Volltext: Der Naturarzt 1880 (1880)

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Dieser Vorgang in der Muskelfaser giebt ein Beispiel, in welcher Weise 
die Stoffe sich umsetzen bei den Lebensverrichtungen, sowie ein Beispiel von 
den mächtigen Veränderungen in den einzelnen Organen, welche mit Hilfe des 
Stoffwechsels vor sich gehen. Bei jeder Bewegung — also bei jeder Zu 
sammenziehung der Muskelfaser — findet, wie mikroskopisch, so auch che- 
misch, eine vollständige Umänderung und Wiederherstellung der Muskel 
faser statt; die Einwirkung der Nerven bewirkt eine mechanische Bewegung 
des Muskelstoffes, welche sich in ihrer Summe als mechanische lebendige Kraft 
beim Heben einer Last re. zu erkennen giebt; sie bewirkt dies mit Hilfe einer 
chemischen Spaltung der Stoffe, wobei Wärme erzeugt wird, die ihrerseits 
wiederum dazu unumgänglich nöthig ist, daß die Nerven ihre Lebensverrichtungen 
auszuführen vermögen. Die Zusammenziehung der Muskelröhre wird nicht un 
mittelbar durch diese selbst angeregt, sondern durch die zu ihr gehenden Nerven. 
Man darf aber nicht glauben, daß die bei der Erregung des Nerven entstehende 
Kraft sich auf die Muskelröhre unmittelbar übertrage und sich ihr mittheile, 
sondern hier kann nur von Auslösung eines Hindernisses der lebenden Kraft 
(Bewegung) oder von bestehender Hemmung der Spannkraft (Ruhe) die 
Rede sein, wie in der Uhr bei einem Schlagwerk. 
Bei der Nervenarbeit spielt nun der Stoffumsatz ebenso eine 
Rolle, wie bei der Muskelarbeit; die Nervenröhren gleichen den Muskelröhren 
in ihrer anatomischen Zusammensetzung : eine e l a st i s ch e Haut bildet die Nerven 
scheide wie die Muskelröhrenscheide; der Inhalt beider besteht aus Eiweiß 
stoffen, von denen unter den verschiedenen Nervenapparaten die Ganglien und 
die graue G e h i r n s u b st a n z mehr enthalten, als die Nerven- und weiße 
Gehirnsubstanz. Das chemische Verhalten der Nervensubstanz im Zustande 
der Ruhe und der Thätigkeit stimmt mit dem der Muskelsubstanz überein. 
Im Zustande der Ruhe zeigt das Nervengewebe ebenso wie das ruhende Muskel 
gewebe unausgesetzt stattfindenden Stoffwechsel; im thätigen Zu 
stand ist der Stoffumsatz gesteigert, wie bei jenem. 
Die im gesunden Zustand vorhandene Erregbarkeit der Nerven, d. h. 
ihre Befähigung, durch einen Reiz in thätigen Zustand überzugehen — sei es 
nun einen Nervenreiz dem Hirn zu übertragen, sei es, den Willensanstoß zur 
Auslösung der Muskelthätigkeit zu geben, sei es, im Hirn die Thätigkeiten des 
Bewußtseins, Erinnerns, Wollens, Vergleichens, kurz des Denkens, zu Stande 
zu bringen, beruht i m m e r neben der u n z e r st ö r t e n F o r m auf der regel 
mäßigen chemischen Mischung. 
Worin besteht nun diegeistige Arbeit des Gehirns? Auf 
diese Frage vermag die Wissenschaft zur Zeit noch keine wohlbegründete Ant 
wort zu geben; nur das Eine steht fest, daß die Denkarbeit nicht in der weißen 
Gehirnsnbstanz, sondern in der g r u u e n B e l e g m a s s e, in der blutreichen 
Gehirnrinde vor sich geht. In dieser liegen zahlreiche Ganglienzellen, unter 
einander verbunden durch äußerst feine Fäden; ob nun die Nervenröhren des 
Hirns bei ihrer Arbeit ebenfalls U m ä n d e c u u g und Neubildung erleiden, 
wie die Bewegungsröhren des Muskels? Ob beim Lernen, beim Denken jene 
Fäden entstehen und wachsen, ob sie sichtbare Bahnen der Gedankenwege dar 
stellen? Die Möglichkeit muß man zugeben; Wahrscheinlichkeit oder Gewißheit 
besitzt man nicht. S i ch e r ist nur Eines: K e i n e G e d a n k e n o h n e S t off 
wechsel i m Gehir n. 
Der wechselseitige Austausch der Stoffe erfolgt im Menschenleib nicht, 
ohne daß der Leib selber eine gewisse Oberleitung ausübte. Nerven
	        
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