92)
Aus dem Wirrsal der Ansichten über das Wesen des Parteikampfes
zwischen Sadduzäern und Pharisäern vermag uns nur eine Fragestellung
herauszuhelfen, die auf das Faktische zugespitzt ist: wann kam dieser
Kampf zuerst tatsächlich zum Ausbruch und worin äußerte er sich? Un-
sere Urquellen erteilen auf diese Frage eine ganz bestimmte Antwort:
der erste Zusammenstoß spielte sich unter dem hasmonäischen Fürsten
Jochanan-Hyrkanus ab, der als erster eine Eroberungspolitik zu treiben
begann, während die nachfolgenden Zusammenstöße die ganze Regierungs-
zeit des Alexander-Jannäus ausfüllten, der diese Eroberungspolitik ge-
radezu zum Prinzip erhob. Auf diesem Boden eben vollzog sich der
Bruch des Jochanan-Hyrkanus mit den Pharisäern, die seiner Politik wi-
derstrebten, und sein Übergang zu den Sadduzäern, die seine Gesinnungs-
genossen waren. Das, was sich unter Jannäus bereits in den Formen des
Bürgerkrieges abspielte, war nur eine Fortsetzung des schon früher aus-
gebrochenen Parteikampfes. Nicht ohne Grund schiebt die talmudische
Legende (Kidduschin 66) in ihrer der Erzählung des Josephus Flavius
(Ant. XIII, 10, 5—7) parallelen Version die Schuld am ersten Zerwürf-
nis mit den Pharisäern dem Könige Jannäus zu: es ist nur natürlich,
daß sie den eindrucksvolleren Namen des sadduzäischen Königs, der den
Namen seines Vorgängers in den Schatten gestellt hatte, auf bewahrt hat.
Hierin tritt mit völliger Klarheit das politische Motiv schon in der Ent-
stehung der Parteien zutage: in den ersten fünfzig Jahren des unabhän-
gigen Judäa, unter jenen zwei hasmonäischen Herrschern, denen
allein eine lange Regierung beschieden war (i35—76, das eine
671
Anhang
Regierungsjahr Aristobulus I. mit inbegriffen), mußte in aller Schärfe
das Dilemma hervortreten: politische oder geistige Nation, das Prinzip
des Angriffs nach außen oder das der inneren Verteidigung, expansive
oder intensive Politik? . . .
In seiner Schilderung des Bürgerkrieges unter Alexander-Jannäus
(Ant. XIII, 12—15; Bel. I, 4) sucht Josephus Flavius die Rolle, die
dabei die Pharisäer spielten, zu vertuschen und rückt geflissentlich das
„Volk“ oder die gegen ihren König meuternden „Juden“ in den Vor-
dergrund. Dies findet vielleicht darin seine Erklärung, daß Josephus,
der sich selbst der Pharisäerpartei beizählte, es vermeiden wollte, sie in
den Augen der Römer, die den Juden ihr aufrührerisches, revolutionäres
Wesen nicht verzeihen konnten, als eine Revolutionspartei bloßzustellen.
Der Historiker vermochte es aber selbst nicht zu verhehlen, daß der ganze
Bürgerkrieg unter Jannäus eine Folge des Widerstreites zwischen Phari-
säern und Sadduzäern gewesen war. Am Schlüsse seiner Schilderung führt
er das Testament des sterbenden Königs an, demzufolge die Pharisäer
ans Ruder berufen werden sollten, da das Volk ihnen Vertrauen entge-
genbringe und auch er, der König selbst, wegen seines feindseligen Ver-
haltens zu den Pharisäern, die ihm das Volk abspenstig gemacht hätten,
zu Schaden gekommen sei (Ant. XIII, i5, 5). Noch deutlicher tritt die
politische Rolle der Parteien bei der Schilderung der pharisäischen Re-
aktion unter der Königin Salome-Alexandra zutage, bei welcher Gele-
genheit Josephus das Geheimnis, das er in den vorangehenden Kapiteln
zu verschleiern suchte, selbst verrät (ibid. Kap. 16 u. Bell. I, 5).
Der Umstand, daß Josephus die „drei jüdischen Sekten“ (atpeosts)
zuerst mitten in seiner Beschreibung der Kriege des Hohepriesters Jo-
nathan erwähnt (Ant. XIII, 5, 9), tut unserer Theorie gar keinen Ab-
bruch. An dieser Stelle, wie an vielen anderen, behandelt er die Phari-
säer, Sadduzäer und Essäer als „Sekten“, Schulen oder philosophische
Weltanschauungen, die in ihren Ansichten über die Fragen der Willens-
freiheit und der Vorausbestimmung, der Unsterblichkeit der Seele und
der Auslegung der Mosesgesetze voneinander abweichen; derartige Cha-
rakteristiken sind in verschiedenen Abschnitten seiner Bücher und na-
mentlich in denen verstreut, die sich auf die spätere Zeit beziehen (neben
den oben hervorgehobenen Stellen s. noch Ant. XVIII, 1, 2—5; Bell. II,
8, 2—14; beide Stellen beziehen sich auf die Zeit des römischen „Cen-
sus“). Das Aufkeimen eines /deenzwiespaltes, der die Pharisäer und
Sadduzäer auf dem Gebiete der nationalen Politik entzweite, kann somit
schon in die Zeit der ersten Schöpfer des unabhängigen Judäa, des Jo-
nathan und Simon, verlegt werden, als sich das System des weltlichen
Staates in seinen allgemeinen Umrissen bereits abzuheben begann, je-
nes System, das zwei Jahrzehnte später, unter Jochanan-Hyrkanus, feste
Formen annahm. Nach dem Falle des hasmonäischen Königtums, zur
Zeit der römischen Herrschaft, mußte sich aber notgedrungen das gei-
stige Element in den Parteistreitigkeiten auf Kosten des politischen ver-
stärken, worauf wir auch im Texte hingewiesen haben (§§ 59, 91, 92).
572
Anhang
Josephus suchte jedoch, den Römern zu Gefallen, die politischen Mei-
nungsverschiedenheiten geflissentlich zu verschleiern, und abstrakte, philo-
sophische Streitpunkte, die er nach griechischer Art zustutzte, zu beto-
nen; daraus erklärt sich auch sein Interesse für die apolitische Sekte der
Essäer, die er viel ausführlicher als die Sadduzäer und Pharisäer behan-
delt. Wir wollen jedoch eher jenen Erzählungen des alten politiktreiben-
den Geschichtsschreibers Glauben schenken, in denen die kämpfenden Par-
teien uns handelnd entgegentreten, als seinen abstrakten Erörterungen der
Streitpunkte der „drei Philosophien“ (xpst<; cp(Xoaocptai). Handelnd tre-
ten aber, wie schon oben erwähnt, die Pharisäer und die Sadduzäer zur
Zeit der Aufrichtung des unabhängigen Judäa unter den Hasmonäern
auf. Die Sadduzäer gelangen zur Macht unter den kriegerischen Regenten
(Jochanan-Hyrkanus, Aristobulus I. Philhellenes, Alexander-Jannäus, Ari-
stobul II. und Antigonus II.), während das pharisäische Regime unter
den friedliebenden Regenten zur Geltung kommt (Salome-Alexandra,
Hyrkan I., später Agrippa I.).
Die in dem Widerstreit der Sadduzäer und Pharisäer zum Ausdruck
kommende Antinomie zwischen weltlichem und geistlichem Staate konnte
nur an jenem Wendepunkte der jüdischen Geschichte aktuell werden,
als Judäa nach vier Jahrhunderten politischer Abhängigkeit plötzlich seine
Unabhängigkeit erlangte. Der Sieg der Hasmonäer bildete eben den Aus-
gangspunkt eines inneren politischen Streites über das Gepräge des neuen
Judäa; doch wollen wir durchaus nicht in Abrede stellen, daß im Laufe
der Zeit dieser grundlegende Streit durch viele religiöse Meinungsver-
schiedenheiten eine Komplikation erfahren hat, insoweit religiöse und
nationale Fragen im Judaismus, wie ihn namentlich die Pharisäer auf-
faßten, stets ineinanderliefen. Hierbei nahm die erste Stelle der Streit
über die Kompetenzgrenzen der „mündlichen Lehre“ ein, d. i. über die
Verwandlung der Thoraverfassung in ein das Gesetz an das Lehen an-
passendes und es regulierendes biegsames Rüstzeug; hieraus entsprangen
die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Verbindlichkeit des einen
oder anderen Brauches sowie der Auslegung der bürgerlichen und so-
zialen Thoragesetze. Ungeklärt bleibt der Charakter des dogmatischen
Streites über das Leben nach dem Tode: es ist kaum anzunehmen, daß
die Sadduzäer das Dogma der Vergeltung im Jenseits gänzlich negierten,
doch steht es nach dem Talmud (Mischna Chelek im Trakt. Sanhedrin)
fest, daß sie das Wunder der Totenauferstehung („Techiath ha'metim“)
leugneten, mit anderen Worten, daß sie nicht die absolut feststehende
Unsterblichkeit der Seele, sondern nur die bedingt geltende Unsterblich-
keit des Leibes in Abrede stellten. Alle diese religiösen Meinungsverschie-
denheiten gewannen in dem Maße an Bedeutung, als der politische Streit
der beiden Parteien infolge des Niederganges und des Verfalls der jüdi-
schen Unabhängigkeit an Bedeutung einbüßte. (Diese Streitpunkte sind
eben in den späteren talmudischen Überlieferungen und in der Polemik
der Evangelien festgehalten worden, die aber nur die Anschauungsweise
der Epoche, in der diese Überlieferungen und Meinungsäußerungen nie-
Anhang
dergeschrieben worden sind, kennzeichnen). In der Epoche der Agonie
Judäas verkörperte sich die sadduzäische Idee der Staatlichkeit in dem
revolutionären Zelotismus, während der Pharisäismus entschlossen den
Weg der Nomokratie oder des Nomismus beschritt, jenen Weg, den der
Apostel Paulus zu durchkreuzen suchte.
Es wäre falsch zu sagen, daß die früheren Geschichtsschreiber das
politische Element des pharisäisch-sadduzäischen Widerstreites gänzlich
außer acht gelassen hätten. Es fand Beachtung sowohl bei Graetz (B. III,
Ausg. v. J. 1888, S. 83 f.) als auch bei Wellhausen (Pharisäer und Sad-
duzäer, 1874), weniger bei Schürer (B. II, § 26); doch verschwindet
dieses Element in ihrer Darstellung in der Unmenge der religiösen Streit-
punkte, so daß schließlich alles auf einen Widerstreit theologischer Schu-
len hinausläuft. Der Hauptgrund des großen Zwiespaltes: die scharfe,
durch den Übergang zur politischen Unabhängigkeit veranlaßte geschicht-
liche Wendung wird dabei entweder ganz außer acht gelassen oder gleich-
falls in ein religiöses Gewand gekleidet. Der Ansicht des neuesten Re-
präsentanten der alten theologischen Konzeption, Ed. Meyers, zufolge
sind die Pharisäer die direkten Nachfolger jener Ghassidäer, die nach
den ersten Siegen des Juda Makkabäus und der Wiederherstellung der
religiösen Freiheit von den den Kampf um die politische Unabhängig-
keit weiterführenden Hasmonäern abfielen, weil diese Unabhängigkeit ihnen
gar nicht erwünscht gewesen war; daher auch der Name der Partei:
„Peruschim“, d. h. Abgefallene, Sezessionisten (Ursprung des Christen-
tums, II, 2 83 f.). So erklärt er denn auch ausdrücklich, daß die Phari-
säer „eine theologische Schule, darum auch eine Rechtsschule, nicht aber
eine Partei der politischen Tat“ darstellten (309). Was aber die Sad-
duzäer betrifft, so sind sie die Altgläubigen, die Orthodoxen, die sich zu
den Pharisäern etwa so verhalten, wie die lutherische Orthodoxie zu den
Pietisten (S. 293). Auch der neue Erforscher des Sadduzäertums, R. Le-
szynski (Die Sadduzäer, Berlin, 1912), kehrt zu der traditionellen An-
sicht zurück, wonach die Sadduzäer die „Karäer des Altertums“ waren:
sie klammern sich krampfhaft an das Mosesgesetz und verwerfen die
pharisäischen Überlieferungen oder Auslegungen (die Bezeichnung „Pe-
ruschim“ erklärt der Verfasser gleichfalls nach alter Art: „Meforschim“,
Gesetzesinterpreten). Neu ist in seinen Untersuchungen nur der Versuch,
den Sadduzäern die Verfasserschaft eines bedeutenden Teils der Apokry-
phen und Pseudepigraphen zuzuschreiben, die man gewöhnlich als pha-
risäische oder essäische Produkte ansieht (Das Buch der Jubiläen, Die
Testamente der Patriarchen, Die Himmelfahrt Moses’ u. a.). — Somit
halten auch die neueren Geschichtsschreiber im allgemeinen an der al-
ten Ansicht fest, die das uranfängliche politische Motiv des Zwiespaltes
und die späteren religiösen Meinungsverschiedenheiten nicht auseinander-
zuhalten vermochte. Sogar der der Zeit nach letzte jüdische Geschichts-
schreiber Klausner kommt in seiner „Geschichte der Hasmonäer“ (der
zweite Band der erwähnten „Historia Israelith“, SS 19—21) auf die alte
Ansicht von den zwei Richtungen zurück, die sich von der älteren Par-
574
Anhang
tei der Chassidäer abgezweigt hätten: die der extremen Frömmigkeits-
eiferer, der Essäer, und der gemäßigt Frommen, der Pharisäer; die Sad-
duzäer aber bilden die ihnen gegenüberstehende und mit der älteren Helle-
nistenpartei genetisch zusammenhängende Opposition. Auch hierbei wur-
den also die ideologischen Begriffsbestimmungen unabhängig von dem
politischen Moment der Entstehung der zwei Parteien getroffen, wobei
ihnen eine Organisation ganz anderer Art, die Sekte der Essäer, zur
Seite gestellt wird, die weniger mit dem Beginn der jüdischen Unabhän-
gigkeit, als mit deren Ende oder richtiger mit dem Anfang dieses Endes
zusammenhängt (s. den folgenden Exkurs).
Note 3: Die Essäersekte
(zu den §§ 36, 5g, 92)
Es wäre schon lange an der Zeit, sich von der üblichen, auf der zu-
fälligen Stoffverteilung in den Büchern des Josephus sich gründenden
Ansicht zu befreien, als sei die Sekte der Essäer gleichzeitig mit den
Parteien der Pharisäer und Sadduzäer zur Entstehung gekommen. Über
die Entstehungszeit der einen oder der anderen Richtung gibt uns unser
alter Geschichtsschreiber eigentlich gar keine Auskunft; er spricht nur
in schematischer Weise an verschiedenen Stellen der „Altertümer“ und
des „Krieges“ von drei Richtungen im Judentum, von drei „Sekten“
oder von „philosophischen Schulen“, wie er sich ausdrückt. Es bedeutet
dies nichts als eine statische Klassifikation der Richtungen, die auf ihre
Dynamik, auf ihre Entwicklung im Laufe der zwei, in der jüdischen
Geschichte so kritischen Jahrhunderte gar keine Rücksicht nehmen will.
Bezeichnend ist es, daß von den drei Berichten, in denen alle diese Rich-
tungen gleichzeitig erwähnt werden, nur ein einziger, ganz kurzer Be-
richt in die Darstellung der Ereignisse in der Zeit der ersten Hasmonäer
eingeschoben ist (Ant. XIII, 5, 9), während die zwei ausführlicheren Be-
richte, in denen besonders die Essäer berücksichtigt werden, sich in bei-
den Büchern auf die Zeit der römischen Volkszählung und des Aufstan-
des des Juda Galiläus beziehen (Bell. II, 8; Ant. XVIII, 1). Dabei kenn-
zeichnet Josephus auch Juda Galiläus, den Vorläufer der Zelotenpartei,
als das Haupt einer „vierten philosophischen Schule“ neben den drei
früheren. Es ist also klar, daß wir es hier mit einem logischen, nicht aber
mit einem chronologischen Schema zu tun haben.
Der ganze Verlauf der Ereignisse legt uns die folgende Schlußfolge-
rung nahe: ebenso wie die Entstehung des Pharisäertums und Saddu-
zäertums mit dem Beginn der Unabhängigkeit Judäas unter den ersten
Hasmonäern in Zusammenhang stand, ebenso hängt die Entstehung des
Essäertums mit dem Ende dieser Unabhängigkeit oder vielmehr mit dem
Herannahen dieses Endes zusammen. Zwei politische Parteien begannen
den Streit um den Staatstypus, als dieser Staat eben errichtet ward und
575
Anhang
eine Expansionspolitik begonnen hatte; als er aber, vom Bürgerkriege
zerfleischt, sich dann seinem Verfalle zu nähern begann, trat eine apo-
litische Organisation der Enttäuschten, die jede Staatlichkeit überhaupt
verwarfen, auf den Plan: die Essäer. Im Zusammenhang mit welchem
geschichtlichen Ereignis ist nun das erste tatsächliche Hervortreten der
Essäer bezeugt? — Für ein solches „Ereignis“ kann gewiß nicht die
Weissagung irgendeines „Essäers Juda“ über die Ermordung des Prin-
zen Antigonus gehalten werden, wie uns Josephus in der Schilderung
der Regierung Aristobulus I. erzählt (Bell. I, 3, 5; Ant. XIII, n, 2).
Ein „Essäer“ und „ein Weissager, ein Heiliger, ein Wundertäter“ sind
für Josephus gar oft synonyme Begriffe, so daß hier ein einfacher, in
der Erzählung von einem „Wunder“ übrigens belangloser Anachronis-
mus vorliegen mag. Der Name eines Mannes von essäischer Gesinnung
wird aber im Zusammenhänge mit einer öffentlichen Handlung zuerst
in der Erzählung (Ant. XIV, 2, 1) von der Tat des mit dem „Chassid“
Chonia ha’meagel der talmudischen Überlieferung (Taanith, 19, 2 3) iden-
tischen heiligen Mannes Onias erwähnt, der während der Belagerung der
Anhänger des Aristobulus durch die Parteigänger des Hyrkanus in Je-
rusalem Gott angefleht hatte, keine der Parteien möge in dem bruder-
mörderischen Kriege den Sieg erringen, und deshalb den Tod erlitt (oben,
§ 3i). Chonia wird hierbei allerdings nicht als Essäer bezeichnet, doch
zeugt seine Kennzeichnung als „gerechter und Gott wohlgefälliger Mann“
bei Josephus und als „Chassid“ im Talmud, wo diese Bezeichnung des
öftern den Essäern beigelegt wird, sowie sein Verhalten zu den sich be-
fehdenden Parteien, daß er, wenn er auch kein Mitglied des Essäerordens
gewesen sein mochte, doch ganz von essäischen Stimmungen erfüllt
war. In jenem verhängnisvollen Augenblick der Geschichte der Hasmo-
näer, als der zweite Bürgerkrieg unter Hyrkanus und Aristobulus II.
den Untergang des unabhängigen Judäa bereits voraussehen ließ, mochte
diese, vielleicht noch während des ersten Bürgerkrieges unter Alexan-
der-Jannäus zuerst in manchen Geistern aufgekeimte Stimmung beson-
ders an Kraft gewonnen haben: die apolitische, individualistisch-mystisch
gefärbte Stimmung, die ein unmittelbares Ergebnis der an der neuen
Staatlichkeit erlebten Enttäuschung war. Diese Stimmung hatte nun die
Stiflung einer mönchsordenartigen Brüderschaft oder des Essäerordens iml
Gefolge, dessen „Wirksamkeit“ — wenn man so seine politisch-soziale Ta-
tenlosigkeit bezeichnen will — in den folgenden Epochen Herodes I. und
der Procuratoren zum Vorschein kam.
Unter Herodes halten die Essäer folgerichtig an dem Prinzip des
„Nichtwiderstehens dem Übel“ fest und bleiben infolgedessen auch ganz
und gar unbehelligt. Unter der Herrschaft der Römer, als ganz Judäa
von dem revolutionären Geiste ergriffen war, leben sie in Zurückgezogen-
heit in den an das Tote Meer angrenzenden Steppen. Dort eben lebte in
seiner Jugend Josephus Flavius, den Lebenswandel dieser Einsiedler be-
obachtend, und dort hatte sie am Vorabend des Falles von Jerusalem auch
der römische Offizier, der Schriftsteller Plinius der Ältere, gesehen; voll
576
Anhang
Verwunderung blickte er auf das Leben dieser „nur die Gesellschaft von
Palmen“ teilenden Einsiedler, die in ihre kleinen Kommunen „lebensmüde
Menschen“, Menschen, die die Stürme dieser tragischen Epoche flohen,
aufnahmen. Um diese Zeit zweigte sich von der essäischen Bewegung
bereits eine Seitenrichtung ab, das Christentum, das seinen Apolitismus
in aktiver Weise geltend machte, indem es sich mit seiner Predigt des
Himmelreiches und des religiösen Individualismus selbst mitten ins Le-
ben stürzte.
Note U: Der damascenische „Neue Bund“
Im Jahre 1910 veröffentlichte S. Schechter ein von ihm in der „Ge-
nisa“ von Kairo auf gefundenes altes hebräisches Manuskript, das ein im
Namen der „dem neuen Bunde im Lande von Damascus ßeigetretenen“
abgefaßtes Sendschreiben an das Volk enthält (Documents of Jewish
sectaries: Fragments of a Zadokite Work. Cambridge, 1910). Aus dem
fragmentarischen Text des Schreibens ist zu ersehen, daß es im Augen-
blick einer Krise in Judäa abgefaßt worden war, als irgendein „leicht-
sinniger Mensch“ (Isch ha’lazon) das Volk vom Wege der Wahrheit ab-
zulenken begann, die Gesetze übertrat und die Rechtschaffenen Verfol-
gungen aussetzte; diese Verfolgungen veranlaß ten viele, Judäa zu ver-
lassen und sich in Damaskus anzusiedeln, wo sie einen „Neuen Bund“
(Brith chadascha) gründeten. Der Bund setzte sich aus vier Gruppen zu-
sammen: aus Kohanim, Leviten, einfachen „Israeliten“ und „Gerim“
(Neubekehrte); an seiner Spitze standen zehn aus den ersten drei Gruppen
Erwählte. Die Lehre der Sekte besagte, soweit man auf Grund der frag-
mentarischen Darstellung zu urteilen vermag, folgendes: die gesetzlichen
Häupter des Volkes müßten die „Söhne Zadoks“ sein, die Abkömmlinge
jenes Priestergeschlechtes, dem noch der Prophet Jeheskel die Herrschaft
vorausgesagt hat; König David konnte die Thoragesetze noch nicht be-
obachten, denn die heiligen Bücher lagen bis zum Hervortreten Zadoks
in der Lade versiegelt; demselben priesterlichen „Aaronsgeschlechte“,
nicht aber dem Hause des Königs David, wie das allgemein gültige Dogma
es wollte, müsse auch der Messias entstammen. Dies der Grund, warum
auch jetzt, da Gesetzlosigkeit herrsche, die „Aaronssöhne“ (die Priester)
die Errettung der nach Damaskus übergesiedelten Auswanderer aus Ju-
däa auf sich genommen hätten: irgendein „Lehrer der Wahrheit“ weist
nunmehr den von der Wahrheit Abgeirrten den richtigen Weg. Die wich-
tigsten Gebote des „Neuen Bundes“ sind die folgenden: die die Sabbat-
heiligung betreffenden Thoravorschrif ten sind strengstens zu befolgen und
sogar die Verrichtung der unerläßlichsten Arbeiten ist am heiligen Tage
zu unterlassen; die Monogamie ist aufs peinlichste einzuhalten, nahe An-
verwandte, z. B. Nichten, dürfen nicht geehelicht werden; alle die ri-
tuelle und geschlechtliche Reinheit betreffenden Satzungen sowie die Spei-
segesetze sind zu beobachten; man soll den Nächsten lieben, Arme und
Hilfsbedürftige unterstützen und dergl. mehr. Der Verfasser des Schrei-
37 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Yolkes, Bd.II
577
Anhang
bens zeiht die Gegner des Bundes einer ganzen Reihe von Verfehlungen
nationaler, religiöser und sittlicher Art: sie kämen in nahe Berührung
mit den Heiden, verletzten die Gebote der Sittlichkeit, verfielen der Viel-
weiberei und der Unzucht, jagten dem Gelde nach und „verunreinigten
das Heiligtum“.
Seit dem Bekanntwerden dieses Manuskripts verlieren sich die For-
scher in Vermutungen sowohl über seine Entstehungszeit als über den
geheimnisvollen Bund überhaupt. Gleich am Anfang des Manuskripts fin-
det sich allerdings eine chronologische Andeutung: es ist dort die Rede
davon, daß nach Ablauf von 390 Jahren nach der Eroberung Judäas
durch Nebukadrezzar und nach zwanzig weiteren Jahren des Umherir-
rens Gott dem Volke den erwähnten „Lehrer der Wahrheit“ gesandt
habe. Dieser Zeitpunkt fällt mit dem Jahre 175 v. d. ehr. Ära zu-
sammen, als Antiochus Epiphanes zur Herrschaft gelangte, auf den das
Manuskript als auf einen Zeitgenossen dunkel hindeutet: „das Haupt der
griechischen Könige, der an ihnen (den Sündern) Rache zu nehmen ge-
kommen ist“. Will man diese unklare Anspielung zum Ausgangspunkt
nehmen, so kann man vermuten, daß die Vorgänge in die Zeit des helle-
nistischen Priesters Jason fallen, der durch seine Neuerungen eine Gruppe
frommer Männer zur Flucht nach Damaskus veranlaßt hatte, wo dann
der neue Bund entstand. Dies ist übrigens auch die von Meyer neuer-
dings vertretene Hypothese („Die Gemeinde des Neuen Bundes im Land©
Damaskus“, Berlin, 1919, sowie „Ursprung des Christentums“, II, 47
u. 172 f.). Allein die Forscher, die ihre Aufmerksamkeit mehr dem In-
halt, d. i. der Lehre des Neuen Bundes selbst, zuwenden, sind eher ge-
neigt, in ihm eine Organisation sadduzäischer Prägung zu sehen, die in
Damaskus in einem Moment der Verschärfung des Kampfes zwischen
Sadduzäern und Pharisäern entstanden sei. Manche vermuten, daß dies
zur Zeit des Pharisäertriumphes unter Salome-Alexandra, als die Sad-
duzäer der Macht verlustig gegangen und Verfolgungen ausgesetzt wa-
ren, geschehen sein mag. Und in der Tat sind in dem Buche häufig Vor-
würfe gegen die „Erbauer von Umzäunungen“ (Bone ha’chaiz) und dio
„Prediger der Lüge“ anzutreffen, wobei der Verfasser dem Volke zu-
redet, „zu der Moseslehre“ zurückzukehren, denn dort ist alles genaue-
stem erklärt. Das Sadduzäertum des Verfassers kommt auch in seiner
wiederholten Betonung des Gedankens zur Geltung, daß die Söhne Aarons
oder die Söhne Zadoks, die priesterliche Aristokratie, zur Leitung des
Volkes berufen seien. Überdies erinnern viele der in dem Schreiben der
damascenischen Sektierer vorkommenden Interpretationen der einzelnen
Thoragesetze an die von den Sadduzäern gegen die Pharisäer ins Feld
geführten Argumente. Auf alledem bauend, stellte der Herausgeber des
Manuskripts, Schechter, die folgende Hypothese auf: die Sekte entstand
während der römischen Herrschaft in Judäa vor der Zerstörung des Tem-
pels (da im Buche von einem bestehenden Opferkultus die Rede ist),
nach dem Falle Jerusalems aber verschmolz sie mit der Sekte der Do-
sitheer, durch die die Lehre des Bundes den ägyptischen Juden und
Anhang
den Falaschas Abessiniens bekannt geworden ist. Später gelangte das Ma-
nuskript des Sendschreibens des Neuen Bundes in die Hände der Häupter
der Karäersekte und wurde jenem „Zadokitenbuche“ einverleibt, das der
karäische Weise Karkasani, der zu Anfang des X. Jahrhunderts wirkte,
für seine Bücher der Gesetze, in denen vieles mit dem aufgefundenen
Manuskript übereinstimmt, benutzt hatte. Der letztere Hinweis soll er-
klären, warum das Manuskript gerade in der Genisa von Kairo aufge-
funden wurde, wo überhaupt Manuskripte des frühen Mittelalters, der
Blütezeit des Karäertums in Babylonien und Ägypten, aufbewahrt wurden.
Aber auch nach allen diesen Hypothesen bleibt die Frage ungeklärt.
Die Hypothese von Meyer und von denen, die mit ihm gleicher Meinung
sind, vermag mit größerer Genauigkeit sowohl die Zeit als auch den
Grund der Entstehung des Neuen Bundes (das hellenistische Regime unter
Jason) zu bestimmen, doch entbehrt sie jedes anderen Stützpunktes, ab-
gesehen von den erwähnten unklaren Andeutungen im Manuskripte selbst.
Überdies findet sich in dem Manuskripte eine durchsichtige Anspielung
auf das apokryphische „Jubiläenbuch“ sowie eine Anzahl von mit den
„Testamenten der Patriarchen“ übereinstimmenden Stellen; diese letzte-
ren Werke aber gelten gewöhnlich als Erzeugnisse der Zeit der römischen,
nicht aber der griechischen Herrschaft in Judäa. Freilich steht Meyer
nicht an, sowohl diese, wie auch andere Apokryphen und Pseudepigraphen
in das III. und II. Jahrhundert v. d. ehr. Ära zu verlegen, was jedoch
noch durchaus des Beweises bedarf.
Somit bleibt die Entstehung des damascenischen Neuen Bundes vor-
erst noch ein Rätsel. Vielleicht werden sich im Laufe der Zeit neue Quel-
len finden, die auf diese, von dem Reichtum des geistigen Lebens Judäas
in den letzten Jahrhunderten v. d. ehr. Ära zeugende Erscheinung ein
helleres Licht werfen werden1).
Note 5: Die Entstehung des Christentums im Lichte der politischen Ge-
schichte Judäas
(Zu den §§ 98—104)
Dem Geschichtsschreiber, der sich dem Problem der Entstehung des
Christentums im Geiste freier wissenschaftlicher Kritik zuwendet, wird
gewöhnlich folgendes entgegengehalten: wie kann man überhaupt auf dem
Grunde der evangelischen Legenden und der christlichen „Mythologie“
bauen, wo doch die Persönlichkeit des Stifters des Christentums selbst
vielen als mythisch gilt? — Darauf ist zu erwidern, daß solche Argu-
mente nur von denen geltend gemacht werden können, die an den Ge-
genstand in durchaus abstrakter Weise, als an ein Problem der verglei-
chenden Völkerkunde, herantreten und mit den geschichtlichen Umstän-
den, unter denen das Christentum zur Entstehung kam, nicht genügend
!) Die Literatur über den Neuen Bund ist in der oben erwähnten Schrift von
Meyer sowie in der neuen Apokryphenausgabe von Charles, B. II, 1913, ange-
führt.
37*
579
Anhang
vertraut sind. Der Geschichtsschreiber ist berechtigt zu sagen: gebt mir
eine beliebige Legendensammlung in einer bestimmten geschichtlichen Um-
gebung, und ich werde aus diesen Legenden auf dem Wege der kritischen
Analyse jenen Kern herausschälen, der in dem oder jenem Maße An-
spruch auf geschichtliche Geltung erheben könnte. In solchen Fällen hat
man nich+ die Legende zum Ausgangspunkt zu nehmen, sondern die kon-
kreten Verhältnisse, die Lebensbedingungen des Milieus, die sozialen und
geistigen Bestrebungen, die zeitgeschichtlichen Ideale und Stimmungen.
Jeder, der sich in die Erlebnisse der Juden des ersten christlichen Jahr-
hunderts so hineinversetzt, als wäre er selbst ihr Zeitgenosse, wird sagen
müssen, daß jener Komplex von religiösen und sozialen Ideen, der Chri-
stentum genannt wird, in den damaligen geschichtlichen Verhältnissen
mit Notwendigkeit erstehen mußte, daß er gleichsam ein Widerhall, eine
direkte Antwort auf die Erscheinungen jener Zeit, daß er eine natürliche
Antithese zu der nationalen Evolution des Judaismus gewesen war. Gerade
der freidenkende jüdische Geschichtsschreiber kann nicht umhin, den in-
neren Realitätswert des Grundgehaltes dieser christlichen Antithese anzu-
erkennen. Die Frage besteht nur darin, wie eben dieser Grundgehalt zu
bestimmen und wie er aus den ihn überwuchernden Legenden und kirch-
lichen Tendenzen auszusondern sei.
Hier kreuzen sich die Wege des Dogmatismus und des Historismus,
zweier entgegengesetzten Methoden der Behandlung religiöser Bewegun-
gen, von denen die erstere deren unbedingten ideellen Wert, die an-
dere aber die bedingte Rolle, die sie in der Entwicklung menschlichet
Gemeinschaften spielen, im Auge hat. Immer breiter wird der Weg, den
sich der Historismus durch das Dickicht des Dogmatismus hindurch
bahnt, und doch kann man durchaus noch nicht behaupten, daß die dog-
matische Einseitigkeit bei der Erwägung unseres Problems bereits über-
wunden sei. Gewöhnlich sucht man diejenigen Elemente des ur-
sprünglichen Christentums in den Vordergrund zu schieben, die gegen
den Judaismus als eine Religion, nicht aber als ein System der nationalen
Politik jener Epoche gerichtet waren. So suchte man z. B. und fand auch
in den in der Bergpredigt gesammelten Aussprüchen religiöse, sittliche
und sozial-wirtschaftliche Motive, ließ aber die Hauptsache, das national-
politische Moment, außer acht. Und doch scheint es durchaus unzweifel-
haft zu sein, daß gerade die markantesten Aussprüche dieser Predigt spe-
ziell gegen die jüdischen Patrioten jener Zeit oder die Zeloten, die Be-
fürworter des aktiven Widerstandes gegen Rom, deren es seit der Zeit des
Juda Galiläus in Galiläa nicht wenig gab, gerichtet waren. Wir haben
bereits auf diese Sentenzen im Text (S ioi) hingewiesen und würden sie
ohne ein^ solche Erklärung für völlig unverständlich halten. Nur durch
ihren politischen Sinn werden derartige leidenschaftliche Ergüsse ver-
ständlich wie z. B.: „Widerstrebe nicht dem Bösen, sondern so dir jemand
einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete auch die linke dar.
Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß
auch den Mantel . . . Liebet eure Feinde, . . . bittet für die, so euch be-
58o
Anhang
leidigen“ (Matth. 5, 39—44 neben den Lesarten des Lukas 6, 27—29).
Auf dem Gebiete der persönlichen Moral hieße das, den Altruismus ad
absurdum führen, auf dem der Politik dagegen bedeutet es nur eine über-
triebene Ausdrucksweise für die der Regierungsflorm gegenüber gepredigte
Gleichgültigkeit: Widerstehe nicht der schlechten Regierung; die Römer
haben einen Steuercensus in die Wege geleitet und überbürden euch mit
Abgaben — gebt sie ihnen, „gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“; bittet
für eure Bedrücker, damit Gott ihre Seele erleuchte. Denn die Glückselig-
keit liegt nicht in den Formen des sozialen Lebens beschlossen, sondern
in der persönlichen sittlichen Vollkommenheit: „Selig sind die Armen,
die Weinenden, die Sanftmütigen, die, die reinen Herzens sind, die Fried-
fertigen. die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn es wird
ihnen im Himmel wohl belohnt werden“ (Matth. 5, 3—12 u. Luk. 6).
In allen diesen Aussprüchen wird der Aufschrei der Persönlichkeit ver-
nehmbar, die sich nach der Befreiung von allen Fesseln des Gemein-
wesens, von allen politischen Wirren sehnt; es wird hierin die leiden-
schaftliche Antwort Jesu vernehmbar, mit der er denjenigen entgegentrat,
die das Volk zum Protest gegen Pilatus auf riefen, die es auf forderten,
dem Kaiser die Abgaben zu verweigern und den Weg des Aufruhrs, der
Revolution zu beschreiten. Mit diesen anti-zelotischen Tendenzen laufen
die anti-pharisäischen parallel (vgl. die zahlreichen Streitigkeiten mit den
Pharisäern, insbesondere bei dem ältesten Evangelisten Markus) — alles
in allem: ein Protest der individuellen Religiosität und Moral gegen die
nationale. Um den psychologischen Hintergrund einer solchen Predigt
zu begreifen, wäre es hier vielleicht am Platze, sich des Protestes des im
Evangelium aufgehenden Christen Tolstoj zu entsinnen, mit dem er im
Namen des Glaubens gegen die Kirche, im Namen der persönlichen sitt-
lichen Vervollkommnung gegen Staatlichkeit und Patriotismus auf den
Plan trat, sowie seines zur Zeit der revolutionären Gärung in Rußland
proklamierten Prinzips des „Nichtwiderstehens dem Übel mit den Mit-
teln der Gewalt“.
Gleichwie bei den christlichen Theologen die evangelische Tendenz
vorherrscht, den Antipharisäismus Jesu zu betonen, ebenso suchen die
freidenkenden jüdischen Historiker zu beweisen, daß Jesus seinem Geiste
nach den Pharisäern verwandt war, und daß die neue Lehre, wenn sie
sich in seinem Geiste, nicht in dem des Apostels Paulus weiter entwickelt
hätte, nie über die Grenzen des Judaismus hinausgegangen wäre. In dem
Bestreben, seine ehemaligen Glaubensgenossen von der Schuld des Gottes-
mordes reinzuwaschen, versucht der apostatische Apologet Daniel Chwol-
son (in seinem Werke „Das letzte Passahmahl Christi“, 1908) den Beweis
zu führen, daß Christus ein orthodoxer Pharisäer gewesen sei und daß
seine Richter nicht Pharisäer, sondern die im Synhedrion herrschenden
Sadduzäer waren. Geiger ist der Meinung, daß Jesus ein „Pharisäer gali-
läischer Observanz“ gewesen ist und nicht einmal die Grundlagen des na-
tionalen Judaismus zu erschüttern beabsichtigte („Das Judentum und
seine Geschichte“, 117). Graetz wiederum brachte Jesus zu sehr mit den
58l
Anhang
Essäern in Zusammenhang (Geschichte, III, 281, 2 85 und sonst). Der
letzte Geschichtsschreiber des Christentums, Klausner, schwankt in seiner
umfangreichen Monographie „Jeschu ha’nozri“ (1922) fortwährend zwi-
schen dem Pharisäismus Jesu und seiner antinomistischen, später von
Paulus verwirklichten Potenz (vgl. S. 343—345, 399, 402—4o4 u. sonst).
Unseres Dafürhaltens sind Schwankungen hier durchaus nicht am Platze.
Hätte im Geiste Jesu nicht der leidenschaftliche Protest der individuali-
stischen Religion gegen die nationale Wurzeln gefaßt, so hätte er auf
seine Predigten ganz verzichtet. Wenn Jesus den Ausspruch getan hat:
„Ich bin nicht gekommen, die Thora oder die Propheten aufzulösen, son-
dern zu erfüllen“ (Matth. 5, 17), so hatte er dabei gewiß nicht die phari-
säische mündliche Lehre im Auge, sondern den Geist der Thora und der
Propheten; heißt es doch an derselben Stelle (Vers 20): „es sei denn eure
Gerechtigkeit besser, denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet
ihr nicht in das Himmelreich kommen“. Die Gerechtigkeit im Geiste der
Thora und der Propheten wird hier somit der pharisäischen Auffassung
der Gerechtigkeit entgegengesetzt, und jede andere Auslegung würde mit
allen anderen Sprüchen Jesu und mit dem ganzen Sinn seiner Lehre im
Widerspruch stehen.
Treffend kennzeichnet den Ausgangspunkt der Lehre Jesu Wellhausen
in seinem lapidaren Satze (Isr. und jüd. Gesch., 374, 6. Aufl. 1907):
„das Reich Gottes hat andere Grundlagen als den Tempel, die heilige
Stadt und das jüdische Volk; die Zugehörigkeit dazu ist an individuelle
Bedingungen geknüpft“. Jesus ist für ihn der Prediger des „edelsten In-
dividualismus“ (386). Zu demselben Schluß gelangt auch Ed. Meyer in
seinem Werke über den Ursprung des Christentums (B. II, 445), jedoch
erst nach einer ganzen Reihe von Widersprüchen (vgl. z. B. S. 42 0, 427
u. sonst). Allen diesen Geschichtsschreibern scheint der Untergang der
jüdischen Nation um des Triumphes des glaubenerfüllten Individuums
willen natürlich und wünschenswert zu sein, nur lassen sie dabei das Eine
außer acht: die Entwicklungsgesetze des Kollektiv-Individuums, das ein
Produkt der Geschichte bildet und gar nicht bereit ist, gerade dann aus
dem Leben zu scheiden, wann es den Gelehrten als zeitgemäß dünkt.
Die Neigung zum Individuellen als Gegengewicht zu der überspannten
Nationalisierung der Religion verschwand aus dem Judentum auch dann
nicht, als seine ältesten Individualisten, die Essäer, vom Schauplatz ab-
traten. Dieser Trieb kam in einer ganzen Reihe mystischer Lehren und
Volksbewegungen zum Ausdruck, deren mächtigste der Chassidismus des
XVIIL Jahrhunderts war. Für die Religionspsychologie ist eine Parallele
zwischen dem ursprünglichen Christentum und der chassidischen Lehre des
Beseht (Israel Baalschem Tow) überaus belehrend, sowohl was ihre Grund-
prinzipien und ihre Wirkungssphäre (das gemeine Volk Galiläas und Po-
doliens) als auch was ihre Propagandamittel (religiöse Offenbarungen,
von Krankenheilungen begleitet) betrifft. Der alte Protest des Christen-
tums gegen den Pharisäismus soll siebzehn Jahrhunderte später, wiewohl
582
Anhang
in anderem Geiste, in dem chassidischen Protest gegen den Rabbinismus
wiederkehren. Der Chassidismus ersetzte in der Religion den Intellektualis-
mus durch Herzenswärme und den seelenlosen Ritus durch den beseelten.
Ein Paulus, der ihn mit der nationalen Religion entzweit hätte, konnte
ihm nicht erstehen, denn das Prinzip des extremen Nationalismus lag schon
im Wesen des Chassidismus selbst beschlossen, der durch die von ihm
rings um das Judentum errichtete mystische Umzäunung die religiös-
rituelle nur noch ergänzte. Für die Schöpfer des Chassidismus zerrann
die außer jüdische Welt gleichsam in ein Nichts, während die Schöpfer
des Christentums gerade ihre Bekehrung anstrebten. Dies war der Grund,
warum die zentrifugale Kraft des Individualismus den Chassid nicht über
den nationalen Umkreis, außerhalb dessen er im geistigen Sinne nichts
als einen leeren Raum zu sehen wähnte, hinauszulocken vermochte.
Es bleibt uns nur noch übrig, das umstrittene Zeugnis des Josephus
Flavius von Christus mit einigen Worten zu erwähnen. In den „Jüdischen
Altertümern“ (XVIII, 3, 3) findet sich nämlich, mitten in der Erzäh-
lung von den Gewalttaten des Pilatus in Judäa, folgende Stelle: „Um
diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen
Menschen nennen darf. Er war nämlich der Vollbringer ganz unglaub-
licher Taten und der Lehrer aller Menschen, die mit Freuden die Wahr-
heit auf nahmen. So zog er viele Juden und auch viele Hellenen zu sich
heran. Er war der Messias (Christus). Und als ihn auf Anklage unserer
ersten Männer Pilatus mit dem Kreuze bestraft hatte, ließen nicht ab
die, welche ihn zuerst geliebt. Denn er erschien ihnen nach drei Tagen
wieder lebendig, nachdem die göttlichen Propheten dieses und tausend
andere wunderbare Dinge von ihm vorherverkündigt hatten. Noch bis
heute hat das Geschlecht derer nicht aufgehört, die sich nach ihm Chri-
sten nennen.“ Aus dem ganzen Inhalte dieses Stückes ist klar zu er-
sehen, daß es nur von einem gläubigen Christen niedergeschrieben wer-
den konnte, der der jüdische Geschichtsschreiber Josephus Flavius ja nicht
war; folglich ist diese Stelle eine spätere Interpolation in den handschrift-
lichen Text der „Jüdischen Altertümer“. Das Zeugnis des Josephus von
Christus wird zuerst von dem Kirchengeschichtsschreiber Eusebius, der im
IV. Jahrhundert gelebt hat, erwähnt; dem Kirchenvater Origenes aus dem
III. Jahrhundert lag dieses Zeugnis noch nicht vor, denn er sagt aus-
drücklich, Josephus hätte an Christus nicht geglaubt. Es ist also klar, daß
die Stelle über Christus in den Text der „Altertümer“ von einem christ-
lichen Schriftsteller eingeschaltet worden ist, der entweder durch das völ-
lige Stillschweigen des jüdischen Geschichtsschreibers über ein so bedeut-
sames Ereignis, dessen Zeitgenosse er doch war, oder aber, was am wahr-
scheinlichsten ist, durch eine abfällige Beurteilung in Verwirrung versetzt
worden war. Im ersteren Falle wäre die oben angeführte, im evangelischen
Geiste gehaltene Charakteristik Christi einfach eine Einschaltung, im an-
deren Falle ein Ersatzstück an Stelle des ursprünglichen Berichts des un-
gläubigen Juden. Die Tatsache der Interpolation an dieser Stelle wird
583
Anhang
heute von fast allen Forschern zugegeben; umstritten bleibt nur die Frage,
ob das Stück ganz oder nur teilweise unecht sei, was wiederum zu der
noch entscheidenderen Frage führt: ob Josephus überhaupt in seinen Bü-
chern das Erscheinen Christi erwähnt hat oder ob er nicht vielmehr dieses
Ereignis, als ein sogar neben den unbedeutenden, gleichgearteten Gescheh-
nissen jener Zeit, wie z. B. das Hervortreten des Pseudomessias Theuda,
nicht der Erwähnung wertes, mit Schweigen überging. In den „Alter-
tümern“ wird allerdings der Name Christi noch einmal erwähnt, und
zwar an der Stelle, wo erzählt wird, daß „Jakobus, der Bruder Jesu, der
Christus genannt wird“, von dem Hohepriester Ananos, gegen den Wil-
len der Rechtsgelehrten des Synhedrion, verurteilt wurde (XX, 9, 1).
Sollte dieser Satz echt sein, so würde er das Stillschweigen des Josephus
über das Wirken und den Märtyrertod Christi selbst nur noch unbegreif-
licher machen. Der alte jüdische Geschichtsschreiber, ein jüngerer Zeit-
genosse des Apostels Paulus, konnte eine so bedeutsame Episode aus der
Zeit des Procurators Pilatus, wie das Gericht über Jesus, nicht verschwei-
gen. Es bleibt daher nur die obenerwähnte Annahme übrig, daß der ur-
sprüngliche Text der Altertümer einen Bericht des Josephus über Chri-
stus mit einer Beurteilung, wie sie einem freidenkenden, in der römischen
Gesellschaft sich bewegenden Pharisäer zuzutrauen ist, enthalten hatte,
daß aber dieser Bericht des Ungläubigen zwei Jahrhunderte später durch
eine christliche Charakteristik, die von einem jener Kircheneiferer von
der Art des Eusebius stammt, ersetzt wurde. Diese hatten, um ihrer Mis-
sionszwecke willen, ein besonderes Bedürfnis danach, sich auf Zeugnisse
von Christus in den Schriften seiner Zeitgenossen berufen zu können.
Note 6: Zur Geschichte der Juden in Alexandrien
(Zu den §§ 62, 72 u. 94)
Ein unlängst veröffentlichter Papyrus des britischen Museums (H. J.
Bell, Jews and Christians in Egypt, illustrated by texts from Greek pa-
pyri. Lond. 1924) enthält ein aus dem Ende des Jahres 4i d. ehr. Ära
stammendes Schreiben des Kaisers Claudius an die Bürger von Alex-
andrien, das also drei Jahre nach der alexandrinischen Judenhetze und
anderthalb Jahre nach dem Aufenthalt der zwei Gesandtschaften an Cali-
gula, der jüdischen und der griechischen (oben, § 72), in Rom abgefaßt
worden war. In diesem Schreiben, das eine Antwort auf erneut er-
hobene Ansprüche der alexandrinischen Griechen darstellt, befiehlt
ihnen Claudius in strengster Weise, dem Bürgerkrieg (polemos) mit den
Juden ein Ende zu machen, sich ihren jüdischen Mitbürgern gegenüber
milde und menschlich zu verhalten und sie in der Befolgung ihrer reli-
giösen Gesetze und Volkssitten nicht zu behindern, wie dies seit den Zeiten
des „göttlichen Augustus“ verordnet und von ihm, Claudius, bestätigt ist.
Den alexandrinischen Juden befiehlt aber der Kaiser in dem gleichen
Schreiben, die Erweiterung ihrer früheren Vorrechte nicht zu betreiben,
584
Anhang
keine Gesandtschaften nach Rom, gleich hinter den griechischen Deputa-
tionen her, zu schicken, „als ob ihr in zwei verschiedenen Städten wohn-
tet“, sich ferner in die gymnastischen Spiele der Griechen nicht einzu-
mischen und vollends keine Juden aus Syrien und anderen Teilen Ägyp-
tens nach Alexandrien zu rufen, da dies ernstliche Besorgnisse (anschei-
nend weil infolge der Dichte der jüdischen Bevölkerung Zusammenstöße
mit den Griechen unvermeidlich würden) erregen würde.
Die neue Urkunde vermag jene Zweifel zu beseitigen, die früher in
bezug auf die Glaubwürdigkeit des von Josephus Flavius angeführten Frei-
briefes laut wurden, der den alexandrinischen Juden von Claudius bald
nach seinem Regierungsantritt ausgestellt worden war (s. oben, $ 94,
S. 487). Beide Urkunden stimmen ihrem wesentlichen Inhalte nach über-
ein (das an beide Parteien gerichtete Ersuchen, die Zwistigkeiten beizu-
legen, und, ohne die Vorrechte der Gegenpartei zu verletzen, im Frie-
den miteinander zu leben), während die in dem Schreiben erwähnte „Be-
stätigung“ der Judenrechte sich offenbar auf den zu Anfang desselben
Jahres von Claudius veröffentlichten Erlaß bezieht, der von Josephus in
den „Altertümern“ (XIX, 5) wiedergegeben ist. In diesem Erlaß mögen
nur die auf seinen Vorgänger Caligula sich beziehenden ungehaltenen
Worte des Claudius ungenau sein: „Caesar Ca jus, der in seinem unge-
heuren Unverstand und Wahnsinn die Juden, die von ihrer Religion nicht
abfallen und ihn nicht als Gott anerkennen wollten, unterdrückte“. In
seinem ausführlichen Kommentar zu dem neuen Papyrus hebt T. Reinach
(L’empereur Claude et les juifs d’apres un nouveau document. — Revue
des fCtudes juives, 1924, t. 79, p. n4—144) hervor, daß darin die Be-
stätigung der jüdischen Vorrechte durch den „göttlichen Augustus“, nicht
aber die alexandrinische Erzsäule oder „Stele“ erwähnt wird, auf der,
nach dem Zeugnis des Josephus, der den Juden von Julius Caesar zuteil
gewordene Freibrief eingegraben war (oben, $ 62, S. 336, Anm. 2). Dar-
aus zieht er den Schluß, daß der umstrittene Freibrief des Julius Caesar
überhaupt nie existiert hat und daß der alte jüdische Historiker fälsch-
licherweise den Erlaß des Augustus für einen Erlaß seines Vorgängers
Julius Caesar ausgegeben hat, der schon aus dem Grunde einen solchen
Erlaß nicht veröffentlichen konnte, weil zu seiner Zeit Ägypten noch nicht
römische Provinz war. Diese Vermutung hat zweifellos ihre Berechtigung.
Doch.folgt aus der neuen Urkunde noch nicht jene allgemeine Schluß-
folgerung, zu der Reinach, Wilcken folgend, gelangt, daß nämlich die Ju-
den das alexandrinische Bürgerrecht überhaupt nicht genossen und in der
Hauptstadt Ägyptens auf Grund besonderer Vorrechte nur als Fremde,
Metöken. lebten. Eine Bestätigung dieser Hypothese findet Reinach in
dem an die Juden ergangenen, auch in dem Schreiben des Claudius wie-
derkehrenden Verbot, sich an den öffentlichen Spielen der alexandrini-
schen Bürger zu beteiligen; dies scheint uns jedoch in dem gegebenen
Falle kein durchschlagender Beweisgrund zu sein, denn einige Jahre nach
der Judenhetze mochte ein derartiges Verbot in den Erfordernissen der
585
Anhang
öffentlichen Sicherheit begründet gewesen sein. Jedenfalls fehlen uns ge-
nügende Anhaltspunkte, die die ältere Ansicht von Schürer und die neuere
von Juster (Les juifs dans l’empire romain, t. II, 6—7. Paris, 1914) er-
schüttern könnten, der zufolge die alexandrinischen Juden volles Bürger-
recht genossen, was nur von den judenfeindlichen Griechen in Zweifel
gezogen wurde.
BIBLIOGRAPHIE
Quellen- und Literaturnachweise
S i. (Allgemeine Übersicht)
Allgemeine Handbücher zur Geschichte des hellenischen Morgenlandes: Niese,
Geschichte der griechischen und macedonischen Staaten seit der Schlacht bei
Chäronea. Bd. I—III, Gotha 1893—19°^; Bouche-Leclerque, Histoire des Lagides,
vol. I—IV, Paris 1908—1910; idem, Histoire des Seleucides, Paris 1918; Schürer,
Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, Bd. I, 3. Aufl. 1901,
S. 165—179 (Übersicht über die Geschichte Syriens unter den Seleuciden);
Turajeff, Geschichte des alten Orients, Bd. II, Abschn. 6: „Die alt-orientalischcn
Kulturen im Zeitalter des Hellenismus“ (russisch, Petersburg 1918); Mahaffy, Hi-
story of Egypt under the Ptolemaic dynasty (London 1899); idem, The progress
of Hellenism in Alexanders Empire (1905). — Zum Nachschlagen: Pauly und
Wissowa, Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft (erscheint seit
i894).
SS 2—5. (Die macedonische Eroberung und die Ptolemäer)
Das Buch Daniel, Kap. 8 u. 11. — Apokryphen: „Aristeasbrief“ und das
„Dritte Makkabäerbuch“ — beide in der deutschen wissenschaftlichen Ausgabe
von Kautzsch: Apokryphen und Pseudepigraphen d. A. T., Bd. I—II (1900);
Polybius, Histor. XVI, 39 (über Antiochus III. in Judäa); Josephus Flavius,
Jüdische Altertümer XI, 8 bis XII, 4; Gegen Apion II, 4—5; Reinach, Textes
dauteurs grecs et romains relatifs au judaisme (Paris 1895). Außer den im
Text (S 2) erwähnten talmudischen Überlieferungen über Alexander von Mace-
donien s. noch Derenbourg, Essai sur l’historie de la Palestine d’aprös les Talmuds
etc. (Paris 1867), chap. III; Graetz, Geschichte der Juden, Bd. Ha, 220—267
(1876). Niese, Geschichte der griechischen Staaten II, 120—172; Willrich, Ju-
den und Griechen vor der makkabäischen Erhebung, Göttingen 1895; Wellhau-
sen, Israelitische und jüdische Geschichte, 6. Aufl. 1907, S. 22 4—2 43; Ed.
Meyer, Ursprung und Anfänge des Christentums, Bd. II (1921), 121— 131; Ma-
haffy, History of Egypt etc. 32, 33, 86, 92, 93; Renan, Histoire du peuple
dTsrael, vol. IV, livre 8, chap. 1—2.
SS 6—9. (Seleucidenherrschaft)
Das Buch Daniel, Kap. 11—12; Zweites Makkabäerbuch, Kap. 3—7; Erstes
Makkabäerbuch, Kap. 1 (in der erwähnten Ausg. v. Kautzsch, B. I); Niese, Kri-
tik der beiden Makkabäerbücher („Hermes“ Bd. 35, 1900); Jüd. Altertümer XII,
5—6; Schürer, Gesch. I, S 4; Meyer, op. cit. 132—166 (in den beiden letzteren
Werken — eine ausführliche Quellenkritik); Wellhausen, Gesch. 2 43—2 53; De-
587
Bibliographie
renbourg, o. c. chap. IV (talmudische Parallelen); Renan, op. cit. chap. 7, 8,
10, 11 (subjektive Darstellungsweise; s. oben, Anhang, Note 1).
SS 10—15. (Die Hasmonäererhebung)
Erstes Makkabäerbuch, Kap. 2—14; Zweites Makkabäerbuch, Kap. 8— 15;
Daniel, Kap. 12; Jüd. Altert. XII, 6 bis XIII, 6; Jüdischer Krieg I, 1—2;
Megillath Taanith, 9 (cf. Derenbourg, o. c. chap. IV); Graetz III, 1—23 (1888);
Schürer I, 201—242; Meyer II, 2o5—205; Klausner, Historia Israelith, t. II,
i—58, Jerusalem 1923 (ausführliche Kritik der Quellen und der neuesten Li-
teratur).
SS 16—18. (Literatur in Judäa)
Das „Hohelied“, „Kohelet“ u. „Daniel“ — in der Biblia Hebraica von Kittel
(1906) u. in der deutsch, wissenschaftlichen Bibelausgabe von Kautzsch (Ausg.
von 1922—1923, Bd. II); Krochmal, More nebuche ha’sman XI, 8: über „Kohelet“
als ein Produkt des IV. Jahrh. v. d. ehr. Ära (neue Ausg. Berlin 1923); Reuß,
Geschichte der heiligen Schriften d. A. T. (1881), SS 189—191, 441—445; Graetz,
Schir ha’schirim (1871); idem, Geschichte III, 237—244; Renan, o. c. V, livre
9, chap. 15: Kohelet; Bleek-Wellhausen, Einleitung in das Alte Testament (1893);
Haupt, Biblische Liebeslieder (1907); Budde, Geschichte d. althebräischen Lite-
ratur (1906); Bernfeld, Mebo le’kitbe ha’kodesch, t. III (Berlin 1923); „Die
Weisheit Ben Sirahs“ mit den neuentdeckten hebräischen Fragmenten: Isr. Levi,
L’Eccl6siastique ou la Sagesse de Jesus fils de Sira. Texte hebreu, edit6, traduit
et commente (Paris 1898—1901); Smend, Die Weisheit d. Jesus Sirach, hebräisch
und deutsch (1906); Ryssel, Die Sprüche Jesus Sirach (Apokryphen und Pseudepi-
graphen, herausg. v. Kautzsch, Bd. I, 2 3o—470); ausführliche Literaturangaben
bei Schürer III, 212—227 (1909). — Das Buch Daniel (die erwähnte Über-
setzung in der Bibel v. Kautzsch); vgl. dazu Krochmal, o. c. XI (über Daniel
und die Psalmen der Hasmonäerzeit); Reuß, o. c. S 464 ss.; Marti, Das Buch
Daniel (1901); Schürer III, 258—267 (über die Apokalyptik und das Daniel-
buch); Ed. Meyer, o. c. II, i84f. (über das Danielbuch und seine Abhängigkeit
vom Parsismus).
S 19. (Griechische Schriftsteller. Die Septuaginta)
Josephus Flavius, Gegen Apion I, i3—23 (Exzerpte aus Manetho, Berossus,
Aristoteles, Klearches, Hekatäus u. a.); Reinach, Textes d’auteurs grecs et ro-
mains etc., pp. 8, 11, i4, 20; Wendland, Der Brief des Aristeas (Kautzsch, Apo-
kryphen etc. II); Graetz III, 35—42 u. Note 2, S. 577—597: Entstehung der
Septuaginta; Schürer III, 42 4—433 (ausführliche Bibliographie); Tischendorf-
Nestle, Vetus Testamentum Graece juxta LXX intrepretes, Bd. 1—2, 7. Aus-
gabe 1887; Swete, The Old Testament in Greek according to the Septuagint,
vol. I—III, Cambridge 1887—1894 (griechischer Text nebst den Lesarten); idem,
Introduction to the old Testament in Greek (1902).
SS 21—22. (Simon und Jochanan-Hyrkanus)
Das Erste Makkabäerbuch, Kap. i4—16; Jüd. Altertümer XIII, 7—10; Jüd.
Krieg I, 2; Reinach, Textes, i36—137, 200—207 (der Krieg des Antiochus Sidetes
nach griech. u. röm. Quellen); Talmud: Megillath Taanith, Kap. 8—9; Sota, 33
(Derenbourg, op. cit. chap. V); Graetz III, 64—76 und Noten 7, 8, 9; Well-
hausen, Gesch. 270—274; Schürer I, 243—273; Meyer, Christ. II, 265—270;
Klausner, Hist. II, 58—76.
588
Bibliographie
S a3. (Das Synhedrion)
Derenbourg, op. cit., chap. VI (talmudische Berichte über das Synhedrion);
Graetz III, ioo—io4; Schürer I, 269^—270; II, 287—266; Büchler, Das große
Synedrion in Jerusalem, Wien 1902; Wellhausen, Gesch. 280—288; Klausner,
Hist. II, S 18.
SS 2 4—2 5. (Sadduzäer und Pharisäer)
Jüd. Altertümer XIII, 10, 5—6; i5, 5; 16, 1—2; Jüd. Krieg I, 5, 2—3
(über die politische Rolle der Parteien); Talmud: Megillath Taanith, passim;
Kidduschin 66 (Derenbourg, chap. V); Geiger, Urschrift und Übersetzungen der
Bibel (1857); idem, Kebuzath maamorim, Warschau 1910; Graetz III, 88-87,
113—116, Noten 11—12; Wellhausen, Die Pharisäer und die Sadduzäer (1874);
Schürer II, S 26 (ausführliche Bibliographie); Klausner, Hist. II, SS 19—22.
Weitere Literatur s. unten, zu S 35.
SS 26— 3o. (Hasmonäische Könige)
Jüd. Altertümer XIII, 10—16; Jüd. Krieg I, 3—5. Bruchstücke aus den grie-
chischen Schriftstellern (Timagenes, Strabo) s. bei T. Reinach: Textes, pp. 67—
68, io3. — Über talmudische Anspielungen auf die Ereignisse — Derenbourg,
chap. VII, u. Graetz III, Kap. 6—7 u. Noten 1, 13; vgl. Zeitlin, Megillath
Taanith as a source of jewish chronology etc. (Philad. 1922); Klausner, Hist.
II, SS 23—29. — Schürer I, SS 9—11; Wellhausen, Gesch. Kap. 18.
SS 31—33. (Der Bruderkrieg und Pompejus)
Altertümer, XIV, 1—4; Krieg I, 6—7; auf die talmudischen Quellen ist be-
reits oben im Text hingewiesen (vgl. noch Derenbourg u. Graetz in den ein-
schlägigen Kapiteln). — Über den Einfall des Pompejus in Judäa haben sich
viele Zeugnisse bei den griechischen und römischen Schriftstellern erhalten, so
bei: Diodorus, Strabo, Cicero, Titus Livius, Plutarch, Appianus, Dio Cassius, Ta-
citus u. a.; alle Exzerpte sind gesammelt bei Reinach, Textes d’auteurs grecs et
romains, pp. 76, 77, 93, io3, m, 145, i5i, 179, 249, 283, 3i4, 333—34,
355—56. — Mommsen, Römische Geschichte Bd. III, i45f. und Bd. V, 499 f*
S 34. (Judäa und die Diaspora)
Schürer, Gesch. II, SS 22 u. 2 3 — von der gemischten Bevölkerung Judäas,
von den hellenisierten Städten und den griechischen Elementen der jüdischen Kul-
tur; Schiatter, Geschichte Israels von Alexander d. Großen bis Hadrian (1906),
7—17; Krauß, Griechische u. lat. Lehnwörter im Talmud (1897—1899); Klaus-
ner, Bi’jemei baith scheni (Berlin 1923).
S 35. (Der Kulturkampf zwischen Sadduzäern und Pharisäern)
Neben den Quellen und der Literatur zu den die politische Rolle der Parteien
behandelnden SS 2 4—2 0 sei hier zur Orientierung über deren geistige Meinungs-
verschiedenheiten noch hingewiesen auf: Jüd. Altertümer XIII, 5, 9; XVIII, 1;
Jüd. Krieg II, 8, i4- — Talmud: Mischna Erubin VI, 1; Makkoth I, 6; Jadaim
IV; Chagiga III, 8 (Jerusal.), Megillath Taanith 1, 4, 5, 6, 8, 10; Sanhedrin, 90;
Menachoth, 68; Sukka 43, 48 u. sonst. Über die talmudischen Quellen vgl.: Weiß,
Dor we'dorschow I, Kap. i3—15; Derenbourg, chap. 7—8; Graetz III, 187—146
u. Note 12; Jawitz, Toldoth Israel, t. IV, 198!., Wilna 1900 (in orthodoxem
Geiste); L. Kazenelsohn, Pharisäer und Sadduzäer („Woss’chod“, 1898) u. in der
589
Bibliographie
Jewrejskaja Enzyklopädija, Bd. XV, S. 172 f. (russisch); Elbogen, Die Reli-
gionsanschauungen der Pharisäer, Berlin 1904; Leszynski, Die Sadduzäer, Ber-
lin 1912; Schürer II, S 26; Meyer, Christ. II, 282—819; Renan, Histoire d’Israel,
t. V, liv. 10, chap. 5; Herford, Pharisaism, its aim and its method, London 1912
(vgl. Anhang zu diesem Band, Note 2).
§ 36. (Die Essäer)
Jüd. Altertümer XIII, 5, 9; 10, 6; 11, 2; XV, 10, 4—5; XVIII, 1, 5.
Jüd. Krieg II, 8, 2—13 (eingehende Darstellung der essäischen Lebensweise);
Autobiographie des Josephus Flavius, 2; Philo, Quod omnis probus über, §§ 12— 13;
Plinius, Historia naturalis V, 17 (Reinach, Textes, 272—273). — Über die tal-
mudischen Überlieferungen, in denen die Essäer unter verschiedenen Bezeichnun-
gen auftreten, s. Derenbourg, Kap. 10; Weiß I, Kap. i3; Graetz III, Note 12;
Klausner II, 92—98. — Schürer II, $ 3o (ausführliche Bibliographie); Renan,
op. cit. V, Chap. 6; Wellhausen, Gesch. 3o4—307; Meyer II, 393—402 (s. Note
3 im Anhang zu diesem Band).
S 37. (Die ältesten Apokryphen)
Kautzsch, Das erste Buch der Makkabäer; Löhr, Das Buch Tobit; idem,
Das Buch Judith, — alles im I. Bande der „Apokryphen“ von Kautzsch (1900).
Dieselben Bücher in der englischen Ausgabe von Charles, Apocrypha and Pseud-
epigrapha vol. I (Oxford 1918). Schürer III (4- Aufl. 1909), 192—200,
20Ö—211; Klausner II, §§ 3o—3i (der Literatur der Hasmonäerzeit sind durch das
Einbeziehen späterer Werke viel zu weite Grenzen gesteckt).
$ 38. (Die Diaspora in Ägypten)
Mitteis-Wilcken, Grundzüge und Chrestomathie der Papyruskunde. Histor. Teil,
Bd. I, 24—26, 78; Bd. II, Nrn. 54—57; Schürer III, 24— 5i, 144; Bludau, Ju-
den und Judenverfolgungen im alten Alexandria (1906). — Josephus Flavius,
Gegen Apion II, 5 u. das Dritte Makkabäerbuch (s. unten, $ 3g); Mahaffy,
History of Egypt, pp. 168, 169, i83, 191—195; Mommsen, Römische Geschichte
V, 48q f.; Graetz III, 2 5—33 (die talmudischen Überlieferungen über den Onias-
tempel); S. Lurje, Der Antisemitismus in der antiken Welt, Petersburg 1922
(russisch); L. Fuchs, Die Juden Ägyptens in ptolemäischer und römischer Zeit
(Wien 1924).
$ 3g. (Die jüdisch-hellenistische Literatur)
Vorrede zur griech. Übersetzung der „Weisheit Ben Sirahs“ — s. Kautzsch,
Apokryphen I, 269 f. Über die griechischen Ergänzungen zur Bibel, das Dritte
Esrabuch, „Susanna“ und andere Zusätze zum Buch Daniel — s. ebenda, 1—23,
172—212. — Kamphausen, Das , zweite Buch der Makkabäer (ibid. I, 81—118);
Kiese, Zur Kritik der beiden Makkabäerbücher, Berlin 1900; Laqueur, Kritische
Untersuchungen zum zweiten Makkabäerbuch, igo4 (cf. Meyer, Christ. II, Bei-
lage, 454—462). — Kautzsch, Das sogenannte dritte Buch der Makkabäer (Apo-
kryphen I, 119—134). — Wendland, Der Aristeasbrief (ibid. II, 1—3o). — Bruch-
stücke aus Aristobulus, Demetrius, Eupolemus, Artapanus, Theodotus u. a. —
Freudenthal, Alexander Polyhistor (1875). Fragmente aus Pseudo-Hekatäus:
Gegen Apion I, 22 u. II, 2; vgl. Reinach, Textes, 227—236. — Bludau, op. cit.
pp. 4i, 55, 60. — Über die gesamte jüdisch-hellenistische Literatur jener Zeit s.
Schürer III, 452—46o, 468—492, 497—5o2, 5o5—5n, 6o3—616.
Bibliographie
S 4o. (Das römische Protektorat)
Allgemeine Literatur: Mommsen, Römische Geschichte Bd. III und V (von
besonderer Wichtigkeit ist Bd. V: Über die Stellung der römischen Provinzen
von Caesar bis Diocletian); Schürer, Bd. I, 3o2—337 (Übersicht über die Ge-
schichte Syriens als einer römischen Provinz); Juster, Les juifs dans lempire
romain (Paris, 1914), vol. I—II, passim; Staerk, Neutestamentliche Zeitgeschichte
(Lpz. 1907), Bd. I, 46—71: Die römische Provinzialverwaltung.
SS 41—44- (Hyrkan II. und die Antipatriden)
Jüd. Altert. XI\, 5—13; Jüd. Krieg I, 8—13; Reinach, Textes, p. 147,
i83—184 (Exzerpte aus Plutarch und Dio Cassius). Derenbourg, o. c. chap. IX;
Graetz III, 167—189 und Note 9II; Schürer I, 338-352; Mommsen, Röm. Gesch.
V» 499—5°3. Juster, Les juifs dans l’empire romain I, i32, 213—219, 224 ss*
§S 45—46. (Antigonus II.)
Jüd. Altertümer XIV, i3—16; Jüd. Krieg I, 14—18; das Zitat aus Strabo
— in den Jüd. Altertümern, XV, 1; die aus Plutarch (Antonius, Kap. 36), Dio
Cassius und Tacitus (Hist. V, 9) — bei Reinach, Textes 149, 185—187, 3i5;
Graetz III, 190—196; Wellhausen, Gesch. 3i4— 317; Schürer I, 353—36o; Mad-
den, Coins of the Jews, p. 99—102 (1881): die Münzen des Antigonus; Klaus-
ner, Hist. II, SS 39—4o (die Hypothese, auf S. 2i4f., von der Identität des Pollio
und Sameas mit Hillel und Schammai, statt der sonst angenommenen Identität
mit Abtalion und Schema ja, scheint uns gewagt zu sein).
SS 47—54. (Herodes I.)
Jüd. Altert. XV, 2—11; XVI u. XVII, 1—8; Jüd. Krieg I, 19—33; Exzerpte
aus der verloren gegangenen Chronik des Nicolaus Damascenus — in den Jüd.
Altert. XIV, 1, 3 u. XVI, 7, 1; Strabo, Geographie XVI, 2, S 34 u. 46; Plutarch,
Antonius, die Kap. 36, 71, 72; Dio Cassius, LIV, 9, 3; Tacitus, Histor. V, 1, 9
(diese wie auch die sonst in Betracht kommenden Fragmente — s. bei Reinach,
Textes 82, 84, 85, 94, 98, m, 149, 187, 247, 3i5, 352, 357). — Die talmudi-
schen Überlieferungen: Baba-Bathra 3, 4; Taanith 23; Sukka 5i u. sonst. —
s. Derenbourg, chap. IX; Graetz III, 197—245 u. Note 19; Mommsen V, 5o3—
507; Schürer I, 36o—4i8; Renan, Hist. d’Israel, t. V, chap. 5—8 (der Versuch
einer Rehabilitierung des Herodes); Wellhausen, Gesch. 317—333; Hildesheimer,
Die Beschreibung des Herodianischen Tempels im Traktate Middoth und bei Fla-
vius Josephus, Berlin 1876; Klausner, Historia III, SS 1—5, 11, 12 (Jerus. 1924);
W. Otto, Herodes, Stuttgart 1913 (zitiert in dem letztgenannten Werke).
SS 55—58. (Die Erben Herodes I.)
Jüd. Altertümer, XVII, 9—13; Jüd. Krieg I, 33 (am Ende) u. II, 1—7; Bruch-
stücke aus Nicolaus Damascenus — in der Sammlung von Müller: Fragmenta Hi-
storicorum graecorum, t. III, 353 f.; Reinach, Textes, 85—87, I12> 1&1> 3i5
(Exzerpte aus Strabo, Dio Cassius und Tacitus, Hist. V, 9). Mommsen, o. c. V,
507—509; Graetz III, 2 46—254 und Note 18; Schürer I, 4*8—425, 449—454-
SS 59—60. (Der Pharisäismus und die Reform Hillels)
Die talmudischen Nachrichten über Hillel sind eingehend behandelt in dem
Werke von Weiß, Dor dor we’dorschow I, cap. 16—18; Derenbourg, op. cit.
chap. XI; Graetz III, 170, 171, 192, 207—214 und Noten 16—17. — Chwolson,
Bibliographie
Das letzte Passahmahl Christi (1908), 20—3o (über das Synhedrion); Jelski, Die
innere Einrichtung d. großen Synhedrion zu Jerusalem (1894); Büchler, Das
Synedrion in Jerusalem, Wien 1902; Klausner, Historia III, S 10.
S 61. (Apokryphen und Apokalypsen)
Kittel, Die Psalmen Salomos, in Kautzschs Apokryphen und Pseudepigra-
phen II, 127—148; Kamenetzki, Tehiloth Schelomo (eine hebräische Übertragung
aus dem Griechischen — in der Zeitschrift „Ha’schiloach“ B. XIII, 1904)- —
Beer, Das Buch Henoch (Apokryphen II, 217—310); Martin, Le livre d’Hbnoch
traduit sur le texte Äthiopien, Paris 1906; Goldschmidt, Sefer Chanoch, Berlin
1892 (hebräische Übersetzung). Morfill and Charles, The Book of the secrets
of Enoch translated from the Slavonic, Oxford 1896. — Littmann, Das Buch
der Jubiläen (Apokr. II, 3i—118); Charles, The Book of Jubilees or the
little Genesis translated from the ethiopic text, London 1902; idem, Apo-
crypha and Pseudepigrapha, vol. I—II (1913). — Schürer III, 2o5—212 (über
die Psalmen Salomos), 268—294 (über das Henochbuch), 371—384 (über das
Jubiläenbuch).
S 62, (Ägypten und Gyrenaica)
Außer den im Text angeführten Berichten des Philo und des Talmud s. noch
— Jüd. Altertümer XIV, 7, 2 (Exzerpt aus Strabo); vgl. dazu Reinach, o. c. 91—
93; Mitteis-Wilcken, Papyruskunde II, Nr. 58 (mit der Berichtigung von Schürer
III, 718); Mommsen, Röm. Gesch. V, 489, 491, 492, 554 f-); Schürer III, 35—
37, 02—54, 76—79, i32— 134; Bludau, Juden in Alexandria (1906); Fuchs, Die
Juden Ägyptens (1924)- S. oben, Anhang, Note 6.
S 63. (Die Diaspora in Kleinasien, Syrien, Mesopotamien)
Mommsen, Röm. Gesch. Kap. 8, 9, 10 (allgemeine Verfassung der beiden rö-
mischen Provinzen und über die Parther). — Über die in den Jüd. Altertümern
XIV, 10 u. XVI, 6 angeführten Erlasse des Caesar und Augustus — s. die Unter-
suchungen: Schürer III, 109—117; Graetz, Die Stellung der kleinasiatischen Ju-
den unter der Römerherrschaft (Monatsschrift f. Gesch. u. Wiss. d. Judentums,
1886, 329—346); idem, Gesch. III, 660—671; Juster, op. cit. I, i32— 169.
* S 64- (Die Diaspora in Griechenland und Rom)
Philo, Legatio ad Cajum, SS 23,36; Cicero, Pro Flacco, S 28 (Reinach, Textes
237—241); Suetonius, Caesar, SS 42, 84; Schürer III, 55—60; Radin, The Jews
among the Greeks and Romans, 22 1—235, 243—244 (Philadelphia 1915)-
S 65. (Die Literatur der Diaspora)
Das Zitat auf S. 35o ist einem Vortrag von Harnacks in der Berliner Aka-
demie entnommen: Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1902, S. 5o8 (zit. nach
Staerk, Neutest. Zeitgeschichte II, 5o). Schürer III, 553—092: über die Sibylli-
nischen Bücher; Blaß, Die Sibyllinischen Orakel (Kautzsch, Apokryphen und
Pseudepigraphen II, 177—216); Geffcken, Oracula Sibyllina, Berlin 1902 (neue
kritische Ausgabe der griechischen Texte); Steinberg, Chason ha’sibylloth (hebräi-
sche Übersetzung des III., IV. u. V. Sibyllinischen Buches, in dem Sammelwerk
„Meassef“, der Beilage zum Jahrbuch „Ha’assif“ III, Warschau 1887). — Sieg-
fried, Die Weisheit Salomos (Apokryphen etc. I, 476—507); Deane, The Book
of Wisdom, the greek text, the latin Vulgate and the english Version (Oxford
1881); Graetz III, Note 3, S. 609—613; Schürer III, 5o5—5i2; Meyer, o. c.
Bibliographie
II, 362—o63; Klausner IV, 4o—4q* — Deißmann, Das vierte Makkabäerbuch
(Kautzschs Apokryphen etc. II, 149—177); Flavii Josephi Opera ed. 1785, t. III,
р. 1298—1355: der griechische Text des IV. Makkabäerbuches mit lateinischer
Übersetzung; vgl. Schürer III, 524—528, u. Graetz III, Note 3, S. 615—619.
SS 66—67. römische Herrschaft)
Schürer, Gesch. I, 454—485: über die Machtbefugnisse der Procuratoren und
die Rechte der Selbstverwaltung; Mommsen, Röm. Gesch. V, 509—515; Staerk, o.
с. I, S 4; Juster, o. c. I, 243, 4oo; II, 1—2, 128—i32.
S 68. (Der Census und die ersten Procuratoren)
Jüd. Altertümer XVIII, 1—3; Jüd. Krieg II, 8, 1; Apostelgeschichte 5, 37;
Lukasevangelium 2, 1 f. (über den ,.Census“). Schürer I, 486—488, 5o8—543
(Anhang: Die Schatzung des Quirinius); Graetz III, 259—261.
S 69. (Die Volksunruhen unter Pilatus)
Jüd. Altert. XVIII, 3—4; Jüd. Krieg II, 9, 2—4; Philo, Legatio ad Cajum,
S 38; Lukasevangelium 3, 1 u. i3, 1, sowie die Sagen von Pilatus und dem Ge-
richte über Christus in allen Evangelien. Eusebius, Historia ecclesiae II, 6, 4—7-
— Schürer I, 488—494-
SS 70—71. (Die Tetrarchen und Agrippa)
Jüd. Altertümer XVIII, 2—7; Jüd. Krieg II, 9; Autobiographie des Jo-
sephus Flavius, S 9; Madden, Coins of the Jews, pp. 118—127 (Über die Münzen
der Tetrarchen); Corpus inscriptionum graecarum Nr. 2 002 (Inschrift über He-
rodes-Antipas); Neues Testament: Matth. 14, 1—11; Mark. 6. i4— 28; Luk. 3,
191 9» 7“~9>* *3, 31; 23, 7. — Schürer I, 425—43p (ausführliche Bibliographie);
— Klausner III, S 16—17.
SS 72—73. (Alexandrien und Judäa unter Caligula)
Philo: Legatio ad Cajum; In Flaccum. — Jüd. Altertümer XVIII, 8; XIX,
1; Jüd. Krieg II, 10; die talmudische Überlieferung — Derenbourg, Palestine,
chap. XIII; Graetz III, 32 3—343 und Note 21. — Mommsen V, 515—522;
Bludau, Juden und Judenverfolgungen in Alexandria (1906); Mitteis-Wilcken,
Papyruskunde II, Nr. i4 (die Prozeßverhandlung gegen Isidorus und Lampon);
Wilcken, Zum alexandrinischen Antisemitismus (Abhandlungen d. Sächsischen Ge-
sell. d. Wissenschaft, Bd. 37, Leipzig 1909); Reinach, L’empereur Claude et les
antisemites alexandriens (Rev. d. etudes juives 1895, t. 3i); Lurje, Der Anti-
semitismus in der antiken Welt, Petersburg 1922 (russisch); Klausner III, SS 32—
34; Juster, o. c. I, 339—354 (über den Caesarenkult). S. oben. Anhang, Note 6.
S 74- (Agrippa I.)
Jüd. Altertümer XIX, 5—9; Jüd. Krieg II, 11; Dio Cassius, Hist. Rom.
4o, 8; die im Text erwähnten talmudischen Überlieferungen über Agrippa, sowie
andere ihn betreffende talmud. Überlieferungen — bei Derenbourg, chap. XIII,
Schürer I, 553—564; Graetz III, 345—355: Madden, Coins etc. 129—139.
SS 75—77. (Die neuen Procuratoren)
Jüd. Altertümer XX, 1, 5—8; Jüd. Krieg II, 12—13; Tacitus, Annales XII,
54; Histor. V, 9; Suetonius, Claudius, 28: Apostelgeschichte (außer den im Text
angeführten Parallelstellen) Kap. 25—27; Mommsen, Röm. Gesch. V, 52 5—529;
Schürer I, 564—58o; Derenbourg, chap. XIV.
38 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. II
593
Bibliographie
§ 78. (Agrippa II. und die Hohepriester)
Jüd. Altertümer XX, die Kap. 1, 6, 7, 8; Jüd. Krieg II, 11—13; Apostel-
geschichte 25; Derenbourg, chap. XV-XVI (talmudische Nachrichten); Graetz III,
Note 19: Die Hohepriester in der herodianischen Zeit; Madden, Coins i4o—160
(die Münzen Agrippas II.); Schürer I, 581, 586—591.
SS 79—82. (Der Aufstand im Jahre 66)
Jüd. Altertümer XX, 9—11 (Schlußteil des Buches); Jüd. Krieg II, i4—19;
Autobiographie des Josephus, SS 6 u. 11; Tacitus, Hist. Y, 10. Mommscn
V, 529—532; Derenbourg, Note 10; Graetz III, 445—473 und Note 26; Schürer
I, 583—585, 601—6o5; Klausner, Historia IV, SS 14—18; Bludau, Alexandria,
88—89. Über die Kämpfe in der Diaspora s. unten, Bibliogr. zu § 9.4.
SS 83—84- (Die Regierung der Landesverteidigung)
Jüd. Krieg II, 20—22; III u. IV, 1—2; Autobiographie des Josephus,
SS 1—75; Tacitus, Histor. V, 10; Suetonius, Vespasianus, S 5; idem, Titus, S 4;
Graetz III, 478—502; Mommsen V, 532—535; Schürer I, 606—617; Klausner
IV, SS 19—2 5 (eingehende Analyse der Quellen unter Berücksichtigung der neue-
sten Untersuchungen von: Laqueur, Der jüdische Historiker Flavius Josephus,
Gießen 1920; Weber, Josephus und Vespasian: Untersuchungen zum jüdischen
Krieg, Stuttgart 1921; Klein, Neue Beiträge zur Geschichte u. Geographie Gali-
läas. Wien 1923).
SS 85—90. (Der nationale Krieg und der Fall Judäas)
Jüd. Krieg IV, 3—11 u. V—VII; Tacitus, Hist. V, 11—13; Sulpicius Se-
verus — Exzerpt bei Reinach, Textes 32 4; Suetonius: Vespasianus, 4; Titus, 4—5;
Dio Cassius, Hist. 66, 4—7 (Reinach, 189—195); Talmud (die miteinander ver-
mengten Überlieferungen über die Kriege gegen Vespasian und Titus und über
den gegen Hadrian): Gittin 55—58; Kethuboth 66—67; Aboth de’Rabbi Nathan,
cap. 4, 17; Midrasch Echa, passim; Megillath Taanith, 29. Derenbourg, chap.
16—18; Graetz III, 5o4—55o und Note 29. — Mommsen, Röm. Gesch. V, 535—
538; Schürer I, 617—642; Madden, Coins etc. (über die anläßlich der Unter-
werfung Judäas geschlagenen römischen Münzen); Klausner, Hist. IV, SS 27—43.
SS 91—92. (Die Krise im jüdischen Parteiwesen)
Talmud (babyl.): Sabbat i3—17 (über die 18 Verordnungen nebst den Par-
allelen aus dem Jerus. Talmud Fol. 1—3), n5; Jebamoth 116; Gittin 32, 34,
36 (vgl. Jerus. Talm. Maasser Scheni V, 6, u. Tosephta Sanhedrin, Kap. II —
über die Reformen des Gamaliel). — Autobiographie des Josephus SS 38, 3g,
44, 60 (Simon ben Gamaliel). Apostelgeschichte 5, 34 u. 20, 5 (Gamaliel). Über
die Essäer s. Bibliogr. zu S 36 und das Zitat aus Plinius bei Reinach, Textes
272—273. ! 1
S 93. (Pseudobiblisches Schrifttum)
Schnapp, Die Testamente der 12 Patriarchen (Kautzsch, Apokryphen II,
458—5o5); Charles, The Testaments of the twelve Patriarchs, London 1908 (engli-
sche Übersetzung); idem, The greek versions of the Testaments (Oxford 19°$);
Gaster, Hebrew Text of one of the Testaments of 12 Patriarchs, 189 4; Köhler,
Jewish Encyclopedia vol. XII, n3—118; Clemen, Die Himmelfahrt Moses*
(Kautzsch II, 311—33o); Charles, The Assumption of Moses, translated from the
latin MS., London 1897. ~ Schürer III, 339—356, 294—3o5. — S. den Artikel:
Apocalyptic Literature, Jewish Encyclopedia I, 679—680.
Bibliographie
S 94. (Die Kämpfe in der Diaspora)
Philo, Legatio ad Cajum, $ 36; Josephus: Jüd. Altertümer XIX, 5; Jüd.
Krieg II, 18; VII, 3, 5, 10, 11; Gegen Apion II, 3 ff.; Autobiographie,
$ 76; Bludau, Alexandria, 88— io4; Schürer III, 60—65, 538; Mommsen V,
470—471, 517, 539; Harnack, Mission und Ausbreitung d. Christentums, Kap. I
(1906). S. oben, Anhang, Note 6.
S 95. (Die Propaganda und die Proselyten)
Josephus: Gegen Apion II, 10 u. 39; Jüd. Krieg VII, 3, 3; Jüd. Alter-
tümer XVIII, 3, 4—5. Die römischen Schriftsteller über das Judentum — bei
Reinach, Textes, p. 2 44—49» 262—66; Radin, The Jews among the Greeks and
the Romans (Philad. 1915), p. 2 45—2 56, 3o4—32 2; Schürer III, i5o—188:
Die Proselyten; Cumont, Les religions orientales dans le paganisme romain (1906);
Berliner, Geschichte der Juden in Rom I, 23—20, 37—42; Lew, Le proselitisme
Juif (Rev. d. 6t. j. igoö, t. 5o); Weiß, op. c. t. I, 192—193; Bousset, Die Re-
ligion d. Judentums im neutest. Zeitalter (1906); M. Friedländer, Das Juden-
tum in der vorchristlichen griechischen Welt (1897); Herschberg, Tenuath
ha’hithgairuth bi’tkufath ha’baith ha’scheni („Ha'tkufä“, tt. XII—XIII, War-
schau 1922).
$ 96. (Babylonien und Adiabene)
Jüd. Altertümer XVIII, 9; XX, 2—4; Jüd. Krieg II, 16, 4 u. 19, 2; V,
2, 2 u. 4, 2; VI, 6, 3—4; Tacitus, Annales XII, i3, 14; XV, 1, i4; Dio Cassius,
62, 20, 23; 68, 1; Eusebius, Hist. Ecclesiae II, 12, 3. Talmud: Joma, 37
(Mischna); Nasir, 19; Baba-Bathra 11; Sukka 2. Midrasch rabba: Bereschith,
Kap. 46. Derenbourg, Palestine, chap. XIV; Mommsen, Röm. Gesch. V, 346,
379 f.; Schürer III, 6—10, 169—172; Graetz, III, 4o3— 4o8 und Note 23.
S 97. (Philo von Alexandrien)
Philonis Judaei opera, ed. Mangey, t. I—II, London 1742; Philonis Alexan-
drini opera, ed. Cohn et Wendland, t. I—V, Berlin 1896—1906 (Kritische Ausgabe
des griechischen Textes); L. Cohn, Die Werke Philos v. Alexandrien in deutscher
Übersetzung, Bd. I—III, Breslau, 1909—1919; Krochmal, More nebuche ha’sman,
cap. XII; Graetz III, Note 25; Schürer III, S 34, S-. 633—716 (erschöpfende
Bibliographie); Siegfried, Philo als Ausleger d. Alt. Testaments (1875); Treitel,
Gesamt-Theologie und Philosophie Philos von Alexandria (1924); idem, Aggady
bei Philo (Monatsschrift f. Gesch. d. Jud. 1909); N. Bentwitch, Philo Judaeus
of Alexandria (Philadelphia 1910).
SS 98—104. (Die Entstehung des Christentums)
Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas, Apostelgeschichte, die Briefe
des Apostels Paulus. — Krauß, Das Leben Jesu nach jüdischen Quellen, Berlin
1902; Chwolson, Das letzte Passahmahl Christi, Leipzig 1908; Graetz, Gesch. III,
Kap. XI u. XIII; Pf leiderer, Das Urchristentum, seine Schriften und Lehren,
1887; idem, Die Entstehung des Christentums, 1905 (kurzgefaßter Abriß); Karl
Kautsky, Antike Welt, Judentum und Christentum (1909); Wellhausen, Einleitung
in die drei ersten Evangelien (1905); idem, Isr. u. jüd. Gesch., 373—386 (Schluß-
kapitel: Das Evangelium); Ed. Meyer, Ursprung und Anfänge des Christentums:
Bd. I, Die Evangelien; Bd. II, Die Entwicklung des Judentums und Jesus von
Nazareth; Bd. III, Der Apostel Paulus (Berlin 1921—1923); Klausner, Jeschu
ha’nozri, Jerusalem, 1922 (ausführliche Monographie mit umfassender Bibliogra-
5q5
38*
Bibliographie
phie); idem, Historia israelith III, SS 21—31; IV, SS 9—10. — Aus der neuesten
apologetischen Literatur über die geschichtlichen Wechselbeziehungen zwischen Ju-
dentum und Urchristentum, in der das Für und Wider vom jüdischen und christ-
lichen Standpunkte zur Geltung kommt, * seien hervorgehoben: Harnack, Das
Wesen des Christentums (1908); Eschelbacher, Das Judentum und das Wesen
des Christentums, Berlin 1906; Perles, Boussets Religion des Judentums im Neu-
testamentlichen Zeitalter kritisch untersucht; C. Montefiore, The synoptic Gospels,
2 vis. London 1909 (s. die Würdigung dieses neuen Versuches, ein jüdisches
Christentum anzubahnen, in dem Aufsatz von Achad-Haam: Al schtei ha’seipim,
in der Zeitschrift ,,Ha’schiloach“, 1910, Nr. 8, sowie in den gesammelten Schrif-
ten ,,A1 paraschath derachim“, t. IV, 38—56 (Berlin 1913).
596
Das Haus der Hasmonäer* *)
Mattathias
(gest. 166)
Simon
(gest. 155)
Juda
(gest. 160)
Eleasar
Jochanan-Hyrkanus I.
(gest. 104)
Juda-Aristobulus I.
(gest. 105)
Al exan der-J ann aus
(gest. 76)
Salome-Alexandra
(gest. 67)
Hyrkan II.
(gest. 30)
.....--.—
Jonathan
(gest. 143)
Aristobulus II.
(gest. 49)
Alexandra-
(gest. 28)
-Alexander
(gest. 49)
Antigonus
(gest. 37)
Aristobul III.
(gest. 35)
Mariamme
(verm. mit Herodes I., gest. 29)
Das Haus des Herodes
Antipater (Kypros)
(gest. 43)
Phasael Herodes I. Pheroras Salome
(gest. 40). (gest.4 v. d. ehr. Ära) (gest. 5 v. d. ehr. Ära) (1. Joseph, 2.Kostobar)
(2.) Berenike
(Aristobulus,
Sohn
(Doris) (Mariamme I.) (Mariamme II.) (Kleopatra)
I (gest. 29) (Malthake) _ I
Antipater 'v 11 ......^ .■—i— . Philippus
(gest. 4 v. Alexander Archelaus Antipas (gest-34 Mariammei.)
d. ehr. Ara) Aristobul (6d. (39 d. d. ehr. Ara)
(gest. 7 ehr. Ära) ehr. Ära)
v. d. ehr. Ära)
Herodes v. Chalkis Agrippa I.
(Berenike, Tochter Agrippa I.) (gest. 44 d. ehr. Ära)
Herodias
Agrippa II.
(gest. 100 d. ehr. Ära)
Berenike Drusilla
(Herodes v. Chalkis) (Felix)
*) In beiden genealogischen Tabellen sind nur Namen von geschichtlicher
Bedeutung angeführt.
597
Namen- und Sachregister
Abgaben — 24, 27 f., 278 f., 372 f.,
375 ff., 46g.
Absonderung — 145, 342, 367, 474,
494 f., 02 4- S. Assimilation, Chri-
stentum, Hellenisten, Pharisäer.
Abtalion — 267 (Anm.), 261, 3i2ff.,
3i5.
Adiabene — 42 5, 5o5 f£.
Agrippa I. — 385 ff., 390 f., 3gS ff.,
545.
Agrippa II. — 4o5, 407, 4i6f., 423ff.,
442, 445, 454, 557.
Ägypten — i5, 20 f., 23 f., mff.,
124, 212 ff., 334 ff., 38p ff., 434 f.,
486 ff.
Ahikar, Buch — 211 f.
Akko (Ptolemais) — 66, 126, i55,
397 f., 442.
Akra - 54 f., 64, 68, 84, 88.
Alabarch (Arabarch) — 335 f., 390,
396.
Albinus, Procurator — 419 f.
Alcimus, Hohepriester — 72 f., 79 ff.
Alexander, Alabarch — 390, 3g6, 4o8.
Alexander Balas — 81 ff.
Alexander der Große — 11, i4, 17 ff-,
91*
Alexander-Jannäus — i54ff-, 162 ff.
Alexander, Prinz (Sohn des Aristobu-
lus) — 171, i83, 235, 238.
Alexander, Prinz (Sohn Herodes I.) —
285 ff.
Alexandra, Königin — s. Salome-Alex-
andra.
Alexandra, Tochter Hyrkans II. — 171,
261, 270 ff.
Alexandrien — 11, 20, 2 4f., 92,
112ff., 2i4f.. 335ff., 389ff., 434f*,
486 f., 584 ff.
Allegorismus — 222, 514, 5i7f.
Am haarez — 102, 532, 54o.
Ammoniter — 66, 127.
Ananos — s. Chanan.
Ananias — s. Chanan ja.
Aniläus und Asinäus — 5o3 ff.
Antigonus I., Prinz — i5i ff.
Antigonus II., König — i83, 2 36,
238 f., 2/19 ff., 259.
Antiochia — 39, 48, 84 f-, 343, 491 ff..
546, 548, 553 f.
Antiochus III. der Große — 3o, 39 f.,
44 f.
Antiochus IV. Epiphanes — 46 f., 53 f.,
67, io5, 109.
Antiochus V. Eupator — 67 f.
Antiochus VII. Sidetes — i3o, i35.
Antiochus IX. Kysikenos — i38.
Antiochus, Renegat — 492.
Antipas — s. Herodes-Antipas.
Antipater, Vater Herodes I. — 171,
234, 238 f., 244-
Antipater, Sohn Herodes I. — 285 ff.,
290 ff.
Antonius, Marcus — 236, 2 45, 248,
253, 264f.
Apion — 394 f-, 487 f.
Apokalypse — 106, 32 2 f.
Apokryphen — io3 f., 208, 322 f.,
481 ff., 566.
Apologie — 223 f., 35i, 5i5.
Araber — 66, 126, i36, 159, i63,
172 ff., 176, 384-
Archelaus, Ethnarch — 285, 297, 3o6.
Archonten (in Antiochia) — 492.
Aretas, König — i63, 172.
Aristeas, Brief des A. — 225.
Aristobulus I. — i5i ff.
Aristobulus II. — i65, 168, 170 ff.,
i83, 236 f.
Namen- und Sachregister
x\rislobulus III., Hohepriester — 261 ff.
Aristobulus, Prinz, Sohn Herodes I. —
285 ff.
Aristobulus, Philosoph — 221.
Aristokratie — 144, 429, 437, 448ff.
Aristoteles — 91, 110 (Anm.).
Armenier — 167.
Arsaciden — 3g, 343, 5o3 f.
Artabanus III. — 5o3, 5o6.
Artapanus — 222.
„Asia“, röm. Provinz — 389. S. Klein-
asien.
,,Asien“ (das Seleucidische) — i5, 22,
39 ff.
Assimilation — l\2 i., 112, 185 f., 374.
S. Hellenisten, Christentum.
Athen — i3, 278, 345.
Auferstehung der Toten — 190 f., 194,
556, 578. S. Unsterblichkeit, Ver-
geltung im Jenseits.
Augustus — 267 f., 280, 34i f-, 349.
Autonomie — 33f., 35f., 2i4f-, 239!!.,
335 f., 338 ff., 343, 373, 487 f.
Babylonien —21, 251, 261, 343 f.,
5o3 f.
Bacchides — 72 f., 78.
Bar Giora, Simon — 431, 452 ff., 464*
Barnabas — 546, 548.
Bathanäa (Basan) — 66, 281, 3o6, 382.
Bathyra — 344*
Ben Sirah, Josua — 37 f., 98 ff., 217 f.
Berenike, Prinzessin — 4o5, 416 f.,
A22, 426, 442, 454, 509, 557.
Berenike, Stadt — 338.
Berossos — m.
Berytus (Beirut) — 289, 4o2, 465.
Bethschean — s. Skythopolis.
Bethsura — 63, 65, 68 f., 127.
Bibel — 91 ff., 112 ff., 217 f., 332ff.,
35of., 5ioff. S. Ketubim, Septua-
ginta, Thora.
Bne-Baba — 274.
Bne-Bathira — 3i3, 316, 344-
Boethos, Priestergeschlecht — 2 83,
307, 375, 4oi, 4i8 f.
Boethosäer — 191 (Anm. 1), 2 83, 310.
Caesar, Julius — 287 ff., 34o, 348 f.
Caesarea am Meere — 278, 308, 372,
379, 4o3f., 4i4f-, 421 f., 433,
465.
Caesarea-Philippi — 382, 416, 445,
465.
Caesarenkultus (Kaiserkultus) — 275 f.,
374, 378 f., 388 f., 396 ff., 496.
Caligula — 385, 388 ff., 3g3 ff.,
396 ff.
Cassius — 237, 2 44 ff.
,,Census“ (römischer) — 375 ff.
Cestius Gallus — 420, 43o f.
Chanan (Ananos), Hohepriesterge-
schlecht — 378, 418, 437, 449 f-,
478.
Chananel, Hohepr. — 262.
Chananja, Feldherr — i56, 216.
Chananja, Hohepr. — 418 f., 429, 556.
Chanuka — 64 f-, 2i4, 219.
Chassidäer — 16, 43 f., 71 ff., 77, io4,
108, 174.
Chassidismus — 54o, 542, 582 f.
Chonia — s. Onias.
Chonia ha’meagel (Onias) — 174 f.,
2o4-
„Christen“ — 548.
Christentum — 369, 38o, 483, 5oo,
523 ff., 536 ff., 579 ff.
„Christus“ - 534 ff., 548.
Cicero -- 346 ff.
Claudius — 399 ff., 4o5 ff., [\ii, 487,
499 f., 584 ff.
Coelesyrien — 19 f., 26, 32, i63, 244,
486.
Coponius, Proc. — 375 f.
Crassus — 287.
Cumanus, Proc. — 4o8 f.
Cyrene, Cyrenaica — 338 f., 491*
Damaskus — 176, 343, 434, 493.
496, 547.
Dämonologie — s. Engellehre.
Daniel, Buch — 22 f., 26 (Anm.), 34 f*,
45 ff., 56, io5ff., 218 (griech. Zu-
sätze), 322, 320.
Dekapolis — i63, 182 f., 433.
Demetrius I. — 71 f., 81 f.
Demetrius II. — 83 ff., 129 f.
Demetrius III. Eukärus — 160.
Demetrius, Schriftsteller — 222.
Diadochen — 20 ff.
599
Namen- und Sachregister
Diaspora — 14 f24 f-, 4o, 112 f.,
i24 f-, i84f-, 212 f., 233, 240,
334 ff-, 369 f., 485 ff.
Diodotos Trypho — 85 ff., 129E
Diogenes, Sadduzäer — 162, 166.
Drusilla — 4oi, 4o5, l\7i, 417, 556.
Edom, Edomiter — 66, 126 f., i36 f.,
3o8, 449.
Eleasar, Hohepr. — 2 4» n3.
Eleasar ben Chananja — 427, 436, 474
Eleasar ben Dinai — 410, (\I2.
Eleasar ben Jair — 468.
Eleasar ben Simon — 448, 453 f.
Engellehre — 210, 325 f., 33o, 332.
Epikureismus — 97, 356, 358.
Esra, Drittes Buch — 217.
Essäer — 200 ff., 3iof., 325, 33o,
332, 478 ff., 524, 528, 544, 575 ff.
Esther, Buch — 109, 217 f.
Ethik - 3i8f., 359 f.f 514 f-, 54of.
S. Moral.
Ethnarch — 83, 90, 182, 2i4f., 3o6,
335.
Eupolemus — 222.
Europa (Diaspora) — 345 ff., 486,
493 f.
Evangelien — 534 f-, 536 f.
Ezechias — 2 4i.
Ezechiel, Schriftsteller — 2 2 3.
Fadus Cuspius, Proc. — 406.
Familie — 199, 284 ff.
Felix, Proc. — 4nf., 556 f.
Festus, Proc. — 4i4f-, 557.
Flaccus, Valerius — 341, 346.
Flaccus, Avilius — 391 f.
Florus, Gessius — 420 f., 433, 436.
Gabinius — 2 34 ff.
Galiläa — 4i, 66, 126, iÖ2, 24i f-,
254 f., 3oi, 3o6, 383, 4o6, 436,
438 ff., 441 ff-, 532, 58off.
Gamala — 446 f.
Gamaliel I. der Alte — 472 f., 545,
547.
Gaza — 17, 21, 126, i56, 182, 270,
3o6.
Gerichtswesen — i4i f.» 190, 198 f.,
198 f., 373.
Gerusia (Ältestenrat) — 24, 33, 35,
i4o, 335. 392 f., 490.
Gesetz — s. Thora.
Gilead — 66. S. Transjordanien.
Gis’chala — 447- S. Jochanan von Gis’-
chala.
Gratus, Proc. — 378.
Griechen — 11 ff., 65, 109 ff., 160 f.,
i85f., 336, 342, 38g ff., 414,
421 f., 433, 487 ff.
Griechenland — 12, 175, 345, 486,
554.
Handel — i5, 4i f-, 186, 3i8.
Hasmonäer — 16, 5g f., 73, 77, 81,
90, 121 f., i83f., 260 ff., 274.
Hebron — 67.
Heidentum — i3, 4o, 55 f., 348 f.,
432 f., 492, 494 ff-
Hekatäus von Abdera — uof., 224.
Helena, Königin — 5o5 ff.
Hellenismus — i3f., i5f., 4i, gif-,
121, 497 f. S. Hellenisten.
Hellenisten, Partei der — i5, 43, 48,
5o, 68. 71 f., 82 f., 121.
Hellenistische Kultur — i4 (Anm.),
4o, gif., 112, 184 ff-, 216 ff., 275.
Henoch, Buch — 325 ff., 483.
Herodes I., König — 24off„ 247,
2Ö2 ff., 260 ff., 295.
Herodes TI. von Chalkis — 385, 4o5,
4o8.
Herodes-Antipas, Tetrarch — 285, 297,
3o6, 38i ff., 527, 529.
Herodias — 384, 386, 52g.
Herodot — 12.
Hillel - 3i3 ff., 345.
Hilleliten — 474, 476.
„Himmelfahrt Moses’“, Buch — 484 f-
Historiographie — 102, mf., 206 ff.,
218 ff., 42 4 ff-, 565 ff.
Historiosophie — 106 f., 327 f.
„Hohelied“, Buch — 93 ff.
Hohepriester — 18, 24, 35 ff., 82 f.,
90, 166, 261 ff., 282, 807, 378,
38i, 4oi, 4o6 f., 4o8, 4i6ff„ 44g.
Homer — 12 f., 353 (Anm. 3), 4g5
(Anm.), 517.
Horaz — 286, 349, 5oo.
Hyrkanus ben Joseph — 32, 35.
600
Namen- und Sachregister
Hyrkan II. — i65f., 170, 182, 234,
289 ff.. 25o ff., 261, 268 f.
Idumäa, Iduinäer — s. Edom, Edomiter.
Individualismus (religiöser) — 2o5, 333,
524, 56o, 582.
Isidorus und Lampon — 3go, 3g5 f.
Ismael ben Phiabi — 378, /|i8f.
Italien — 345. S. Rom.
Izates -- 5o5 ff.
Jaddua, Holiepr. — 18. 2 4-
Jaffa (Jope) — 84, 86, 89, i3o, i34,
182, 2l[ö, 270, 43o, 477.
Jakobus, Bruder Christi — 418, 543,
553.
Jamnia (Jabne) — i3o, 396, 477*
Jannäus — s. Alexander-Jannäus.
Jason, Hohepr. — 48 f., Ö2.
Jason von Cyrene — 219. S. II. Mak-
kabäerbuch.
Javan — 12. S. Griechen.
Jericho — 264, 266, 270.
Jerusalem — 17!., 20 f., 3i, 64, 72 h,
110 (Anm.), 173 f., 180 ff., 2Öof.,
256ff., 299, 337, 378f., 417, 422f.,
43o, 448 ff., 453 ff., 469, 486.
Jesus Christus — 526, 53i ff., 579 ff.
Jochanan-Hyrkanus — i3i ff., 147 ff.
Jochanan von Gis’chala — 44o, 447,
45o, 453, 464, 466.
Jochanan ben Sakkai — 476 f.
Johannes (Jochanan) der Täufer —
384, 526, 528 ff.
Jonathan der Hasmonäer — 59, 66,
78 h, 82 ff., 86 f.
Jonathan, Hohepr. — 381, 4ioff.
Jonathan, Zelot — 4g i-
Jonische Inseln — 12, 342. S. Klein-
asien.
Jose ben Jochanan — 200.
Jose ben Joeser — 199.
Joseph ben Gorion — 438, 449-
Joseph ben Tobia — 27 ff., 3i. S.
Tobiaden.
Josepbus Flavius (ben Mattathias) —
436, 442 ff., 454, 457, 464, 48o,
489, 4g5 (Anm.), 629, 565ff., 571L
Josua ben Gamala — 419, 449, 45g.
Josua ben Perachja — 200.
Josua von Nazareth — s. Jesus Christus.
Jotapala — 443 f.
Jubiläen, Buch der — 331 f.
Juda Aristobulus — s. Aristobulus I.
Juda Galiläus — 3o2, 3ii, 376, 4o8.
Juda Ischarioth — 535.
Juda Makkabäus — 5g, 61 ff., 72 ff.
Juda ben Tabai — 197.
Judäa (Land) — 17 f., 22 ff., 3i,
4i ff., 110 (Anm.), 12/i, 182 ff.,
229, 3o6, 3o8, *365 f., 671, 4oo,
4o5 f., 466, 469 f.
Judaismus — i3, 16, 55, 432, 4g4ff-,
510 ff., 523 f., 528, 54of.
Judenanhang — 434, 4g6 f., 5o2 f.,
548, 552.
Judenchristen — 543, 552 ff.
Judenhaß — 65, 108, 389 f., 432 f.,
487 f., 492, 5oof.
Judenhetzen — 38g ff. (Alexandrien),
4i3 (Caesarea), 432 ff., 489 ff.
(Antiochia).
Jüdisch-hellenistischc Literatur — 218 ff.,
5o8 ff.
Judith, Buch — 208 f., 218.
Kaiaphas, Hohepr. — 378, 381.
Ketubim — io3, 208, 217.
Kleinasien — 12, 4o, 175 f., 184,
339 f., /196 f.
Kleopatra III. — i55f., 2i5f.
Kleopatra (die Letzte) — 248, 2 53,
264 ff., 270.
Kohelet, Buch — 93, 95 ff., 356.
Kommunismus — 202, 544-
Korinth — 345, 554-
Kosniopolitismus — 512.
Ktesiphon — 5o3, 5o5.
Kultur, Kulturkampf — i3f., 4o f.,
7if., giff., i84, 186, 275L, 4g4f-
Kultus, religiöser — i3, (\o, 55f., 64 f-,
189, 2o3f., 2i3f., 281, 203, 373f.,
39i f., 494 ff.
Leontopolis (Tempel) — 213, 491.
Libyen — s. Cyrene.
Literatur — 92 ff., 2o5 ff., 35off.,
481 ff., 5o8 ff.
Logos (bei Philo) — 358, 5i3.
Lysias — 62, 69 f.
6oi
Namen- und Sachregister
IVIacedonien — 17. S. Griechen.
Makkabäerbuch, Erstes — 206 ff., 218,
566.
Makkabäerbuch, Zweites —- 219 f., 566.
Makkabäerbuch, Drittes — 3i (Anm.),
2i5 (Anm.), 220. -
Makkabäerbuch, Viertes — 35g ff.
,,Makkabäus“ -- s. Juda Makkabäus.
Malichus — 2 45.
Manetho — 111.
Mariamme (Hasmonäerin) — 2 45, 257,
261, 264 ff-, 270 ff.
Martyrologie — 57, 36o, 56o.
Masada — 2Öo, 428, 452, 467 ff.,
48o.
Mattathias der Hasmonäer — 5g.
Menahem, Essäer — 310.
Menahem, Sikarier — 428 f.
Menelaus, Hohepr. — 49 ff*, 70.
Mesopotamien — s. Babylonien.
Messias, Messianismus — 32 4, 327, 407,
4i3, 479, 525 f., 534 ff-, 544, 548,
557 f.
Mithridates von Pontus — 175 f.
Mischna — 317, 5io. S. Mündliche
Lehre.
Mizpa — 63.
Modem — 69.
Monobazus — 5o5 ff.
Moral — 100ff., 359, 5i4f*, 556. S.
Ethik.
Mündliche Lehre — 188, 3i4ff-, 510,
5i6, 573.
Münzen (hasmonäische und herodiani-
sche) — 128, 139, IÖ2, i64, 25i,
383 (Anm.), 4o2, 4i6, 466 (röm.).
Nabatäer — 79, i36. S. Araber.
Nationalismus — i5, 58, 60, 2o5, 293,
320, 333, 432 ff., 476, 485 f.,
56o f.
Nehardea — 344, 5o3.
Nero — 4n, 414 f•» 45i, 489, 558.
„NeuerBund“ (Damascenischer) — 577 ff
Nicolaus Damascenus — 282, 290,
3o3 f., 342.
Nikanor, Tag des — 74.
Nisibis — 344, 5o3 f.
Nittai aus Arbela — 200.
Octavianus Augustus — 2 45, 2 53,
267 ff. S. Augustus.
Onias, Feldherr — 215.
Onias I., Hohepr. — 24.
Onias II., Hohepr. — 24, 27.
Onias III., Hohepr. — 45 ff., 5i, 212.
Onias IV. (Leontopolis) — 212 ff.
Ovid — 349, 5oo.
Palästina — 17, 89 ff., 126, i85,
432. S. Transjordanien, Judäa, Gali-
läa, Coelesyrien, Peräa.
Panias, Paneion — 32, 382.
Parthien, Parther — 39, i35, 2 48f.,
5o3 ff.
Passah — 173, 299, 409, 453.
Paulus, Apostel — 370, 5oo, Ö20 f.,
Ö27, 547 ff-, 552 ff.
Peräa — 281, 3o6, 383.
Petronius — 3g6 ff.
Petrus, Simon, Apostel — 533, 543,
553.
Pharisäer — 123, 143 ff., 167 ff.,
i65ff., 187 ff., 232, 283 f., 293,
3nff., 33o, 333, 867, 4oi,
471 ff*, 510, 538 ff., 545, 556,
56o, 571 ff.
Phasael — 2 4i, 247, 2Öof.
Pheroras, Tetrarch — 281, 288, 291 f.
Philippus — 285, 297, 3o6, 381 f.
Philo von Alexandrien — n3, 335, 337,
345, 355, 358, 370, 378, 390,
394 f., 4o8, 485 f., 5o8 ff.
Philo der Ältere —* 2 2 3.
Philosophie — 95 ff., 99 f., 35o, 355,
357 f., 5o8 ff.
Pilatus, Pontius — 878 ff., 534 ff.
Pitholaus — 2 36 f.
Platos Ideenlehre — 512.
Plinius der Ältere — 48o, 488.
Pompejus — 124, 176 ff., 235.
Procuratoren (römische) — 3o8, 365,
371 ff., 376 ff., 4o6 ff., 470.
Propaganda, religiöse — 351 ff., 355,
434 f., 494 ff-, 5o5 ff.
Prosbol — 317 f.
Proselytismus — s. Propaganda.
Psalmen, Hasmonäische — 10 4, 108.
„Psalmen Salomos“, Buch — 323 f.
Pseudepigraphen — 32 3, 355, 481.
602
Namen- und Sachregister
Pseudobiblisches Schrifttum — 323, 481.
Ptolemäer — n, i4f., 23 ff., 3g, 175,
212, 334-
Ptolemais — s. Akko.
Ptolemäus I. Lagi — 20, 23, 25.
Ptolemäus II. Philadefphus — 2Öf., n3.
Ptolemäus III. Euergetes — 26.
Ptolemäus IV. Philopator *- 3o.
Ptolemäus VI. Philometor — 53, 212.
Ptolemäus VII. Physkon 2i5f.
Ptolemäus ben Habub — i3i f.
Ptolemäus Lathurus — i55f., 216.
Purim — 74, 109.
Quirinius — 375, 378. S. Gensus.
Rationalismus — 99 f., 358 ff., 5o8 ff.
S. Philosophie, Ethik, Pharisäer.
Religion — 37 f., 55 f., 73, 187 ff.,
4g4ff., 024 ff. S. Judaismus, Kul-
tus, Propaganda, Literatur, Pharisäer,
Sadduzäer, Christentum.
Rom (Staat) — 44* 73 f., 86, 124,
128, i34, 175 ff., 180 ff., 229 ff.,
267 ff., 280 f., 334, 365 ff., 37iff.,
43o ff., 469 f.
Rom (Stadt) — 345 ff., 377 f., 465 ff.,
493 f., 498 ff., 558.
Sabbat— 21, 60, 181, 2o4, 3i5, 33if.,
337 f., 34if., 346, 5oo ff., 5o4,
53g.
Sadduzäer — 123, 143 ff., 157 ff.,
l65ff., 187 ff., 232, 2Ö2, 283,
3o9 f., 477 f-, 538, 556, 57i ff.
Salome-Alexandra, Königin —• i54,
i65 ff.
Salome, Schwester Herodes I. — 265,
286.
Salome, Tochter der Herodias — 384,
53o
Samaria — 19, 4i, 126, i38, 182,
270, 277, 3o8, 433.
Samaritaner — 19, 41, 137, 376, 38o,
410, 543.
Schammai — 319 f f.
Schebuoih — 189, 3oo, 4oi.
Schemaja — 2 43, 257 (Anm.), 261,
3i2 ff., 3i5.
Schemita -- 69, 317 f.
Schule — 199, 32 1, 337 f., 477-
Sebasle — s. Samaria.
Seleuciden — 11, i4, 21 f. (Ära), 3gf.,
81, i35, 175.
Seleucus I. — 21, 3g f.
Seleucus IV. — 45.
Seleucia — 39 (am Mittelm.).
Seleucia — 5o3 f. (am Tigris).
Seneca — 5oi.
Sepphoris — s. Zippora.
Septuaginta — n5ff., 207!., 216 ff.,
338, 35o, 5io.
Sibyllinische Bücher — 351 ff.
Sichern — 137 f., 38o.
Sikarier — 4i2 f., 4i5, 4*9 f-, 428f.,
452, 490.
Simon I., Hohepr. — 24, 36 (Anm.).
Simon II. der Gerechte, Hohepr. — 32,
36 ff.
Simon, Tempelaufseher — 45.
Simon ben Gamaliel — 437, 449» 472
(Anm.), 474 f-
Simon der Hasmonäer — 5g, 66, 86 ff.,
90, 127 ff., i32.
Simon ben Schetach — i58, 162, 167,
196 ff.
Skopos (Zophim) — 431.
Skythopolis (Bethschean) — !\i, i38,
182, 433,
Sokrates — i3f.
Sparta — 86 (Anm.), 278.
Sprache (aram.) — 2 5, 112, 186, 320
(Anm.), 338, 473.
Sprache (griech.) — i5, 2 5, 4i» io3,
112 f., 186, 207 f., 217 ff., 338,
5io.
Sprache (hebr.) — ii2ff., 186, 207,
338, 5io.
Staat — s. Sadduzäer, Pharisäer, Ze-
loten.
Statistik — 26, 335, 455.
Stephanus — 545.
Steuereinnehmer — 29, 335 f., 372 f.
Stoiker — 195, 356, 35g, 4g6, 512.
Strabo — 177 (Anm.), 259, 334 f.
Sukkoth — i33, i58, 189.
Susanna, Buch — 218.
Synagogen — io4 (Anm.), 2i3, 337 f.,
3gi, 421.
Smhedrioti — i4off., i48, 166, 190,
197 f., 243, 283, 3i3 ff., 373,
472 f., 535, 545, 556.
6o3
Namen- und Sachregister
Synkretismus — 221, 497» 5og, ^^9»
55o f.
Syrien (das seleucidische) — 17, 19 f£.,
3p, 81 ff., i35.
Syrien (das römische) — 176. i83,
233 f., 3o8, 339. 343, 371, 491 ff-
Tacitus — 58 (Anm.), 368, 4n, 48g.
Talmud — 317, 5i8, 520, 54i, 567.
Tarichea — 416, 43g, 446.
Tempel (Jerusalemer) — 37 f., 56, 64,
i58f., 173 f., 180 ff., 2i3, 279,
298 f., 337, 344, 346, 372, 374,
376, 383, 4o8, 417» 422, 46off.,
488.
Tempel (ägyptischer) — 2i3, 337, 491-
Tetrarchen — 247» 281, 3o6, 382.
Testamente der 12 Patriarchen, Buch—
481 ff.
Theater — 27h f., 4o2, 4o4-
Theodotus — 2 2 3.
Theokratie — 122 ff., 178, 3o5, 3ii.
Therapeuten, Sekte — 5i2 (Anm.).
Thessalonike — 345, 554-
Theuda — 407.
Thora — H2ff., 193, 3i4ff-, 5ioff.,
551. S. Bibel.
Tiberias — 383, 397, 4i6, 43g, 445.
Tiberius — 377 f., 498.
Tiberius-Alexander — 4o8, 435, 454-
Tigranes — 167.
Titus - 44i, 453 ff., 466.
Tobiaden — 3o (Anm.), 32, 42, 45.
Tobit, Buch — 209 ff.
Totes Meer (Asphaltsee) — 48o.
Trachonitis — 281, 382. S. Trans Jor-
danien.
Transjordanien — 35, 66 f., 126, 281,
344». 382 f., 4o6, 45i.
Trypho — s. Diodotos.
Unsterblichkeit der Seele — 194» 2o4,
293, 356 ff., 576. S. Vergeltung.
Varus — 292, 3oi ff.
Vergeilung (im Jenseits) — 191, 19 4»
328 ff., 356 f., 673. S. Unsterblich-
keit.
Vespasian — 441 ff-» 45of., 466
Vitellius — 38o.
Volkszählung — s. Census.
Wirtschaftliche Verhältnisse — 3o,
4i f., 128 f., 167, 186, 336, 3go.
„Weisheit Ben Sirahs“ — 100, 217.
,,Weisheit Salomos“ — 355 ff.
Zadok — 376, 472, 577.
Zadokiten — 90 f., 121, 144» 212.
S. Sadduzäer.
Zamaris — 344-
Zeloten — 867, 376, 4o8, 4io, 4i2 f.,
427 ff., 448 ff.» 453 ff., 463 f.,
468f., 49of., 536ff., 54o, 56o, 58o.
Zippora (Sepphoris) — 2 35, 2 54, 3o2,
383, 44o, 53i.