Volltext: Die Waise von Ybbsthal

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Der Oberst kam sogleich aus seinem Zimmer heraus. 
Sein Antlitz zeigte heute nicht jenen strengen Ausdruck, wie 
damals in Waidhofen, als es galt, des Richteramtes zu 
walten. Er befahl Luise, ihr Anliegen kurz vorzubringen, 
da die Zeit dränge, und er ohnehin von seinem Bruder, dem 
Major, die Hauptsache bereits wisse. Luise schilderte also 
kurz, aber in erschütternder Weise, ihre traurige Lage und bat 
zuletzt um einen freundlichen Rat, wie sie in ihrer Be¬ 
drängnis einen Ausweg finden könne. 
„Mein Kind," sagte der Oberst, „ich muß mit Bedauern 
zugeben, daß du recht unglücklich bist, zugleich aber auch 
gestehen, daß du es durch mich geworden bist. Daß es so 
kommen würde, habe ich freilich nicht vorausgesehen; denn 
wer hätte geglaubt, daß deine Landsleute die paar Gold¬ 
stücke, die ich dir für. den meinen Soldaten geleisteten Dienst 
gegeben, für einen Verräterlohn ansehen würden? Auch 
wußte ich damals nicht, daß du eine schutzlose Waise bist, 
als welche du jetzt, wie ich sehe, auch noch den Fluch der 
ruchlosen That deiner Pflegemutter tragen mußt, an der du 
doch so edel gehandelt hast. Ja, mein Kind, deine Lage ist 
eine wahrhaft trostlose. Zwar die Leute sind hier in Oester¬ 
reich gut und bieder, wie man sie selten wo so treffen wird. 
Ich bin fest überzeugt, daß deine Landsleute noch einmal 
billig und gerecht über dich urtheilen werden, sind nur erst 
die Kriegsstürme vorübergezogen, und hat die Aufregung 
einer ruhigen Ueberlegung Platz gemacht. Rohe Menschen 
freilich — und wo fänden sich denn nicht auch solche? — 
werden dich ihre Gehässigkeit wol fühlen lasten, zumal du 
keine Eltern und Angehörigen mehr hast. Dieser letztere Um¬ 
stand besonders läßt es geraten erscheinen, daß du, wenigstens
	        
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