Volltext: Ennser Tartschen

GUSTAV STOCKHAMMER, ENNSER TARTSCHEN 
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dafs nur Jeanne d'Are, die Jungfrau von Orleans 
genannt werden könnte. Ihre der Wiederherstel¬ 
lung rechtmäfsiger Gewalt in ihrem Vaterland 
gewidmeten heroischen Taten liefsen sie als ein 
überirdisches Wesen erscheinen, das gewifs ge¬ 
eignet war, zaghaften Gemütern als leuchtendes 
Vorbild für die Verteidigung des heimatlichen 
Bodens zu dienen und sie mit neuem Lebensmute 
zu erfüllen. 
Dies zugegeben, fragt es sich aber doch: Ist 
durch diese Erkenntnis allein schon der Beweis 
geliefert, dafs die Jungfrau von Orleans es ist, mit 
deren Bild man es bei der dritten Tartsche zu 
tun hat? 
Die Antwort darauf ist ein Nein, weil man 
sich Johanna, die ebenso wie die zwei Heiligen 
als Drachenbezwingerin, d. i. als Besiegerin des 
Unglaubens dargestellt erscheint, nicht als solche 
vorzustellen vermag. War doch der Krieg gegen 
die Engländer, in welchem sie sich unsterblichen 
Ruhm erwarb, kein Glaubenskrieg, da ja diese 
damals noch dem katholischen Glauben/und die 
Anhänger Wiclifs, dessen Lehren viel Eintìufs auf 
Hufs geübt hatten, waren zu dieser Zeit schon 
so gut wie gänzlich ausgerottet. 
Dieser schwerwiegende Einwand verschwindet 
aber sofort angesichts der Tatsache, dafs Johanna 
von dem Orte Sally bei Orleans aus am 23. März 
1430 durch ihren Almosenier Pasquerel an die 
Hussiten einen Brief hat schreiben lassen, in 
welchem es (nach der Übersetzung aus dem La¬ 
teinischen) u. a., wie folgt, heifst: 
„Ich aber würde, um euch die Wahrheit zu ge¬ 
stehen, wenn ich nicht im Kriege mit den Eng¬ 
ländern beschäftigt wäre, euch längst heimgesucht 
haben, wenn ich aber nicht erfahre, dafs ihr euch 
gebessert habt, so lasse ich vielleicht die Eng¬ 
länder und wende mich gegen euch, um euren 
lügenhaften und abscheulichen Aberglauben, wenn 
ich es nicht auf andere Weise kann, mit dem Schwerte 
auszurotten und euch entweder der Ketzerei oder 
des Lebens zu entledigen3). 
Weitere Zweifel über die Identität Johannas 
mit der Persönlichkeit, die uns von der dritten 
Ennser -Tartsche entgegenblickt, verschwinden 
wohl angesichts der Tatsache, dafs diese Per¬ 
sönlichkeit auf der Tartsche blofs den Ober¬ 
körper mit einem das Panzerhemd oben und 
unten vortreten lassenden Harnisch geschützt 
hat, während die Füfse mit Stoff um¬ 
kleidet sind, da wir auf das Bestimmteste 
wissen, dafs Johanna stets in männlicher Tracht 
kämpfte, angetan mit Mannsharnisch und Purpur¬ 
hosen. 
3) Die Jungfrau von Orleans und ihre Zeitgenossen. 
Von Dr. Hermann Semmig. Leipzig 1887, S. 37. 
Und diese ikonographische Einzelheit ist hier 
sehr bedeutsam. Denn unter den nach der Re¬ 
duzierung von 70 auf 6 verbliebenen Anklage¬ 
punkten, gegen die sich Johanna vor dem Glaubens- 
gerichte in Rouen nach ihrer am 23. Mai 1430 
erfolgten Gefangennahme zu verantworten hatte, 
befand sich die Anklage wegen des Tragens von 
Männerkleidern, und zwar unter Berufung auf die 
Stelle bei Moses 5.22.5, wo es heifst: „Ein Weib 
soll nicht Mannsgeräte tragen, und ein Mann soll 
nicht Weiberkleider antun, denn wer solches tut 
ist dem Herren seinem Gott ein Greuel/4 Unter 
Berufung hierauf erklärte man Johannas dieser 
Anordnung widerstrebendes Verhalten als eine 
Übertretung des göttlichen Gebotes, ja als Gottes¬ 
lästerung und Götzendienst, obwohl die höchsten 
geistlichen und weltlichen Beamten in Poitiers ihr 
die Mannstracht in feierlicher Sitzung gestattet 
hatten, sie in dieser so viele Siege erfochten und 
unter den Augen des Königs, des Erzbischofs 
und anderer kirchlicher Würdenträger der Königs¬ 
krönung in Rheims beigewohnt hatte. Die Jung¬ 
frau, die erklärte, dafs ihr Verhalten ihr von Gott 
vorgeschrieben worden sei, konnte und wollte, im 
Kerker zumal, die Mannstracht nicht ablegen, da 
sie sich lüsterner Angriffe der Wärter und anderer 
zu erwehren hatte. Sie wurde schliefslich acht 
Tage vor ihrem Tode doch gezwungen, vor dem 
Publikum im weiblichen Büfserhemde zu erschei¬ 
nen und dadurch ihre bisherige Sitte zu ver¬ 
urteilen. Die Wiederannähme der Mannstracht 
endlich hat die vom Gericht beabsichtigte Klage 
auf Rückfall und damit das Todesurteil herbei¬ 
geführt4), welches am 30. Mai 1431 vollstreckt 
wurde5). 
Etwaigen Bedenken religiöser Natur, die nach 
dem Tode der Jungfrau gegen deren Verherr¬ 
lichung hätten erhoben werden können, war schon 
am 7. Juli 1456 durch die vom Papst Calixtus III. 
dem Gericht aufgetragene Unschuldserklärung der 
Jungfrau der Boden entzogen worden. 
Dies die Gründe, die für die Identität der 
auf der dritten Tartsche abgebildeten Persönlich¬ 
keit mit der Jungfrau von Orleans angeführt wer¬ 
den können. 
Was den Zeitpunkt der Anfertigung dieser 
Tartsche anbetrifft, so wäre aus dem Umstände, 
dafs Johannas kriegerische Laufbahn im April 1429 
ihren Anfang nahm und am 23. Mai 1430 durch 
ihre Gefangennahme jäh abschloss, zu folgern, 
dafs die Tartsche nicht vor 1429 angefertigt worden 
sein kann, in Rücksicht darauf aber, dafs Johanna 
4) Die Jungfrau von Orleans. Ein kirchengeschicht¬ 
liches Bild aus dem 15. Jahrhundert. Von D. Ricks. Berlin 
1890 S. 49—51. 
5) D. Ricks a. a. O. S. 73 ff.
	        
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