Volltext: Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart I. (1 (1934) ;)

1893 ist Rabb. Dr. Hofmann Matrikenführer. Er 
legte als solcher den Eid in die Hände des damaligen 
Regierungsvertreters und späteren Statthalters von 
Böhmen Karl Graf Coudenhove ab. Lauit Erlaß der 
Statthalterei vom 24. April 1878 wurde der Gablonz- 
Tannwalder Matrikenbezirk von dem Reichenberger 
getrennt. 
Die Gemeimlebeninteii. 
K a n t o r e n : Joachim P e s s e 1 e s, von 1861 an. 
Er starb am 28. Okt. 1877 im Alter von 49 Jahren. 
Heinr. Goldstein, vorher in Schiittenhofen und 
Tapolcza, von 1889 an Lehrer bis 1920, starb am 
19. Okt. 1926 im Alter von 80 Jahren. Adolf K e- 
stenberg, vorher in Rózsahegy und Prag (an der 
Pinkassynagoge), fungierte in R. von 1889 an, also 
volle 40 Jahre. Er starb am 12. Feber 1930, 78 Jahre 
alt. Leo Wartelski, auch Religionslehrer, seit 1923. 
Religion s lehre r und Kantoren: Hugo 
Löwenthal, 1912 bis 1914; Samuel Ungermann, 1920 
biis 1923. 
Erst bestand in N. C. 169-11 eine besondere Reli¬ 
gionsschule, die im J. 1877 aufgelassen und der Reli¬ 
gionsunterricht in die öffentlichen Schulen verlegt 
wurde. Eltern zahlten Schulgeld, das später ermäßigt 
und nach li e r ganz aufgehoben wurde. Bis 1869 
erteilten den Religionsunterricht die Privatlehrer Va¬ 
lentin Fischer, dann Adolf Illa wat seh, der auch ein 
Heft: „Das Synagogenjahr44 verfaßte, J. Löwitt und 
N. Steiner. 
Schächter: Valentin Fischer, 1863 bis 1893; 
Seniy Stein die r, 1893 bis 1931, jetzt i. R.; Chaim 
Laib Wolf, auch Kantor. 
Organisten: Josef Schmidt, seit Anfang 1873, 
nachher Ferdinand Gerhardt in unentwegter 
Pflichttreue ein halbes Jahrhundert hindurch; Eduard 
Proksch, Otto Feix, und gegenwärtig Regiments-Ka¬ 
pellmeister Wilhelm P o c h m a n n. 
Für die soziale Gesinnung der Gemeinde ihren Be¬ 
amten gegenüber ist die Tatsache ehrend, daß schon 
im J. 1875 über eine frühere Anregung von Willi. 
Winterberg ein Pensionsfond für die Beamten und de¬ 
ren Witwen ins Leben gerufen wurde. 
Die Vereine. 
Viel jüdisches Leben regt sich in den Vereinen. Die 
zwei ältesten sind die „Beerdigungsbrüdersehafr4 
„Chewra-Kadischa" und der „Israelitische Frauen¬ 
verein'6. Die Gh. K. wurde im J. 1864 gegründet, die 
Statuten wurden jedoch erst im J. 1871 behördlich be¬ 
stätigt. Sie wurden im Einvernehmen mit dem Kultus¬ 
vorstande verfaßt. Der erste Vorsteher war Joachim 
Deutsch, ihm f olgte Moritz R o is e n b a u m. Josef 
Lazansky stand etwa drei Jahrzehnte hindurch an 
der Spitze dieses Vereines, dessen Interessen unent¬ 
wegt wahrnehmend. Die Gh. K. würdigte seine Ver¬ 
dienste, indem sie ihn zu ihrem ersten Ehrenmitgliede 
ernannte. Seit 1915 ist Otto Fanti Vorsteher der 
Ch. K. Sie feierte ihren 50 jährigen Bestand imi J. 1914 
durch Gründung eines Fondes von K 20.000'—, der 
dem Vereinsvermögen entnommen werden und für 
den Bau eines jüd. Armenhauses in R. Verwendung 
finden sollte. In der Folge wurde dieser Beschluß wi¬ 
derrufen, aber vor einigen Jahre wieder aufs neue ge¬ 
faßt. Somit ist das nächste und wichtigste Vereinsziel 
die Errichtung des geplanten Altersheimes. Ehrenmit¬ 
glied der Ch. K. war Emanuel Deutsch und gegen¬ 
wärtig ist es Otto Epstein. 
Die erste Chewra Seude soll Anfang der 70er Jahre, 
wohl in bescheidenem Ausmaße, veranstaltet worden 
sein. Dieses traditionelle Brudermahl wurde zum 
zweitenmal ein gutes Halbjahrhundert später abge¬ 
halten. Anläßlich ihres 60 jährigen Bestandes veran¬ 
staltete nämlich die Chewra gemeinsam mit dem Israe¬ 
litischen Frauenverein, der auch sein 60 jähriges Ju¬ 
biläum feierte, nachträglich eine Feier. Dieses Jubi¬ 
läumsfest fand am 29. und am 30. Mai 1926 statt. 
Samstag abends fand ein Festgottesdienst mit Predigt, 
Sonntag Vormittags Friedhofsbesuch mit Gedenkrede 
und abends Festsitzung mit dem Vortrag des Rabbi¬ 
ners über die Geschichte der Reichenberger Chewra 
und anschließend daran eine Chewra-Seude statt, an 
der im großen Saale des Volksgartems 300 Damen und 
Herren und zahlreiche Ehrengäste aus den Nachbar¬ 
gemeinden teilnahmen. 
Gleich der Chewra bei den Männern, widmet sich 
auch der Israel. Frauenverein seit jeher satzungsge¬ 
mäß beim Dahinscheiden von Frauen pietätsvoll der 
Ausübung der rituellen Vorschriften. Der „Israel. 
Frauenverein44 hatte aber nicht nur stets hingebungs¬ 
voll diese ihre Bestimmung erfüllt, sondern darüber 
hinaus auch Werke der Mildtätigkeit ausgeübt, Unter¬ 
stützungen gewährt und ihre Fürsorge namentlich auch 
auf die Ausstattung armer Bräute ausgedehnt. Außer¬ 
dem hat sie für die Synagoge öfters herrliche Para¬ 
mente gespendet. Die erste Vorsteherin war Rosa Frey¬ 
berg. Ihr folgten die Frauen Ida Freyberg, Babette 
Hlawatsch, Berta Piolaczek, Emilie Langstein, Sophie 
Winterberg, die nach ihrem Abgange zur Ehrenvor¬ 
steherin ernannt wurde, und Frau Ida Fleischer. 
Gegenwärtig ist Frau Eugenie H o f m a n n Vorstehe¬ 
rin. Ehrenmitglied ist Frau Adelheid Kraus. 
Dem Kultus dienen zwei Vereinigungen: Der „Tern- 
pelchorverein44 und der Verein „Achdus Jisroel". Der 
Chor, dessen Aufgabe die Pflege der liturgischen Ge¬ 
sänge ist, hat sich beim Bau des Tempels neu gebildet 
und zählte damals unter dem ersten Obmann Dr. Wil¬ 
helm H e r s c h, 45 Mitglieder. Jahrzehnte hindurch 
haben Gemeindeangehörige, Damen und Herren frei¬ 
willig, selbstlos und eifrig die wöchentlichen Proben 
besucht. An der Spitze des Tempelchors standen Emil 
Deutsch, Dr. Wilh. Schnürmacher, und nach¬ 
her Josef Fleischer. Die Neuorganisierung des 
Chors beschäftigte wiederholt die Gemeindeverwaltung. 
Hauptsächlich auf Betreiben von Karl W i 1 1 n e r hat 
sich der Tempelchor im J. 1901 als selbständiger Verein 
mit behördlich bestätigten Statuten konstituiert. Der 
erste Obmann war Karl W i 1 1 n e r. Ihm folgte Ernst 
S o y k a. Etwa ein Vierteljahrhundert stand Dr. Alfr. 
Soudek an der Spitze des Vereins. Ehrenmitglied 
war Sigmund Meiler. Als Chorleiter fungierte Jahr¬ 
zehntelang Julius Fischer, der wegen seiner Ver¬ 
dienste zum Ehrenchormeister ernannt wurde. Nach 
mehrjähriger Unterbrechung, während welcher Zeit 
Richard Fuchs, Ed. Proksch, Hugo Wagner und Otto 
Feix den Chor leiteten, übernahm er wieder die Stelle 
des Dirigenten. 
In der Organisation „Achdus Jisroel" sind die 
streng konservativen Mitglieder der Gemeinde, fast 
ausnahmslos die aus dem Osten stammenden orthodo¬ 
xen Glaubensgenossen vereinigt. Ihren Grundstock 
bilden jene Kriegsflüchtlinge, die beim Friedensschluß 
hier geblieben sind. Rabbinat und Verwaltung ließen 
den Mitgliedern der Vereinigung, an deren Spitze seit 
ihrer Gründung Abraham Ehrlich steht, in der 
Ausübung des religiösen Kultus stets freie Hand und 
zeigten für ihre Bestrebungen verständnisvolles Ent¬ 
gegenkommen. Hiedurch wurde das köstliche Kleinod, 
die Einheit der Gemeinde, zumindest nach außenhin, 
gewahrt. In anerkennenswerter Weise ist aber auch 
diese Vereinigung, die wohl mit Vorbedacht sich den 
Namen: „Einheit Israels44 beigelegt, bestrebt, von 
separatistischen Gelüsten frei zu bleiben. Diese Orga¬ 
36* 
563 
Reichenberg 35
	        
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