Volltext: Der Naturarzt 1891 (1891)

175 
Als ich nach langer Zeit wieder heimkam, beschrieen mich die Leute, wie gut ich 
aussähe, und niemand wollte an meine Krankheit mehr glauben. Aber sie war noch da, 
und hätte ich nicht unter solch günstigen Bedingungen gelebt, so musste ich an Ernäh 
rungsstörungen zu Grunde gegangen sein. Es ist kein Leichtes, wenn man täglich auf 
Schritt und Tritt lauter gelbe Thaler spuckt und doch nichts verdaut. 
Im Herbste fiel mir das Dr. Tbiemann’sche Lungenbüchlein, in dem nicht gerade 
ein grosser Wert steckt, in die Hände. Ich schrieb an Dr. Thiemann in Bremen. Mit 
dem seligen Niemeyer hatte ich auch (wegen der ,,Hygieia“-Zänkereien) Briefe gewechselt, 
aber seine Ratschläge waren sehr dürftig. Niemeyer war eben Nihilist: gross im Ein- 
reissen, klein im Aufbauen — er hat uns bei seinen grossen Verdiensten doch ohne 
Methode gelassen. Auch mit Dr. Körner in Dyhernfurth wechselte ich Redaktionsbriefe, 
und er gab mir dieselben Kurvorschriften, wie sie von Dr. Thiemann in Bremen einliefen. 
Obzwar Dr. Thiemann die Massnahmen in jeder Woche etwas änderte, so blieben sie in den 
Grundzügen doch gleich. Jeden Morgen bekam ich eine (ausgewundenes Laken) Mantel 
abreibung nach Gräfenberger Art von 25—23° R, 2—5 Minuten; Sitzbäder von 24 bis 
18° R nahm ich zweimal wöchentlich; ausserdem ein wöchentliches Vollbad 28° R, 
10 Minuten, mit Brause auf den Rücken 25° R, 1 / 2 —1 Minute. Jede Nacht nahm ich 
Kreuz- und Wadenumschläge. Auf der Brust vertrug ich nur Rohseide-Einlagen, weil 
mich die kältende Leinwand zu sehr zum Husten reizte. War der Schleim fest, so musste 
ich Dampfkompressen auf die Brust machen, und kamen die Hustenanfälle, so steckte ich 
die Hände in heisses Wasser. Das half. Nur in der Nacht, wenn beim Erwachen kein 
heisses Wasser da war, musste ich dem Schicksale meinen Tribut von einer Hustenstunde 
zollen. Zuletzt hatte ich darin schon eine grosse Hebung erlangt! Täglich trieb ich drei 
mal je eine Viertelstunde Atmungskur mit dem Largiader’schen Arm- und Bruststärker. 
Dieses Gerät hat meinen Brustkorb bedeutend ausgedehnt und meine niedrigere rechte 
Brustseite normal gemacht. Ich betreibe das heute noch. 
Da meine Ernährungsverhältnisse so schlimm waren, liess ich mir von unserem 
Gesinnungsgenossen Franz Goldhausen in Bremen durch längere Zeit Kumys schicken, 
der mir ein blühendes Aussehen verlieh. Da aber dann meist nur Glassplitter ankamen 
(der reiche Kohlensäuregehalt zersprengte die Flaschen beim Werfen auf der Post), so zog 
ich mir die billigere saure Milch nach Gräfenberger Muster vor. In dieser Weise trieb 
ich's Monat für Monat weiter. Wenn das Wetter schlecht war, ging mir's oft trostlos 
— aber Dr. Thiemann liess nicht locker. 
Auch Liebe und Freundschaft können zur Tyrannei werden. Darunter habe ich 
besonders viel zu leiden gehabt. Jeden Tag pries man mir neue Lungentränklein und 
Heilmittelchen an und beschwor mich: ich sollte doch nicht so eigensinnig sein, sondern 
noch etwas neben dem Wasser anwenden. Weil ich nun doch nicht den Fluch mit ins 
Grab nehmen wollte: ich sei an meiner Halsstarrigkeit zu Grunde gegangen, so probierte 
ich wenigstens ein sehr harmloses Heiltränklein. Das kam so: Vor zwei Jahren war ich 
in den Besitz eines in einem hiesigen Verlage erschienenen Buches gelangt, welches die „Hafer 
kur“ heisst. Ein naher österreichischer Lehrer beschreibt darin, wie er die ärgsten 
Krankheiten mit Haferstrohbädern, Haferstroh-Einpackungen und Haferstrohtrank geheilt 
habe. Also Haferstroh! Durch die Zeitungen lief damals die Nachricht, dass ein mär 
kischer Lehrer alle Arten Hustens in 8 — 14 Tagen mit Haferstroh-Thee heile. Unser 
hiesiger ergrauter Homöopath, der mich so sehr schätzte, liess mich dringend bitten: ich 
möchte doch Haferstroh-Thee trinken. Einer unserer bedeutendsten Vorkämpfer der 
Naturheilmethode im Auslande schrieb mir: er sei jetzt von hartnäckigem Katarrh 
befallen gewesen, da habe er Kur gemacht und jeden Abend, wie in Dr. Schwabe’s homöo 
pathischer Zeitung geraten war, eine Tasse Hafertrank getrunken — in 14 Tagen sei 
sein Katarrh weg gewesen; er wisse freilich nicht, ob der Hafertrank dabei etwas gethan 
habe — ich möge dies diätetische Mittel einmal versuchen. Ich litt in jenen Wochen 
wieder furchtbar an stundenlangem Krampfhusten. Das Haferstroh wurde also besorgt. 
Doch siehe! den Tag, bevor ich das Tränklein noch zu trinken begann, war mein Husten 
weg, und ich brauchte nur lose zu räuspern, so flogen die Fetzen wie die Dukaten. Hier 
sehen wir, wie sonderbar es um das „Post hoc, ergo propter hoc“ bestellt ist. Ein Tag 
Unterschied, und ich wäre stutzig geworden. Nachher habe ich den Hafertrank etwa 
drei Wochen getrunken, aber nicht die geringste Wirkung verspürt. So geht’s einem, 
wenn man den Glauben an etwas verloren hat! Alle anderen Anpreisungen wie: Milch 
mit Kognak, Eibischthee mit Honig, Schwarzwurzel, Huflattich, Wegerich u. s. w. liess 
ich unberücksichtigt. Nur einmal trat die Versuchung heran. In schwerer Zeit ging ich 
zu einem hiesigen Mediziner, liess mir nochmals die Lunge und den Auswurf auf Bazillen 
untersuchen. Trotzdem wir Beide auf zwei getrennten Bergen der Ueberzeugung stehen, 
so ist er mir doch als seltene Ausnahme stets freundschaftlich gegenübergetreten. Er 
fand, dass ich im Frühjahr an einer bedeutenden Rippenfellentzündung gelitten haben 
2*
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.