Volltext: Unteilbar und untrennbar (1,1919)

Vo» Mürzsteg bis zur türkischen Revolution (1903—1907). 
und nichts von den asiatischen Plänen Rußlands ahnte oder in 
ihnen nur die Sicherung der östlichen Grenze empfaiw. Rußland 
als Freund zu haben, war man so ungewohnt in Öster¬ 
reich-Ungarn, einen Zaren von einer 
,, Harmonie parfaite" der öster¬ 
reichisch-russischen Ansichten sprechen zu 
hören, wie der Bürgschaft des Friedens 
und man ließ sich vertrauend die 
Hände binden. Der Kaiser und König 
Franz Joseph war großherzig genug, 
Treue zu erwarten, wo er Treue bot: 
nie war Österreich-Ungarn unter seiner 
Regierung einem Bundesgenossen uu- 
treu geworden, nie hatte es, auch 
wenn seine Nachbarn in den größten 
Schwierigkeiten waren, das Schwert 
auch nur in der Scheide gelockert, nie 
war die geringste offensive Aktion 
unternommen worden. Ihm war 
das ungetrübte Glück seiner Landes- 
kinder wichtiger als jeder persönliche 
kriegerische Ehrgeiz, und jede Ge¬ 
legenheit, den Frieden zu festigen, 
fand an ihm einen eifrigen Förderer, 
so auch dieser Vorschlag Rußlands. 
Die Reformpläne in der Türkei 
waren nur der Vorwand, das Wesent- 
liche war die beiderseitige Verpflichtung 
der Mächte, nichts im Balkan anders 
wie einverständlich zu unternehmen 
und den Status quo aufrecht zu er-- 
halten. Ein bestimmter Termin dieser Aufrechterhaltung war 
nicht gegeben, er lautete in Wirklichkeit: so lange es Ruß- 
laud gefiel, sich an das Programm gebunden zu erachten. 
Durch diesen Vertrag gesichert, konnte Rußland nun seine 
abseitigen Pläne verfolgen. Und vier 
Monate später war schon der Krieg an 
Japan erklärt. Nun erst verstand man 
bei uns den Sinn von Mürzsteg, aber 
eine übermäßige Ehrlichkeit in der diplo- 
matischen Auffassung, ein Vertrauen auf 
die Dankbarkeit Rußlands — trotz 
zwanzigfacher Gegenbeispiele in der Ge- 
schichte — ließ einen Augenblick ver- 
säumen, der niemals wiederkehren sollte. 
Deutschland wie Österreich-Ungarn, ob- 
wohl jenes das Zarenreich als Verbün- 
deten seines Todfeindes, dieses als seinen 
slawischen Neider kannten, ließen sich 
durch die Freundschaftsversprechungen 
Nikolaus II. täuschen und setzten die 
Ehre, ihr Wort zu halten, höher als 
die eigene Existenz. Deutschland opferte 
sogar das letzte von Sympathie, das es 
in England besaß, für die Unterstützung 
der russischen Flotte auf, Österreich- 
Ungarn ließ sich die handelspolitischen 
Herausforderungen Serbiens gefallen, 
ohne auch nur den Griff nach dem 
Schwert zu tun, der damals seine Wirkung nicht verfehlt hätte. 
Und es wäre dabei nicht einmal notwendig gewesen, dem 
kämpfenden Rußland in den Rücken zu fallen. Auch nach dem 
Frieden von Portsmouth war das riesige Reich noch auf 
General Kuropatkin, der russische Kriegsführer. 
Graf Witte, der russische Ministerpräsident. 
Jahre an allen Gliedern gelähmt: die Armee war desorgani- 
sie«, die Finanzen zerrüttet, der Ausbruch der Revolution 
hatte die Fundamente der öffentlichen Ordnung fortgesprengt 
und drohende Symptome wie die 
Meuterei an Bord des „Petro- 
pawlosk" zeigten die vollkommene 
Paralysierung seiner Angriffskraft. 
Die brutale Niederwerfung aller 
geistigen Bestrebungen hatte die 
letzten Sympathien Europas dem 
Zarismus entfremdet und selbst die 
Balkanvölker, die mit dem 
Rußlands ihre eigene Macht 
vermindert sahen, waren vom Ent- 
husiasmus für das „Mütterchen" ab- 
gekommen. Österreich-Ungarn war 
also in diesen Jahren von 1903 bis 
etwa 1908 nicht nur die überlegene, 
sondern sogar die einzige Großmacht 
am Balkan. Auch innerlich war seine 
Situation günstig, der Ausgleich zwi- 
schen Osterreich und Ungarn war 
endlich geschlossen, keine Aktion, auch 
nicht die verwegenste hätte damals 
Widerstand gefunden. Aber der 
Ehrgeiz Osterreich-Ungarns war 
vornehmlich auf den inneren Frie- 
den gerichtet; man wollte die 
Jahre der Stille nützen, um 
im Ausgleich der Nationen die 
Festigkeit des Staates zu sichern. 
Von Nachbarländern begehrte Osterreich-Ungarn nichts: 
Venezien war für alle Zeit und ohne Reue an das angeb- 
lich nun befreundete Italien gegeben, auch mit Deutschland, 
dem letzten Gegner, war es in Blutbruderschaft verbündet. 
Nirgends war Erweiterung des flawi- 
schen Besitzes begehrt, auch Kolonien — 
die Welt war ja verteilt — durfte es 
nicht mehr erhoffen. Aber die Wirtschaft- 
liche Großmachtstellung der Monarchie 
erheischte Absatzgebiete und während 
alle anderen Staaten mit Ausnahme 
des ständig benachteiligten Deutschland 
sich gewaltige Überseereiche eroberten, 
war ihr merkantiles Territorium gleich 
groß geblieben. Aber dieses Territorium, 
die Levante, beherrscht durch Tradition 
des Handels, die Vorherrschaft der 
Flotte, mußte Osterreich - Ungarn ge- 
sichert bleiben. Die Türkei hatte längst 
erkannt, wer ihre uneigennützigsten 
Freunde waren, sie hatte Deutschland, 
dem einzigen Staate, der ihr nie Erde 
entrissen, die Bagdadbahn konzessioniert, 
die ihm die wirtschaftliche Übermacht 
dort sicherte und war auch bereit, Oster- 
reich-Ungarn freundlich entgegenzukom- 
men. Abdul Hamid, der vorsichtigste 
und klügste Sultan seit Jahrhunderten, 
wußte, was ihn die englische, die französische und russische 
Freundschaft gekostet hatte und zog es vor, die wirtschaftliche 
Annäherung an uneigennützige Staaten zu vollziehen. Die 
Levante war von je die Domäne Österreich-Ungarns gewesen
	        
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