Volltext: Der Naturarzt 1890 (1890)

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fordern muß, indem die Naturheilkunde, wenn sie dies Mittel aufnimmt, in Gefahr steht, 
die gesunde und vernünftige Basis, auf der sie sich bisher bewegt und auferbaut hat, zu 
verlaßen, sich selbst untreu zu werden und einer Krankheits-Behandlung Thür und Thor 
zu öffnen, die viel schlimmer ist, als die von ihr so angefochtene und bekämpfte Medizin 
behandlung. 
Das soll im Folgenden des Näheren erörtert werden. 
Zu den großen Vorzügen des Naturheilverfahrens gehört unstreitig der, daß es dem 
Kranken, auch dem Laien ermöglicht wird, die Zweckmäßigkeit der angewandten Heilmittel 
zu verstehen, so daß er sich in Krankheitsfällen nicht mehr dem Arzte wie einem unumschränkten 
Herrn gleichsam bedingungslos zu ergeben braucht, sondern imstande ist, mit überzeugungs 
voller Zustimmung das anempfohlene Heilverfahren an sich vorzunehmen bezw. vornehmen 
zu lassen, und daß er sich dabei seiner eigenen Verantwortlichkeit für sich bewußt bleibt. Dadurch 
empfiehlt sich dies Heilverfahren allen denen, die den Wunsch haben und die Verpflichtung 
fühlen, über ihre eigene Gesundheit und die der Ihrigen nachzudenken und zu wachen. 
Die von der Naturheilkunde bisher gebrauchten Mittel: Wasser, Luft, Licht, Diät, 
Massage sind nun alle der Art, daß sie sich in ihren mannigfachen Anwendungsformen dem 
natürlichen Verständnis der Menschen durchaus empfehlen. Ganz anders aber steht^s mit 
dem neuempsohlenen Mittel der Hypnose und Suggestion. Dies hat den Charakter eines 
Geheimmittels, und zwar einer ganz besonderen Art. 
Als Geheimmiltel wird man wohl die gelten lassen, deren Wesen denen, die sie brauchen, 
unbekannt ist, und deren Wirkung ihnen daher unverständlich bleibt. Die Naturheilkunde 
hat mit solchen vielfach angepriesenen Wunder- und Gcheimmitteln aufgeräumt. Aber die 
aus Säften, Kräutern oder Chemikalien zusammengesetzten Geheimmittel haben vor dem 
Mittel der Hypnose und Suggestion doch immer noch den Vorzug, daß, wenn auch nicht der 
Kranke, so doch der Verfertiger des Geheimmittels weiß, woraus es besteht und den Schlüssel 
dazu hat; bei der Hypnose und Suggestion wissen auch die, welche sie anwenden und empfehlen, 
nichts über den wahren Charakter derselben und können keine Erklärung darüber geben. 
Herr Dr. v. Hartungen macht zwar eine Art Versuch dazu, indem er aus den gemachten Beob 
achtungen folgende Schlußfolgerung zieht (S. 98 in Nr. 6 des Naturarzres): „Die Hypnose 
ist ein rein seelischer Zustand. . . ., der sich vom normalen Zustande durch eine Steigerung 
der ideo-motorischen, ideo-sensitiven und ideo-sensoriellen Reflexerregbarkeit unterscheidet." 
Nun, wem das als Erklärung genügt, der muß in der That in seinen Ansprüchen auf 
Erklärung außerordentlich bescheiden sein. „Wo die Begriffe fehlen, da stellt zu rechter Zeit 
ein Wort sich ein." Herr v. Hartungen bietet in obiger Erklärung nicht nur ein Wort, 
sondern gleich eine ganze Sammlung von Fremdwörtern, bei der er sich selber ja wohl etwas 
denken wird, die aber andere über das Wesen des Hypnotismus genau so klug lassen, wie 
sie vorher waren. Und man wird wohl diese geschraubte Erklärung folgendermaßen in 
schlichtes Deutsch übersetzen dürfen: „Was das Wesen des Hypnotismus ist, das weiß ich 
nicht." Daß die Sache so liegt, empfindet Herr v. Hartungen selbst und sucht sich daher zum 
Schluß des Artikels in Nr. 6 des Naturarztes über die Unerk ärbarkeit der Erscheinungen 
des Hypnotismus zu trösten und hinwegzusetzen durch das Dimierwort: „Es giebt mehr 
Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich träumen läßt." 
Wir ziehen daraus folgenden Schluß: Die Hypnose ist ein Geheimmittel, deffen 
Charakter selbst der nicht kennt, der es gebraucht und dessen Wirkung ihm selbst unerklärlich 
und unverständlich bleibt. Suchen wir nach ähnlichen Geheimmitteln, so bieten sich zum 
Vergleich etwa die verschiedenen Heilungsversuche, die unter dem Namen „Sympathiemittel" 
bekannt sind. Es wird Tausinde von Menschen geben, welche versichern, durch ein solches 
Mittel von irgend einer Krankheit geheilt worden zu sein; dennoch wird kein Freund der 
Naturheilkunde auch nur einen Augenblick darüber im Zweifel sein, daß sie diese sog. 
Sympathiemittel aus ihrem Heilmittelschatz unbedingt auszuschließen hat; sie würde durch 
Aufnahme derselben aufhören, Naturheilkunde zu sein und den natürlichen Boden des ver- 
nünfüg Faßbaren verlassen. Daher muß sie sich auch gegen den Hypnotismus unbedingt 
ablehnend verhalten. Die Aufnahme desselben unter ihre Heilsaktoren würde sie verfälschen 
und verderben. 
Aber es giebt gegen die Anwendung des Hypnotismus als Heilmittel noch andere 
und viel schwerwiegendere Bedenken, die allerdings auf einem mehr geistigen Gebiete liegen, 
aber dennoch in den Kreis unserer Betrachtungen gezogen werden müssen. Es ist vom Bundes- 
Vorstande der Naturheilverein wiederholt und gewiß mit Recht darauf hingewiesen worden, 
daß politische und religiöse Erörterungen von der Diskussion über die Naturheilkunde fern 
gehalten werden sollten, und um ein Anhänger des Naturheilverfahrens zu sein, dazu gehört 
wirklich nicht eine bestimmte politische oder religiöse Ansicht. Aber es giebt ein Gebiet, auf 
dem man sich, welcher politischen und religiösen Ansicht man sonst auch huldigen mag, verstehen 
kann und zusammenfinden muß; das ist das der Moral. Und auf dies Gebiet übergehend, 
muß behauptet werden, daß der Anwendung der Hypnose die schwersten moralischen Be 
denken entgegenstehen.
	        
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