Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

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Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert 
Er wechselte oft seinen Wohnsitz, hielt sich zunächst in Gualdalha- 
jara, dann in Valladolid, zuletzt in Avila auf und scheint überall von 
den Mäzenen, denen er seine Werke zu widmen pflegte, materiell ab 
hängig gewesen zu sein. Als Schriftsteller und Kopist war er aber 
überaus fruchtbar. In dem Zeitraum zwischen 1287 und 1293 ver 
faßte er eine Reihe von Schriften, von denen zwei dem Sohne des 
Todros Abulafia, Joseph, gewidmet sind. In diesen Schriften („Sefer 
ha’rimmon“, „Sefer ha’mischkal“ oder „Hanefesch ha’chacharna“, 
„Mischkan ha’eduth“ u. a.) beruft sich Moses de Leon häufig auf un 
bekannte kabbalistische Midraschim und zwar in der folgenden ver 
schleierten Form: „Ich fand in einem Midrasch“ oder „In einem 
Jerusalemer Midrasch“, „Ich erfuhr aus den Geheimnissen der 
Thora“, „Ich will dir ein tiefes Geheimnis verraten“ usw. Bei nähe 
rem Zusehen erweisen sich solche Zitate meistens als eine hebräische 
Wiedergabe des aramäischen Sohartextes. Unter anderem wird in die 
sen Werken die Grundidee des „Sohar“ entwickelt, wonach die letzte 
Wahrheit der Thora nicht auf dem Wege der Vernunft, sondern aus 
schließlich auf dem der Intuition oder der kabbalistischen „Geheim 
wissenschaft“ erfaßt werden könne. Wozu brauchte Gott — so spitzt 
der Verfasser seine Fragestellung zu — uns die Sinaioffenbarung 
unter Donner und Blitz zuteil werden lassen, wenn wir durch sie 
nur dieselbe Lehre empfangen sollten, in der uns ein Aristoteles in 
aller Ruhe und Gemütlichkeit unterweist? Weit entfernt, nur eine 
philosophische Lehre zu sein, sei daher die Thora vielmehr die äußere 
Hülle des göttlichen Gedankens, dessen Kern sich allein den Berufenen 
und Eingeweihten offenbare. Es ist schwer zu entscheiden, ob Moses 
de Leon tatsächlich daran glaubte oder nur andere daran glauben 
machen wollte, daß nun gerade er sich im Besitze dieses verborgenen 
Thorakerns und zwar in der Form der ihm überlieferten Geheim 
schriften befände; jedenfalls machte er von diesen Schriften den 
weitestgehenden Gebrauch. Nicht genug damit, daß er vieles aus ihnen 
in die von ihm verfaßten Werke übernahm, scheute er sich zugleich 
nicht, in die „alten“ Manuskripte, die er nicht nur kopierte, sondern 
auch rezensierte, seine eigenen Gedankengänge zu verpflanzen. So ist 
denn das unter dem Namen „Sohar“ berühmt gewordene apokry- 
phische Hauptwerk der Kabbalisten gleich vielen anderen Schriften 
dieser Art die Frucht kollektiver Arbeit unbekannter Mystiker aus 
älterer Zeit sowie der Kabbalabeflissenen des XIII. Jahrhunderts, deren
	        
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