Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

244 Von der Erkenntnißlehre zur Metaphysik. 
Erden für sich hat, da sie viel mehr Bekenner zählt, als irgend eine 
andere." 1 
5. Der Weg, der ihn zunächst zu seiner Lehre geführt hat, kam 
nicht von Buddha, sondern von Kant. Um die metaphysische Frage 
zu lösen und das Wesen zu erkennen, das in der Erscheinungswelt sich 
manifestirt und darstellt, muß man die Erscheinungen kennen gelernt, 
in der unmittelbaren Anschauung der Dinge gelebt und in dem Ge- 
sammtgebiet der Naturwissenschaften eine wohl orientirte Einsicht 
erlangt haben, die sich nicht in die Detailuntersuchungen und Mikro- 
logien der Naturforschung zu erstrecken braucht. Obwohl die Natur 
wissenschaft selbst innerhalb ihres Gesichtskreises die metaphysische Frage 
nicht zu lösen vermag, so enthält sie doch den Weg zu diesem Ziel und 
die unerläßliche Vorbereitung. 
Obwohl die Erfahrung im Einzelnen unaufhörlich wächst und fort 
schreitet, so bleibt doch ihr Charakter im Allgemeinen, so wie Kant 
denselben ergründet und festgestellt hat, unverändert: er hat die That 
sache der Erfahrung, aller Erfahrung in ihre Bestandtheile zerlegt und 
deren Verknüpfung dargethan, er hat den Ursprung und die Entstehung 
der Erfahrung nachgewiesen, ihre Erkenntniß auf die Sinnen- oder Er 
scheinungswelt beschränkt und von der Erscheinung das Ding an sich 
gänzlich geschieden; er hat das letztere für völlig unerkennbar und die 
Frage darnach, welche die metaphysische ist, für unlösbar erklärt. 
In diesem Punkte über Kant hinaus fortgeschritten zu sein und 
die Lehre des Königsberger Philosophen zu Ende gedacht zu haben, ist 
das Verdienst, welches Schopenhauer für sich in Anspruch nimmt. Er 
will die metaphysische Frage, soweit es überhaupt möglich ist, gelöst 
haben und unter den nachkantischen Philosophen der einzige sein, der 
erkannt und in Begriffen dargestellt hat, was die Dinge in Wahrheit 
und ihrem Wesen nach sind. Dieses Was, diese Auslegung des Wesens 
der Welt, war sein Thema. Die Art seiner Erkenntniß will das Werk 
des Genies, die Art seiner Darstellung das des Künstlers sein. 
Daher ist die Philosophie ihrem Grundcharakter nach Weltweis 
heit, denn ihre ganze Aufgabe besteht darin, den Sinn der Welt zu 
erkennen und auszulegen, das Buch der Welt, das in einem unbekannten 
Alphabet geschrieben ist, zu entziffern: erst die Laute, dann die Wörter, 
dann den Zusammenhang erst der Worte, dann der Sätze und Perioden. 
' Die Welt als Wille u. s. f. II. Cap. XVII. S. 186.
	        
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