Volltext: Unteilbar und untrennbar (1,1919)

Die Annexion. 1908. 
21 
als sei diese Bahn durch ihr eigenes Land gelegt und der 
Schienenstrang durchquere ihre Äcker und Felder. Eine solche 
Auffassung konnte in Rußland, zu dem sie sich um Hilfe 
wandten — vorläufig — noch nicht gebilligt werden. Denn 
Rußland war noch ermattet vom Kriege; wenngleich über das 
Lebenszeichen Österreich-Ungarns sehr verärgert, mußte es 
Ruhe halten. Die einzige Antwort, die Jswolsky, der Gegen-- 
spieler Ährenthals, fand, war eine Kompensationsbahn, die 
Donau-Adria-Bahn, die von Nisch nach einem albanischen 
Hafen führen sollte. War es Österreich-Ungarns Tendenz, 
Serbien zu umgehen, so wollte auch Serbien wieder einen Weg 
ans Meer, der nicht an den schwarz-gelben oder rot-weiß-grünen 
Grenzpfählen vorbeiginge. Graf Ährenthal lehnte nicht ab, schon 
weil er wußte, daß dieses Projekt technisch soviel wie uuaus-- 
führbar und einzig als Fußangel ihm vorgelegt war. Und schon 
begannen die Ingenieure im Sandschak die Tracierungsarbeit. 
Da zeigte der Balkan, dieser Hexenkessel seltsamer und 
widerstreitender Völkerschaften, eine neue Blase, die lärmend 
zerplatzte. In Albanien und Mazedonien war der gewohnte 
Frühjahrsaufstand gewesen — die Schneeschmelze ist dafür 
das alljährliche Signal — man hatte wieder Militär zu seiner 
Bekämpfung gesandt, aber diesmal machte unvermuteterweise 
das Militär mit den Rebellen gemeinsame Sache, ein Komitee 
für „Ordnung und Fortschritt" wird unter den Offizieren ge- 
bildet und die Armee marschiert auf Konstantinopel, um die 
einst versprochene, vom Sultan aber wieder unterschlagene 
Verfassung zu erzwingen. Abdul Hamid beeilt sich, nachzu- 
geben. Er bewilligt ein Parlament, so daß die Türkei nach 
Rußland als der letzte Staat in Europa das System der Volkse 
Vertretung adoptiert. Eine Reihe anderer Rechte, wie die der 
Freiheit der Religionsausübung und der unverletzbaren per- 
sönlichen Freiheit, werden anerkannt, um damit den Ein-- 
Mischungsbestrebungen und den heuchlerischen Klagen der 
Balkanstaaten ein Ende zu machen. Es hatte den Anschein, als 
wollte die alte absterbende Türkei aus ihrer jahrhundertelangen 
Apathie erwachen und sich als moderner, zukunftsträchtiger 
Staat organisieren. 
Daß aber dieser Trieb nicht von innen gekommen war, 
aus einem national--religiösen Bedürfnis, sondern daß die 
Drahtzieher der türkischen Revolutionen außen saßen, mußte 
bald zutage treten. England und Frankreich hatten mit Miß- 
mut gesehen, daß der deutsche Botschafter der mächtigste Mann 
bei der hohen Pforte geworden war. Abdul Hamid hatte seine 
wirklichen Freunde Deutschland und Osterreich-Ungarn er- 
kannt und suchte sich mehr und mehr dem französischen Finanz- 
einfluß zu entringen, der durch Jahre unter dem Vorwand der 
Kontrolle die ergiebigsten Industrien ausgebeutet. Er konnte 
nicht vergessen, was England, was Rußland vom lebendigen 
Leib seiner Nation gerissen. Und dieser Machteinfluß der 
beiden Zentralmächte am Goldenen Horn war ständig im 
Wachsen: um ihn zu brechen oder ins Wanken zu bringen, 
mußte der ganze türkische Staat erschüttert werden. Heute ist 
es erwiesen, daß es französische und englische Agenten waren 
— das Balkankomitee — das die „Jungtürken" spielte, und 
tatsächlich schien die Regierung in ihren Tendenzen plötzlich 
verändert. Der Einfluß der Zentralmächte schien gefährdet: 
es dauerte lange, ehe die Türkei — zu spät — ihre Verblendung 
erfuhr, die sie mit dem Verluste fast des ganzen europäischen 
Besitzes bezahlte. Graf Ährenthal erkannte die Gefahr, die in 
dieser plötzlichen Veränderung lag. Er wußte, daß längst Er- 
rungenes durch die Frage der parlamentarischen Vertretung 
wieder in Diskussion gestellt werden sollte. Alle Vereinbarungen 
drohten plötzlich, wieder fraglich zu werden, aber er war fest 
entschlossen, nicht noch einmal Verhandlungen über Gesichertes 
zu beginnen. Die Sandschakbahn hatte als Barometer 
gedient: die Stimmung stand auf Sturm, war aber dennoch 
wandelbar. Und er kannte Osterreich-Ungarns Kraft und die 
Schwäche seiner Gegner: so beschloß er zu handeln. 
Die Annexion. 1908. 
Unter den zahlreichen Programmpunkten der neuen türkischen 
Verfassung war es einer insbefonders, der für Osterreich-Un- 
garn eine offene Klarstellung der bestehenden Verhältnisse er- 
heischte, nämlich die Forderung nach einer parlamentarischen 
Vertretung aller dem Ottomanenreich zugehörigen Länder. 
Hier lag für spätere Zeiten die Gefahr von Auseinander- 
fetzungen, denn im Berliner Vertrag war es Andrassy nicht ge- 
luugen, bei den Mächten durchzusetzen, daß Bosnien und die 
Hercegovina der Monarchie einverleibt würden. Einzig das Man- 
dat der Okkupation UNd Verwaltung (occuper et administrer) 
konnte damals erlangt werden, und wenn es auch auf ewige 
Zeiten ausgestellt war und nach allem menschlichen Ermessen von 
niemandem abgefordert werden durfte, so war es der Türkei 
durch einen klugen und fast erpresserischen Handstreich in der 
letzten Sekunde gelungen, von Andrassy ein geheimes Schrift- 
stück zu erlangen, das bescheinigte, „daß die Souveränitätsrechte 
des Sultans über Bosnien und die Hercegovina in keiner 
Weise durch die Tatsache der Okkupation berührt werden sollten". 
Bei den schwankenden Verhältnissen im Groß-Wesirat war 
nun zu fürchten, daß eine Partei im türkischen Parlament ein- 
mal die für Osterreich-Ungarn längst definitiv gewordene Be- 
setzung wieder in Diskussion bringen könnte, was niemandem 
erwünschter gewesen wäre als den Serben, die nur die Ge- 
legenheit ersehnten, um den Zustand in Bosnien als einen 
provisorischen und vor allem als einen der Bevölkerung sehr 
antipathischen hinzustellen. Die Zweideutigkeit einer recht- 
lich klaren Sache war ein Stein des Anstoßes auf dem Wege 
der österreichisch-ungarischen Politik und ihn wegzuräumen 
mußte daher wichtigste Sorge der Staatsmänner der Doppel- 
Monarchie sein. 
Der günstigste Augenblick war versäumt, der russisch- 
japanische Krieg. Zu jener Zeit wäre jeder Einspruch illusorisch 
gewesen. Nun aber war ohne Konzessionen kaum die Er- 
Werbung dessen zu erlangen, was Osterreich-Ungarn eigentlich 
schon besaß. Der einfachste Weg, mit dem nominellen Besitzer, 
der Türkei, zu verhandeln, war versperrt. Denn kein neues 
Regime hatte jemals gewagt, als erste Regierungshandlung 
eine Abtretung vorzunehmen, wenn auch eine bloß fiktive. So 
beschloß Ährenthal mit Jswolsky zu verhandeln, der diese 
günstige Gelegenheit nicht vorübergehen lassen wollte, eine 
für Rußland höchst lästige Fessel, die ihm dereinst von den West- 
mächten angelegt worden war, die Sperrung der Dardanellen 
für russische Kriegsschiffe, abzuschütteln. In Buchlau, dem 
Sommersitz des Grafen Berchtold, fand jene historische Zu- 
sammeukuuft statt, in der beide Staatsmänner versprachen, 
einander tatkräftig zu fördern, wenn sie ihre Ansprüche geltend 
machen würden und zwar Osterreich-Ungarn eine Annexion 
Bosniens, Rußland die Dardanellendurchfahrt. Auch mit 
Tittoni, dem Vertreter Italiens waren zweifellos Verein- 
barungen getroffen, auf Deutschlands Bundestreue war zu
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.