Volltext: Der Naturarzt 1884 (1884)

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Krankheit die Frequenz der Darmentleerungen zunimmt (bis zu 30 und mehr in 24 Stunden); 
verlieren die ausgeleerten Stoffe mehr und mehr an Konst st enz, 
s i e e r s ch e i n e n e n d l i ch s l ü s s i g w i e W a s s e r ; auch entfärben sie sich 
allmählich (die Anwesenheit von unverdauten Speiseresten in denselben bildet keine 
Gegenanzeige, wird aber nickt in allen Fällen beobachtet); es rinnt aus dem After wie 
aus einer Brunnenröhre und der Afterschließmuskel leistet so wenig Widerstand, daß zu 
weilen dem Kranken eine Ausleerung unwillkürlich entschlüpft. Die Darmentleerungen 
sind an keine bestimmte Tageszeit gebunden. Sie verteilen sich ziemlich gleichmäßig auf 
die Tagesstunden. Der Appetit fehlt; die Zunge ist von einem 
schmutzig-grauen Schleime überzogen; trotz des lästigsten 
Trockenheitsgefühles in der Mundhöhle fehlt der Durst gänzlich. 
Die Kranken verhalten sich apathisch; sie sind gleichgiltig gegen 
alles, selbst gegen ihren eigenen Gesundheitszustand. — Abmage 
rung, Muskelschwäche, Blässe des Antlitzes, auch neuralgische Besckwerden bleiben bei 
längerer Dauer der Krankheit nicht aus; sind aber als Konsekutiv - Erscheinungen aufzu 
fassen (Säfteverlust) und bilden daher für sich genommen, keine Anzeige für Acidum, 
phosphoricum, da sie auch vielen anderen krankmachenden Substanzen zukommen. 
Um obige Indikationen der Phosphorsäure faßbarer zu machen, sei es mir erlaubt, 
noch eine andere oft zu beobachtende Varietät des chronischen Jntestinal-Katarrhes nebst 
dem entsprechenden homöopathisch-spezifischen Heilmittel zu charakterisiren. 
Sporadisch tritt häufig genug ein Intestinal - Katarrh auf, welcher bei herrschender 
herbstlich-naßkalter Witterung zu epidemischer Verbreitung zu gelangen pflegt. Den Ein 
tritt der Erkrankung spürt Patient an schmerzlichem Kollern und Gähren im Bauche, be 
gleitet von Stuhldrang, welcher ihn aus dem Nachmitternachtsschlafe 
weckt und vor Sonnenaufgang aus dem Bette treibt. Es erfolgt unter 
gelindem Mast darmzwange (bei weitem weniger schmerzhaft, als der in Beglei 
tung der sogen, rothen Herbstruhr (Dysenterie) austretende) ein breiiger Stuhl 
gang von dunkler aus braun, grau und grün gemischter Färbung. 
Mit dem Gefühle der Erleichterung sucht Patient das Bett wieder auf, in welchem er, 
obwohl bald wieder erwärmt, bei jeder Lageveränderung am Rumpfe 
fröstelt. Hat der Schlaf, wie gewöhnlich, auf eine oder mehre Stunden sich wieder 
eingestellt, und Patient nach Sonnenaufgang sich erhoben, um an sein Tagewerk zugehen, 
so glaubt er, zumal wenn „bis um die Mittagszeit ein neuer durchfälliger Stuhlgang 
sich nicht eingestellt hat, das Übel habe ihn bereits wieder verlassen und begiebt sich zu 
gewohnter Abendstunde mit enormer Genugthuung ob „seiner g u t e n N a t u r" zur 
Ruhe, welche ihm denn auch zu teil wird, — aber nur bis zu dem Augenblicke, wo die 
„schlechte Natur" (denn schlecht, grundschlecht ist sie nun einmal trotz des d'cu8 exmacliina, 
genannt „Natnrheilkraft", von welcher niemand sagen kann, an welchen Stoff sie gebunden 
ist. Und ohne einen solchen hat seit Menschengedenken eine Naturkraft sich sinnfällig zu 
äußern noch niemals vermocht) — ihr unbeugsames Recht geltend macht (aber wart' nur! 
Hat ihm schon!). Zu derselben Stunde nämlich, wie nachts zuvor, er 
wacht Patient ob vermehrten Unbehagens im Bauche und hat es n o ch 
eiliger, an den Ort seiner Bestimmung zu gelangen, wo er wie gestern, nur mit ge 
steigertem Unbehagen, einer schon mehr dünnbreiigen Last sich entledigt, um darauf das 
warme Bett wieder aufzusuchen. Nach kurzem Schlafe spielt das Stück aufs neue. Jetzt 
stellt sich auch im Laufe des Vormittags, für manchen Patienten in sehr inopportuner 
Zeit und Lage, ein oder mehre male eiliger Stuhldrang ein. Die ausgeleerten Stoffe 
beginnen eine schmierige Beschaffenheit und eine hellere Färbung 
anzunehmen. Doch siehe da! — nach eingenommener Mittagsmahlzeit, welche 
jedoch schon nicht mehr mit dem gewohnten Appetit eingenommen wurde, scheint abermals 
„die gute Natur" zu triumphiren. Ohne im Laufe des nachmittags und abends erneuten 
Stuhldrang empfunden zu haben, wird abermals die Nachtruhe angetreten, um zum dritten 
male zu der Unglücksstunde durch Stuhldrang, nun schon mit ernstlichem Krankheits-Ge 
fühle, unterbrochen zu werden. Der sich aufdrängende Zweifel an „der guten Natur" 
treibt den Patienten in die Arme der Kunst. Der Herr Doktor wird herbeigerufen, ver 
schreibt ein Tannin-Pulver, nach einigen Tagen eine Opiummixtur, selbst bis zur Höllen 
steinlösung versteigt er sich; ist er recht gebildet, so läßt er den Patienten auch einen 
Neptun-Gürtel anlegen. Die Natur ist aber gar zu schlecht und spottet der ärztlichen Be 
mühungen, welche hauptsächlich im Umherfahren bestehen. Sie oder es wird sogar von 
Tag zu Tag immer noch schlechter. Patient ist nicht mehr imstande, das Haus zu ver 
lassen; die Kräfte schwinden ob des Sästeverlustes und des schon von dem Appetitmangel 
gebotenen Fastens. So kann der Jntestinal-Katarrh dieser Spezies Monate lang sich 
hinziehen und heißt nun „chronisch", ein prächtig Wort, mit welchem das ärztliche Unver 
mögen sich zu decken weiß. Die Angehörigen des Patienten jammern; die Freunde trauern.
	        
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