Volltext: Nr. 57 (57. 1920)

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Jüdische Nachrichten 
Nr. 57 
sind zur Propaganda für unseren Verein die ausübenden 
Turner und Turnerinnen berufen, welche den säumigen 
Mitgliedern unserer Gemeinde die Augen zu öffnen hätten 
über den Wert unseres Vereines, welche jung und alt für 
die jüdische Turnsache begeistern müssen. 
Noch immer trägt mancher Bedenken, in unsere 
Reihen zu treten, weil er fürchtet, mit den übrigen nicht 
Schritt halten zu können, oder weil er glaubt, schon zu 
alt zu sein; er möge einmal sich den Betrieb bei jener 
Riege ansehen, iiir welche er sich selbst am geeignetsten 
hält, und er wird durch die Freude, den Genuß, den die 
andern aus der körperlichen Betätigung schöpfen, 
bekehrt werden. 
Ganz unbegreiflich ist es, daß manche Eltern ihre 
Kinder dem Turnbetrieb fernhalten. Gerade für unsere 
Jugend ist das Turnen eine unerläßliche Nötwendig- 
k e i t. Die Existenzbedingungen werden für die werdende 
Generation sehr schwere sein, der Kampf um das Fort¬ 
kommen wird für jedes Individuum, besonders aber für 
das jüdische, ein aufreibender werden und da genügt es 
nicht, nur geistige Kräfte zu sammeln, auch die Körper¬ 
kraft und Gesundheit will von Jugend an für diesen un¬ 
ausbleiblichen Kampf gestählt werden. Denn hier gilt 
der alte Satz: Mens sana in corpore sano, ein gesunder 
Geist kann sich nur in einem gesunden Körper entwickeln. 
Die moralische und kulturelle Bedeutung des Turn¬ 
vereines steht außer Zweifel. Aber der Turnbetrieb er¬ 
fordert riesige Summen. Wir haben alle notwendigen 
Turngeräte innerhalb sechs Monaten angeschafft, wozu 
andere derartige Vereine Jahre-brauchen ;— eine aus¬ 
gezeichnete Kraft—, die Sorge für Licht, Beheizung, für 
die Herhaltung der Turnplätze stellt die größten An¬ 
forderungen an die Finanzen des Vereines. (In nächster 
Zeit wird dem Verein ein Sommerturnplatz zur Ver¬ 
fügung gestellt werden.) 
Es muß hier auch der uneigennützigen Bestrebungen 
einzelner Männer gedacht werden, welche dem Turnverein 
nicht nur ihre kostbare Zeit opfern, sondern auch keine 
Mühe und selbst beträchtliche materielle Opfer nicht 
scheuen, um ihr Werk für die Allgemeinheit kräftig und 
lebensfähig zu erhalten. Dankesworte verlangen diese 
Manner nicht, die schönste Anerkennung würden sie 
jedoch dayin erblicken, wenn recht viele als ausübende 
und unterstützende Mitglieder dem Turnverein beitreten 
und auch alle Eltern ihre Kinder vom schulpflichtigen 
Alter angefangen dem segensreichen Wirken des Ver¬ 
eine- zuführen würden. . Der Turnwart. 
Vortrag. Vor einer gut besuchten Versammlung 
sprach am Sonntag, dem 28. März, Herr Jakob Weiner, 
Sekretär des zionistischen Landeskomitees für Österreich, 
über die im Vormonate in London abgehaltene Sitzung 
des Großen zionistischen Aktionskomitees. Obwohl aus¬ 
führliche Zei(ungsmeldungen den Inhalt dieser Tagung 
und ihre Bedeutung dem Publikum schon vermittelt 
haben, konnie Herr Wein er den gespannt lauschenden 
Zuhörern viele neue Informationen über den augenblick¬ 
lichen Stand der Bewegung bringen. Aus seinen schlich¬ 
ten. sachlichen \\ orten gewann man die Überzeugung, 
daß die zionistischen Behörden mit Zielbewußtsein und 
Aufopferung an erfolgreicher Arbeit sind. In klarer Dar¬ 
stellung zeigte der Referent, wie sieh die politische 
Situation jres faltet hat, erklärt die rechtliche Fixierung 
der jüdischen Heimstätte durch die umfangreichen Ver¬ 
träge, die bereits ausgearbeitet sind; bei Besprechung 
der übrigen Verhandlungsgegenstände der Londoner Kon¬ 
ferenz konnte er die interessante und für das österrei¬ 
chische Judentum bedeutungsvolle Mitteilung machen, 
daß das zionistische Unterrichtsanit schon in nächster 
Zeit von London nach Wien übersiedeln wird. Auch über 
die innerpolitische Situation konnte Erfreuliches berich¬ 
tet werden. 
Herr Weiner erntete für seine glänzenden Aus¬ 
führungen reichsten Beifall; wir hoffen, den Vortragen¬ 
den bald wieder in Linz begrüßen zu können. 
Amstetten. 
(Infolge Raummangels verspätet.) 
Purimball und „Purimball-Ersatz". Kaum hatten die 
Häuptlinge des Antisemitenbundes erfahren, daß die 
Juden einen Purimball veranstalten, setzten sie sich in 
heldenhafte Positur und dachten nach, wie dieses Fest 
zu hintertreiben oder doch zu stören sei. Fürs erste 
kaperten sie die für den Purimball in Aussicht genom¬ 
mene Eisenbahner-Kapelle — gekapert muß immer 
werden. Des andern Tages prangten an allen Ankündi¬ 
gungstafeln marktschreierische, aufdringliche Plakate, 
in denen sie die „ganze Stadt" — geschah es denn 
sonst nie? — zu einem am gleichen Tag, zür gleichen 
Stunde stattfindenden „P u r i m b a 11 - E r s a t z" ein¬ 
luden ; denn „unbegreiflicherweise" waren die Anti¬ 
semiten zum „Judenball" nicht geladen worden. Ver¬ 
wundert, staunend und lachend blieben die Leute vor 
diesen ein Heldenstückchen bildenden Plakaten, welche 
den Zweck" verfolgten, die Juden zu ärgern, stehen. Es 
bildeten sich ganz deutlich vier Gruppen : diejenigen, die 
bei jeder „Hetz" dabei sein müssen und gedankenlos ihre 
Zustimmung gaben. Wenn irgendwo ein Wagenrad 
bricht, laufen ja auch die Neugierigen zusammen, und da 
waren ja in den Hirnen der alldeutschen Kreuzköpfeln 
gar viele Rädchen gebrochen oder ins Laufen geraten! 
Die zweite Gruppe rekrutierte sich aus dem vernünftigen 
Teil der Bevölkerung, der die .... bübischen Treibereien 
dieser „Herrschaften" laut und rückhaltslos verurteilte 
und über die der Stadt angetane Beschmutzung empört 
war. Denn allerhand Gerüchte, auf welche Art das Ver¬ 
gnügen der Juden gestört werden sollte, durchschwirrten 
die Luft. Eine Wirtin, die aus der Schule schwätzte, 
sprach von einem Pogrom. Ein schlagfertiges- Juden¬ 
mädchen antwortete ihr: „Da nehmt mich als erste!" Die 
dritte Gruppe war aus Geistlichen gebildet. Die ärgerten 
sich über das in der Fastenzeit angesetzte Tanzfest, aber 
sie schwiegen. Die Juden hatten nämlich so viel Takt¬ 
gefühl, wegen des in die Fastenzeit fallenden Purims, 
um sich deren Vorwurf, als würden sie die christliche 
Bevölkerung zur Übertretung des Kirchengebotes ver¬ 
leiten, zu ersparen, keine allgemeinen Einladungen aus¬ 
gegeben. Die vierte Gruppe bildeten die Juden! Diese 
hatten dafür nichts als Verachtung und — Mitleid. Die 
Juden hatten nur den einen Fehler begangen, daß sie 
es nicht, wie es gewöhnlich bei den Antisemiten als Lock¬ 
mittel mißbraucht wird, in alle Welt hinausposaunten, 
daß .das Reinerträgnis zum größeren Teil den Ortsarmen 
und Invaliden gewidmet sei. Also ein Fest, das zugunsten 
dieser Unglücklichen abgehalten werden sollte, wollten 
diese hirnlosen Helden hintertreiben. Feinfühligkeit ist 
eben nicht ihre Sache! Eine Flut von Schmähartikeln der 
häßlichsten Art, strotzend von Lügen, 'Verleumdungen, 
Verdrehungen, in den antisemitischen Schmutzblättern 
„Ybbstal-Zeitung", „Bote von der Ybbs" ging dem 
Purimball voran und kläffte dann noch unter Zugesellung 
der „Amstettner Zeitung" hinten nach. Aber die „feigen" 
Juden hatten für diese Anflegelungen wieder nichts als 
Verachtung und — Mitleid! Ein namenloser Ekel erfaßte 
jeden anständigen Menschen bei der Lektüre dieser 
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