Volltext: Der Naturarzt 1891 (1891)

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der Stirn, an der Wange oder durch Kosten". Dabei wird dann immer übersehen, daß die 
Nerven bezw. Geschmacksnerven des jungen Weltbürgers viel, viel zarter, als die der vielfach 
abgestumpften und oft verbrühten Nerven Erwachsener sind. 
Schreiber dieses, welcher in seiner vieljähriqen Praxis so oft Gelegenheit hatte, die 
so gereichte Nahrung zu prüfen, hat größtenteils gesunden, trotz der Aeußerung: „Ich gebe 
eher zu kühl als zu warm!" dak die Temperatur der Nahrung statt 280 K., 30—40, ja 
45° R. betrug. Wenn infolgedessen die Kinder erkranken und massenhaft dahin sterben, 
braucht man sich nicht zu wundern, denn alle Kinder, welche zu wenig Widerstandskraft be 
sitzen, erkranken durch nicht naturgemäße Ernäbrung bezw. Lebensweise. Werden dieselben 
in E krankungssällen noch mit Medikamenten behandelt, so daß der Organismus doppelt zu 
kämpfen hat, so müssen dieselben, durch die große Ueberanstrengung des Doppelkampses, zu 
Grunde gehen. 
Mütter! Also Vorsicht bei der Ernährung Eurer Lieblinge! 
Wiedergeboren. 
Von Hans Willert. 
Kurz und gut: Ich gehöre zu dem Siebentel der Menschheit, dessen Lungen nicht die 
beste Hoffnung einflößen, daß der Besitzer das statistische Durchschnittsalter erreichen wird. 
Das Gespenst der Erblichkeit hat dreißig Jahre lang wie der Geier über seinem 
Opfer geschwebt. Da ergriff der Geier seine Beute. Indessen noch 6 Jahre kämpfte ich 
gegen dessen Angriffe, und ich kämpfte mit allen Hilfsmitteln der modernen Heilkanst, mit 
schädlichen und unschädlichen Heilmitteln, mit kräftiger Diät, frischer Luft, regelmäßiger Lebens 
weise, Badereisen und allem, was nach dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft dazu 
beiträgt, uns Uebermackt in dem ungleichen Kampfe zu geben. 
Als aber die 6 Jahre vergangen waren, fühlte ich, daß ich die Retraite ergreifen 
wußte — daß ich in der Gewalt des Geiers war. Als einen letzten Versuch bot mir die 
moderne Heilkunft einen „klimatischen Kurort", und ich griff, wie der Ertrinkende, nach dem 
Strohhalme. Ende Januar 1890 saß ich reich an Hoffnungen an Ort und Stelle. 
Einen Monat später erklärte der behandelnde Arzt, daß das Klima nicht paßte. 
Dies war der Todessang für meine lichten Hoffnungen. Lebe wohl Sonne, lebe wohl 
Leben und Glück! 
Dort saß ich nun mit hochgradiger Nervosität — mit Infiltration in den oberen 
Teilen beider Lungenflügel, vollständig unfähig zu intellektueller wte physischer Arbeit und — 
das Klima paßte nicht. 
Das Klima? ... Ist es denn auch recht, alles aufs Klima zu schieben? fragte ich 
mich. Luft ist Lust, Nahrung und Nahrung ist nicht dasselbe. Ließe sich vielleicht denken, 
daß der Fehler an der hergebrachten kräftigen Diät und an der übrigen naturwidrigen Lebens 
weise, nicht aber an der Luft liegen könnte? Dies wurde die Veranlassung zu meinem Suchen! 
Den 18. Februar 1890 gab ich die „kräftige" Diät und die Anschauungen der modernen 
Heilkunst, Glauben und Gehorsam auf. Und das Ergebnis? — 
Am 18. Februar 1891, also ein Jahr darnach, sitze ich hier als ein körperlich und 
geistig wiedergeborener Mann. Wind und Wetter scheue ich nicht mehr, denn Erkältung be 
steht für mich nur auf dem Papier. Körperliche Arbeit ist mir eine liebgewordene Be 
schäftigung; ein Bad im Freien, auch zur Winterzeit, eine angenehme Erfrischung; ein 
Barfußlauf sogar im frischgefallenem Schnee em ersehnter Genuß. Nachts weht der Wind 
durch das offene Fenster unbehindert in mein Schlafzimmer, und morgens mache ich bei 
einer Zimmertemperatur von 5 Grad R. in Hemdsärmeln meine Morgentoilette. — Ich, 
der frühere Weichling, welcher jeden Themometer- und Barometerwechsel ängstlich beobachtete, 
der ich den Zug mehr als den Tod fürchtete und nicht wagte, meinen nackten Fuß auf den 
mit Teppich belegten Fußboden zu setzen! 
Das Klima hat mir vortrefflich gepaßt*) oder richtiger — die Diät. 
Während der ganzen nun vergangenen Zeit ist nicht ein Gramm Fleisch oder Fisch, 
nicht ein Tropfen Alkohol oder Bier, alles in ollem kaum wehr als eine Mandel Eier und 
schwerlich 10 Liter Milch über meine Lippen gekommen. Ich habe mit einem Worte eine 
streng vegetarianische Lebensweise geführt. — Und doch habe ich feste Muskeln, starke Sehnen 
und anwendbare Lungen bekommen, kurzum geistige und körperliche Spannkraft wiedererlangt. 
Ja, wahrlich: der Vegetarianismus stellt die ganze Wissenschaft auf den Kopf. 
Und ich habe mehr gewonnen; ich bin zu der Gewißheit gelangt, daß mein Fall keine 
Ausnahme, sondern allgemeine Regel ist. Und das muß auch so sein, wenn man sich erst 
ganz den Naturgesetzen angepaßt hat. 
*) Das beste Klima für Kranke ist das, welches bei mäßiger Mitteltemperatur im 
Lause des Jahres die größte Anzahl Sonnentage und die geringste Anzahl Windtage hat.
	        
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