Volltext: Illustrierte Kriegsbeilage Nr. 47 1915 (Nr. 47 1915)

Samstag, ^5. Aezemver 
Wr. 47. 
Am heiligen Abend. 
Von Henriette Brey. 
(Nachdr. Verb.) 
Immer, wenn der Abend herabsank, 
saß das alte Mütterchen am 
seines schmalen Stübchens und 
die Dämmerung hinaus. Tief unten 
brandete das unruhige Gewühl der 
Straßen und Gassen der Stadt. Nur 
fern und verworren drang das laute 
Straßenleben hinauf zu dem Manfar- 
denzimmerchen des vielstöckigen Miets¬ 
hauses; es störte dessen Ruhe und 
Stille nicht. 
Das war Frau Johanna Lenders 
liebste Stunde — die Stunde, in der 
sie Zwiesprache mit ihren Toten hielt, 
in der sie sich hinüberträumte in jenes 
selige Land, wo es keinen Schmerz und 
keine Trennung mehr gibt, wo sie rasten 
konnte von des Lebens mühseliger Pilger¬ 
fahrt. Denn sie war sehr alt und stand 
schon mit einem- Fuß im Grabe. Die 
meisten aus ihrer Zeit waren längst 
hinübergegangen, sie allein ragte wie 
ein verwittertes, vergessenes Wahrzeichen 
der Vergangenheit in die raschlebige 
Jetztzeit hinein. 
Achtzig Jahre hatte sie des Lebens 
Leid und Sorgen getragen und seine 
Bitterkeit voll ausgekostet. Ihr Mann 
starb, als ihr jüngster Knabe erst ein 
Jahr zählte und ließ sie mit sieben 
Söhnen ratlos, hilflos zurück. Frau 
Johanna hatte sie großgezogen, schlicht 
und gottesfürchtig, aber sie brachten ihr 
nur Kummer. Sie hatten des Vaters 
gutes Herz, aber auch dessen leichten 
Sinn geerbt und das schwache Weib 
war ihrem Trotz und Ungestüm nicht 
gewachsen. 
Sieben Söhne! Sie waren hinaus¬ 
gezogen in die weite Welt — gestorben, 
verdorben! Nur der jüngste, ihr Lieb¬ 
ling, war der Mutter nachgeschlagen. 
Aber auch ihn hatte es nicht in der 
engen Heimat gelitten, er fuhr über das 
Weltmeer und baute im fremden Lande 
seine Scholle. Doch er vergaß die alte | 
Mutter nicht; er sicherte ihr ein sorgen- p 
freies Alter und alljährlich um die 4 
Weihnachtszeit kam ein Brief mit selt- j| 
sam fremden Marken und Stempeln, ti 
Diese Briefe mit den Worten zärtlicher Q 
Liebe und Dankbarkeit bildeten die Q 
Lichtpunkte in ihrem einsamen Leben, g 
das einzige, was die schon halb im fe 
Jenseits lebende Frau noch an die | 
Erde fesselte. — ä 
Auch heute war ein solcher Brief an- y 
gekommen, vor einer Stunde hatte der 
Postbote ihn gebracht. Wie schön, daß er 
genau am heiligen Abend ankam! Das war 
selten vorgekommen. Unerössnet lag er nun 
neben ihr, denn ihre Augen waren schwach 
geworden und das Lesen fiel ihr schwer. 
Sie wollte warten, bis die kleine Therese, 
die Tochter ihrer Flurnachbarin, zu ihr 
kam, die würde ihn ihr vorlesen. 
Weihnachtsabend! — Frau Johanna 
saß still im Lehnstuhl; ihre Hände waren 
gefaltet, ihre Lippen bewegten sich leise. 
Die Lampe wars einen freundlichen Schim¬ 
mer auf das welke, eingefallene Gesicht der 
Greisin. Auf ihren Knien lag ein dickes 
Buch mit großen, altmodischen Lettern. 
Die Blätter des Buches waren vergilbt, 
abgerissen und hatten dunkle Ränder — sie 
waren durchgebetet! Das Johaunes-Evan- 
M«tter Maria Vetrachtet das göttliche Kind. (Bon Carlo Dolci.) 
Mnadit. 
Ein glühender fjnfi die Welt verheert 
Zur weihnachtsjeit, 
kein friede auf Erben ist uns beschert, 
stur Kampf und Streit. 
Eb brennen flimmernd die weihnachtsker>en 
Und wie im Irautn 
Stehn wir sinnend, mit Leid im Herren, 
Rm Weihnachtsbaum. 
Oie weihnachtsglock>>li mit süßem klang 
5ie läuten leise 
für euch, ihr Tapfern, den Rbschiedssang 
Zur letzten Reife. 
3hr habt euch im Schlachtgebraus bewährt 
So treu hienieden, 
stun wird euch nach hartem Kampf beschert 
Der ewige frieden. 
Runchmünfter. 
(|lad)öru<t oerboten.) 
Luise töepmapr. 
Das Krippentheater in Steyr, 
das wir hier im Bilde bringen, hat der Verein Heimatschutz in Steyr käuflich an sich gebracht 
und ließ es restaurieren, damit wieder weiter gespielt werden kann, etne süße und friedliche 
Erinnerung an goldene Tage sonniger Vergangenheit, in welcher kindliche Emsalt und Fröm¬ 
migkeit den Sinn der Menschen beherrschte. (Phot. Harter-Hart, Steyr.) 
gelinm war aufgeschlagen und sie 
flüsterte andächtig und ehrfurchterschau¬ 
ernd die erhabenen, geheimnisvollen 
Worte. Wenn auch die Buchstaben vor 
ihren Augen flimmerten und wirr 
durcheinander gaukelten, es machte 
nichts, sie konnte die tausend- und aber 
tausendmal gebeteten Worte längst aus¬ 
wendig. 
„Er kam in sein Eigentum und die 
©einigen nahmen ihn nicht auf", wieder¬ 
holte sie und lehnte sich müde zurück. 
Wie matt und hinfällig sie sich 
och heute fühlte! Es lag wie Blei in 
ihren Gliedern. Und in der Brust war 
es ihr so seltsam beklommen, ihr Herz 
pochte in regellosen Schlägen — ob 
es die Freude über den Brief war? 
Thereschen schien heute abends nicht 
ehr zu kommen; sie waren wohl alle 
noch bei der Christbaumfeier und dach¬ 
ten nicht an sie. Nun, dann würde sie 
ihn morgen früh lesen. — Sie hätte 
aber doch so gerne heute schon gewußt, 
was ihr Hendrick schrieb. _ 
Sollte sie zur Ruhe gehen ? Sie 
konnte ihre Müdigkeit kaum noch be¬ 
wältigen. Aber nein, heute, am heili¬ 
gen Abend, durfte sie nicht wie sonst 
einschlafen, nicht die heilige Nacht durch¬ 
schlafen — zuvor mußte sie die Christ¬ 
glocken hören! 
Früher war sie immer zur Weih¬ 
nachtsmette gegangen und wenn sie aus 
der dunklen Nacht in die hellerleuchtete 
Kirche trat und vor der lichtumflossenen 
Krippe kniete, da war ihr das Herz in 
Seligkeit ausgegangen. Später, als sie 
alt und gebrechlich geworden, konnte 
sie nicht mehr mitgehen, aber dann 
saß sie den ganzen Abend betend und 
wartend in ihrem Lehnstuhl, bis um 
Mitternacht jubelnd und freudig die 
Weihnachtsglocken erklangen und der 
harrenden Welt von neuem verkündigten, 
daß der Heiland geboren! 
Dieser Gewohnheit wollte sie auch 
heute treu bleiben, es mochte doch wohl 
ihr letztes Weihnachtsfest fein. 
Sie drehte die neben ihr stehende 
Lampe ganz klein und blickt durch das 
schmale, gardinenlose Fenster in die 
blaue Nacht hinaus. 
Es war eine prächtige, sternenklare 
Nacht. Millionen strahlender Augen 
standen am Himmel und schauten mit 
sanftem Glanze herab. 
Des alten Mütterchens Blick flog 
über die Dächer hinweg, die in dem 
hellen Schein sich klar abzeichneten. Sie 
schweiften weiter bis zu dem Turm 
der Marienkirche, der sich hoch und 
stolz aus dem Gewirr von Dächern, 
Zinnen, Erkern und Türmchen zum Him¬ 
mel erhob. Ihr Auge blieb mit liebendem 
Gruße an ihm haften und auch er schien 
ihr herüberzugrüßen. 
Der alte graue Turm war seit vielen 
Jahren ihr vertrauter Freund. Ihr erster 
Blick des Morgens, ihr letzter des Abends 
galt ihm. Sie konnte stundenlang ihn be¬ 
trachten und mit ihm sprechen, als sei 
er ein lebendes Wesen. Wenn morgens, tief 
unten in den Gaffen noch der Nebel braute, 
dann ragte hoch und hehr, von goldenem 
Sonnenlicht umflofsen, das Kreuz des 
Turmes in die Lüfte, ob auch die wallen¬ 
den Dünste seinen Fnß umzogen. Und 
wenn abends die Dunkelheit herabsank 
und alles in Nacht hüllte, dann traf der
	        
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