Volltext: Das Bildungswesen im neuen Deutschland [37]

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Mit der organisatorischen Vereinheitlichung des Bildungs¬ 
wesens muß Land in Land gehen eine Vereinheitlichung des 
Bildungsprogramms. Das soll nicht eine Schmälerung des 
Bildungsreichtums bedeuten, wohl aber eine Konzentration auf 
das, was gerade diese große Zeit uns als das Wesentliche zum 
Bewußtsein bringt, es soll bedeuten eine Besinnung auf uns 
selbst. 
Als der Kaiser, bald nachdem er die Regierung übernommen 
hatte, im Dezember 1890 die erste Schulkonferenz einberief, be¬ 
zeichnete er es in seiner Eröffnungsrede als Lauptmangel, daß 
unserem höheren Schulwesen die „nationale Basis" fehle. Es 
hat zehn Jahre gedauert, ehe die von ihm gegebenen Anregungen 
tatsächlichen Erfolg hatten, aber die Schulreform von 1900 ging 
im wesentlichen an dem vorbei, was er als Lauptmangel bezeichnet 
hatte. Sie brach zwar das Gymnasialmonopol und brachte den 
Realgymnasien und Oberrealschulen die Gleichberechtigung, aber 
sie machte keineswegs, wie es der Kaiser gewollt hatte, „das 
Deutsche zur Grundlage" der höheren Schulen. 
Das neuhumanistische Bildungsideal, zu dessen Verwirk¬ 
lichung das klassische Gymnasium in seiner gegenwärtigen Gestalt 
begründet wurde, hat dem deutschen Geistesleben gewiß unschätz¬ 
bare Bildungswerte zugeführt. Es war verständlich, daß in den 
Zeiten, da die deutsche Kultur selbst noch arm war an großen 
geistigen Werten, da die Quellen verschüttet waren, die zu früheren 
Löhen der deutschen Vorzeit hätten zurückführen können, der 
sehnsuchtsvolle Blick sich nach dem Menschheitsideal der Antike 
wandte. Es mag auch als Ausdruck einer der besten Eigenschaften 
des deutschen Wesens, der Gründlichkeit, angesehen werden, daß 
die Ansicht herrschend wurde, es sei ein Merkmal jeder höheren 
Geistesbildung, das klassische Bildungsgut aus den Quellen selbst 
schöpfen zu können. Aber die wissenschaftliche Kritik hat das 
Messer an jenes Menschheitsideal selbst gelegt, und im Zusammen¬ 
hange damit vollzieht sich seit Jahrzehnten eine Amwandlung in 
der Wertschätzung des klassischen Bildungsgutes. Seine dauernden 
Werte sind in das deutsche Geistesleben übergegangen, nament¬ 
lich durch unsere eigene klassische Literatur. Lier leben und wirken 
sie und sind der Allgemeinheit zugänglich. Zwar braucht die 
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