Volltext: Der Naturarzt 1892 (1892)

Ein weisser Rabe! 
Mitgeteilt von Philo vom Walde. 
Am 9. Septembex hielt der Professor Dr. med. Flügge in der „Hygienischen 
Sektion der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur“ zu Breslau, welchem 
Vereine fast das gesamte Professorentum angehört, einen Vortrag über die Cholera. 
Ueber den sich daran anschliessenden Meinungsstreit bringt die „Schlesische Zeitung“ vom 
14. September einen stenographischen Bericht, dem wir Nachstehendes entnehmen: 
Prof Dr. Hirt hält nach den Ausführungen des Vortragenden die Desinfektion 
der Reisenden auf den Bahnhöfen nicht nur für überflüssig, sondern sogar direkt für 
schädlich, weil sie in dein Desinfizierten und im Publikum den Gedanken erwecke, dass 
derjenige, welcher auf dem Bahnhöfe desinfiziert worden, nun auch wirklich keinen An 
steckungsstoff mehr übertragen könne. Das sei durchaus irrtümlich. Die Desinfektion 
eines bekleideten Menschen nütze gar nichts, das Besprengen und Begiessen mit Subli- 
matlösung gewähre wenig oder gar keinen Schutz, und man könne für sicher halten, 
dass derjenige, welcher mit keim- und lebensfähigen Bazillen in das Desinfektionslokal 
gekommen sei, dasselbe mit eben denselben keim- und lebensfähigen Bazillen wieder 
verlasse. Nach der Ansicht des Redners genügt es nicht, Leute, die aus verseuchten 
Orten kommen, zu desinfizieren und sie dann zu entlassen, event, in Wohnungen, die 
notiert wurden, um sie zu überwachen, sondern man müsste sie überhaupt verhindern, 
die ihnen etwa anhaftenden Ansteckungsstoffe weiter zu tragen. Und dies sei einzig 
und allein möglich, wenn man sie in eigens dazu bestimmte Räume brächte und hier 
zwei bis drei Tage unter ärztlicher Beobachtung hielte, dergestalt, dass jeder Verkehr 
mit der Aussenwelt abgesperrt würde. Nur eine solche Quarantäne, die eine so grosse 
Kommune wie Breslau, für Leute, die authentisch aus durchseuchten Orten zugereist 
kämen, leicht errichten könnte, gewähre einigermassen Schutz gegen die Einschleppung. 
Vollständig könne dieser Schutz auch dadurch nicht erreicht werden, weil noch hundert 
andere Wege für Uebertragung von Choleiakeimen (durch Packete, Waren etc.) offen 
blieben. 
Hierauf führte Prof. Dr. Rosenbach Folgendes aus: Der eben gehörte Vortrag 
war nach mehreren Richtungen hin sehr lehrreich, denn er zeigt, wohin wir steuern, 
wenn sich die heut geltenden wissenschaftlichen Theorieen noch weiter in Thaten um 
setzen sollten; er zeigt ferner klar die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis. Auf 
die Schwierigkeiten, die sich bei Aufstellung und Ausführung der theoretischen Forde 
rungen ergeben, vermag nichts ein besseres Licht zu werfen, als der Vorschlag des Herrn 
Vortragenden, zwischen den Gesunden und Verdächtigen, die aus einem Seuchenherde 
kommen, in der sanitätspolizeilichen Behandlung keinen Unterschied zu machen, und, 
wenn ich recht verstanden habe, von der gewöhnlichen Desinfektion Gesunder ganz Ab 
stand zu nehmen. Einen Punkt des Vortrages begrüsse ich allerdings mit Dank, näm 
lich die Aufforderung, der drohenden Gelahr ruhig entgegenzusehen, obwohl ich der 
Ansicht, dass uns diese Beruhigung auf Grund der Entdeckung des Kommabazillus und 
der dadurch ermöglichten Massnahmen erwachse, nicht zu teilen im Stande bin. Ich 
glaube vor allem, dass die Forderungen, welche die heutige Hygiene bei den sogenannten 
ansteckenden Krankheiten stellt, die Tugend der Nächstenliebe und Humanität 
in einer mehr als schroffen Weise vernachlässigen und Eingriffe in die 
persönliche Freiheit verlangen und ausführen, wie sie schlimmer nicht 
gedacht werden können. Auch wenn man überzeugt ist, dass der Einzelne der Ge 
samtheit Opfer zu bringen habe, so muss man es aufs tiefste bedauern, wenn man die 
im angeblichen Interesse der noch nicht verseuchten Orte getroffenen Schutz- und Ab 
wehrmassregeln betrachtet. Man verweigert allen Flüchtlingen, sogar gesunden Personen, 
die Gastfreundschaft, man zwingt Leute, kranke und gesunde, ihre Wohnungen zu ver 
lassen und sich Prozeduren auszusetzen, die selbst für den Anhänger der 
Desinfektion übertrieben und vor allem nutzlos erscheinen müssen. Man 
hat die Furcht vor Ansteckung eben auf Grund der sogenannten Bazillentbeoiie so über 
trieben, dass sich bereits überall die Folgen dieser Furcht in unliebsamer Weise bemerk 
lieh machen. Doch ich will über diesen Punkt nicht weiter sprechen. Jeder versetze 
sich nur selbst in Situationen, wie sie von den Zeitungen so drastisch geschildert 
werden, und er wird vielleicht vor der Härte der Forderungen der modernen Ge 
sundheitswissenschaft zurückschrecken. Welches sind denn die Konsequenzen 
der heutigen Theorieen? Da der Bazillus in Feuchtigkeit gedeiht, so kann er überall 
haften, und jeder aus einem verdächtigen Ort Kommende, er mag gesund oder krank 
sein, ist darum verdächtig, Träger der Ansteckung zu sein, denn er kann ja an sich, 
auf sich oder in sich die Erreger der Krankheit tragen. Daraus folgt eigentlich, dass 
auch der Gesunde so lange gereinigt und desinfiziert werden muss, bis jede Furcht vor 
Uebertragung geschwunden ist. Doch weiss eigentlich niemand zu sagen, wie lange diese
	        
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