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Robert Sommer
ist, was er in einem bestimmten gefährlichen Fall zu tun hat. Dabei ist
in keiner Weise etwa sicher, daß die im Fall der Gefahr zu vollziehende Handlung
nun auch objektiv einen ausreichenden Schutz gegen die Gefahr gewährt. Psy
chologisch handelt es sich nur darum, daß gewissermaßen im Fall eines möglichen
gefährlichen Ereignisses der einzelne Mensch sofort weiß, was er zu tun hat. Die
motorische Bereitschaft und Einstellung auf eine bestimmte Art von
Handlungen ist das Wesentliche, nicht die objektive Gefahrlosigkeit. So gibt
es z. B. Menschen, die beim Fahren mit raschen Eisenbahnzügen sich sofort über
zeugen, wo sich die Notbremse befindet, die jedoch dann ganz ruhig und gelassen
auch im Falle wirklicher Gefahr der Entgleisung bleiben, weil sich bei ihnen die
Vorstellung der Gefahr vor Ausbildung eines Affektes sofort in eine bestimmte
Handlung umsetzt. Eine ganze Menge von Beobachtungen und Erzählungen aus
dem Krieg stimmen in diesem Punkt überein. Angst bricht bei einer Truppe um so
weniger aus, je klarer jeder einzelne weiß, was er im Moment der Gefahr zu tun hat.
Dabei handelt es sich nicht nur um eine passive Abwehr gegen die Gefahr, sondern
auch z. B. um aktive Widerstandsbewegung, besonders in Form der hartnäckigen
V erteidigung.
Im Gegensatz zu dieser ganzen Gruppe von Erscheinungen, die Angstlosigkeit
auch bei größter objektiver Gefahr zeigen, kommt es offenbar gelegentlich vor, daß
bei einem Ereignis, dessen Ursache und Tragweite nicht klar überblickt werden
kann, z. B. wenn bei dem Passieren einer Ortschaft im feindlichen Lande plötzlich
einige Schüsse fallen, eine zu dem objektiven Tatbestand in gar keinem Ver
hältnis stehende Aufregung sich auch einer sonst ganz mutigen Truppe bemächtigt.
Am klarsten werden diese Verhältnisse bei dem Massenzustande, den man als Panik
bezeichnet, und bei dem zweifellos die gegenseitige Beeinflussung und Suggestion
bei ungenügender Kenntnis des objektiven Tatbestandes eine ent
scheidende Bedeutung hat. Sicher ist, daß die Erfahrungen des Krieges die Psycho
logie der Affekte in einer ganzen Reihe von Punkten weiter zu entwickeln geeignet
sein werden.
VI. Willenscharakter.
Mit den Affektzuständen ist der Willenscharakter des einzelnen Menschen
eng verflochten. Die Affekte stören vielfach den bewußten Willen, sodaß die Willens
schwäche durch das Vorherrschen von bestimmten Affekten, z. B. Angst, Zorn u. a.,
bedingt ist. Das Wesentliche des Willens besteht entweder in der Festhaltung und
dem andauernden Charakter einer bestimmten Innervation oder der zielsicheren
Ausführung von bestimmten Bewegungen. Bei den höheren, schon intellektuell
gefärbten Formen des Willens kommt dieser ursprüngliche Grundcharakter in dem
Festhalten und dem Ausführen einer Idee zum Vorschein. Der Begriff des Willens
ist demnach mit dem der Konstanz und der absichtlichen Erreichung
eines Zieles untrennbar verknüpft. Die Ausbildung des Willens ist die
wesentliche Aufgabe der militärischen Erziehung, und hauptsächlich
auf ihr beruht die Kriegsbereitschaft des Einzelnen wie eines ganzen Volkes.
Man hat vielfach die militärische Ausbildung mit dem Begriff des „Drills“, der den
Nebenbegriff des Automatischen und Technischen hat, abzutun gesucht.