Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1898 (1898)

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Lehmann verschwunden sei. Jener glaubte, 
ihn gestern abends noch im Hotel gesehen 
zu haben, dieser gab vor, ihm auf dem 
Weg gegen den Bahnhof begegnet zu sein, 
Meinung und Meinung kreuzten sich, eine 
Erscheinung, die man bei jedem derartigen 
Falle beobachten kann. Condolenzschreiben 
liefen ein, alles hegte Mitleid mit der be 
dauernswerten Gattin. 
Auf die Erkundigung Friedas bei der 
Wechselbank, wo Lehmann sein Vermögen 
hinterlegt hatte, erhielt sie die Erklärung, dass 
gegen Unterschrift des Besitzers die liegenden 
Summen durch einen 
Agenten gekündet und 
behoben worden seien. 
Ja, Frieda Lehmann 
war arm, Karl hatte ja 
alles verloren. 
Nur eine geringe 
Summe hatte Frieda 
schon früher zur Seite 
gelegt, vielleicht hin 
reichend, auf ein Monat 
die Auslagen für sie 
und das Kind zu decken. 
Sie erklärte dem Dienst 
mädchen, dass sie es, 
durch den Unglücksfall 
gezwungen, entlassen 
müsse und kündete die 
Wohnung bis auf ein 
Zimmer, in das sie sich 
mit dem Kinde zurückzog. 
Noch immer harrte 
Frieda der Wiederkehr 
des Gatten. Doch weder 
er, noch die spärlichste 
Nachricht kam. Frieda konnte nichts besseres 
thun, als für ihn beten. Immer wieder 
trat sie hin vor das Muttergottesbild, 
der Helferin der Betrübten ihr Leid zu 
klagen und sie zu bitten, Karl möge durch 
sie, die da Zuflucht der Sünder, wieder 
den Frieden finden. So giengen die Tage 
in Schmerz und Verlassenheit an ihr vor 
über. Das Geld, das Frieda beiseite gelegt, 
schwand langsam hin, die Arme musste an 
die Zukunft denken, wie sie sich und das 
Kind nähren könne. Gott sandte Hilfe. In 
einer der angesehensten Familien der Stadt 
Rrior Reite, öer Uachfotger Kneipps 
fand Frieda Stellung als Gesellschaftsdame, 
während den kleinen Karl tagüber eine 
Freundin Friedas in Obhut nahm. Für die 
Verlassene war die Lage, in der sie sich 
befand, eine verhältnismäßig günstige, wie 
wohl es das Mutterherz nur zu empfindlich 
berührte, dass es Pom Kinde so lange ge 
trennt war. 
Mit welcher Mutterwonne holte sie den 
Liebling täglich abends in der Wohnung 
der Freundin ab, um die wenigen Stunden 
in seiner Nähe weilen zu können. 
Die Dame, bei der Frieda als Gesellschaf 
terin Stellung genoss, 
wohnte mit ihrem Bruder 
in einem der schönsten 
Theile der Stadt. Beide 
standen bereits fast in 
den sechzig. Als gut 
befreundet mit Doctor 
Lehmanns Vater, fanden 
sie in der unglücklichen 
Verlassenen ein Wesen, 
das des Trostes bedürfe, 
und so kam es, dass sich 
Frieda bald heimisch zu 
fühlen begann. Doch das 
Glück sollte nur kurz 
währen. Die Dame er 
krankte bedenklich. Die 
Aerzte zuckten mit der 
Achsel, eine Genesung 
dürfte bei dem Alter der 
Patientin kaum mehr 
zu erhoffen sein. 
Frieda blieb Tag 
und Nacht bei der 
Kranken und scheute kein 
Opfer. Kaum fand sie Gelegenheit, die Augen 
auf einige Stunden zum nöthigen Schlummer 
zü schließen. Der Typhus nahm immer 
mehr zu und vierzehn Tage später kniete 
Frieda neben der Leiche. 
Der Bruder der Verstorbenen verließ 
kurze Zeit später die Stadt; Frieda kehrte 
wieder in ihr Heim zum Kinde zurück, das 
Herz voll Sorgen um die Zukunft. 
Frieda hatte eine geschickte Hand zu 
Stickarbeiten. Das war ihr jetziger Brot 
erwerb. Das Mitleid mit ihrem Geschicke 
brachte ihr dort und da Bestellungen von
	        
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