Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1909 (1909)

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Wie im Traum hob Streatfield das Messer auf, das der Hand des Afghanen 
entglitten war, und durchschnitt die Fesseln des ohnmächtigen Mädchens. Wie im 
Traum trug er Beatrice durch die Wasserschleier gerade in die Arme einer starken 
Patrouille von Sikhs, die ihn wie einen Geist aus den Fluten auftauchen sahen. 
Als er sich entkräftet zu Boden fallen ließ, ergriff seine Hand etwas Samt¬ 
weiches, und mit verdunkeltem Blick erkannte er die ersehnten Blumen mit den grauen 
Blättern und den daunenzarten Blüten. 
„Edelweiß!" murmelte er, und mit einem glückseligen Lächeln auf den Lippen 
brach er ohnmächtig zusammen. 
Am Abend dieses Tages saß Streatfield auf der Veranda seines Chefs und 
träumte in den Garten hinaus, als ihn ein leises Rauschen aufsehen ließ. Beatrice 
stand vor ihm, mit zitternden Lippen, und in den dunklen Augen stand eine einzige 
scheue Frage. „Sie haben doch recht gehabt!" sagte er und bot ihr das zerdrückte 
Sträußchen. „Wollen Sie das Edelweiß behalten, Beatrice?" 
„Mit Ihrer Reue?" fragte sie, und die Tränen liefen ihr aus den Augen. 
„Mit meinem Herzen!" verbesserte er und küßte sie auf den Mund. 
„Woher ich es weiß?" wiederholte der junge Mann, augenscheinlich etwas 
verlegen. „Vielleicht hat ein Vogel es mir ins Ohr gesungen, wie die Kinder sagen." 
„Hier an Bord des Schiffes gibt es keine Vögel," erwiderte sie nachdenklich. 
„O gewiß gibt es die. Jede Frau auf der Reise — Sie natürlich aus¬ 
genommen — ist ein Klatschvögelchen, und Damen in einem gewissen unbestimmbaren 
Alter sind die lasterhaftesten Klatschbasen zwischen Himmel und Erde." 
„Sie sind ein Zyniker," sagte sie, das niedliche Kinn auf die Hand stützend 
und gleichgültig über die weite Wassermasse blickend. 
„Frauen nennen immer einen Mann zynisch, wenn er eine richtige Diagnose 
über die Eigentümlichkeiten ihres Geschlechts aufstellt," sagte er abwehrend. „Dabei 
umgehen Sie absichtlich meine Frage." 
„Welche war es denn noch?" fragte sie mit übertriebener Teilnahmslosigkeit. 
„Daß Sie herüberfahren, um einen Mann zu heiraten, mit dem Sie sich vor 
so vielen Jahren verlobten, daß Sie gar nicht mehr wissen, wie er eigentlich ist." 
„Ja," hauchte sie, die Mundwinkel einen Augenblick sinken lassend. 
„Und Sie haben ihn alle diese Jahre — ich meine. Sie haben ihn lange nicht 
gesehen ? Ich hatte gehofft, daß — daß — das heißt, ich meine —" 
Sie wartete ruhig, ob er sich entwirren würde. Ihr Gesichtcheu sah merk¬ 
würdig anziehend ans mit den niedergeschlagenen Augen und dem festgeschlossenen 
Munde. 
„Sie hofften?" kam sie ihm zu Hilfe. 
„Ich unterdrückte den Wunsch," antwortete er hastig. „Er wäre unter den 
Umständen nnverzeilich." 
„Wie langweilig Sie sind!" rief sie aus. „Könnten Sie mir vielleicht mein 
Buch reichen?" 
Uni lieber zu geben. 
humoristische Skizze nach dem Englischen von C. Kampff. 
I.
	        
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