Volltext: Die Mesnerin von Enns

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Die Mesnerin von Enns 
Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Oberösterreich 1 ) 
Von Viktor Kurrein 
Die Stadt Enns erhielt am 22. April 1212 von Herzog Leopold dem 
Glorreichen das Stadtrecht. Es ist das älteste in Oesterreich, wahr 
scheinlich auch das erste aller Stadtrechte überhaupt und wohl das 
Vorbild für das Wiener Stadtrecht, das aus dem Jahre 1221 stammt. 
Dieses Ennser Stadtrecht ist für die Historiker nicht minder in 
teressant als für die Bibelforscher; denn es enthält eine Reihe von 
Bestimmungen, die auf das biblische Recht zurückgehen. Hier sei 
nur auf den im Stadtrecht angeführten Spruch „Aug um Auge“ (Ex. 
22, 24) hingewiesen. „Wenn einer der Bürger“, heißt es im Ennser 
und dem daraus abgeleiteten Wiener Stadtrechte, „jemand verstümmelt 
an einer Hand oder einem Fuße, an einem Auge, an der Nase oder 
einem anderen Gliede, so gebe er dem Richter zehn Pfund und eben 
soviel dem Beschädigten. Wenn aber der, der den Schaden zufügt, 
so viel Pfennige nicht aufbringen kann, so werde geurteilt nach dem 
Gesetze: Aug um Auge, Hand um Hand und so bei den übrigen 
Gliedern, außer er beweise seine Unschuld nach den Satzungen des 
Landfriedens. Wenn aber einer jemand freventlich des Augenlichtes 
beraubt, so bleibe es dem Urteile des Herzogs Vorbehalten.“ — 
Für alle jene, welche das biblische Wort als starres Vergeltungsprinzip 
aufgefaßt wissen wollten und die traditionelle Auslegung des rabbi- 
nischen Judentums geflissentlich ablehnten, wird dieses Stadtrecht 
den Beweis erbringen, daß das jus talionis in der Praxis nicht starr 
gehandhabt wurde, sondern nur das Mittel war, den zahlungsunfähigen 
oder -unwilligen Täter durch die Aussicht auf den gleichen Schaden 
zur Gutmachung zu zwingen. 
Die Stadt Enns besaß schon im 14. Jahrhundert eine Judengasse, 
die in den „Platz“ einmündete, also im Innern der Stadt lag, lange 
Zeit bestand und erst in letzter Zeit „Kaltenbrunnergasse“ umgenannt 
wurde 2 ). Auch in Linz wohnten die Juden zuerst in der Hahnen 
gasse, welche in nächster Nähe des „Platzes“ war. 
Ein Verzeichnis, das über den Immobiliarbesitz der Bürgerschaft der Stadt 
Enns im 14. und 15. Jahrhundert Aufschluß gibt und von Groß, „Beiträge 
zur städtischen Vermögensstatistik des 14. und 15. Jahrhunderts in Österreich“, 
x ) Herrn Primär Dr. Schicker in Mauer-Oehling, Direktor des Museums in 
Enns, möchte ich an dieser Stelle für seine wertvollen Mitteilungen, die den 
Grund dieser Arbeit bilden, ebenso wie dem Landesarchiv in Linz für seine 
stets bereitwillige Förderung verbindlichsten Dank sagen. 
2 ) Die Urkunde, die von der ,Judenstrazz“ spricht, stammt aus dem Jahre 
1350, befindet sich im Besitze des Landesarchivs in Linz; vgl. dazu Ober 
österreichisches Urkundenbuch (Oö. U. B.) VII, S. 212.
	        
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