Volltext: Nr. 63 (63. 1920)

Redaktion 
und Administration 
Linz 
Franz Josef-Platz 29; 
Telephon 1225/11. 
Ersch eint 
jeden Freitag. 
JÜDISCHE 
NACHRICHTEN 
Bezugspreis: 
V4 jährig K 12' — . 
Bankkonto bei der 
Allg. Depositenbank, 
Filiale Linz. 
Postsparkaffenkonto 
Nr. 180.454. 
Inserate: 
Die Spaltenbreite pro 
Millimeterhöhe 50 h 
für die österreichischen Alpenländev 
| Nr. 63 | 
Linz, 
am 
25. Juni 
9. Thamus 5680 
1920 
Juden! 
Endlich ist die Zeit der Erfüllung gekommen! 
Die Konferenz von San Rem'o hat das Hecht des jüdischen 
Volkes auf Palästina unabänderlich anerkannt. 
Ani uns ist es jetzt, zu beweisen, daß wir dieses Keclit 
auch gebrauchen wollen. Tausende unserer Brüder und 
Schwestern warten schon sehnsüchtig auf den Augen¬ 
blick, ihre ungastlichen Wohnstätten mit einer freien 
Heimat vertauschen zu können. Pflicht eines j eden 
Juden ist es, am Wiederaufbau Palästinas mitzuwirken. 
Wenn Ihr wollt, daß in Palästina die Heimstätte 
des jüdischen Volkes auch wirklich erstehe, 
zahlet den Schekel! 
Demnächst wird die Scbekebammlung in Oberöster¬ 
reich einsetzen. Kein Jude darf sich von dieser Steuei 
für das jüdische Volk ausschließen. 
Ortsgruppe Linz der Zionistischen Organisation. 
Ein Kampf um Menschlichkeit. 
Endlich scheint das europäische Gewissen erwacht 
zu sein. Die täglich sich erneuernden Schandtaten der 
Horthy-Banditen! haben lange genug jedem Begriff von 
Humanität ins Gesicht geschlagen. Wenn jetzt die inter¬ 
nationale Arbeiterschaft durch den Boykott gegen Un¬ 
garn als neue Macht ihr Verdikt, fällt und l ngarn so 
lange aus der Gemeinschaft des werktätigen Europas 
ausschließt, als es nicht wieder europäische Zustande 
schafft, so scheint das nicht allein ein Akt der Solidarität 
der Proletarier aller Länder zu sein, sondern diese Aus» 
sitoßunig bedeutet die erste Regung allgemein mensch- 
liehen Fühl ens. 
Der weiße Terror trifft in Ungarn die sozialistisch 
Denkenden in derart grausamer Weise, daß die Abwehr¬ 
aktion der Genossen jenseits der ungarischen Grenzen 
zum Kampf für die Freiheit wind. Die Inter¬ 
nationale mußte endlich eingreifen, wollte sie nicht lan¬ 
ger eine Phrase bleiben und eingestehen, daß eine kleine 
Schar von Offizieren, die nach dem Zusammenbruch des 
Militarismus sich zu organisierten Wegelagerern zu¬ 
sammengeschlossen haben, ungestraft das Had der Ge¬ 
schichte um Jahrhunderte zurückdrehen dürfe. 
Aber viel, viel mehr leidet das ungarische Judentum. 
Noch immer sind wir nicht in Kenntnis aller der vielen 
Grausamkeiten und Verbrechen, die stündlich an Juden 
begangen werden, von den zahllosen Rechtsverletzungen 
und den schmachvollen Insulten gar nicht zu reden. 
Wir Juden knüpfen deshalb an die Aktion der Ge¬ 
werkschaften gegen Ungarn unsere eigenen Hoffnungen; 
als Freunde der Freiheit und des Hechtes freuen wir 
uns, daß diese beiden Grundpfeiler menschlicher Sitt¬ 
lichkeit endlich ihre Verteidiger gefunden haben, und als 
Judeiii erwarten wir die Erlösung unserer Brüder aus dem 
schmachvollsten Druck. 
Aber, siehe da! Zwei edle Seelen haben sich gefun¬ 
den, die dem Eingreifen der Arbeiterschaft den Kreuzzug 
predigen. Wer in Österreich erhebt das lauteste Zeter¬ 
geschrei gegen den Boykott, wer hat sich brüderlich 
gegen ihn verbunden« Die Antisemiten und die soge¬ 
nannte Judenpresse; sie bilden eine Einheitsfront und 
treten den Ilelden von der Andrassy-ut zur Seite. 
Die ganze Meute, die über das bolschewistische Un¬ 
garn gegeifert hat, sieht heute in einer Gewaltherrschaft 
nur einen idealen Zustand. Die Freundschaft der seh warz¬ 
gelben Wiener Christlichsozialen mit {den erwachten 
Hunnen ist ja gewissermaßen schon alt; jetzt stoßen noch 
die deutschnationalen Postler zu ihnen und was sonst 
noch frisch-fromm-fröhlich-fiei germanische Ideale aut 
dem Munde, aber nicht im Herzen trägt. Sie alle eint 
der bittere Judenhaß, und weil der Streit um Hecht und 
Gerechtigkeit in Ungarn auch den unglücklichen Juden 
frommen könnte, erheben sie den Kriegsgesang. Und 
nun schallt noch die Posaune jener eklen Wiener 1 rosse, 
die seit jeher Charakterlosigkeit auf ihr 1 amer geschrie¬ 
ben hat. Dieselben Leute, die unbedenklich gegen die 
Tschechen Stimmjung machen, betonen heute das für das 
arme .Österreich notwendige gute Einvernehmen mit den 
Nachbarn. 
Antisemitismus, Reaktion und Profitpresse, sie sind 
die richtigen Bundesbrüder und es gehört die ganze Ur¬ 
teilslosigkeit unserer Bevölkerung dazu, daß sie dieses 
Kleeblatt noch nicht ausgerissen und in die Müllgrube 
beworfen hat. Aber trotz dieser drei Gewalten wird hot- 
fentlich doch noch der Tag kommen, wo der Kampi 
gegen die Unterdrückung ein Postulat des überwiegenden 
Teiles der Menschheit sein wird,
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.