Die Entstehung des Christentums
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Rechnung tragen, und so machte er die harte religiös-sittliche Zucht
zur Voraussetzung für die Erhaltung des Keims. Die späteren geisti
gen Führer, von Esra bis zu den Pharisäern, Augenzeugen der schwe
ren Krisen der jüdischen Staatlichkeit, sahen die Unzulänglichkeit
der rein moralischen Disziplin ein und ergänzten sie daher durch
die Zucht des religiösen Gesetzes, des Ritus. Unermüdlich schmiede
ten die Pharisäer die eiserne, für die Pfeile der griechisch-römischen
Kultur undurchdringliche Rüstung des Gesetzes. Die schwere Rü
stung hemmte die Bewegungen, doch man entledigte sich ihrer nicht,
denn die Gefahr des politischen und geistigen Druckes der heidni
schen Umwelt war zu groß. Indem sich jedoch das Judentum gegen
die umgebende Welt absperrte, stieß es diese immer weiter von sich 1
und rückte dadurch die Verwirklichung des prophetischen Ideals
der Verwandlung des Judaismus in eine Weltreligion immer mehr
in die Ferne. So hatte sich der Kreis geschlossen: zur Erhaltung des
jüdischen Volkes, des Trägers der wahren Religion, tat es not, seine
Vermischung mit den anderen Völkern zu verhindern und es in den
Harnisch der nationalen Religion einzuzwängen, während für die Ver
wandlung des Judaismus in eine universale Religion es ebenso ge
boten war, sich mit der Auflösung des auserwählten Volkes unter
den anderen abzufinden. Es wurde immer klarer, daß nur eine indi
vidualistische Religion, nur der der nationalen Färbung entbehrende
persönliche Glaube zum Universalismus aufzusteigen vermag, denn
die persönlichen religiösen Bedürfnisse sind psychologisch bei allen
Menschen die gleichen. Die Neigung zum persönlichen Glauben ver
stärkte sich aber gerade damals in gewissen Kreisen des Judentums
infolge der Hypertrophie der pharisäischen nationalen Religiosität.
Noch war es den Essäern möglich, das Prinzip des persönlichen Glau
bens mit dem komplizierten System der rituellen Strenge zu ver
einen, aber sowohl in ihrer Mitte wie auch um sie herum brach sich
das Bewußtsein von der Bedingtheit der rituellen Formen immer mehr
Bahn. Philo von Alexandrien machte allerdings den Versuch, das
religiöse Ritual durch sein System der sittlichen Symbolik zu retten,
doch erwies sich seine philosophische Synthese der nationalen und
universalen Religion in der Atmosphäre des Widerstreites zwischen
Nation und Welt als durchaus unzeitgemäß.
Die Antinomie zwischen nationaler und persönlicher Religiosität
hatte sich im letzten Jahrhundert des Bestehens Judäas besonders