Vo» Mürzsteg bis zur türkischen Revolution (1903—1907). und nichts von den asiatischen Plänen Rußlands ahnte oder in ihnen nur die Sicherung der östlichen Grenze empfaiw. Rußland als Freund zu haben, war man so ungewohnt in Öster¬ reich-Ungarn, einen Zaren von einer ,, Harmonie parfaite" der öster¬ reichisch-russischen Ansichten sprechen zu hören, wie der Bürgschaft des Friedens und man ließ sich vertrauend die Hände binden. Der Kaiser und König Franz Joseph war großherzig genug, Treue zu erwarten, wo er Treue bot: nie war Österreich-Ungarn unter seiner Regierung einem Bundesgenossen uu- treu geworden, nie hatte es, auch wenn seine Nachbarn in den größten Schwierigkeiten waren, das Schwert auch nur in der Scheide gelockert, nie war die geringste offensive Aktion unternommen worden. Ihm war das ungetrübte Glück seiner Landes- kinder wichtiger als jeder persönliche kriegerische Ehrgeiz, und jede Ge¬ legenheit, den Frieden zu festigen, fand an ihm einen eifrigen Förderer, so auch dieser Vorschlag Rußlands. Die Reformpläne in der Türkei waren nur der Vorwand, das Wesent- liche war die beiderseitige Verpflichtung der Mächte, nichts im Balkan anders wie einverständlich zu unternehmen und den Status quo aufrecht zu er-- halten. Ein bestimmter Termin dieser Aufrechterhaltung war nicht gegeben, er lautete in Wirklichkeit: so lange es Ruß- laud gefiel, sich an das Programm gebunden zu erachten. Durch diesen Vertrag gesichert, konnte Rußland nun seine abseitigen Pläne verfolgen. Und vier Monate später war schon der Krieg an Japan erklärt. Nun erst verstand man bei uns den Sinn von Mürzsteg, aber eine übermäßige Ehrlichkeit in der diplo- matischen Auffassung, ein Vertrauen auf die Dankbarkeit Rußlands — trotz zwanzigfacher Gegenbeispiele in der Ge- schichte — ließ einen Augenblick ver- säumen, der niemals wiederkehren sollte. Deutschland wie Österreich-Ungarn, ob- wohl jenes das Zarenreich als Verbün- deten seines Todfeindes, dieses als seinen slawischen Neider kannten, ließen sich durch die Freundschaftsversprechungen Nikolaus II. täuschen und setzten die Ehre, ihr Wort zu halten, höher als die eigene Existenz. Deutschland opferte sogar das letzte von Sympathie, das es in England besaß, für die Unterstützung der russischen Flotte auf, Österreich- Ungarn ließ sich die handelspolitischen Herausforderungen Serbiens gefallen, ohne auch nur den Griff nach dem Schwert zu tun, der damals seine Wirkung nicht verfehlt hätte. Und es wäre dabei nicht einmal notwendig gewesen, dem kämpfenden Rußland in den Rücken zu fallen. Auch nach dem Frieden von Portsmouth war das riesige Reich noch auf General Kuropatkin, der russische Kriegsführer. Graf Witte, der russische Ministerpräsident. Jahre an allen Gliedern gelähmt: die Armee war desorgani- sie«, die Finanzen zerrüttet, der Ausbruch der Revolution hatte die Fundamente der öffentlichen Ordnung fortgesprengt und drohende Symptome wie die Meuterei an Bord des „Petro- pawlosk" zeigten die vollkommene Paralysierung seiner Angriffskraft. Die brutale Niederwerfung aller geistigen Bestrebungen hatte die letzten Sympathien Europas dem Zarismus entfremdet und selbst die Balkanvölker, die mit dem Rußlands ihre eigene Macht vermindert sahen, waren vom Ent- husiasmus für das „Mütterchen" ab- gekommen. Österreich-Ungarn war also in diesen Jahren von 1903 bis etwa 1908 nicht nur die überlegene, sondern sogar die einzige Großmacht am Balkan. Auch innerlich war seine Situation günstig, der Ausgleich zwi- schen Osterreich und Ungarn war endlich geschlossen, keine Aktion, auch nicht die verwegenste hätte damals Widerstand gefunden. Aber der Ehrgeiz Osterreich-Ungarns war vornehmlich auf den inneren Frie- den gerichtet; man wollte die Jahre der Stille nützen, um im Ausgleich der Nationen die Festigkeit des Staates zu sichern. Von Nachbarländern begehrte Osterreich-Ungarn nichts: Venezien war für alle Zeit und ohne Reue an das angeb- lich nun befreundete Italien gegeben, auch mit Deutschland, dem letzten Gegner, war es in Blutbruderschaft verbündet. Nirgends war Erweiterung des flawi- schen Besitzes begehrt, auch Kolonien — die Welt war ja verteilt — durfte es nicht mehr erhoffen. Aber die Wirtschaft- liche Großmachtstellung der Monarchie erheischte Absatzgebiete und während alle anderen Staaten mit Ausnahme des ständig benachteiligten Deutschland sich gewaltige Überseereiche eroberten, war ihr merkantiles Territorium gleich groß geblieben. Aber dieses Territorium, die Levante, beherrscht durch Tradition des Handels, die Vorherrschaft der Flotte, mußte Osterreich - Ungarn ge- sichert bleiben. Die Türkei hatte längst erkannt, wer ihre uneigennützigsten Freunde waren, sie hatte Deutschland, dem einzigen Staate, der ihr nie Erde entrissen, die Bagdadbahn konzessioniert, die ihm die wirtschaftliche Übermacht dort sicherte und war auch bereit, Oster- reich-Ungarn freundlich entgegenzukom- men. Abdul Hamid, der vorsichtigste und klügste Sultan seit Jahrhunderten, wußte, was ihn die englische, die französische und russische Freundschaft gekostet hatte und zog es vor, die wirtschaftliche Annäherung an uneigennützige Staaten zu vollziehen. Die Levante war von je die Domäne Österreich-Ungarns gewesen