Volltext: Neuer Braunauer Kalender 1901 (1901)

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Der nächste Morgen war trüb und regnerisch; die ganze Natur schien zu 
weinen; nur der Oberst blieb ernst und ruhig. 
„Führen Sie Ihre Gefangene vor!" sagte er zu mir in eisigem Tone. 
Ich verließ ihn und kehrte bald darauf zurück. 
„Herr Oberst," rief ich entsetzt und warf mich auf die Knie, „sie ist todt!" 
„Todt," schrie er auf. 
„Ja, todt!" fuhr ich fort. „Kalt und leblos habe ich sie aufgefunden. Sie 
hat sich vergiftet, denn dieses Fläschchen fand ich in ihrer Hand." 
„Der Himmel hat gerichtet," sagte er nach langem Schweigen. 
„Herr Oberst," sprach ich, „sie ist jetzt todt. Sie haben Ihrem Vaterlande 
Ihren Schwur gehalten. Wollen Sie mir gestatten, ihr ein würdiges Begräbniß zu 
bereiten?" 
„Thun Sie, was Ihnen beliebt!" versetzte er und sank tief erschüttert in 
seinen Sessel. 
Ich verließ ihn und traf die Vorbereitungen zu dem Begräbniß, bei dem der 
Oberst nicht erschien. 
vor sich her. ütinDer und Xiehrer eilen Den schützenden und wärmenden Räumen der 
gemeinsamen Arbeitsstätte zu. Unter ihnen feucht ein schwächlicher und ärmlich ge¬ 
kleideter Knabe langsam einher. Dünne, kurzbeinige Höslein und eine lustige Jacke 
decken nothdürftig seinen Körper. Aus den ausgefransten Aermeln ragen die von 
Kälte erstarrten Hände mit bloßen Gelenken weit hervor, die wenigen" Schulsachen 
fest an die Seite drückend. Eine sommerliche Mütze, ein schmales Halstuch und enge, 
zerrissene Schuhe vervollständigen seine Kleidung. Vornüber gebeugt, mit bleichem 
Gesicht, verwachsenem Rücken und eingefallener, kranker Brust arbeitet er sich müh¬ 
sam durch das Meter. Heute setzt es ihm besonders stark zu; denn öfter als sonst 
zwingt es ihn zum Ruhen und freieren Athmen. Aber rüstig geht's immer vor¬ 
wärts, und endlich setzt auch er feinen Fuß ins behagliche Schulzimmer und schleppt 
sich langsam auf feinen Platz. Da sitzt er nun, ein Bild des Elendes und des 
Spottes feiner Mitschüler. Das ficht ihn aber nicht an. In möglichst straffer 
Haltung lauscht er mit lebhaften Augen den Worten des Lehrers, sie wie eine kost¬ 
bare Speise verzehrend. Mit unermüdlichem Fleiße, wenn auch unter großen An¬ 
strengungen, sucht er sich hier das geistige Rüstzeug fürs Leben zu erwerben. Ist 
die Schule aus, dann zieht er eben so mühselig fort wie er gekommen. Und daheim 
arbeitet er Tag um Tag für die Schule emsig weiter, daneben seinen Eltern willig 
zur Hand gehend! Nur wenig Ruhe gönnt er dem kränklichen Körper und wenig 
Muße dem erquickenden Spiel. 
So treibt es der zwölfjährige Knabe schon seit Jahren! Quälende Krankheit 
und drückende Armuth sind von klein auf seine täglichen Begleiter und spärliche 
. Verfasser Mt in Ktz. 
dinier ist's. In dichten Flocken wirbelt der Schnee hernieder. Eisig fegt der 
Wind über das Land dahin und treibt die aefcßäftiate Menae im Gesckwindsckiritt
	        
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