Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (8, Die Neueste Geschichte ; 1928)

§ 53. Die Aufklärung; das „Berlinerturn 
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Weg zu den kompakten Schichten der russisch-polnischen Judenheit zu 
bahnen. In Warschau kam dies, wie bereits geschildert (oben, § 43), 
lediglich darin zum Ausdruck, daß dort „neue Menschen“ aufgetaucht 
waren, die den kurzen deutschen Rock trugen, den Bart rasierten und 
deutsch oder polnisch sprachen. Von dort aus drang dieser neue Geist 
auch in die winzige jüdische Kolonie von Petersburg, die sich aus 
privilegierten Großkaufleuten und Heereslieferanten zusammensetzte. 
Hohes Ansehen genoß in ihrer Mitte namentlich die Familie des 
Abraham Peretz, der, wie oben erwähnt, ein Schwiegersohn des 
Schklower Freundes der Wissenschaft, Josua Zeitlin, war. Im Hause 
des Peretz lebte dessen aus Podolien stammender Lehrer Lejb Newa- 
chowitsch, ein entschiedener Anhänger der Berliner Aufklärung. Als 
in Petersburg das Komitee für jüdische Angelegenheiten eingesetzt 
wurde, dem auch Peretz nahestand, machte nun Newachowitsch den 
Versuch, die russischen Gebildeten für die Juden zu gewinnen. Im 
Jahre i8o3 publizierte er eine russische (später auch im hebräischen 
Urtext erschienene) Flugschrift mit dem Titel „Klage der Tochter Ju 
das“, die dem Leiter des Regierungskomitees, dem Innenminister Kot 
schube j, gewidmet war. Schon in der Widmung kam die Grundtendenz 
der Schrift deutlich zum Vorschein: die Ehrfurcht vor der „Größe“ 
Rußlands sowie die Trauer über das Los der des „Glückes“ der Heimat 
nicht teilhaftigen Juden. „In demselben Maße, in dem diese Tatsachen 
(die Siege und die Macht des russischen Reiches) meine Seele erheben 
— so beteuerte der Verfasser — wird sie durch den Kummer meiner 
vom Herzen ihrer Landsleute verstoßenen Stammesbrüder zu Boden 
gedrückt“. So erging sich denn die „Tochter Judas“ in Klagen dar 
über, daß weder das XVIII. Jahrhundert, „das Zeitalter der Men 
schenliebe, der Duldsamkeit und der Sanftmut“, noch „der hold 
lächelnde Lenz dieses Jahrhunderts, dessen Beginn durch die Thron 
besteigung Alexanders des Barmherzigen gekrönt ist“, die den Juden 
in Rußland von jeher entgegengebrachte Feindseligkeit zu beseitigen 
vermocht hätten. „Der jüdische Stamm wird von vielen der Verach 
tung preisgegeben. Der Name ,Jude‘ ist zu einem Schimpf- und 
Schmähwort geworden, zur Zielscheibe des Spottes der Kinder und 
Unverständigen“. Unter Hinweis auf Mendelssohn und Lessing ruft 
der Verfasser aus: „Ihr sucht im Menschen den Juden! Suchet lieber 
im Juden den Menschen, und ihr werdet ihn sicherlich finden“. Das 
Büchlein des Nev/achowitsch klingt in die Trauerklage aus: „Während
	        
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