Die digitale Landesbibliothek Oberösterreich

Das neue Zentrum in Rußland 
die Herzen aller europäischen Völker einander näher gekommen sind, 
sieht sich das jüdische Volk noch immer verachtet. Ich empfinde die 
ganze Last dieser Qual. Ich rufe allen Empfindsamen und Mitleids 
vollen zu: weswegen gebet ihr mein ganzes Volk der Verachtung 
preis? ... So klagte die trauererfüllte Tochter Judas, wischte sich 
die Augen, seufzte und konnte keinen Trost finden“. Der Verfasser 
selbst wußte sich indessen gar bald zu trösten. Einige Jahre nachdem 
er seine „Klage“ hatte laut werden lassen, fand er, der „vom Herzen 
seiner Landsleute noch immer Verstoßene“, einen magischen Schlüssel 
zu diesem Herzen: er ließ sich taufen, hieß nunmehr mit Namen und 
Vaternamen „Lew Alexandrowitsch“ und verlegte sich darauf, didak 
tische Theaterstücke zu verfassen, die bei dem damals wenig an 
spruchsvollen russischen Publikum Beifall fanden. Auf diese Weise 
fand das „Berlinertum“ des Newachowitsch einen effektvollen Ab 
schluß, wie er damals in Berlin selbst Mode geworden war. Seinem 
Beispiel folgte auch sein Gönner Abraham Peretz, der während des 
Krieges im Jahre 1812 durch verfehlte Heereslieferungsoperationen 
um sein Vermögen gekommen war. Die Nachkommen der beiden 
Täuflinge gelangten im russischen Staatsdienst zu hohen Ämtern. 
So spielte sich denn in Petersburg im Kleinen derselbe Prozeß ab 
wie in Berlin: die erste Berührung zwischen der jüdischen und der 
christlichen Welt auf dem Boden gemeinsamer Bürgerinteressen er 
heischte Opfer von jüdischer Seite. Indessen ging dieser Prozeß in 
Rußland nicht über vereinzelte Fälle hinaus. Der russischen Judenheit 
stand noch ein langer, überaus eigenartiger Weg der kulturellen Ent 
wicklung bevor; aber auch innerhalb der westlichen Judenheit sollte 
sich der Übergang von der alten Ordnung zur neuen in viel kompli 
zierterer Weise vollziehen, als man es angesichts seines Anfangs 
stadiums hätte vermuten können. 
Ende des achten Bandes