Volltext: Der Naturarzt 1891 (1891)

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Der Vereinsgedanke nnd die verschiedenen Richtungen 
innerhalb der Nalurhettkunde. 
Von einem alten Gesinnungsgenossen. 
Vor einiger Zeit hielt ein Mitglied meines Vereins einen Vortrag, in welchem er 
u. a. auf Kneipp zu sprechen kam, und, wie dos Studium der Kneipp'schen Sckriften im 
allgemeinen, so einige der dort besprochenen Abhartungsformen im besonderen empfahl. Der 
Redner verfehlte nicht, wiederholt zu betonen, daß er unter allen Umständen ein vorsichtiges 
Auswählen je nach Alter und Konstitution, sowie ein schrittweises Vorgehen von milderen 
zu eingreifenderen Formen auch bei der Abhärtung des gesunden Körpers fordere. Am 
nächsten Vereinsabende warfen mehrere Mitglieder die Frage auf, wie sich denn der Verein 
zu den verschiedenen „Systemen" innerhalb der Naturheilkunde stelle. Es sei doch be 
dauerlich, daß ein Verein, der sich zur Anwendung eines milden Wasserverfahrens bekenne^ 
durch einzelne Vortragende „irre" gemacht werde. Solche Anwesende, welche der Sache noch 
fern stünden, müßten vom Eintritt in den Verein abgehalten werden, wenn sie zu hören be 
kämen, daß es verschiedene „Systeme" gebe. Es sei Pflicht des Vorstandes, in dieser Be 
ziehung einen Riegel vorzuschieben und den Verein vor dem Eindringen derartiger Tendenzen 
zu schützen. 
Was heute noch als Meinungsäußerung Einzelner auftritt, verdichtet sich schließlich zu 
Anträgen; und es könnte am letzten Ende dahin kommen, daß nur Diejenigen als wahre An 
hänger der Naturheilkunde zu gelten haben, welche niemals — auch am gesunden Körper — 
Wasser unter 18 Grad anwenden, daß die VereinLmitglieder, wie einer meiner Bekannten sich 
ausdrückte, „auf 18 Grad geaicht werden." Wie ich höre, treten in anderen Vereinen ähn 
liche Strömungen zu Tage; auch der letzten Bundesversammlung lag ein Antrag vor. zu 
einem der bestehenden „Systeme" (und zwar in abweisendem Sinne) Stellung zu nehmen. 
Zch will daher im Nachstehenden kurz erörtern, wozu eine solchen Anschauungen entsprechende, 
Stellungnahme der Vorstände führen müßte. Vorweg sei bemerkt, daß mir das Gedeihen 
der Vereine wie nur irgend einem Gesinnungsgenossen am Herzen liegt, daß ich von jeher 
alles bekämpft habe, was meines Erachtens die Entwickelung der Vereine zu hindern ge 
eignet erschien. 
Alle in Frage kommenden „Systeme" — besser wäre es, dieselben als Richtungen 
zu bezeichnen — gehen von dem Grundgedanken aus, die Gesunden durch eine einfache 
Lebensführung, durch Gewöhnung an frische Luft, an kühle oder kalte Waschungen, durch 
einen verständigen Wechsel von Ruhe und Bewegung abzuhärten, zu kräftigen, und dadurch 
vor Krankheiten zu schützen; in akuten Erkrankungen die von der Natur beabsichtigte 
Heilung durch Anwendung naturgemäßer Heilfaktoren zu unterstützen; in chronischen Krank 
heiten aber den siechen Körper durch allmähliche Kräftigung in den Stand zu setzen, die 
Heilung aus sich heraus zu bewerkstelligen. Heilungsversuche durch Gifte werden — als dem 
Körper unter allen Umständen schädlich — abgelehnt. Auf diesem Grundgedanken baute 
Prießnitz sein System auf; derselbe Gedanke leitete Schroth; auf ihm fußte Rauße; ihn 
haben Dr. Schindler und Wolbold und Meinert vertreten; er bildet die Grundlage der 
Maßnahmen unserer heutigen Naturheilkundigen und derjenigen approbierten Aerzte, welche 
der Medizinheilkunde den Rücken gekehrt haben; nach demselben Leitgedanken verfahren auch 
Kühne und Kneipp. Unterschiede im einzelnen berühren diese Grundsätze nicht; 
sie sind nicht prinzipieller Natur. Der Eine legt großes Gewicht auf die vegetarische 
Lebensweise; ein Anderer läßt auch gemischte Kost zu. Hier wird der Nachdruck auf diese, 
dort auf jene Anwendungsform gelegt. Jeder Naturarzt bevorzugt — wie dies unser verehrter 
Lange-Zwickau seinerzeit (Naturarzt 1889, Nr. 8) sehr richtig ausführte — besondere Formen, 
baut sie nach allen Richtungen aus und sammelt mit ihnen besondere Erfahrungen. Erfolge 
haben Alle; die Einen mehr, die Andern weniger. Dieses Mehr oder Weniger hat aber vielleicht 
seine Ursache nicht so sehr in der Verschiedenartigkeit der Anwendungsformen, als vielmehr 
in der größeren oder geringeren Begabung des Einzelnen für den ärztlichen Beruf, und der 
daraus sich ergebenden verschiedenen Anpassung der Kur (Individualisierung). Prießnitz^ 
Schroth, Rauße, Schindler waren ärztliche Genies, daher ihre großen Erfolge; ein 
ebensolches Genie scheint mir Kühne zu sein, ein nicht geringeres Kneipp (womit ich jedoch 
keinem andern Naturheilkundigen zu nahe treten will; denn auch unter ihnen giebt es Manchen, 
den man mit vollem Rechte als Arzt „von Gottes Gnaden" bezeichnen kann). 
Ich meine nun, wir Anhänger der Naturheilkunde können uns im Interesse der Ent 
wickelung unseres Heilverfahrens nur freuen, wenn von Zeit zu Zeit Männer auftreten, 
die ihre eigene Bahnen wandeln. GrFde durch ihre Einwirkung wird die Fortbildung 
der Naturheilkunde gesichert'; sie sind die Hefe für den Teig, die gesunde Opposition 
für unser Vereinsleben. Stillstand ist Rückschritt; das Abschließen von neuen Ideen führt 
zur Verknöcherung. 
Und wir, die wir eine Oppositionspartei im besten Sinne des Wortes darstellen, die 
wir die Herrschaftsgelüste der Mediziner bekämpfen, den blinden Glauben an de 
Heilsäste zu erschüttern für unsere Lebensaufgabe hallen, keine andere Autorität als düe
	        
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