Volltext: Nr. 20 (20. 1919)

Jüdische Nachrichten 
Nr. 20 
Der Jude Bettelheim. 
Der letzte Sonntag war für das hungernde, leidende, 
gequälte, einer mehr als trostlosen Zukunft entgegen¬ 
sehende Wien ein dies ater im traurigsten Sinne. Und 
neben trübseligen Reminiszenzen drängen sieh uns Vor¬ 
würfe auf, wird der schaudernd erstattete Bericht zur 
Anklage. Nicht die gehässigen Angriffe demagogischer 
Schreier gegen Staatsgewalt und Parteien, nicht prin¬ 
zipielle Einwände anderseits gegen radikale, wahnwitzige 
Ideen, sondern bittere, gerechte Vorwürfe gegen jene 
gewissenlose, einsichtslose Gruppe von Führern, die 
„landfremd und fremdrassig" sich unterfangen, dem po¬ 
litischen Kurs» unseres a r vn e n, zerschundenen Deutsch¬ 
österreich eine neue, höchst verderbliche Richtung geben 
zu wollen. Politische Desperados mit ihrer Va-banque- 
Taktik. Und an der Spitze dieser leichtfertigen Frevler 
an Ruhe und Gedeihen dieses jungen, schwachen Staates 
steht, fast ist man versucht, zu sagen: natürlich, ein 
Jude. Auch Wien sollte seinen, einstweilen gottlob ver¬ 
unglückten Kommunistenputsch haben, wie Budapest, 
Berlin und München. Auch hier sollten Juden, land¬ 
fremde Juden, zu Führern einer fanatischen Minderheit 
werden. Neben Koritsehoner, Wertheim und Friedlän¬ 
der,, der dahergelaufene bezahlte Abenteurer Bettelheim. 
Was alle diese Menschen bewegt, ob für das Narrenhaus 
reife, nur unlogischen Gehirnen entsprungene Welt¬ 
beglückungsideen, ob erdenferner, gänzlich von allen 
realen Bedingnissen losgelöster Idealismus, ob es schmut¬ 
ziger Ehrgeiz und politisches Strebertum, oder gar die 
Sucht, im Trüben zu fischen ist, wer kann das heute 
bei jedem einzelnen dieser jüdischen Führer sagen. Kann 
es uns da aber wundern, wenn die antisemitische Presse 
mit einer gewissen Wollust über diese jüdischen Kom¬ 
munist enführer herfällt? Wag jeder aufrechte Jude täg¬ 
lich, neu und von Tag zu Tag -schmerzlicher # empfindet, 
was wir hier schon oft ausgedrückt haben, das ist die hell¬ 
lodernde Scham, daß wir diese Menschen, die so abgrund¬ 
tief "von uns sittlich und geistig entfernt sind, doch Stam¬ 
mesbrüder nennen müssen, da wir ihnen ebensowenig, wie 
sie selbst ihr jüdisches Blut ableugnen können. Es wäre 
oberflächlich und leichtfertig, würden wir einen dicken 
Strich zwischen diesen Menschen wie Bettelheim, dem 
Abenteurer aus Budapest, und uns, mehr oder weniger 
national und damit in der Gemeinschaft stehenden Juden 
machen. Und doch wird keiner aufstehen wollen, diese, 
die ihr Volk vergessen, verraten und durch ihre Taten 
beschmutzen, zu verteidigen. Es ist nicht Sittlichkeits¬ 
koller oder opportunistische Stimmungsmache, daß wir 
uns gegen diese unseligen Phantasten stellen, daß wir sie 
verurteilen, kein geistiges Band, da wii> das Blutsband 
nicht leugnen können, zwischen uns bestehen lassen 
wollen. Es sind durchwegs Intellektuelle, die sich hier 
für die höchsten und weitgehendsten Ziele der Mensch¬ 
heit einsetzen, für die Befreiung von jedem ökonomischen 
Zwang, für die wirkliche Gleichheit, für die Lrüdeinch- 
keit 4er Nationen. Aber hat denn die Liebe zur Mensch¬ 
heit (sie wird oft genug vergeblich bei solchen Menschen 
gesucht werden), das Streben nach positiver Tat, nach 
Verwirklichung ihrer Menschheitsideale keine nah er¬ 
liegenden, dringenderen und leichter realisierbaren Aut¬ 
naben, nicht dankbarere Objekte und Ziele? Gabe die 
Arbeit am Judentum und fürs Judentum kern genug 
großes Feld für diese ehrgeizige und dabei hoch fliegende 
Tatkraft für Geistigkeit und Menschheitshebe? Damit 
er,11 natürlich nicht geW sein, daß wir die Kalastrophen- 
poliHk dieser Menschen für jüdische Angelegenheiten 
nn(heißen können; wir sehen ja auch bei den .indischen 
Parteien genug Fanatiker und noch mehr Streber am 
unheilvollen Werke. Ist es aber Strebertum, bezahlte 
und unbezahlte Lust ani Wühlen, die Freude am Nieder¬ 
reißen, ohne je an einen positiven Aufbau zu denken, 
dann werden wir Juden die ersten sein, diesen Schädlin¬ 
gen der Menschheit (und dann sind es ja Verbrecher an 
der Menschheit) den verdienten Fußtritt zu geben. Den 
in ihren Gedankengängen aber auf Irrwege geratenen 
jugendlichen Phantasten rufen wir zu : Euer Volk, das 
jetzt nicht minder als das deutsche, an dessen wunden, 
zerschundenen Leib Ihr gefährliche Experimente mit 
arger Stümiperhand begehen wollt, bedarf der Hilfe. 
Auch das Judenvolk braucht Menschen, die sich aus Hin 
gäbe opfern können, die ihr Leben für eine Tdee in dm 
Schanze zu schlagen wissen. Sehet, ob Ihr diesem eurem 
Volk nicht mehr sein könnt, als Ihr hier trotz dem Lin¬ 
satz eures ganzen Lch zu sein vermögt. Auch jüdisches 
Blut ist am Sonntag in der Hörigasse geflossen, so 
sinn- und nutzlos, wie nur je in diesen letzten 5 Jahren 
Blut geflossen ist. Doch keiner wreiß diesen leichtfertig 
Geopferten Dank. Zorn, Wut und Haß aber ladet ein 
Bettelheim nicht allein auf sich, sondern auf das ganze 
J uden volk. 
Die Größe Palästinas. 
Besonders in deutschen zionistischen Kreisen wird 
derzeit sehr lebhaft die Frage nach dem Tempo der jüdi- j 
sehen Einwanderung nach Palästina erörtert und damit 
im Zusammenhange die nach der Ansiedlnngskapazihit 
des Landes, worunter man seine Aufnahmsfähigkeit ver¬ 
steht. Es ist klar, daß diese in erste Linie von der Größe j 
des zur Verfügung stehenden Raumes abhängt und wenn 
auch als sicher angenommen werden kann, daß Palästina i 
dem jüdischen Volk als Heimstätte zugesprochen wird, 
so scheinen die Marken des zugewiesenen Territoriums j 
nicht allzuweit gezogen . zu s*ein. Nichtsdestoweniger ; 
werden sie nicht wesentlich von den historischen Grenzen 
des alten Erez Israel abweichen können und, wenn sie! 
die Juden als kolonisatorisch tüchtiges Element erwei¬ 
sen, so haben sie in den umliegenden Gebieten unbe- 
grenzte A usdehnun gsmögl iclikeiten. 
Die Bibel erzählt uns, daß das Reich Davids von 
Dan bis Ber Seba gereicht habe, wonach also die Nun!- 
südausdehnung'des Landes, ungefähr die Länge des Jor¬ 
dantales umfassend, über 200 km betrug. -Die BreiI< 
dieses Streifens zwischen Mittelmeer und Wüstensaum 
ist im Durchschnitt größer als 100 km. Die Frieden- j 
konferenz scheint gerade hier das jüdische An sied Inno- j 
gebiet etwas einzuschränken, indem sie die wichtige Ued 
schasbahn, deren Trasse ungefähr dort verläuft, bis wohin 
in der römischen Kaiserzeit das Kulturland sich erstreckt 
hatte, durchwegs ins arabische Territorium einbezieht. 
Wenn man die verschiedenen Nebenländer, die oft lang' 
Zeit mit Palästina vereinigt waren, außer Betracht läßt, 
so ergibt sich — wie gesagt stets bei ungünstigster n< 
rechnung — ein Raum von 27.000 qkm. Das entspricht 
ungefähr der Größe von Belgien, das man gerne^ zu-h 
Vergleich wählt, und ist ein wenig kleiner als Nieder 
und Oberösterreich zusommengenommen. Bei Einbezie¬ 
hung aller Landstriche, die im Laufe des jüdischen Alter¬ 
tums zeitweilig Bestandteile des jüdischen Siedlung- 
oder Einflußgebietes gebildet haben, können wir auf einen 
Komplex von beiläufig 75.000 qkm aspirieren, was unge¬ 
fähr der Größe Böhmens und Mährens gleichkäme. Tat¬ 
sächlich scheint England einer Besiedlung der zwischen 
dem Suezkanal und dem eigentlichen Palästina liegenden 
Gegenden nur sympathisch gegenüberzustehen.
	        
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