Volltext: Der Weltkrieg der Dokumente

Das Jahr 1912 
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Das Jahr 1912 
Bis zum Ende des Jahres 1911 hatte die deutsche Außenpolitik 
immer noch aktive Züge aufgewiesen. Angesichts der — ob mit 
Recht oder mit Unrecht — immer schärfer empfundenen Wirkung 
der von König Eduard VII. meisterlich geleiteten „Einkreisungs 
politik“ hatte Deutschland den Versuch gemacht, die Umklamme 
rung zu lösen. Schon die Vorgänge beim Vertrage von Björkoe 
müssen in diesen Zusammenhang eingereiht werden: sie bedeuteten 
den hauptsächlich von Kaiser Wilhelm II. selbst erdachten und aus 
geführten Versuch, nähere Beziehungen zu Rußland zu knüpfen und 
dadurch die Gewalt der Einkreisung und die Gefahr eines Krieges 
nach zwei Fronten zu bannen. An der französisch eingestellten Be 
hutsamkeit der russischen Staatsmänner war der Vertrag von Björ 
koe gescheitert; der Zweibund hatte seine innere Festigkeit bewiesen; 
ja, es gelang ihm sogar, das bisher in seiner „glänzenden“ Verein 
samung ausharrende England zunächst an Frankreich, 1907 sogar 
an Rußland näher zu binden. Gleichzeitig lockerte sich das innere 
Gefüge des Dreibundes immer mehr, so daß Deutschland, wo unter 
der Einwirkung eines ganz außergewöhnlichen wirtschaftlichen Auf 
schwunges die öffentliche Meinung immer selbstbewußter und emp 
findlicher geworden war, seine außenpolitische Vereinsamung immer 
stärker zu empfinden begann. Aus dem Gefühl heraus, in der großen 
Politik der Weltmächte doch auch mitsprechen zu müssen, erwuchs 
Deutschlands Verhalten gegenüber Frankreich in der Marokkofrage. 
Der Verlauf beider Marokkokrisen von 1906 und 1911 erwies schla 
gend vor aller Welt, daß Deutschland ein eigentliches marokkani 
sches Ziel gar nicht hatte, daß seine Marokkopolitik vielmehr in 
beiden Fällen in der Hauptsache durch die Erwägung herbeigeführt 
worden war, sich in einer hauptsächlich europäischen Frage nicht 
ohne weiteres ausschalten zu lassen. Für die zweite Marokkokrisis 
und für das persönliche Verhalten des Reichskanzlers v. Bethmann 
Hollweg hierbei war die Rechtsauffassung in hohem Maße bestim 
mend gewesen, Deutschlands Ansprüche aus der Algeciras-Akte 
nicht von Frankreich gemißachtet zu sehen. 
Die Wirkung der hier kurz gezeichneten Entwicklung war ein 
stärkerer Zusammenschluß des Dreiverbandes und — im Herbst 
1911 — sogar ein rücksichtsloses Hervortreten Italiens zur Verfol 
gung eigener Ziele. Ebenso wie im Jahre 1908 mußte die mit 
Deutschland befreundete Türkei es hinnehmen, daß ihr wichtige Ge 
bietsteile mit Duldung Deutschlands abgenommen wurden. War dies 
1908 bei der bosnischen Krise noch allenfalls erträglich, da ein nähe 
rer Zusammenhang der beiden damals von Österreich-Ungarn sei 
nem Staatsgebiete einverleibten Provinzen mit der Türkei kaum noch 
bestand, und die Donaumonarchie auf Grund früherer Vereinbarun
	        
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