i48 Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert Er wechselte oft seinen Wohnsitz, hielt sich zunächst in Gualdalha- jara, dann in Valladolid, zuletzt in Avila auf und scheint überall von den Mäzenen, denen er seine Werke zu widmen pflegte, materiell ab hängig gewesen zu sein. Als Schriftsteller und Kopist war er aber überaus fruchtbar. In dem Zeitraum zwischen 1287 und 1293 ver faßte er eine Reihe von Schriften, von denen zwei dem Sohne des Todros Abulafia, Joseph, gewidmet sind. In diesen Schriften („Sefer ha’rimmon“, „Sefer ha’mischkal“ oder „Hanefesch ha’chacharna“, „Mischkan ha’eduth“ u. a.) beruft sich Moses de Leon häufig auf un bekannte kabbalistische Midraschim und zwar in der folgenden ver schleierten Form: „Ich fand in einem Midrasch“ oder „In einem Jerusalemer Midrasch“, „Ich erfuhr aus den Geheimnissen der Thora“, „Ich will dir ein tiefes Geheimnis verraten“ usw. Bei nähe rem Zusehen erweisen sich solche Zitate meistens als eine hebräische Wiedergabe des aramäischen Sohartextes. Unter anderem wird in die sen Werken die Grundidee des „Sohar“ entwickelt, wonach die letzte Wahrheit der Thora nicht auf dem Wege der Vernunft, sondern aus schließlich auf dem der Intuition oder der kabbalistischen „Geheim wissenschaft“ erfaßt werden könne. Wozu brauchte Gott — so spitzt der Verfasser seine Fragestellung zu — uns die Sinaioffenbarung unter Donner und Blitz zuteil werden lassen, wenn wir durch sie nur dieselbe Lehre empfangen sollten, in der uns ein Aristoteles in aller Ruhe und Gemütlichkeit unterweist? Weit entfernt, nur eine philosophische Lehre zu sein, sei daher die Thora vielmehr die äußere Hülle des göttlichen Gedankens, dessen Kern sich allein den Berufenen und Eingeweihten offenbare. Es ist schwer zu entscheiden, ob Moses de Leon tatsächlich daran glaubte oder nur andere daran glauben machen wollte, daß nun gerade er sich im Besitze dieses verborgenen Thorakerns und zwar in der Form der ihm überlieferten Geheim schriften befände; jedenfalls machte er von diesen Schriften den weitestgehenden Gebrauch. Nicht genug damit, daß er vieles aus ihnen in die von ihm verfaßten Werke übernahm, scheute er sich zugleich nicht, in die „alten“ Manuskripte, die er nicht nur kopierte, sondern auch rezensierte, seine eigenen Gedankengänge zu verpflanzen. So ist denn das unter dem Namen „Sohar“ berühmt gewordene apokry- phische Hauptwerk der Kabbalisten gleich vielen anderen Schriften dieser Art die Frucht kollektiver Arbeit unbekannter Mystiker aus älterer Zeit sowie der Kabbalabeflissenen des XIII. Jahrhunderts, deren