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fordern muß, indem die Naturheilkunde, wenn sie dies Mittel aufnimmt, in Gefahr steht,
die gesunde und vernünftige Basis, auf der sie sich bisher bewegt und auferbaut hat, zu
verlaßen, sich selbst untreu zu werden und einer Krankheits-Behandlung Thür und Thor
zu öffnen, die viel schlimmer ist, als die von ihr so angefochtene und bekämpfte Medizin
behandlung.
Das soll im Folgenden des Näheren erörtert werden.
Zu den großen Vorzügen des Naturheilverfahrens gehört unstreitig der, daß es dem
Kranken, auch dem Laien ermöglicht wird, die Zweckmäßigkeit der angewandten Heilmittel
zu verstehen, so daß er sich in Krankheitsfällen nicht mehr dem Arzte wie einem unumschränkten
Herrn gleichsam bedingungslos zu ergeben braucht, sondern imstande ist, mit überzeugungs
voller Zustimmung das anempfohlene Heilverfahren an sich vorzunehmen bezw. vornehmen
zu lassen, und daß er sich dabei seiner eigenen Verantwortlichkeit für sich bewußt bleibt. Dadurch
empfiehlt sich dies Heilverfahren allen denen, die den Wunsch haben und die Verpflichtung
fühlen, über ihre eigene Gesundheit und die der Ihrigen nachzudenken und zu wachen.
Die von der Naturheilkunde bisher gebrauchten Mittel: Wasser, Luft, Licht, Diät,
Massage sind nun alle der Art, daß sie sich in ihren mannigfachen Anwendungsformen dem
natürlichen Verständnis der Menschen durchaus empfehlen. Ganz anders aber steht^s mit
dem neuempsohlenen Mittel der Hypnose und Suggestion. Dies hat den Charakter eines
Geheimmittels, und zwar einer ganz besonderen Art.
Als Geheimmiltel wird man wohl die gelten lassen, deren Wesen denen, die sie brauchen,
unbekannt ist, und deren Wirkung ihnen daher unverständlich bleibt. Die Naturheilkunde
hat mit solchen vielfach angepriesenen Wunder- und Gcheimmitteln aufgeräumt. Aber die
aus Säften, Kräutern oder Chemikalien zusammengesetzten Geheimmittel haben vor dem
Mittel der Hypnose und Suggestion doch immer noch den Vorzug, daß, wenn auch nicht der
Kranke, so doch der Verfertiger des Geheimmittels weiß, woraus es besteht und den Schlüssel
dazu hat; bei der Hypnose und Suggestion wissen auch die, welche sie anwenden und empfehlen,
nichts über den wahren Charakter derselben und können keine Erklärung darüber geben.
Herr Dr. v. Hartungen macht zwar eine Art Versuch dazu, indem er aus den gemachten Beob
achtungen folgende Schlußfolgerung zieht (S. 98 in Nr. 6 des Naturarzres): „Die Hypnose
ist ein rein seelischer Zustand. . . ., der sich vom normalen Zustande durch eine Steigerung
der ideo-motorischen, ideo-sensitiven und ideo-sensoriellen Reflexerregbarkeit unterscheidet."
Nun, wem das als Erklärung genügt, der muß in der That in seinen Ansprüchen auf
Erklärung außerordentlich bescheiden sein. „Wo die Begriffe fehlen, da stellt zu rechter Zeit
ein Wort sich ein." Herr v. Hartungen bietet in obiger Erklärung nicht nur ein Wort,
sondern gleich eine ganze Sammlung von Fremdwörtern, bei der er sich selber ja wohl etwas
denken wird, die aber andere über das Wesen des Hypnotismus genau so klug lassen, wie
sie vorher waren. Und man wird wohl diese geschraubte Erklärung folgendermaßen in
schlichtes Deutsch übersetzen dürfen: „Was das Wesen des Hypnotismus ist, das weiß ich
nicht." Daß die Sache so liegt, empfindet Herr v. Hartungen selbst und sucht sich daher zum
Schluß des Artikels in Nr. 6 des Naturarztes über die Unerk ärbarkeit der Erscheinungen
des Hypnotismus zu trösten und hinwegzusetzen durch das Dimierwort: „Es giebt mehr
Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich träumen läßt."
Wir ziehen daraus folgenden Schluß: Die Hypnose ist ein Geheimmittel, deffen
Charakter selbst der nicht kennt, der es gebraucht und dessen Wirkung ihm selbst unerklärlich
und unverständlich bleibt. Suchen wir nach ähnlichen Geheimmitteln, so bieten sich zum
Vergleich etwa die verschiedenen Heilungsversuche, die unter dem Namen „Sympathiemittel"
bekannt sind. Es wird Tausinde von Menschen geben, welche versichern, durch ein solches
Mittel von irgend einer Krankheit geheilt worden zu sein; dennoch wird kein Freund der
Naturheilkunde auch nur einen Augenblick darüber im Zweifel sein, daß sie diese sog.
Sympathiemittel aus ihrem Heilmittelschatz unbedingt auszuschließen hat; sie würde durch
Aufnahme derselben aufhören, Naturheilkunde zu sein und den natürlichen Boden des ver-
nünfüg Faßbaren verlassen. Daher muß sie sich auch gegen den Hypnotismus unbedingt
ablehnend verhalten. Die Aufnahme desselben unter ihre Heilsaktoren würde sie verfälschen
und verderben.
Aber es giebt gegen die Anwendung des Hypnotismus als Heilmittel noch andere
und viel schwerwiegendere Bedenken, die allerdings auf einem mehr geistigen Gebiete liegen,
aber dennoch in den Kreis unserer Betrachtungen gezogen werden müssen. Es ist vom Bundes-
Vorstande der Naturheilverein wiederholt und gewiß mit Recht darauf hingewiesen worden,
daß politische und religiöse Erörterungen von der Diskussion über die Naturheilkunde fern
gehalten werden sollten, und um ein Anhänger des Naturheilverfahrens zu sein, dazu gehört
wirklich nicht eine bestimmte politische oder religiöse Ansicht. Aber es giebt ein Gebiet, auf
dem man sich, welcher politischen und religiösen Ansicht man sonst auch huldigen mag, verstehen
kann und zusammenfinden muß; das ist das der Moral. Und auf dies Gebiet übergehend,
muß behauptet werden, daß der Anwendung der Hypnose die schwersten moralischen Be
denken entgegenstehen.