Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Zweiter Band. (Zweiter Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. 
Feinde an keiner Stelle möglich war, die mit Handgranaten 
reichlich bewaffnete Sturmlawine aufzuhalten. Die geschleu 
derten Geschosse blieben nicht ohne Wirkung, und wenige 
Augenblicke später, in der Verwirrung, die unter dem Gegner 
augenscheinlich Platz gegriffen hatte, waren die Deutschen 
in den englischen Gräben, wo es nun mit dem Bajonett 
und dem Messer zu einem erbitterten Kampfe kam. Das 
Artilleriefeuer verstummte, hüben wie drüben, weil man 
hinten nirgends mehr sicher war, ob die eine oder andere 
Grabenlinie vom Freunde oder vom Feinde besetzt gehalten 
wurde. Um so heftiger gestaltete sich der Kampf von Mann 
zu Mann, und er mutz von den tapferen Unsrigen mit 
größtem Erfolg überall durchgeführt worden sein, denn 
noch im Laufe des Vormittags waren sie Herren des Feldes. 
Was vom Feinde nicht niedergemacht wurde, entfloh, wurde 
aber voll Erbitterung verfolgt, und so der Kampf mit dem 
Bajonett auch noch in den Straßen der Dörfer fortgesetzt; 
es wurde kaum noch irgendwo geschossen. Mit der aus 
schlaggebenden Eroberung des Dorfes Givenchy wurde dann 
auch dieser letzte Teil des blutigen Ringens zugunsten der 
Deutschen entschieden. Damit war östlich von Festubert 
den Engländern ein weiteres Stück ihrer hartnäckig ver 
teidigten Befestigungen entrissen. 19 Offiziere sowie 619 Eng 
länder und Inder wurden gefangen genommen, 14 Ma 
schinengewehre und zahlreiches Kriegsmaterial erbeutet. Auf 
dem Kampffelde lagen über 3000 Inder und Engländer. 
Eine von gegnerischer Seite zur Bestattung der Gefallenen 
erbetene Waffenruhe wurde bewilligt. Die Verluste unserer 
braven stürmenden Truppen waren verhältnismäßig gering. 
Der Tag von Wytschaete. 
ii. 
(Hierzu die Kunstbeilage.) 
Wir kamen an die erste Hecke mit Stacheldrahtzaun. 
Hinlegen und lebhaftes Feuer auf die Ortschaft, von wo 
der Feind mit unverminderter Schnelligkeit Tausende und 
aber Tausende von Geschossen herauswarf. Unsere Spiel- 
leute, die Drahtscheren mit sich trugen, waren bis auf einen 
gefallen oder verwundet. Dieser eine, der tapfere Tambour 
Wilhelm M., ging nicht von meiner Seite, und mit einer 
Selbstverständlichkeit, die ich bewunderte, machte er einfach 
alles, was die Lage erforderte. Hier schnitt er den Draht 
ab, dort hieb er mit der Art, die er in der anderen Hand 
hielt, ein Loch in die Hecke, und wenn ein Gewehr ver 
sagte, lief er zurück, bei einem gefallenen Kameraden Ersatz 
zu holen. Endlich war die Hecke und der Stachelzaun 
drahtverhau an etlichen Stellen durchbrochen, und mit 
Hurra ging's durch bis zum nächsten. Da merkte ich, daß 
die Kompanie wiederum allein auf weiter Flur war. Die 
erste Kompanie links von uns war entweder weiter vorn 
oder noch weit zurück, oder, das Wahrscheinlichste, es war 
eine Lücke entstanden. 
So blieben wir einige Zeit, bis ich mir sagte: wenn wir 
jetzt nicht bald weiter stürmen, stehen mir die Leute vielleicht 
nicht mehr auf. So rief ich denn: „Wir müssen vor!" und 
der Tambour ergänzte meinen Ruf mit dem Spruch: 
„Hin müssen's sein; allzam hau mer s' zamm!" Wiederum 
stürzte die ganze Kompanie vor, als erster Leutnant F., 
der, auch nicht mehr ganz jung, während des ganzen 
Sturmes seinem Zuge ein Beispiel war. Wir kommen 
zur zweiten Hecke. Das gegnerische Feuer wurde, als wir 
diesmal ziemlich lange an einer Stelle liegen blieben, etwas 
schwächer. Als jedoch der Gegner sah, daß wir nicht nach 
ließen und tatsächlich gesonnen waren, ihn aus seiner 
Stellung zu werfen, wehrte er sich mit dem Mute der Ver 
zweiflung. Insbesondere von rechts, wo keine weiteren 
Truppen mehr von uns waren, vereinigte sich alles Feuer 
auf die Kompanie. Plötzlich sehe ich, wie der Kriegsfrei 
willige Otto M., kürzlich erst vom Realgymnasium in Ham 
burg gekommen, ein schmächtiges Bürschchen, sich kerzen 
gerade vor einen der Pfähle hinstellt, die den Stacheldraht 
tragen, und ihn hin und her zu wiegen beginnt. Es ge 
lingt ihm auch, den schon etwas morschen Pfahl umzulegen, 
und, was das Merkwürdigste war, hundert Kugeln sausen 
um ihn her und keine trifft ihn. Dieses Experiment wieder 
holte er noch bei drei oder vier Drahtverhauen mit einer 
Ruhe und Selbstverständlichkeit, die mich mit Bewunde 
rung für den Achtzehnjährigen erfüllte. Dann sah ich ihn 
nicht mehr. Ich hoffe dringend, daß er mit dem Leben 
davonkam. 
So schieben wir uns auf 300 Meter, 200 Meter, 150 Meter 
an die feindliche Linie heran. Ein Rausch ergreift uns all 
mählich. Alles ruft und schreit, niemand denkt mehr 
daran, sich zu decken. Niemand denkt überhaupt mehr, 
sondern jeder sieht nur noch auf den Kirchturm der Ort 
schaft, den ich als Einbruchstelle bezeichnet hatte, schießt, 
springt auf in Richtung auf diesen Kirchturm, wirft sich hin, 
schießt und springt wieder auf, wenn irgend jemand „Sprung 
auf! Marsch marsch!" schreit. Dabei fortgesetztes Hurra. 
Nun sind wir unmittelbar vor den feindlichen Schützen 
gräben. 
Am linken Flügel stürzen Inder heraus und versuchen, 
ihre langen Messer, die sie an Schnüren um die Hand ge 
bunden haben, nach uns zu werfen. Es gelingt ihnen nicht, 
wir sind um eine Kleinigkeit zu weit weg und schießen sie 
alle nieder. Nun kommt der erste Graben. „Vorsicht beim 
Durchschreiten, daß keiner eine Kugel von rückwärts kriegt!" 
Wir stürmen hinein — er liegt voll Toter und Verwun 
deter — und hinüber zum zweiten und dritten Graben. 
Dann kamen große, laubenartige Gänge, aus Tabakblättern 
hergestellt, hinter denen der Feind immer noch feuerte. 
So schossen wir denn in die Tabarlauben hinein. Dann 
ging's hindurch und wir kamen an den Ortsrand. Hier traf 
ich den Oberleutnant und Kompanieführer H., auch er war 
heiser vom Schreien und noch unverletzt. Doch nur kurze 
Zeit stürmten wir zusammen, dann entführte ihn der nun 
beginnende Ortskampf von meiner Seite. 
Gleich beim zweiten oder dritten Haus steht ein be 
spannter Munitionswagen. Der Fahrer hatte offenbar 
bis zum letzten Augenblick Patronen ausgegeben. Nun 
wollte er zurückfahren — zu spät. Er greift nach seinem 
Gewehr; doch Vizefeldwebel R. hat seines schon im An 
schlag, und der Engländer bricht zusammen. Da kommt 
aus dem Haus heraus ein zweiter. Er sieht, was geschehen 
ist, und eilt zurück. Im Hausgang trifft ihn die Kugel. 
Im Galopp reitet ein Offizier die Straße herab und ruft 
von weitem: „Nicht schießen, Deutscher!" Ich befehle: 
„Nicht schießen auf den Reiter!" Aber schon hatte Unter 
offizier L. das Gewehr an der Wange, und bevor ich es 
verhindern kann, liegt der Reiter getroffen auf der Erde. 
Ich rufe dem Unteroffizier zu: „Wie konnten Sie schießen?" 
Doch der sagt ruhig: „Schwindel, Herr Hauptmann; das 
ist ja ein Engländer." Wir gehen näher hin und richtig, 
es war ein englischer höherer Offizier. So geht der Orts 
kampf weiter. Plötzlich bemerken wir, daß ein französisches 
Geschütz links hinter der Kirche noch auf uns feuert. „Vierte 
Kompanie auf das Geschütz hinter der Kirche!" rufe ich. 
Es geschieht, und wir gehen in der Richtung vor, in der 
wir das Geschütz hören; doch es war gut 600—800 Meter 
entfernt, und wie wir näher hinkommen, geraten wir ins 
heftigste Feuer der eigenen Artillerie. Auch die hatte das Ge 
schütz wahrgenommen und ihr Feuer darauf gerichtet. Also 
war's mit der Eroberung dieses Geschützes nichts. Wir 
eilen zurück zur Kirche. Da schallt der Ruf: „Das Regiment 
sammelt am Ostrand des Ortes." Wir kämpfen uns durch. 
Dabei erwischen wir einen Engländer, der eben aus einem 
Hause flüchten wollte. Ich beschloß, mir den Mann näher 
anzusehen: „Hands up!“ und siehe da, zitternd, Schweiß 
auf der Stirne, steht er da. Ich durchsuche ihm zunächst 
die Taschen und entnehme ihnen eine nicht unbeträchtliche 
Zahl von Dumdumgeschossen. Den Mann stellen wir, das 
nahm ich mir vor, nachher vor ein Kriegsgericht! 
AIs wir am Ostrand des Ortes anlangten, war's still 
und stumm in den Häusern geworden. Einzelne brannten. 
Vom Feinde war nichts mehr zu sehen. Die Arbeit schien 
getan. Die Bayern hatten Wytschaete gestürmt. Der 
Regimentsadjutant ließ die Reste von zwei Kompanien 
mit etlichen Offizieren den Ortsrand in Schützenlinie be 
setzen; was übrig blieb, bildete auf einer großen, freien 
Wiese eine geschlossene, tzur Verfügung stehende Abteilung. 
Dort sammelten sich auch einige Offiziere. Die nächste 
Aufgabe war, die Verwundeten, wenigstens die der nächsten 
Umgebung, zu bergen ... 
Wir gedachten, bis zum Morgengrauen zu warten. 
Etliche Patrouillen zur eigenen Sicherung waren draußen. 
Still wurde es allmählich, und jeder hing seinen Gedanken 
nach. Meine drei Offiziere waren noch am Leben. Leut 
nant H. hatte einen Streifschuß am Halse und meinte, ein
	        
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