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Bewußtsein, arbeitsunfähig zu werden, macht den strebsamen Menschen lebens
müde, theilnahmlos gegen alle gesellschaftlichen Freuden.
Die allgemeine Nervenschwäche (Nervosität) charakterisirt sich aber nicht
bloß durch eiu vorzeitiges Erschlaffen und Nachlassen der geistigen und körper
lichen Thätigkeit, sondern auch durch eine zu große Erregbarkeit, Reizbarkeit
des Nervensystems, durch eine gewisse Ueberempfindlicbkeit desselben. „Er ist
sehr reizbar" wird jetzt zur stehenden Phrase, und in der That mehrt sich die
Zahl derer, mit welchen man kaum einige Worte in ruhiget und vernünftiger
weise wechseln kann, ohne daß sie sofort mit lauter Stimme auffahren, auf
ihrer Meinung beharren und, wenn sie besonders erregt worden, nach langer
Zeit erst, nachdem sie viel und Unnöthiges gesprochen, sich erst wieder beruhigen
können. Bei jedem plötzlichen, noch so geringen Geräusch schrecken sie auf oder
zusammen, und der in jedem belebteren Orte sich einstellende Alltagslärm, wie
er z.. B. auf Arbeitsplätzen, in Fabriken u. s. w. zu finden ist, wird ihnen un
erträglich, und zwingt sie, ruhige, einsam gelegene Wohnorte aufzusuchen. Leider
ist wohl die Mehrzahl solcher Unglücklichen nicht in der Lage, so schnell und
leicht eine Umgebung auszuwählen, die ihrem Leiden so recht entspricht, die
einen heilbringenden Einfluß auszuüben, die das Gefühl des Wohlbehagens
hervorzurufen vermag, wie viele Nervenschwache sind doch durch ihren Beruf
an den Ort der Entstehung ihres Leidens gefesselt! Ja nicht selten scheint der
Beruf selbst die erste Veranlassung zur Neurasthenie zu bilden, so daß die davon
Betroffenen geradezu gezwungen! sind, ihren Beruf aufzugeben, wenn sie voll
ständig gesunden wollen, und dafür eine andere, ihrem körperlichen Wohlbefinden
bester zusagende Thätigkeit zu wählen. Das ist aber nicht so leicht auszuführen.
Die nervöse Reizbarkeit oder Erregbarkeit kann nun in der einen Nerven-
parthie mehr vorwalten, als in einer anderen; es werden dadurch immer wieder
neue Symptome in den Vordergrund treten und andere zurückdrängen. So finden
wir häufig deu Geschlechtsapparat in hervorragender weise aufgeregt, so daß
er nicht mehr normal funktionirt, sondern eine überreiche Thätigkeit entfaltet zu
Zeiten, wo sie ruhen, oder' eine lähmungsartige Schwäche zu Zeiten, wo sie
nicht ruhen sollte. So bilden z. B. mehrmalige Samenergüsse in ein und der
selben Nacht auf der einen und förmliche Impotenz bei beabsichtigter Ausübung
des Beischlafs auf der anderen Seite merkwürdige Kennzeichen einer hoch
gradigen Nervosität, die gewiß dazu angethan sind, auf den Gemüthszustand
des Kranken in einer weise einzuwirken, welche ein ganzes Eheglück zer
stören kann.
Bezüglich der Gehiruthätigkeit lasten sich beim Neurastheniker gar ver
schiedene Symptome aufzählen. Der geistigen Thätigkeit pflegt, wie der körper
lichen, sehr bald Ermüdung zu folgen, so daß der Patient auf eine anhaltende
geistige Anstrengung verzichten muß; das Gedächtniß ist geschwächt, und es fällt
dem Kranken schwer, einen bestimmten Gedanken zu verfolgen; mitten in der
Rede sieht er sich plötzlich gezwungen, inne zu halten, weil er vergessen hat,
was er sagen wollte; die dadurch hervorgerufene Verlegenheit macht ihn nur
noch verwirrter und nicht selten unfähig, seine Rede überhaupt fortzusetzen.
Solche Neurastheniker werden daher stets wohl thun, alles das, was sie sagen
wollen, vorher auf Papier zu bringen, und dann laut vorzulesen; sie nützen sich