Volltext: Der Weltbrand Band 1 (1; 1915)

die französisch-russische Anregung im englischen Ministerrat 
warm vertreten, und das Kabinett hat sich seinem Votum 
angeschlossen. Es ist beschlossen worden, in erster Linie ein 
Marineabkommen ms Auge zu fassen, und die Verhandlungen 
in London zwischen der englischen Admiralität und dem 
russischen Marineattache stattfinden zu lassen. 
Die Befriedigung der russischen und französischen Diplo¬ 
matie über diese erneute Überrumpelung der englischen Poli- 
tiker ist groß. Man hält den Abschluß eines formellen Bund- 
nisvertrages nur noch für eine Frage der Zeit. Um dies 
Ergebnis zu beschleunigen, würde man in St. Petersburg 
sogar zu gewissen Scheinkonzessionen an England in der 
persischen Frage bereit sein. Die zwischen den beiden Mächten 
in dieser Hinsicht in letzter Zeit aufgetauchten Meinungs- 
Verschiedenheiten haben noch keine Erledigung gefunden. 
Russischerseits arbeitet man vorläufig mit beruhigenden Ver- 
sicherungen wegen der Besorgnis, die in England im Hin- 
blick auf die Zukunft 
Indiens in neuerer 
Zeit wieder hervor- 
getreten sind. 
IV. 
Juni 1914. 
Man ist in Peters¬ 
burg und London 
sehr beunruhigt we- 
gen der französischen 
Indiskretion über 
die russisch-englische 
Marinekonvention. 
Sir Edward Grey 
befürchtet Anfragen 
im Parlament. Der 
Marineattache, Ka- 
pitän Wolkow, der 
einige Tage in Pe- 
tersburg gewesen ist, 
vermutlich um In- 
struktionen für die 
Verhandlungen in 
Empfang zu neh- 
men, ist nach London 
zurückgekehrt. Die 
Verhandlungen ha- 
benbereitsbegonnen. 
V. 
Juni 1914. 
Im Unterhause 
wurde von mini- 
sterieller Seite an 
die Regierung die 
Anfrage gerichtet, ob Großbritannien und Rußland jüngst 
ein Marineabkommen abgeschlossen hätten, und ob Ver- 
Handlungen zwecks Abschluß einer solchen Vereinbarung 
unlängst zwischen den beiden Ländern stattgefunden hätten 
oder gegenwärtig im Gange seien. 
Sir Edward Grey nahm in seiner Antwort Bezug auf 
ähnliche im Vorjahre an die Regierung gerichtete Anfragen. 
Der Premierminister habe damals, so fuhr Sir Edward fort, 
geantwortet, es bestünden für den Fall des Ausbruches eines 
Krieges zwischen europäischen Mächten keine unveröffent- 
lichten Vereinbarungen, die die freie Entschließung der Re- 
gierung oder des Parlaments darüber, ob Großbritannien an 
einem Kriege teilnehmen solle oder nicht, einengen oder hem- 
men würden. Diese Antwort sei heute ebenso zutreffend wie 
vor einem Jahre. Es seien seither keine Verhandlungen mit 
irgend einer Macht abgeschlossen worden, die die fragliche Er- 
klärung weniger zutreffend machen würden; keine derartigen 
Verhandlungen seien im Gange, und es sei auch, soweit er 
urteilen könne, nicht wahrscheinlich, daß in solche eingetreten 
werden würde; wenn aber irgend ein Abkommen abgeschlossen 
werden sollte, das eine Zurücknahme oder eine Abänderung 
der erwähnten letztjährigen Erklärung des Premierministers 
nötig machen sollte, so müßte dasselbe seiner Ansicht nach, 
und das würde auch wohl der Fall sein, dem Parlament vor- 
gelegt werden. 
Die englische Presse enthält sich in ihrer großen Mehrzahl 
jeglicher Bemerkungen zu der Erklärung des Ministers. 
Nur die beiden radikalen Blätter „Daily News" und 
„Manchester Guardian" äußern sich in kurzen Leitartikeln. 
Die erstgenannte Zeitung begrüßt die Worte Sir Edward 
Greys mit Genugtuung und meint, sie seien klar genug, um 
jeden Zweifel zu zerstreuen. England sei nicht im Schlepp- 
tau irgend eines anderen Landes. Es sei nicht der Vasall 
Nußlands, nicht der Verbündete Frankreichs und nicht der 
Feind Deutschlands. Die Erklärung sei eine heilsame Lektion 
für diejenigen englischen Preßleute, die glauben machen woll- 
ten, daß es eine „Tripleentente" gebe, die dem Dreibund 
wesensgleich sei. 
Der „Manchester Guardian" hingegen ist durch die Er- 
klärung des Ministers nicht befriedigt. Er bemängelt ihre 
gewundene Form und sucht nachzuweisen, daß sie Auslegungen 
zulasse, die das Vorhandensein gewisser, vielleicht bedingter 
Verabredungen der gerüchtweise verlautbarten Art nicht durch- 
aus ausschlössen. — Die Erklärung Sir Edward Greys ent- 
spreche einer ver- 
traulichen Äußerung 
einer Persönlichkeit 
aus der nächsten 
Umgebung des Mi- 
nisters: 
„Er könne aufs 
ausdrücklichste und 
bestimmteste ver- 
sichern, daß keinerlei 
Abmachungen mili- 
tärischer oder mariti- 
mer Natur zwischen 
England und Frank- 
reich bestünden, ob- 
wohl der Wunsch 
nach solchen auf fran- 
zösischer Seite wie- 
derholt kundgegeben 
worden sei. Was 
das englische Kabi- 
nett Frankreich abge- 
schlagen habe, werde 
es Rußland nicht ge- 
währen. Es sei keine 
Flottenkonvention 
mit Rußland ge- 
schlössen worden, und 
es werde auch keine 
geschlossen werden." 
VI. 
Juni 1914. 
Sir Edward Grey 
hat offenbar das Be- 
dürfnis empfunden, 
den Ausführungen des „Manchester Guardian" über seine 
Jnterpellationsbeantwortung in Sachen der angeblichen eng- 
lisch-russischen Flottenentente sogleich nachdrücklich entgegen- 
zutreten. Die „Westminster Gazette" bringt an leitender 
Stelle aus der Feder Mr. Spenders, der bekanntlich zu den 
intimsten politischen Freunden Sir Edward Greys gehört, ein 
Dementi, das an Bestimmtheit nichts zu wünschen übrig läßt. 
Es ist darin gesagt: Es besteht kein Flottenabkommen und 
es schweben keine Verhandlungen über ein Flottenabkommen 
zwischen Großbritannien und Rußland. 
Niemand, der den Charakter und die Methoden Sir Edward 
Greys kenne, werde auch nur einen Augenblick annehmen, 
daß die von ihm abgegebene Erklärung bezwecke, die Wahr- 
heit zu verschleiern. 
VII. 
.... Iuni 1914. 
Daß die Erklärung Sir Edward Greys im englischen Unter- 
Haus über das russisch-englische Marineabkommen von der 
öffentlichen Meinung in England so bereitwillig akzeptiert 
worden ist, hat hier und in Petersburg große Erleichterung 
hervorgerufen. Die Drahtzieher der Aktion hatten schon be- 
fürchtet, daß der schöne Traum des neuen Dreibundes aus- 
geträumt sein könne. Es fällt mir übrigens schwer daran zu 
glauben, daß es dem „Manchester Guardian" allein beschieden 
gewesen sein sollte, den Trick zu durchschauen, dessen sich Sir 
Edward Grey bediente, indem er die Frage, ob Verhandlungen 
Die Post passiert, die Vorposten. 
Nach einer Skizze des im Felde weilenden Mitarbeiters der „Jllustrirten Zeitung" O. I. Olbertz. 
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