Volltext: Der Naturarzt 1897 (1897)

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Kinderpflege. 
Wie erziehen wir unsere Kinder zur Selbständigkeit. 
Von Kl. Muche, Leiterin des Sanatorium Stolzenberg. 
(Schluss.) 
Wie das Kind sich frei machen soll von eigener Schwäche^ 
seine Fähigkeiten nach jeder Richtung hin entfalten um seine Kraft 
zu steigern, so muss es auch lernen unabhängig von andern werden 
und frühzeitig die Gefahren aller Verpflichtungen, überhaupt des 
des Verkehrs mit den Menschen zu erkennen; denn auch dieser hat. 
seine Klippen, daran manche tüchtige Kraft gescheitert ist. Mancher 
kann sich selbst beherrschen, aber leider nicht befreien vom Einflüsse 
anderer. Auch diese Erfahrungen lasse man bereits das Kind machen. - 
Dem Erwachsenen kosten sie bei weitem grössere Opfer. 
So halte man streng auf Erfüllung jeglichen Versprechens, das 
ein Kind dem andern gab, mag damit auch ein Verlust an Eigentum, 
an Vergnügen oder grössere Verlegenheiten verbunden sein. Die 
Eltern dürfen die Unbequemlichkeit des Worthaltens nicht scheuen 
oder gar mit dem Motto: „Unter Kindern nimmt mans nicht so 
genau“, den Wortbruch gut heissen. Vom Wortbruch der Eltern 
ihren Kindern gegenüber will ich gar nicht reden. Jeder führende 
feinfühlende Mensch empfindet die Verletzung des noch scharf' 
urteilenden Rechtsbewusstseins der Jugend heraus. Das Kind muss 
an Achtung für die Eltern, an Gewissenstreue gegen sich verlieren. 
Sieht man jedoch streng auf Worthalten, dann wird das Kind vor 
sichtiger im Versprechen, prüft erst, ob ihm das Erfüllen desselben 
auch möglich und lässt nicht die Ueberlegung durch die Gut 
mütigkeit aus dem Felde schlagen. Dadurch gelangt es zu jener- 
Bedachtsamkeit, welche die Mutter der Zuverlässigkeit ist. Menschen 
auf deren Wort man sich verlassen kann, stehen jederzeit in hohem 
Ansehen bei ihren Mitmenschen, auch wenn sie hie und da eine Bitte 
Abschlägen, und da sie jederzeit die Folgen ihres Versprechens be 
denken, so bereiten sie sich nicht leicht Ungelegenheiten. Wer da 
gegen die Festigkeit nicht in der Jugend schon übte, dem läuft nur 
zu oft das Herz mit dem Verstände davon. Er kommt in tausend 
Verlegenheiten beim Worthalten und lebt unter stetem Gewissens 
druck durchs Wortbrechen, kurz befindet sich in dauernder innerer 
Unfreiheit. Diese verspüren ja die Leute weniger die von klein auf 
das Wortbrechen gewohnt sind von sich und ihren Eltern. Sie werden 
rechte, echte Windbeutel, die man nie mit Vertrauen beehrt, sondern 
geringschätzt. Demnach laute die Erziehungsregel: „Ein Mann — 
ein Wort,“ aber auch „Vorsicht beim Wort geben!“ 
Sehr vorteilhaft für die Erkenntnis ist die Erfahrung, dass Ge 
schenke und Gefälligkeiten abhängig und unfrei machen. Dienst und 
Gegendienst lautet die Losung bei Jung und Alt. Die Jugend ist 
noch offen genug mit ihren Gedanken und Gefühlen nicht hinterm 
Berge zu halten und täglich können wir unter Kindern Scenen, be 
lauschen, wo einem nicht Willfährigen von andern Teil recht energisch, 
die Hilfe, das Geschenk vom letzten Tage vorgehalten wird. Uns«
	        
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