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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/18.
Es war reizend, wenn Ninette sich in die Gespräche mischte
und die Worte verdrehte. Sie stimmte, wenn sie den Irr
tum merkte, heiter in das allgemeine Lachen mit ein. Sie
sagte nämlich zuweilen Stall statt Haus, anstatt Luchen
Lauchen; sie blätterte in einem Modeblatt und wollte
eine Aufnahme kritisieren mit den Worten : „Ich finde diese
Dame mit dem Busen nicht schön," sagte aber: „Ich finde
der Frau nicht schön mit das Bausen." Aus ihren hellen
Augen lachte die reinste Unschuld, sie sagte die größten
Dummheiten, ohne sich ihrer bewußt zu sein. Ninette hatte
ihre Hausschuhe von den kleinen Füßen gestreift und ihre
Beine in die Bratröhre der Kochmaschine gesteckt, weil es in
den: „Bonbonloch" so „mollig" sei. Madame Bunk besaß
nämlich die Kunstfertigkeit, in der Bratröhre recht schmack
hafte Bonbons aus Honig zu rösten. Trotz aller Knappheit
versagten sie sich nicht diese Näschereien. Sie taten Butter
und Zucker lieber in ausgehöhlte Apfel, um diese mit dem
schmackhaften Inhalt zu braten, als daß sie die Sachen nütz
licher verwerteten. Madame Bunk und Tochter waren die
Sorglosigkeit selber.
So vergingen die Abende. Mutter und Tochter ge
wannen den Kameraden Bernhagen besonders lieb. Er
verstand manches reizende Anekdötchen zum,besten zu
geben und erheiterte sie oft bis zum hellen Lachen. Das
ging so, bis sich einmal das Gespräch ohne Absicht auf
den Krieg lenkte, auf das grausame Gesicht des Krieges.
Trotz aller Versuche, das Thema zu umgehen, sprang der
Krieg immer wie
der in die Unter
haltung hinein.
Madame Bunk
meinte, die ersten
deutschen Beruf
soldaten wären
doch recht grausam
gewesen. Sie
wollte nicht glau
ben, daß die ersten
noch heute- die
nämlichen Solda
ten wären. Heute
seien sie „loyaler".
Wir erklärten ihr,
daß wir auch zu
jenen gehörten, die
beiden: Vormarsch
durch Belgien mit
dabei gewesen wä
ren. Und schließlich
ließ sich Madame
Bunk an Hand
vieler Beispiele von der rechtmäßigen Handlung deutscher
Soldaten auch überzeugen. Und wir stellten fest, daß der
deutschen Truppen Geist noch heute der gleiche sei wie da
mals. Vielleicht aber habe die belgische Bevölkerung im
Laufe der Zeit ihre Gesinnung geändert. Madame Bunk
schwieg. Überhaupt wäre Belgien recht sinnlos in den Krieg
gezogen. Die Schuldigen wären sich der Tragweite ihrer
Handlungsweise nicht bewußt gewesen. Erfahrungslos
seien die Soldaten in den Tod gegangen, und die Bevölke
rung trage leichtsinnig das Kriegsgeschick.
Es wurde versucht, das Gespräch von diesem Gebiete
abzulenken, und als leichten Übergang gab Bernhagen ein
nebensächliches Erlebnis aus erster Kriegszeit zum besten.
„1914 kämpfte ich an der Pser als Ersatzreservist. Und
der einzige Feind, den ich dort kampfunfähig machte, nannte
mich, kurz bevor er fiel, inein lieber Freund. Warum,
ist mir heute noch nicht klar. Wir hatten uns schon acht
Stunden nahe gegenübergelegen im schärfsten Schützen-
feuer. Es gab kein Weichen. Wer sich erhob, war verloren.
Ein Maulwurfshügel diente mir als Deckung. Da erhob
sich drüben ein wenig ein Offizier. Ich drückte ab, die
Kugel mußte gefleckt haben. Er aber sprang auf, zog seinen
Degen und stürmte gegen mich. Das war von ihm Leicht
sinn. Er lachte sogar. Und beim Aufspringen rief er mir
entgegen: ,0 mon ... lala . . . mon . . . lala . . . mon eher
ami!‘ Ich drückte von neuem ab. Er fiel. Diese Redensart
aber gellte noch lange in meinen Ohren nach. Noch in der
selben Nacht nah inen wir eine rückwärtig ausgebaute Stel
lung ein. Das kleine Erlebnis habe ich nicht vergessen
können. Freundlich zurufend kam er mir entgegen und
hatte doch die beste Absicht, mich mit dem Degen ins Jen
seits zu befördern."
Madame Bunk sah Bernhagen mit großen» unbeweg
lichen Augen ins Gesicht. Ihre Hände umkrallten die Tisch
kanten. Ninette blickte erstaunt auf die Mutter und dann
auf Bernhagen.
„Sagen Sie," fragte Madame Bunk mit leise erregter
Stimme, „wann war das'?"
„Am 30. Oktober." „Bei P ...?" „Ja, was soll das?
Ja, bei P..." „Und ,o mon . . . lala . . . mon ... lala . . .
mon eher ami‘, das sagte er ja immer, wenn er etwas be
reute, was nicht wieder gut zu machen ging. Das war ja
mein ..." Und sie barg ihr Gesicht in das weiche, weiße,
seidene Spitzentuch. Es entstand eine unangenehme Pause.
Ein höchst sonderbarer Zufall. Madame Bunk zog schnell
einen Schubkasten auf und zeigte ein Schreiben vom Roten
Kreuz, darin zu lesen stand, daß der Major Bunk in P.
begraben liege. Und sie zeigte eine Aufnahme und fragte:
„Er ist es, nicht wahr? Sagen Sie es, es tröstet mich."
Und Bernhagen blickte lange aus das Bild, auf die unter
setzte Gestalt mit dem vollen Gesicht, und sagte dann: „Ja
— das ist er."
„Es ist triste," entgegnete Madame Bunk leise und preßte
das weiche Spitzentuch an die Lippen. „Hat er gelitten?" —
„Nein. Es war für ihn ein schneller, schöner Soldatentod."
Wir erhoben uns. Es waren allen peinliche Minuten.
Ninette aber blickte
noch immer mit
großen fragenden
Augen auf Bern
hagen. In diesen
Augen lag ein selt
samer Glanz, der
einen Widerstreit
der Gefühle in jun
ger Mädchenbrust
verriet. Und plötz
lich sagte sie lang
sam: „Herr Bern
hagen ... es, es
waren doch noch
andere Kamerade
dort... Die haben
doch auch ge-
schießt ..."
Mit befreien
dem Aufatmen er
griff Bernhagen
die Gelegenheit,
sich aus der unan
genehmen Lage zurückzuziehen. „Allerdings. Ja. Ich habe
nicht allein geschossen .. ." Und auch Madame Bunk ver
stand, auch sie atmete auf und — reichte Bernhagen stumm
die Hand.
Dann zogen wir uns zurück.
Und andern Tags war bei Madame Bunk und Tochter
Ninette alle Traurigkeit wieder vergessen. Sie lachten und
weinten; es hatte den Anschein, als lachte und weinte ganz
Belgien mit ihnen in lauter Sorglosigkeit.
Die Seidenspinnerei im besetzten Gebiete
Veneziens unter österreichisch-ungarischer
Militärverwaltung.
Von Hofrat I. Bolle.
(Hierzu die Bilder Seite 90 und 91.)
Bei dem denkwürdigen Vormärsche der verbündeten
deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen in Venezien
wurde teilweise ein Gebiet besetzt, in dem die Seidenraupen
zucht und die Seidenspinnerei auf sehr hoher Stufe stehen
und in so bedeutendem Maße betrieben werden, daß sie
einen Haupterwerb der ländlichen Bevölkerung bilden und
gegen ein Zehntel der ganzen Seidenerzeugung Italiens
ausmachen. Diese beträgt gegen 4,5 Millionen Kilogramm
Rohseide, entsprechend einer durchschnittlichen Kokonernte
von über 50 Millionen Kilogramm.
Die gesamte dort ansässige Bevölkerung ist von der
sich zurückziehenden italienischen Armee gezwungen worden,