Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Erster Band (I. / 1913)

Der Schrecken in Konstanttnopel. 
V^ud) die strengste Zensur konnte nicht 
verhindern, daß, wenn auch erst spät, 
die Kunde von der neuen Nieder- 
läge der türkischen Heeresmacht nach 
der Hauptstadt drang. Mar nach den Ereig 
nissen von Kirkkilisse die Aufregung in Kon 
stantinopel bereits groß gewesen, so wurde sie 
nach Lüle Burgas fieberhaft. Freilich nur in 
den türkischen Kreisen. Konstantinopel mit seinen 
J 1 /* Millionen Einwohnern hat ja beinahe 
eine Million Fremde: Griechen, Levantiner, 
Juden, Europäer. Nur der dritte Teil der 
Bevölkerung ist türkisch, und nur dieser dritte 
Teil fühlte die Trauer, die Angst des Osmanen- 
tums. Kein Grieche hat sich herbeigelassen, 
seinen Laden zum Zeichen der Trauer zu schließen 
— wer auch hätte das von ihm verlangen 
können? Standen doch seine Sympathien auf 
der Seite der Sieger und ganz gewiß nicht auf 
der Seite der Besiegten. Kein Levantiner wollte 
wegen der türkischen Niederlagen auf seine Ge 
schäfte verachten, kein europäischer Hotelier das 
Spielen eines Mähers beim Nachmittagstee 
verbieten. Schon nach der Niederlage bei Kirk 
kilisse tönten den Verwundeten, wie ein fran 
zösischer Berichterstatter erwähnt, aus allen Lo 
kalen, an denen sie vorbeigetragen wurden, lustige 
Meisen entgegen, die ihrer Dualen zu spotten 
schienen. Auch nach der Katastrophe von Lüle 
Burgas war es in den ersten Tagen nicht viel 
anders und es bedurfte noch stärkerer Schreck 
nisse, die der Stadt wirklich den Stempel der 
Metropole eines besiegten Landes aufdrückten. 
Alarmierend lauten freilich bereits die Be 
richte, die in den ersten Novembertagen aus der 
türkischen Hauptstadt kamen. Man klagte vor 
allem über die kolossale llberfüllung Konstanti 
nopels. Unter den Ankömmlingen, sagt eine 
englische Zeitschrift, werden drei Klassen unter 
schieden. Da ist an erster Stelle die große 
Menge von Flüchtlingen und verwundeten Sol 
daten, die über die ganze Stadt verstreut sind 
und jedes nur verfügbare Gebäude in Besitz 
genommen haben, namentlich alle Baracken, 
Moscheen, Schulen usw. Ferner ist eine be 
trächtliche Zahl von Dienern der Mohltätigkeit 
aus allen Kreisen und Nationen zusammen ge 
kommen, deren Arbeit eine uneingeschränkte 
Bewunderung gesollt wird. Das dritte Element, 
das die gewöhnliche Einwohnerschaft von Kon 
stantinopel vermehrte, war das Hin und Her 
von Soldaten, die aus den kleinasiatischen Pro 
vinzen fortgesetzt eintrafen, um so schnell als 
möglich an die Front befördert zu werden. 
Mas zunächst die Flüchtlinge betrifft, so wird 
das Elend unter ihnen schlechthin unbeschreiblich 
genannt. Ihre Zahl soll sich bereits in den 
letzten Oktobertagen auf mehr als 200.000 be 
laufen haben und täglich trafen neue Trupps 
aus den verwüsteten Landschaften in Thrakien 
ein. Tausende und Abertausende von ihnen 
kampierten auf offenen Plätzen, verlassenen Höfen, 
in Iypressengehölzen, in der nächsten Umgebung 
des Bosporus und auch auf den vielen Fried 
höfen. Sie hatten weder genügende Kleidung 
noch Heizstoff, noch Nahrung, noch auch Milch 
für ihre kleinen Kinder. Freilich hatten sie in 
vielen Fällen nicht nur ihre ganze leblose Habe, 
sondern sogar ihre Kinder zurückgelassen und 
waren halb wahnsinnig vor Furcht vor dem 
siegreichen Feind geflohen. Ihre durch Aus 
zehrung, durch körperliches und moralisches Elend 
hervorgerufene Verzweiflung wird als herzzer 
reißend geschildert; als besonders bejammerns 
wert der Zustand der Frauen und Kinder. Selbst 
Leute, die ihnen zu Hilfe kamen, trafen auf 
gleichgiltige, geistesabwesende Blicke. Viele frei 
lich bettelten um eine Brotkrume oder um eine 
Hülle, ihre nackten Glieder zu wärmen. Trotz 
rühmenswerter Bemühungen zur Linderung der 
Not, an denen sich die Gesandtschaften, öffent 
lichen Anstalten und arme wie reiche Privat 
personen beteiligten, konnte nur ein Teil des 
schlimmsten Elends gemildert werden. Die Tätig-
	        
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