Volltext: Italien in sechzig Tagen

1. Venedig (Kimstgescliichtliclies). 
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ertrag Va Mill. Dukaten gewährte; 
es gab 1000 Nobili von 70—4000 Du¬ 
katen Einkommen. Die Einwohner¬ 
schaft belief sich auf 190,000 Seelen. 
Aber die Eroberungspolitik auf 
dem Festland und die vordringende 
Macht der Türken trat der adels¬ 
stolzen Republik als die Nemesis ent¬ 
gegen. Ihren besten Feldhauptmann, 
Garmagnola (1432 hingerichtet), und 
ihren kräftigsten Dogen, Francesco 
Foscari (34 Jahre lang Doge und 
1457 durch eine nur in Aristokratien 
mögliche Rache, »wobei Neid und 
Ehrgeiz Genugthuung begehrten«, 
abgesetzt) opferte sie. — Selbst das 
neue geistige Erwachen Europa’s, 
die Renaissance und ihre Kunst, 
konnte nur langsam und aristokra¬ 
tisch in Venedig einziehen, nicht 
als der allgemeine grosse Zug der 
Gesammtmasse, sondern für jeden 
Zweig besonders ; die Freiheit des' 
Idealismus war mit dem Vorwiegen 
der äussern Macht schwer verträg¬ 
lich ; dagegen kamen dann dieFreude 
am Wohlleben und die Entfaltung 
der Pracht der Kunst glänzend ent¬ 
gegen, und ihre Höhe in G-iorgione, 
Tizian, Sansovino und Paolo Vero¬ 
nese ist Zeuge dieses Entwickelungs¬ 
gangs. 
Im 16. Jahrh. beginnt die Repu¬ 
blik zu sinken; erschöpfende Tür¬ 
kenkriege, die Entdeckung des See¬ 
wegs nach Ostindien und die Ent¬ 
deckung Amerika1®, die Venedig 
um seinen Welthandel brachten, 
schwächten den Staat im gleichen 
Maas wie die Grundsätze der eng¬ 
herzigen Aristokratie; 1571 ging 
Cypern verloren, 1669 Kandia, 1718 
Morea (nachdem es 1687 Francesco 
Morosini heldenmüthig den Türken 
entrissen), 1797 löste sich bei der 
Annäherung Bonaparte’s die Regie¬ 
rung von selbst auf. Das Goldene 
Buch ward verbrannt, die Republik 
Venedig aufgehoben. Der Friede von 
Campo Formio (1797) theilte Vene- 
tien Oesterreich zu, der Friede von 
Pressburg (1805) dem Königreich 
Italien. 1814 erhielt Oesterreich 
abermals das Venetianische und ver¬ 
einigte es mit demVeltlin, Mailän¬ 
dischen und Mantuanisclien zum 
Lombardisch - Venetianischen König¬ 
reich. 1866 sicherten die grossarti¬ 
gen Ei’folge Preussens gegen Oester¬ 
reich dem mit Preussen verbündeten 
Königreich Italien den Erwerb von 
Venetien. 1874 wurde der Freihafen 
Venedigs aufgehoben. 
Kunstgeschichtliches. Die auf 
kleinem Raum zusammengedrängte 
Macht Venedigs, welche eine Insel¬ 
aristokratie schuf, mit der Aufgabe* 
das Ravenna der altchristlichen Pe¬ 
riode zu ersetzen, die Bildung des 
Ostens und Westens zu vermitteln, 
gestaltete die Kunstrichtungen zu 
einer Reihe eigenthümlicher Stile, 
welche ebenso sehr die geschicht¬ 
lichen Berührungen Venedigs mit 
den verschiedenen Kulturländern, 
als die Originalität in der Verarbei¬ 
tung derselben darlegen. Die älte¬ 
sten Bauten (Dome zu Torcello und 
Murano) zeigen noch den römisch¬ 
altchristlichen Basilikenstil; erst im 
11. Jahrh. gelangte der byzantini¬ 
sche Stil zu vox-herrschendem Ein¬ 
fluss und behielt bis ans Ende des 
13. Jahrh. die Obmacht. Die Markus¬ 
kirche, ein konsequent durchgeführ¬ 
ter Centralbau, deutet selbst in den 
bedeutendsten Details sowie in dem 
Mosaikscliimick, den zunächst grie¬ 
chische Künstler besorgten, direkt 
auf den Orient hin. Das Romani¬ 
sche und Byzantinische gehen dann 
zuweilen oft ganz ineinander über. 
Der wahrhaft gothische Stil kam in 
Venedig nie zur Geltung, denn 
Klima und Volkscharakter waren 
hier nicht zur strengen Durchfüh¬ 
rung eines Perpendikularstils geeig¬ 
net. Ueberall ist, die kaufmänni¬ 
sche Aristokratie widerspiegelnd, 
das glänzend Dekorative die Haupt¬ 
sache. Der Uebergang der oben 
abgeschneppten überhobenen Rund¬ 
bögen (13. Jahrh.) in die geschweif¬ 
ten Bögen sowie der reine Spitz¬ 
bogen sind nur ein äusserlicbes, 
ornamentales Produkt; die wag¬ 
rechte Linie bleibt doch an jedem 
einzelnen Theil in Kraft, und das 
Getragene ist möglichst durchbro¬ 
chen. Das Blattwerk der Kapitäle 
zeigt deutlich die nordischen Ein¬ 
flüsse , ihre Form dagegen erinnert 
an die Antike. Während die gothi- 
schen Elemente mit den romanisch¬ 
byzantinischen zu einem zwar har¬ 
monischen, aber nicht organischen
	        
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