Volltext: Der Naturarzt 1888 (1888)

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Bewußtsein, arbeitsunfähig zu werden, macht den strebsamen Menschen lebens 
müde, theilnahmlos gegen alle gesellschaftlichen Freuden. 
Die allgemeine Nervenschwäche (Nervosität) charakterisirt sich aber nicht 
bloß durch eiu vorzeitiges Erschlaffen und Nachlassen der geistigen und körper 
lichen Thätigkeit, sondern auch durch eine zu große Erregbarkeit, Reizbarkeit 
des Nervensystems, durch eine gewisse Ueberempfindlicbkeit desselben. „Er ist 
sehr reizbar" wird jetzt zur stehenden Phrase, und in der That mehrt sich die 
Zahl derer, mit welchen man kaum einige Worte in ruhiget und vernünftiger 
weise wechseln kann, ohne daß sie sofort mit lauter Stimme auffahren, auf 
ihrer Meinung beharren und, wenn sie besonders erregt worden, nach langer 
Zeit erst, nachdem sie viel und Unnöthiges gesprochen, sich erst wieder beruhigen 
können. Bei jedem plötzlichen, noch so geringen Geräusch schrecken sie auf oder 
zusammen, und der in jedem belebteren Orte sich einstellende Alltagslärm, wie 
er z.. B. auf Arbeitsplätzen, in Fabriken u. s. w. zu finden ist, wird ihnen un 
erträglich, und zwingt sie, ruhige, einsam gelegene Wohnorte aufzusuchen. Leider 
ist wohl die Mehrzahl solcher Unglücklichen nicht in der Lage, so schnell und 
leicht eine Umgebung auszuwählen, die ihrem Leiden so recht entspricht, die 
einen heilbringenden Einfluß auszuüben, die das Gefühl des Wohlbehagens 
hervorzurufen vermag, wie viele Nervenschwache sind doch durch ihren Beruf 
an den Ort der Entstehung ihres Leidens gefesselt! Ja nicht selten scheint der 
Beruf selbst die erste Veranlassung zur Neurasthenie zu bilden, so daß die davon 
Betroffenen geradezu gezwungen! sind, ihren Beruf aufzugeben, wenn sie voll 
ständig gesunden wollen, und dafür eine andere, ihrem körperlichen Wohlbefinden 
bester zusagende Thätigkeit zu wählen. Das ist aber nicht so leicht auszuführen. 
Die nervöse Reizbarkeit oder Erregbarkeit kann nun in der einen Nerven- 
parthie mehr vorwalten, als in einer anderen; es werden dadurch immer wieder 
neue Symptome in den Vordergrund treten und andere zurückdrängen. So finden 
wir häufig deu Geschlechtsapparat in hervorragender weise aufgeregt, so daß 
er nicht mehr normal funktionirt, sondern eine überreiche Thätigkeit entfaltet zu 
Zeiten, wo sie ruhen, oder' eine lähmungsartige Schwäche zu Zeiten, wo sie 
nicht ruhen sollte. So bilden z. B. mehrmalige Samenergüsse in ein und der 
selben Nacht auf der einen und förmliche Impotenz bei beabsichtigter Ausübung 
des Beischlafs auf der anderen Seite merkwürdige Kennzeichen einer hoch 
gradigen Nervosität, die gewiß dazu angethan sind, auf den Gemüthszustand 
des Kranken in einer weise einzuwirken, welche ein ganzes Eheglück zer 
stören kann. 
Bezüglich der Gehiruthätigkeit lasten sich beim Neurastheniker gar ver 
schiedene Symptome aufzählen. Der geistigen Thätigkeit pflegt, wie der körper 
lichen, sehr bald Ermüdung zu folgen, so daß der Patient auf eine anhaltende 
geistige Anstrengung verzichten muß; das Gedächtniß ist geschwächt, und es fällt 
dem Kranken schwer, einen bestimmten Gedanken zu verfolgen; mitten in der 
Rede sieht er sich plötzlich gezwungen, inne zu halten, weil er vergessen hat, 
was er sagen wollte; die dadurch hervorgerufene Verlegenheit macht ihn nur 
noch verwirrter und nicht selten unfähig, seine Rede überhaupt fortzusetzen. 
Solche Neurastheniker werden daher stets wohl thun, alles das, was sie sagen 
wollen, vorher auf Papier zu bringen, und dann laut vorzulesen; sie nützen sich
	        
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