Volltext: Linzer Hessen

Die Bekleidung 
Sie Kriegsgefangenen waren derart mangelhast und 
dürftig mit Kleidern und Schuhen verseilen, daß sie wie Bettler 
umhergingen. Selbst in den kältesten Wintermonaten hatten 
sie keine Unterkleidung ausgesaßt und mußten mit zersetzten 
Stiefeln und Schuhen schwere Arbeiten im Freien verrichten. 
Sie russischen Magazine waren voll mit Monturen, doch gab 
man absichtlich den Kriegsgefangenen nichts heraus. Sur 
wenn eine Selegation oder Inspizierung durch einen höheren 
russischen keneral angesagt war, da wurden oft bis in die 
tiefe Sacht Monturen und Schuhe ausgeteilt, um nach Be¬ 
endigung der Besichtigung gleich wieder abgenommen zu wer¬ 
den. Sie in dieser Einsicht vom Boten kreuz und von heimat¬ 
lichen Fürsorgeämtern unternommene Hilfsaktion hatte zwar 
diesem llbelstand etwas abgeholfen, die große Masse litt aber 
ständig unter der unzureichenden Bekleidung. 
Die sanitäres Verhältnisse 
Lines der traurigsten Kapitel ist wohl die sanitäre Fürsorge 
während der ganzen Zeit der Kriegsgefangenschaft. Obwohl 
in den meisten Zöllen die Spitäler gut eingerichtet waren, 
reichten sie bei höheren Krankenständen räumlich nicht aus. 
Überdies begegnete man auf Schritt und Tritt einer unfa߬ 
baren Indolen; in der Krankenfürsorge. So war zum Bei¬ 
spiel im Zahre ISIS in krasnaja-Bjetschka für kranke Offiziere 
nur ein Zimmer mit fünf Betten vorhanden, wenn dieser 
Belag komplett war, mußte der am längsten in Spitals- 
behandiung gestandene dem neugekommenen kranken Platz 
machen und wurde ohne Bücksicht auf seinen kesundheits- 
zustand entlassen, flls ich diese haarsträubenden Berhöltnisse 
dem amerikanischen Konsul, der uns besuchte erzählte, geriet 
der russische Kapitän, der bei uns die Aufsicht führte in eine 
derartige Wut, daß er meine strafweise Bersehung in ein 
anderes Lager durchführen wollte. Sur über eindringliches 
Bitten nahm er später davon flbstand. 
Sie russischen flrzte sind nur, wenn sie im flusland studiert 
haben, vollwertig. Ls war eine allbekannte latsache, daß sie, 
obwohl die Spitäler mit modernen Instrumenten und flppa- 
raten ausgestattet waren, zumeist mit denselben nicht umzu¬ 
gehen wußten. Sen eigentlichen ärztlichen Sienst versahen die 
Feldscherer, die oft nur durch Protektion diesen Sienstposten 
bekleideten um dem Frontdienst zu entgehen. Sie flufnahme 
in ein Spital ging immer mit der den Bussen eigentümlichen 
Schwerfälligkeit vor sich und dauerte gewöhnlich einige läge. 
Ser große Wangel an Medikamenten und Serbandstoffen 
machte sich überall empfindlich bemerkbar und man kann wohl 
sagen, daß aus dieser Ursache allein viele lodessälle vor¬ 
kamen. 
luberkulose, Lungenkrankheiten, Sierenleiden, Skorbut 
und Magenkrankheiten kamen am häufigsten vor. flußerdem 
wüteten auch Bauch- und Flecktgphus ständig und rafften 
lausende und aber lausende von jungen Menschenleben dahin. 
Line besondere Krankheit war der Sachtnebel, an dem 
besonders viele Leute in der priamurs-kaja litten, kr äußerte 
sich darin, daß die davon Befallenen von der Zeit des Sonnen¬ 
unterganges dis zum Sonnenaufgang vollständig blind waren. 
Sie Krankheit ist aus den Mangel von Semüsen und Fett- 
stoffen zurückzuführen und ist ein Sorbote des Skorbuts. Lin 
gutes Mittel dagegen war Lebertran, doch war dieser nirgends 
ausreichend vorhanden. Unter diesen erbarmungswürdigen 
Serhältniffen war es wohl eine äußerst segensreiche und 
philanthropische flktion, daß der Papst den flustausch der In¬ 
validen ins Leben rief. Leider brauchte dieses Übereinkommen 
eine geraume Zeit, bis es auf die russischen perhältnisse halb¬ 
wegs flnwendung fand. Sie ärztlichen Kommissionen ar¬ 
beiteten in einem Schneckentempo,' oft stockte monatelang ihre 
lätigkeit ganz. Überdies machten sie bei der flnerkennung 
der Invalidität die größten Schwierigkeiten. Bis die be¬ 
rühmten Vumagi fSchriftstückel alle Instanzen passierten uns 
endlich die Bewilligung zum flustausch kam, waren die meisten 
kranken mittlerweile gestorben. Später wurde der Invaliden¬ 
austausch auch auf sjalbinvaiide ausgedehnt und dadurch war 
es auch mir gelungen, zuerst das europäische Bußland und 
dann sogar die liebe Heimat zu erreichen. 
Sie Beerdigung der Serstorbenen erfolgte gewöhnlich ohne 
Zeremonie und Pietät. Sie Bussen wußten es so einzurichten, 
daß selbst kleine flbordnungen, die den Kameraden das letzte 
Geleite geben wollten zumeist zu spät kamen. gewöhnlich 
wurde von den Kameraden ein kreuz mit dem Samen des 
Serstorbenen auf das Brab gesetzt. In Lhabarowsk aber 
wurde auf dem Kriegsgefangenen-Zriedhof, der eine eigene 
flbteilung bildete, von den Offizieren ein Obelisk errichtet, zu 
dem ein ungarischer Bildhauer den kntwurf lieferte, wie das 
Leben eines Kriegsgefangenen eingeschätzt wurde beweist am 
besten der Umstand, daß über die Serstorbenen erst über Ser- 
anlaffung der Boten-Kreuz-Selegation lotenscheine aus¬ 
gefertigt wurden, die dann an die Zentralstelle nach Petrograd 
gelangten. Ich muß hier mit einigen Worten aber auch der 
österreichisch-ungarischen flrzte gedenken, deren segensreichem 
wirken und aufopfernder Pflege lausende von Kriegs¬ 
gefangenen ihr Leben verdanken. Bar mancher dieser braven 
Männer fiel seinem Berufe, den er selbstlos ausübte, zum 
Opfer. Ser in Mattsee sSalzburgj beheimatete Oberarzt 
Sr. Breitner, ein hervorragender Lhirurg, hat die ganzen 
Zahre besonders segensreich in Sikolsk-Uffurisk gewirkt und 
sich mit Becht den Beinamen „der Lngel von Sikolsk" er¬ 
worben. 
Beschäftigung und ftrbeit 
Sie verzweifelte Lage, in der sich die Kriegsgefangenen 
befanden brachte es mit sich, daß jeder trachtete durch rast¬ 
lose Beschäftigung über diese schwere Leidenszeit hinüberzu¬ 
kommen, um seine Bedanken von Heimat und Familie abzu¬ 
lenken. San den meisten Kameraden wurden der Zukunft 
wegen Sprachstudien betrieben. In jedem Lager gab es Kurse 
für knglisch. Französisch, Bussisch, Italienisch, lürkisch usw.,' 
so mancher Ungar erlernte vollkommen deutsch und viele 
Seutsche, auch Beichsdeutsche lernten ungarisch, fluch in 
Lateinisch und griechisch vervollkommneten sich einige Herren, 
namentlich Beserveoffiziere, die es für ihren Beruf brauchten. 
Bon ihnen wurde auch das Studium der spanischen, schwedi¬ 
schen und arabischen Sprache häufig betrieben. Line kleine 
Kruppe, zu der auch der Schreiber dieser Zeilen gehörte, 
hatte sich sogar an das chinesische herangemacht. 
Lin einjähriges eifriges Studium gab mir einen solchen 
Borsprung, daß ich es wagen durste, als „Lehrer der chine¬ 
sischen Sprache" für einen kleinen kreis aufzutreten. So 
geschah es, daß ein „14er" im fernen Osten die Sprache des 
Beiches der Mitte tradierte. Sie Freude war nicht gering, 
als man nach einigen Monaten schon mit ein paar Worten 
die „Originalchinesen", die im Lager zur kntleerung der 
Kanäle verwendet wurden ansprechen Konnte. Ser Schleier 
des Beheimnisvollen, der über der chinesischen Sprache liegt, 
war für diese wissensdurstige Kruppe gelüftet. 
Ls gab natürlich auch SprachfanatiKer, die fünf und sechs 
Sprachen zu gleicher Zeit lernten, wie es in ihren köpfen aus¬ 
gesehen haben mochte, kann man sich denken. Manche von 
ihnen sprachen schon das reinste Bolapük oder Lsperanto. 
flls Lehrer in den verschiedenen Sprachen betätigten sich 
Berufssprachlehrer sBeserveoffiziere-philologenj oder solche 
Herren, die durch langjährigen flufenthalt in fremden Län¬ 
dern Sprachkenntnisse erworben hatten, krammatiken sver- 
litz-Vehelfe, loussaint-Langenscheidtj konnte man sich auch be¬ 
schaffen. Ls war oft urbrollig, wenn man im Lager fast alle 
Sprachen der Welt von Borübergehenden beim Spaziergange 
sprechen hörte. 
490
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.