110 Die Ereignisse an der Ostfront im dritten Kriegshalbjahr
Ausbau der Weichselstellung und einer Vorstellung an Njemenund Bug begnügen, das hängt
nicht allein von den Verhältnissen ausdemrusstschen Kriegsschauplatz ab ;dennsämtliche Kriegs
schauplätze des europäischen Fünffrontenkrieges (russischer, belgisch-französischer, italienischer,
serbischer und orientalischer Kriegsschauplatz) bilden eine strategische Einheit und darauf haben
die Operationspläne Rücksicht zu nehmen, ja direkt zu basieren. So kommt es, daß, schein
bar planlos, bald hier bald dort gestoßen wird, der überlegene Plan aber aus seiten
derjenigen ist, die dieses Kombinationsspiel am besten beherrschen und ausbauen. Und
das tun die verbündeten Zentralmächte, die auf den inneren Linien meisterhaft ope
rieren, während die Entente sich mehr auf die Einwirkung ihrer Beharrlichkeit und die
unverminderte Betätigung des umspannenden Druckes bei eigener Rückensreiheit verläßt."
Der Wechsel im Oberbefehl der russischen Armeen, ihre Neugruppierung, ihre
Offensive im Süden und ihre Defensive im Norden
Von Ansang September bis 6. Oktober 1915
Oberbefehl, Neugruppierung und Operationsplan der Russen
Nachdem die große Offensive der Mittelmächte die russischen Fronten zerrissen und
die Reste der russischen Streitkräfte hinter die Bug- und Njemenlinie geworfen hatte,
sah man sich in Rußland zu einer durchgreifenden Neuordnung der Oberbefehlsverhält
nisse über und innerhalb der gegen Deutschland und Oesterreich-Ungarn kämpfenden
Heere genötigt. Kaiser Nikolaus II. übernahm nach einem Armeebefehl vom 5. Sep
tember 1915 den Oberbefehl, während der Großfürst Generalissimus Nikolai Nikolaje-
witsch von der Leitung der Operationen zurücktrat und zum Vizekönig vom Kaukasus
sowie zum Oberbefehlshaber der Kaukasusarmee ernannt wurde (vgl. XI, S. 287). Gleich
zeitig ist der bisherige Oberbefehlshaber der Nordwestfront, General der Infanterie
M. W. Alexejew, an Stelle des ebenfalls nach dem Kaukasus entsandten Generals der
Infanterie Januschkewitsch (vgl. XI, S. 286) zum Chef des Generalstabs des Genera
lissimus berufen worden.
Die Neugruppierung der russischen Armeen hat drei Befehlsbereiche geschaffen,
den der Nordarmeen auf der Linie Reval—Riga—Wilna, die dem Befehl des General
adjutanten Rußki unterstellt wurden, der Anfang August das Kommando der Nord-
westfront (vgl. IX, S. 189) an General der Infanterie Alexejew abgegeben hatte und
zum Kommandanten des Militärbezirks von Petersburg ernannt worden war; den der
Westarmeen, die links anschließend im Sumpsgebiet von dem General der Infan
terie Evert, dem früheren Kommandeur der vierten Armee befehligt wurden und
endlich den des Generals Iwanow, der die „politische Armee" Rußlands, die Süd
armeegruppe zwischen Styr und Sereth führte.
Der neue Operationsplan sah nach Auffüllung der Munition und Heranschaf
fung großer Reserven ein Anhalten im Rückzug und eine Defensive der Nord- und
Westheere nördlich des Sumpsgebiets des Pripjet sowie eine Gegenoffensive der Süd
heere in Galizien vor. So entwickelte sich im Lause des Monats September 1915 aus den
Nachhutkämpfen der zurückweichenden Russen einerseits die gewaltige Defensivschlacht
zwischen Riga und Pinsk, die den Zweck hatte, die von der deutschen Obersten
Heeresleitung auf einer Front von über 600 Kilometern angelegte und auf einer Reihe
innerer und äußerer Umfassungen, Durchbrüche und Flankenbedrohungen einheitlich aus
gebaute Umfassungsoperation der nördlich, nordwestlich und westlich von Minsk, dem
Mittelpunkt der russischen Verteidigung westlich Düna und Dnjepr, kämpfenden russi
schen Armeen zu vereiteln, andererseits die mit großen Truppenmassen unter Zuziehung
der ursprünglich wohl für den Kaukasus oder den Balkan neugebildeten Odessaarmee
unternommene Gegenoffensive des Generals Iwanow aus dem wolhy-