Vorstoß bis zum Narew
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stoß kulminierte, auch besonders wertvolle unmittelbare Entlastung hätte
bringen können. Noch einmal sei Groener angeführt:
„Auf deutscher Seite sprachen nach der Schlacht bei Tannenberg manche Gründe
dafür, die Verfolgung unverzüglich wenigstens bis zum Narew durchzuführen und die
Reste der Armee Samsonows sowie etwa noch eintreffende Verstärkungen vollends zu
zertrümmern. Ob und wie weit man über den Narew vorstieß, konnte offen bleiben.
Zum Schutz des Rückens der 8. Armee gegen die Njemenarmee trafen soeben, aus
dem Westen kommend, das XI. Korps und das Gardereservekorps sowie die 8. KD.
in Ostpreußen ein. Im übrigen war es nach dem abschreckenden Beispiel von Tannen¬
berg nicht sehr wahrscheinlich, daß die Njemenarmee ohne bedeutende Verstärkungen
nochmals versuchen würde, in Ostpreußen vorzudringen 1)."
Die Auffassung Groeners, daß dem bei Tannenberg siegreichen deut¬
schen Ostheer von Rennenkampf her fürs erste keine Gefahr drohte,
wird durch die russische Literatur bestätigt. Aus ihr geht nicht nur her¬
vor, daß die Russen zunächst lediglich an die Behauptung der Njemen-
Bobr-Narewlinie dachten, sondern daß ein Vorstoß des deutschen Ost¬
heeres gegen den Narew die Stawka möglicherweise veranlaßt hätte, den
eben gegen die öst.-ung. Front erlassenen allgemeinen Angriffsbefehl ganz
oder teilweise zu widerrufen und den rechten Flügel der Südwestfront
auf Siedlec zurückzunehmen. Es wäre das jenes Ergebnis gewesen, das
sich Conrad aus dem immer wieder begehrten „Stoß auf Siedlec" erhofft
hatte (S. 273). Aber auch im ungünstigeren Falle hätte ein nur ein paar
Tage währender Druck der deutschen 8. Armee gegen den unteren Narew
vielleicht doch wenigstens einen erheblichen Teil der Reserven auf sich
gezogen, die Nikolai Nikolajewitsch für die Lubliner Front bestimmt
hatte. Der Abmarsch der Deutschen gegen Rennenkampf ließ in der einen
wie in der anderen Hinsicht die Probe aufs Exempel unausgeführt.
Das Ergebnis des Feldzuges
Zu einem abschließenden Urteil über eine Operation ist es nötig,
klarzustellen, inwieweit sie das ihr gesteckte Ziel erreicht hat. Es spricht
für die Schwierigkeiten der Aufgabe, vor die der Mehrfrontenkrieg die
Mittelmächte von Anbeginn gestellt hat, daß in der Kritik sogar das Haupt¬
ziel des öst.-ung. Feldzuges gegen Rußland schon umstritten ist. Wohl ist
es eine geschichtliche Tatsache, daß Österreich-Ungarn die Speere Ru߬
lands von Deutschland abzuziehen hatte, und daß Deutschland bei Beginn
x) Groener, 173 f.