§ 6U. Die Anfänge der Diaspora in Europa
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genen unzüchtigen kleinasiatischen Kulte erlassene Verbot brauchte
naturgemäß den jüdischen Kultus nicht zu berühren, da er, trotz sei
ner orientalischen Herkunft, über jeden Verdacht, orgiastischen Aus
schweifungen zu frönen, durchaus erhaben war. Die jüdische Ge
meinde in Rom wußte die Gönnerschaft Caesars sehr wohl zu schät
zen und nahm nach dessen gewaltsamem Tode regen Anteil an der
öffentlichen Trauer. So berichtet der römische Geschichtsschreiber
Suetonius, die Juden Roms hätten ganze Nächte hindurch bei der
Asche des zugrunde gegangenen Diktators Wache gehalten und sei
nen frühzeitigen Tod bitterlich beweint.
Unter Kaiser Augustus würde die jüdische Kolonie in Rom noch
zahlreicher. Sie und die Hauptstadt Judäas standen in ständiger Ver
bindung miteinander. So wissen wir bereits, daß die Söhne und Erben
Herodes I. in Rom ihre Erziehung genossen, und daß gar oft Ge
sandtschaften und Abordnungen des judäischen Hofes und Volkes
dort vorsprachen. Die römischen Juden beteiligten sich ihrerseits in
lebhaftester Weise an dem Kampf der politischen Parteien, der um
jene Zeit Judäa in Atem hielt. Als nach dem Tode des Herodes
dessen Thronerben in Rom erschienen, um sich den Besitz der ihnen
hinterlassenen Landesteile durch die Sanktion des Kaisers Augustus
zu sichern, schlossen sich die römischen Juden nicht den Prätendenten
an, sondern der gleichfalls nach Rom gekommenen Abordnung der
Jerusalemer Rürger, die die Umwandlung Judäas in einen freien
Volksstaat zu erwirken suchte (§ 57). Dem Berichte des Josephus
zufolge waren es über 8000 römische Juden, die durch ihre Vertre
ter den Antrag der Volksdeputation unterstützten.
Nach den Anspielungen in den Werken der römischen Schrift
steller des „goldenen Zeitalters“ (Horaz, Tibullus, Ovid) zu urteilen,
beobachteten die Juden in Rom in strengster Weise die wichtigsten
Gesetze ihrer Religion, und namentlich die Vorschriften über die
Sabbatruhe. Diese Treue der Juden ihrem nationalen Glauben gegen
über, die sich dazu noch mit einem außerordentlichen Feingefühl für
das allgemeine politische Leben der Reichshauptstadt paarte, ver
setzte die Römer, die in ihrer Mitte nur sich rasch angleichende
Orientalen zu sehen gewohnt waren, in Staunen und flößte ihnen
manchmal sogar Furcht ein. Besorgniserregend für die Römer war
auch der Hang der Juden zu religiöser Propaganda. Dies erklärt zur
Genüge die hämischen oder höhnischen Bemerkungen der genannten