Volltext: Illustrierte Geschichte des Balkankrieges 1912 - 13 Erster Band (I. / 1913)

Die europäische Diplomatie nach den ersten Niederlagen. 
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den preis festgesetzt. Gemüse ist sehr knapp, 
ebenso Obst. Der Waffenlärm in den Straßen, 
die Knappheit der Lebensmittel, die unruhige 
Stimmung unter der Bevölkerung und die poli 
tischen Gegnerschaften im Volke veranlaßten die 
Regierung, die Wahrheit Mückzuhalten. Aber 
auf die Dauer konnte sie eben doch nicht ver 
borgen bleiben. 
Die erste Folge der Niederlage von Kirk- 
kilisse war die Absetzung des Generalissimus 
Abdullah Pascha, an dessen Stelle Kriegsminister 
Rachm Pascha das Oberkommando übernahm. 
Aber auch die Stellung des Großwesiers Achmed 
Mukhtar Pascha war unhaltbar geworden, zumal 
als man seinem Sohn Mahmud Mukhtar Pascha 
die Hauptschuld an der Niederlage von Kirk- 
kilisse zuschrieb. Am 29. Oktober kam die Mel 
dung vom Rücktritt des achtzigjährigen Ghazi 
Mukhtar und die Berufung des fünfundachtzig- 
iährigen Kiamil Pascha. 
Diese Ernennung hatte einen Untergrund, 
der nicht in der inneren Politik der Türkei allein 
zu suchen war. Der Rame Kiamil Paschas be 
deutete für Europa ein Programm. Hatte die 
junge Türkei den Anschluß an Deutschland, an 
die Mächte des Dreibundes gesucht, so wußte 
man, daß Kiamil Pascha unbedingt für eine 
Die europäische Diplomatie 
..^y^..et Beginn des Krieges war es gewisser- 
maßen politische Doktrin geworden, 
daß nach der ersten Schlacht die 
Großmächte ihre Arbeit zur Her 
stellung des Friedens wieder aufnehmen würden. 
Es war ihnen nicht geglückt, den Ausbruch des 
Krieges zu verhindern, aber in den Staats 
kanzleien wurde immer versichert, die Groß 
mächte würden ein wochen- und monatelanges 
Schlachten auf dem Balkan unter keinen Um 
ständen zugeben. Der Leitsatz vom Ztstus quo 
war freilich bereits bedenklich ins Wanken ge 
raten, als die Meldungen von den ersten Er 
folgen der Verbündeten kamen, aber die Türkei 
hoffte auf die Intervention der Mächte. Sie 
wurde in dieser Hoffnung vielleicht durch eine 
Rede bestärkt, die der französische Minister 
präsident poincare am 27. Oktober in Rantes 
hielt. Er sagte unter anderem: 
Die Negierung bedarf der Unterstützung aller 
Republikaner und des Vertrauens aller Fran 
zosen, um sich auf der Höhe ihrer schwierigen 
Aufgabe, welche ihr die gegenwärtigen Verhält 
nisse auferlegen, zu halten. 
In Besprechung des Sturmes, welcher auf 
der Balkanhalbinsel ausgebrochen ist, verwies 
Balkankrieg. 
englandfreundliche Politik war. Die Hinneigung 
zu Deutschland hatte die Türkei vor dem Krieg 
mit Italien nicht bewahren können und ließ 
auch wenig Hoffnungen, daß das ottomanische 
Reich im Fall einer Riederlage den entsprechen 
den aktiven Schuh bei Deutschland und Öster 
reich-Ungarn gesunden hätte. In diesem Augen 
blick der größten Rot übernahm Kiamil Pascha 
das Großwesierat und diese Ernennung hatte 
einen ganz bestimmten Zweck: die Türkei er 
wartete, daß es Kiamil gelingen würde, Eng 
land zu einer Intervention zu veranlassen. 
Ghazi Mukhtar Pascha, der nur drei Mo 
nate Großwesier war, der letzte große militärische 
Rame, über den die Türkei noch verfügte, mußte 
gehen, damit Kiamil Pascha das ottomanische 
Reich durch seine politische Klugheit retten 
konnte. Es schien fast, als hätte die Türkei die 
Hoffnung auf die Waffen bereits vollständig 
aufgegeben und erwartete ihr Heil nur noch 
von dem Werke der Diplomaten. Das osmani- 
sche Reich hatte mit dieser Politik schon wieder 
holt Erfolge erchelt, und so hoffte man in Kon 
stantinopel auf die Klugheit Kiamil Paschas — 
das Vertrauen auf die Armee hatte man be 
reits verloren. 
nach den ersten Niederlagen. 
er darauf, daß die französische Regierung getreu 
der vor den beiden Kammern übernommenen 
Verpflichtung, die finanziellen Hilfsquellen Frank 
reichs für Unternehmungen aufzusparen, welche 
der französischen Politik dienen, es vorsichtiger 
weise trotz der Friedensversicherungen Bulgariens 
hinausgeschoben habe, den französischen Markt 
einer bulgarischen Anleihe zu öffnen. Der Mi 
nisterpräsident erinnerte weiter daran, daß Frank 
reich, nachdem es, um den Wünschen der Balkan 
völker, soweit sie berechtigt seien, entgegenzu- 
kommen, sich der Anregung des Grafen Berch- 
told angeschlossen und der Pforte eine rasche 
Durchführung der versprochenen Reformen emp 
fohlen hatte, sich bemühte, den drohenden Krieg 
im Keime zu ersticken oder doch für den altzu 
wahrscheinlichen Fall eines Mißerfolges ihrer 
Bemühungen die Feindseligkeiten zu lokalisieren 
und zu verhindern, daß der entfachte Brand auf 
die großen europäischen Völker übergreife. 
Die Schwierigkeit der Probleme, welche die 
nächste Zukunft mit sich bringen kann, macht'in 
der Tat ein allgemeines Einvernehmen not 
wendig, wenn man nicht will, daß der unver 
meidliche Widerspruch der Interessen früher oder 
später in Unstimmigkeiten und Konflikte ausarte. 
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