io5
§ 18. Die Literatur in der Zeit der Verfolgungen
Dieser trauervollen Zeitperiode gehört auch ein zum Teil in he
bräischer, zum Teil in aramäischer Sprache verfaßtes Buch an, das
eine Reihe von „Visionen“ und Prophezeiungen in mystischer Form
enthält. Der Verfasser des Buches war anscheinend ein Parteigänger
der Chassidäer und der leidenschaftlichen Patrioten. Von der Schrek-
kensherrschaft Antiochus IV. tief erschüttert, gab er sich der Me
ditation über die geschichtlichen Schicksale der jüdischen Nation
hin, und das Ergebnis seiner Betrachtungen war eine Reihe von
Schlußfolgerungen, die er veröffentlichte, um den sinkenden Mut
seiner Zeitgenossen anzufachen und ihnen die Hoffnung auf eine
bessere Zukunft einzuflößen. Der anonyme Verfasser legt seine Ge
danken und Träume in den Mund eines sagenhaften Gerechten aus
der Epoche des babylonischen Exils, des Daniel 1 ). Die erste Hälfte
seines Buches (Kap. i—6) ist der Darstellung einiger Geschehnisse
aus der Vergangenheit gewidmet, die mit den Ereignissen der Zeit
des Antiochus Epiphanes große Ähnlichkeit aufweisen. Zunächst wird
berichtet, wie die von dem Zerstörer Jerusalems, Nebukadrezzar, ge
fangen genommenen und nach Babylon gebrachten jüdischen Jüng
linge, Daniel und seine drei Gefährten (Chananja, Misael, Asarja),
am königlichen Hofe gehalten und dort erzogen wurden. Ihre jüdi
schen Namen ersetzte man hier durch babylonische (eine Anspielung
auf den Hang der Juden, sich griechische Namen beizulegen), und
ihre Kost bekamen sie von der königlichen Tafel. Allein die gottes-
fürchtigen Jünglinge berührten nicht das Fleisch und den Wein der
Heiden (im Gegensatz zu den Hellenisten), sondern nährten sich nur
von Früchten und Wasser. Weiter wird von der wunderbaren Erret
tung der drei Gefährten Daniels erzählt, die auch unter noch viel be
drohlicheren Umständen ihre Glaubenstreue standhaft bezeugten. Ne
bukadrezzar soll nämlich, gleich Antiochus Epiphanes, ein Edikt er
lassen haben, demzufolge alle Bewohner seines Reiches dem in der
Ebene von Durra errichteten goldenen Riesengötzen huldigen sollten.
Die drei Gefährten Daniels weigerten sich, dem königlichen Befehle
Folge zu leisten, und wurden zur Strafe in einen „Feuerofen“ gewor
fen. Jedoch versengten die Flammen zur äußersten Verwunderung
1) Der Name Daniel begegnet uns unter den Namen der drei mustergültigen
Gerechten und Weisen („Noah, Daniel und Hiob“) schon in dem Buch des Pro
pheten Jeheskel (i4, i4, 20; 28, 3). Es ist nicht ausgeschlossen, daß irgendein
heiliger Mann namens Daniel schon seit der Epoche des babylonischen Exils den
Gegenstand von Volkslegenden bildete.